image

fs_Ebook_logo.psd

Autoren: Judith Vogt und Christian Vogt

Lektorat: Julia Silber und Oliver Hoffmann

Korrektorat: Solveig Tenckhoff

Umschlaggestaltung und Satz: Oliver Graute

fslogo2005_SW.tif

© Feder&Schwert 2012

E-Book-Ausgabe 2013

ISBN 978-3-86762-171-7

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-86762-156-4

Die zerbrochene Puppe ist ein Produkt der Feder&Schwert GmbH.

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

www.feder-und-schwert.com

Inhalt

Vorwort

Dramatis_Personae

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Glossar

Vorwort

Steampunk_Element_Trenner.psd

Geneigter Leser,

dieses Buch schildert, wie Sie feststellen werden, ein Ihnen fremdes 19. Jahrhundert. Verschiedentlich haben Unbilden der Natur dazu geführt, dass der Mensch technologische Neuerungen früher entwickelte, als es in unseren Zeitläufen der Fall war – andere Objekte der Forschung wurden jedoch vernachlässigt.

Migrationen brachten einige Laute und Buchstaben auf das europäische Festland, die dem geneigten Leser vielleicht unbekannt sind – dazu gehören das Eth (Ð/ð) und das Thorn (Þ/þ), die wie das stimmhafte bzw. stimmlose englische „Th“ ausgesprochen werden. Das Æ/æ wird als „ä“ oder „äi“ gesprochen.

Die Übersetzungen aus dem Friesischen können Sie dem Anhang entnehmen.

Lassen Sie sich mitnehmen in eine Zeit, in der Forscher Helden waren und Wissenschaften Mysterien!

Die Autoren bedanken sich für ihr Gedankenexperiment bei Maxwell und seinem Dämon, bei Professor Galvani und seiner Gasbatterie und bei Lilienthal und seinen Obsessionen.

Ebenso schulden sie der Puppe Inge Dank, die im richtigen Augenblick zerbrach, um ein Quell der Inspiration zu sein, dem Lied „Toys in the Attic“ und der Band Abney Park, die sie lehrte, was eigentlich Steampunk ist.

Sie bedanken sich bei Oliver Hoffmann und Oliver Graute von Feder&Schwert dafür, dass sie die Wirklichkeit veredeln, bei den treuen Testlesern Marc und Lydia sowie bei Nils für ehrliche Meinungen und technisches Wissen, bei Bettina Köhn für die Übersetzung ins Helgoländer Friesisch, bei Kindern wie Nathan, Amelie und Tomke für das Entleihen ihrer Namen sowie bei den Besuchern der Steampunk-Party, insbesondere Christoph und Alex, für die regen Diskussionen.

Die Autoren danken weiterhin ihren Kindern, dem größten gemeinsamen Projekt, und einander – für das Teilen von Leidenschaften.

Dramatis Personae

Steampunk_Element_Trenner.psd

Æmelie von Erlenhofen – hochbegabte Naturwissenschaftlerin

Albert, Đomas, Friedrick – zu den Friesen übergelaufene Deutsche

Birke und Witteke – friesische Priesterinnen

Domek von Pommern – Freund und Förderer Æmelies

Eiken – Tomkes Ehemann

Elsbeð von Niederbroich – Gräfin auf Æsta

Ephraim Hoesch – Fabrikbesitzer auf Æsta

Erich von Pappelheim – Stadtkanzler von Æsta, Herzog

Gerhard Temmhort – Offizier der Wolkenkohle

Ingken, Onnen, Roerd – friesische Piraten

Lotte – Hure im Freudenhaus von Madame

Madame – Besitzerin eines Bordells mit Opiumhöhle

Maschinen-Margaret – Erfinderin erstaunlicher Automaten

Naðan von Erlenhofen – Künstler aus Aquis

Stenni und Tutti – Margarets Kinder

Piotr – polnischer Bonvivant

Professor Roþblatt – Leiter des Spitals auf Æsta

Redjeven Hauke – Anführer der helgoländer Friesen

Tomke – friesische Luftschiffpiratin

Ynge – Æmelies Puppe

(…) wo der naive Mensch hinter jedem Busch und jeder Wolke Geister und Kobolde vermutet, dort setzt der moderne Mensch das Walten der Naturgesetze an die Stelle des Zufalls und an die Stelle des Dämons.

– Rudolf Lämmel, Von Naturforschern

und Naturgesetzen, 1927

Steampunk_Element_Trenner.psd

Prolog:

Zeuge der Kindheit

Porzellanmalerei

Als ich das Geräusch höre, dieses Zuschnappen, als wären es keine Gliedmaßen, sondern Scheren, die sich dort bewegen, weiß ich eigentlich schon, dass es aus ist.

Aber nicht immer will der Kopf glauben, was sich das Herz bereits eingestanden hat. Mein Kopf glaubt es erst, als die Puppe, die ich an mich presse, die Augen öffnet, diese himmelblauen Glasaugen, und zu mir sagt:

„Sie ist tot, Naðan. Lauf weg!“

Venedig an einem Wintertag

Steampunk_Element_Trenner.psd

Öl auf Leinwand

Ich vermochte nicht zu sagen warum, aber irgendwie sah es bizarr aus. Venedig eignete sich ausgezeichnet als Kulisse für ein Ölgemälde, aber der von mir gewählte impressionistische Stil wollte nicht recht zu dem glatten, tückischen Eis passen, das die Kanäle bedeckte und sich, teils zu gefährlichen Schollen frierend, in die Untergeschosse der Häuser zu bohren drohte. Geradezu pittoresk wirkte eine eingefrorene Gondel, als habe man sie absichtlich dort platziert, zum Amüsement des Beobachters.

Ich löste den Blick von der Staffelei und erwog, zunächst eine Kohleskizze zu fertigen. Ich zierte mich ein wenig, denn manchmal erstellte ich Kohleskizzen, die dann besser waren, als jedes fertige Bild es sein würde. Dann konnte ich es auch bei der Kohleskizze belassen – aber niemand würde Geld dafür ausgeben. Welch Dilemma! Bei Æmelies Skizzen sah das anders aus – von ihr erwartete man keine Kunst, nur schnöde, möglichst offensichtlich dargestellte Fakten, doch von einem Maler erwartete man Ölschinken.

Seufzend kramte ich meinen Zeichenblock aus der ledernen Umhängetasche. Die Kohlestifte steckten in einem kleinen Metalldöschen, das ich vorsichtig neben mir auf die Bank legte. Allmählich wurde es kalt, trotz des Kissens, das ich mir vorsorglich mitgenommen hatte, um mich darauf zu setzen, und der Decken, in die ich mich gehüllt hatte.

Ich schlug den Block auf, die Stimmen ausblendend, die erneut versuchten, auf mich einzudringen.

Der Himmel verhieß Schnee – bleigraue Wolken zogen auf –, und war dieser Anblick dort, wo ich herkam, alltäglich, so war er in Venedig nur im Winterhalbjahr möglich. Das Sommerhalbjahr war dort völlig eisfrei, es gab keine Stelle des Mittelmeeres, die zufror, und die Bäche rannen klar zwischen grünen Halmen und durstigen Baumwurzeln aus den Alpen herunter. Kaum vorstellbar – und was für ein Motiv für ein Gemälde! Aber nein, wann mussten Æmelie und ich hier anreisen? Im Winter – als hätten wir nicht genug Eis und Schnee zu Hause in Aquis!

„Im Sommer“, hatte sie gesagt, „ist dort alles voller Touristen. Reiche Leute aus dem Norden, die die warmen Monate genießen, und um die Hotels auch im Winter vollzubekommen, richten sie Kongresse aus.“

Sehr klug von ihnen, doch wie frustrierend für einen Künstler, der eine schöne Wissenschaftlerin zur Frau hatte!

Es war so ein Triumph für sie gewesen … wäre sie ein Mann, so wäre sie schon seit Jahren geladen, doch als Frau musste sie hart dafür arbeiten, und es musste schon der Prototyp für den Ersatz der Galvanischen Primärzelle, vielleicht sogar der Dampfmaschine sein, damit man überhaupt darüber nachdachte, einer Frau auf einem Kongress das Wort zu gewähren.

Doch nun überschlugen sie sich vor Lob, und alle wollten sie die Zusage, die Pläne für ihre Fabriken erwerben zu dürfen. Doch Æmelie hielt sich zurück, sie würde sich erst entscheiden, wenn der Prototyp serienreif war.

Auf meinem Block sah ich die Skizze, die ich zuletzt angefertigt hatte – Æmelie in ihrem ernsten schwarzen Anzug, den Zylinder auf dem Kopf, den auch ihre männlichen Kollegen trugen, die Haare im Nacken streng zum Knoten gebunden, damit man ihr das Frausein so wenig wie möglich ansehen und zum Vorwurf machen konnte. Wie auf ein ungebetenes Kommando hörte ich wieder die Stimmen, die aus dem Café hinter mir an mein Ohr drangen:

„Sie müssen verstehen, mein Herr, dass ich diese Zusage noch nicht machen werde.“ Æmelie wiederholte, was sie nun schon seit Stunden herunterbetete. Ich wünschte mir, Domek wäre da – trotz unserer Differenzen –, denn der Spross der Herzogsfamilie von Pommern verstand sich darauf, mit Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit umzugehen und hatte Æmelie vor zwei Jahren unter seine Fittiche genommen.

„Sie wissen aber auch, junge Dame, dass wir eigene Wissenschaftler haben, die nach dem Gleichen forschen. Wir werden Ihnen den Vorzug geben, wenn Sie augenblicklich unterschreiben.“ Einer der Männer raschelte mit Papier, doch Æmelie lachte nur.

„Forschung ist eine Sache, die Verwendung der Ergebnisse eine andere. Wenn ich wieder daheim bin, werde ich am Prototyp arbeiten und alles andere meinem Anwalt überlassen.“

„Gut“, schaltete sich die Stimme einer älteren Dame ein, der Gemahlin eines Großindustriellen aus München, wie Æmelie mir gesagt hatte. Sie war eine knallharte Geschäftsfrau und durchaus geeignet, ihren Mann zu vertreten. „Dann geben Sie mir schon mal die Adresse, und ich sende ihm ein Telegramm.“

Æmelie schien zu zögern. Ich schlug die Skizze von ihrem Triumph vorsichtig um und setzte den Kohlestift auf der nächsten Seite auf – zog mit lockerer Hand einen jener berühmten Brückenbögen, über den eine Frau mit einem aufgespannten Regenschirm flanierte. Auch sie ergänzte ich; bevor sie die Brücke verlassen konnte, wurde sie rasch von mir eingefangen.

„Dieser Anwalt ist hoffentlich keine Frau, sondern jemand, mit dem man sachlich reden kann? Diese Galvanische Gasbatterie, wie Sie sie nennen, ist schließlich kein Säugling, der für immer an Ihrer Mutterbrust hängen muss.“ Die Stimme war unangenehm, und das klackende Geräusch eines Spazierstockes begleitete das Auf- und Abschreiten ihres Besitzers. Ich zwang mich, mich nicht nach ihm umzudrehen. Es waren zahlreiche unangenehme Menschen auf dem Kongress gewesen, das war mir nicht entgangen – und viele von ihnen schienen sich dem Ziel verschrieben zu haben, eine junge Wissenschaftlerin zu verunsichern.

Entsprechend empört rang Æmelie nach Luft, doch die Industriellengattin stand ihr bei.

„Es gibt keinen Grund, so etwas zu unterstellen, Professor. Nicht wahr, meine Gute? Wir Frauen lassen uns nicht ewig so behandeln!“

Auch ich hatte etwas dagegen, dass man Frauen so behandelte. Insbesondere die meine, die, schön und klug, wie sie war, einen verarmten, adligen Künstler geheiratet hatte und diesem sein verarmtes, adliges Künstlerdasein gewährte, während sie sich zu einer angesehenen Forscherin mauserte, die mit dem Patent auf die Galvanische Gasbatterie – oder die Erlenhofen-Brennstoffzelle, wie ich sie bereits in Gedanken zärtlich nannte – zu Ruhm und Reichtum kommen würde.

„… natürlich zum Patent anmelden!“, nagte diese abscheuliche Unterhaltung erneut an meiner Geduld und Konzentration, als habe sie meine Gedanken gelesen.

„So natürlich ist das nicht. Wenn Sie etwa einen Forschungsvertrag mit uns abschließen und auf das Patent verzichten, sichern wir Ihnen eine lebenslange Pension und die nötigen finanziellen Mittel für alles, woran Sie immer schon forschen wollten. Hatten Sie nicht auch einmal eine Schwäche für die Konstruktion von Flugmaschinen? Auch dafür fänden Sie Zeit.“

„Was für ein Unsinn, hören Sie nicht auf ihn, Frau von Erlenhofen!“, schaltete sich erneut die Stimme der betagten Dame ein. Sie schnalzte mit der Zunge. „Im Übrigen wird es mir hier zu kalt. Wollen wir uns nicht in ein Teehaus setzen?“

Ich zog noch einige uninspirierte Striche, die mich der Tatsache gemahnten, dass meine Muse sich bereits für heute verabschiedet hatte. Oder vielmehr, dass meine Muse in einen Schlagabtausch mit entsetzlich engstirnigen Menschen vertieft war. Dann schlug ich den Block zu und verstaute ihn, den Kohlestift, das Döschen und die im eisigen Wind bereits viskos werdenden Ölfarben in meiner abgegriffenen Tasche.

„Liebling“, warf ich ein, „wollen wir nicht gehen? Es ist spät, und vielleicht willst du über all diese freundlichen Angebote nachdenken.“

Ich warf der Runde aus grimmig blickenden Menschen ein verhaltenes Lächeln zu, das nicht erwidert wurde. Æmelie jedoch strahlte, als sei ich ihr Erlöser in schwerer Stunde – was ich vermutlich auch war. Ja, das waren wir füreinander, Æmelie und ich.

Zu schade, dass der letzte Tag unseres Zusammenseins auf Erden nicht nur angebrochen war, nein, er wurde auch bereits alt – doch dieser Umstand war mir natürlich nicht bewusst, sonst hätte ich sicher etwas anderes mit meiner Zeit anzufangen gewusst, als mich mit einer klapprigen Staffelei, einer kleinen Leinwand und meiner Ledertasche zu beladen und hinter Æmelie und ihren geschätzten Kollegen und Gönnern herzustolpern.

Es war der vierte Tag des 7. Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Außerordentliche Naturwissenschaften – Schwerpunkt Elektrizität. Der letzte Tag in Æmelies Leben.

Der düstere Flur einer kleinen Kaschemme

Steampunk_Element_Trenner.psd

Schwarze Kreide

Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, als sie kamen. Der Schlaf hatte mich bereits fest im Griff, doch Æmelie, die entschlossen zu sein schien, die anstehenden Entscheidungen nicht zu überschlafen, sondern wachen Geistes zu überdenken, weckte mich mit einem Rütteln an der Schulter.

„Naðan!“

Es gab eigenartige Geräusche im Flur unseres Gästehauses – ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich auch für kleines Geld etwas mehr Komfort und Vertrauenswürdigkeit erwartet hätte. Es waren Geräusche, als stolpere jemand immer wieder über ein und dieselbe Stufe, und ich kannte diese Stufe, sie ragte auch tagsüber heimtückisch im schlecht erleuchteten Flur auf und ließ den Unvorsichtigen stolpern, vor allem, wenn er gleichzeitig mehrere unhandliche Dinge trug.

Æmelie hatte sich aufgesetzt und drückte ihre alte, am Hinterkopf bereits gesprungene Puppe Ynge an sich, eine Marotte, die sie noch aus ihren einsamen Kindertagen behalten hatte.

„Sicher nur ein Betrunkener, der nach Hause kommt“, brummte ich, denn, wie gesagt, unser Gästehaus war nicht die feinste Adresse in Venedig.

„Es hört sich gleichmäßig an. Wie ein Automat“, wisperte sie. Aus einem anderen Zimmer schrie ein Mann auf Italienisch, ich hörte verschiedene unschöne Worte heraus, die mir zu meinem Leidwesen bekannt waren, doch Æmelie zerrte fortwährend an mir.

„Steh auf!“ Die Dringlichkeit in ihrer Stimme ließ mich gehorchen, töricht stand ich da in meinem Nachthemd. Ich nahm meinen Spazierstock, fühlte mich unangemessen ausgerüstet und schrecklich unbekleidet.

„Ich gehe nachsehen, Liebste!“, seufzte ich und tastete im bleichen Licht des Mondscheins, das der Schnee durch die Ritzen der Fensterläden widerspiegelte, nach der Petroleumlampe auf dem Nachttisch. Den Stock klemmte ich mir unter den Arm, um nach Streichhölzern zu tasten, doch Æmelie seufzte pragmatisch und öffnete mit einem Ruck die Fensterläden. Das an das Schattenspiel einer Photographie erinnernde Licht der Nacht fiel herein und erlaubte ihr, einige Skizzen zusammenzuraffen.

„Was machst du denn?“

„Hörst du das denn nicht?“, fragte sie atemlos, und in ihren Augen glänzte die Angst. Immer noch waren stolpernde Geräusche im Flur. Mehr nun, als sei der ganze Flur voll von taumelnden, betrunkenen Gestalten. Eine Tür öffnete sich, der Beleidigungen schreiende Mann trat in den Korridor – und erst als er einen schrecklichen, gepeinigten Laut von sich gab, wurde mir klar, dass Æmelie recht haben musste.

„Durch das Fenster?“, flüsterte ich, mit einem Mal schien mein flatterndes Herz meinen ganzen Brustkorb auszufüllen und drohte, mich zu ersticken. Dann endete der Schrei des Mannes im Flur mit einem schnappenden Geräusch.

Æmelie blickte hinaus, aber natürlich sah sie dort das, was wir immer sahen, wenn wir hinausblickten: Ein Stockwerk unter uns gähnten ein schmutziger, gefrorener Kanal und die ungepflegte, vom kalten Wind arg mitgenommene Hauswand.

„Ich … ich weiß nicht. Wenn wir stürzen und einbrechen, werden wir sterben“, zitterte ihre Stimme, mit einem Mal zaghaft, zu mir herüber.

„Wenn wir den Flur betreten …“, entgegnete ich, „es hört sich so an, als stürben wir dann auch!“

„Klettere voraus!“, bat sie, wobei sie rasch die Hose ihres Anzugs anzog und das Nachthemd an der Hüfte zu einem Knoten band. „Dann sehe ich, wo du hingreifst.“ Schließlich hielt sie mir noch Ynges Porzellanleib entgegen.

Ich schluckte, befestigte den Spazierstock, mit dem ich mich notfalls zu wehren wusste, am Gürtelband meines Nachthemds und zog ebenfalls eine Hose an. Die Puppe Ynge steckte ich in meinen Gürtel.

Im Flur war es ruhiger geworden. Das aber, so wurde mir klar, musste daran liegen, dass die tumben Schritte gelernt hatten, die tückische Stufe zu überwinden. Nun versuchten sie sich gar an einer Türklinke, der Türklinke unserer verriegelten Zimmertür, die in dem kleinen Zimmer keine zwei Meter von uns entfernt war. Ein frostklirrendes Messer schnitt mitten in die riesige, zitternde Luftblase, zu der mein Herz geworden war und hinterließ einen kleinen Hautbeutel, der des Schlagens nicht mehr mächtig schien.

„Nun gut. Du musst mir direkt folgen!“, flüsterte ich, zwang mich zu Entschlossenheit und schwang mich auf das Fensterbrett. Ich sah hinunter. Es war eiskalt unter mir – und wir würden sterben. Wir würden hinabstürzen, einbrechen, versinken und im Frühjahr als aufgedunsene Leichen wieder zum Vorschein kommen, und die Puppe Ynge wäre vermutlich das, was von uns noch am besten erhalten sein würde.

Zusammen mit dem steinernen Fensterbrett ergriff ich den letzten Rest Mut, der in mir war. Ich küsste Æmelie nicht – wie hätte ich auch ahnen können, dass es die letzte Gelegenheit war?

Ich ließ mich hinab, sie hielt meine Armgelenke, während meine Füße auf einem schmucklosen Gesims Halt fanden.

„Komm herunter!“, rief ich, denn Geräusche von drinnen übertönten das nächtliche Schwanken und Schnaufen Venedigs und den eisigen Wind. Es waren die Geräusche grober Hiebe, von zersplitterndem Holz. Æmelie ließ mich los, um zur Tür herumzufahren, ich wollte nach ihr greifen, verlor den Halt am Fensterbrett – mit einem raschen Schritt wollte ich mich mit dem Rücken gegen die Hauswand strecken, um meinem Körper keinen Drall nach vorn und unten zu gewähren, doch meine Füße rutschten vom schmalen, überfrorenen Sims, als meine Ohren Æmelies gellenden Schrei hörten. Ich fiel – ich fiel und wusste, dass wir uns in nur wenigen Augenblicken wiedersehen würden, in irgendeinem fernen, unwahrscheinlichen Paradies, in das auch Wissenschaftler gelangten. Doch dann prallte ich auf dem Eis auf, die Scholle knackte bedrohlich, mit einem abscheulichen Geräusch entstand ein Riss, und etwas anderes knackte an meinem Gürtel. Als bäte ich um ein Omen, was das Schicksal Æmelies anging, riss ich Ynge heraus – beim Sturz hatte das Porzellan ihres Kopfes einen weiteren, tiefen Riss erhalten, der sich vom Hinterkopf, an dem kostbare, seidige Haare befestigt waren, bis zu einem ihrer Augen zog. Grausig sah der Sprung aus. Grausig waren die Geräusche aus unserem Zimmer. Æmelie schrie, ich sah ihr Gesicht am Fenster, sah, wie ihre Finger den Rahmen umklammerten, als sie versuchte, mir einfach mit einem verzweifelten Sprung zu folgen. Doch irgendetwas musste sie bereits gepackt haben, mit einem grässlichen, reißenden Geräusch verschwand sie vom Fenster. Ihr letzter Blick zu mir herunter war leer, ihr Schrei erstarb. Nein …

Ich hätte mich geweigert zu akzeptieren, was ich sah, hätte nicht in dem Moment, in dem ich ihre Stimme zum letzten Mal hörte – mit diesem sterbenden, seufzenden Schrei, dessen Konsequenz mein Geist sich zu erfassen weigerte –, Ynge ihre himmelblauen Augen geöffnet. Im Dunkel der Nacht schienen sie eine spiegelnde Schwärze zu sein, als sie mit Æmelies Stimme sprach: „Sie ist tot, Naðan. Lauf weg!“

trennermutter.psd trennermutter.psd trennermutter.psd

Wie kann man begreifen, dass die, neben der man Nacht für Nacht eingeschlafen ist, deren warmen Körper man stets als Teil seines Lebens geschätzt hat, nun fehlt? Manchmal frage ich mich: Tut es weh, weil ich sie vermisse?

Oder tut es so schrecklich weh, weil ich den Schmerz empfinde, den ihr Fehlen der Welt verursacht? Trauere ich um mich, der ich nun so schrecklich leer und unvollständig bin, oder um sie, weil sie nun fort ist, ihrer Existenz beraubt, all der wunderbaren und mannigfachen Möglichkeiten, die sie wahrgenommen hätte?

Hätte die Welt nicht auf einen erfolglosen Künstler und eine sprechende Puppe verzichten können statt auf eine geniale, schöne, beherzte Frau wie sie? Wenn sie zuerst geklettert wäre, dann wäre sie gestürzt und mit einem verstauchten Fußgelenk auf einer Eisscholle gelandet, die nicht brach.

Dann wäre ich unter den Hieben der Eindringlinge zerbrochen, und Ynge desgleichen, aber die Welt wäre vielleicht ein Stück heiler, müsste nicht um Æmelie von Erlenhofen trauern.

Wo ist sie, wenn sie nicht mehr hier ist? Kann man einfach zerbrechen und aufhören zu sein? Ist sie in ein Paradies gelangt, wie uns die Religionen stets trösten – oder entspringt nicht auch diese Vorstellung nur einer trauernden Sehnsucht? In welches Paradies gelangen Wissenschaftler?

Ich stelle mir vor, ich gelange auf einen alten Speicher, wenn ich sterbe. Ich stelle es mir vor, seit Ynge zu mir spricht. Dort sind all die alten Schaukelpferde, all die verstaubten Plüschbären. All die Brummkreisel und Murmeln und Springteufel und verstummten Spieluhren mit den kleinen Tänzerinnen, und da sind auch die Puppen mit ihren glänzenden Augen, und ich nehme Ynge dann auf den Schoß, und wir setzen uns genau neben sie. Das werden wir tun, und dort lässt man uns dann in Ruhe.

trennermutter.psd trennermutter.psd trennermutter.psd

Die Polizisten waren äußerst aufgeregt. Ich kannte einige der weniger ausgefallenen Schimpfworte, die sie benutzten, doch es dauerte einige Zeit, bis sie jemanden auftrieben, der Deutsch mit mir sprach. Es war ein sehr schlechtes Deutsch, er konnte aber einige Flüche erstaunlich fehlerfrei aussprechen.

„Scheiße, Scheiße, die Sache mit deine Frau, Signor!“, pflegte er zu sagen, und ich wusste das zu schätzen.

Ich hielt die Puppe Ynge an mich gedrückt und strich mit meinem Daumen über den Riss in ihrem Kopf, als könne ich ihn im Laufe der Zeit wegwischen wie einen Streifen Farbe.

Ein Mann, der seine gewichtige schwarze Polizeimütze unentwegt in seinen Händen knetete, hatte mir einen Tee gebracht, der auf dem Tischchen neben mir langsam kalt wurde.

Ich sah mich um, zum ersten Mal, glaube ich. Ich hatte keine Erinnerung daran, wie ich von der Eisscholle im dunkel gähnenden Kanal auf den Posto di Polizia gekommen war – das einzige, was mir in den Sinn kam, wenn ich darüber nachdachte, war die rasche Folge der Gaslaternen, die an mir vorüberzogen, während ich scheinbar unbeweglich war.

Die Polizeiwache des Viertels war kleiner, enger und baufälliger, als sie es bei diesem Aufkommen an krimineller Energie sein sollte. Es war mitten in der Nacht, und die Polizei hatte einige Zeit gebraucht, bis sie Carabinieri in unser Gästehaus hatte entsenden können. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich ihnen sagte, wie ich Æmelies Tod schilderte. Danach jedenfalls hatte ich mich neben den Tee gesetzt und leise mit der Puppe gesprochen. Ich strich ihr abwechselnd über das Haar und den hässlichen Riss, der ihr Gesicht entstellte.

„Bist du da drin, Æmelie?“, wisperte ich. Natürlich, Æmelies Körper mochte tot sein, aber sie hatte es geschafft, ihren begnadeten Geist in die Puppe zu übertragen. Nun konnte ich sie auf dem Schoß wiegen. Ich küsste ihr seidiges Haar, kämmte sie mit meinen Fingern.

„Bist du da drin? Sag was, Æmelie!“ Ich lachte leise, dann begann ich zu weinen. „Sag doch etwas!“

Ein Mann setzte sich neben mich, knetete seine Mütze und schob meinen Tee ein wenig beiseite. Mit beinahe blindgeweinten Augen blinzelte ich ihn an, sah den mitleidigen Blick, den er der Puppe Ynge und mir zuwarf.

„Sie hat mit mir geredet. Die Puppe!“, sagte ich, und wieder bahnte das Lachen sich seinen Weg durch die tränenverhangenen Mauern meines Inneren nach draußen.

Er lächelte mitleidig, und ich wusste, er verstand mich ohnehin nicht. Er hätte mich nicht einmal verstanden, wenn er meine Sprache gesprochen hätte.

Ich wandte mich von ihm ab, zog meine kaltgefrorenen, blutig gestoßenen Füße, für die man mir warme Socken geborgt hatte, auf den knarzenden Stuhl und barg Ynge an meiner Brust. Ihre Kleider rochen nach Æmelies warmem Körper, und ich vergrub mein Gesicht darin und schloss die Augen, wartete darauf, dass man mich endlich würde aufwachen lassen aus einem Traum, in dem Frauen starben und Puppen sprachen.

Der Tatort eines Mordes

Steampunk_Element_Trenner.psd

Bleistiftskizze

Ich wachte mit einem Schmerz auf, der sowohl daraus geboren war, dass ich stundenlang in einer verkrümmten Haltung auf einem ungepolsterten Holzstuhl gekauert hatte als auch aus der bitteren Gewissheit, dass die vergangene Nacht kein Traum mit schlechtem Sinn für Humor gewesen war.

Nein, meine Æmelie war tot, und das schmerzte in jedem Winkel meiner selbst.

„Von dir gegangen, Signor“, hatte der Polizist gesagt, dem man scheinbar in mehreren Sprachen taktvolle Worte beigebracht hatte.

Aber sie war ja nicht von mir gegangen. Ich war von ihr gegangen, gefallen – und dann hatte man sie getötet. Blut sei am Tatort, viel Blut, aber ihre Leiche sei nicht zu finden. Vielleicht, Signor, hatte Æmelie sich in Sicherheit gebracht, schwer verletzt. Oder aber man hatte sie mitgenommen, wie offenbar die Hälfte unseres Reisegepäcks, alles, was für ihre Forschungen wichtig war und einiges mehr, beispielsweise den Holzkoffer für meine Leinwände. Vielleicht … hatte man sie nur entführt.

Ob man es mir zumuten könne, den Tatort zu besuchen?

Die Puppe nickte langsam, und ich ahmte sie nach, mit der gleichen, langsamen Bewegung. Wir blickten einander an, und sie klimperte mit den langbewimperten Augen.

Ich drückte sie wieder an meine Wange. „Æmelie“, sagte ich.

„Ich bin Ynge. Die Puppe“, wisperte sie.

„Aber du hast ihre Stimme.“

„Verzeih“, sagte die Puppe einfach.

Die Polizisten sahen mich eigenartig an, doch dann gaben sie mir spitze Schuhe und einen Lodenmantel – mit beidem stieg ich in die Kutsche, die in der Morgendämmerung vor der Polizeistation wartete. Undeutlich war alles um mich her, selbst der Schmerz in meinem Inneren war ungewiss, zögerlich, vage. Nur der Blick aus den himmelblauen Puppenaugen schien mir wahr und klar und richtig.

„Sie ist nicht da, Æmelie. Dein Körper ist nicht da.“

„Du wirst schon sehen, warum“, antwortete die Puppe, und ich sah den Polizeibeamten triumphierend an, der mit mir in die Kutsche gestiegen war, doch er blickte betreten aus dem Fenster. Das Pferd setzte sich in Bewegung, die Hufe klapperten, als wollten sie, dass ich ein Lied dazu sänge. Aber ich tat es nicht. Ynge summte ein leises Gutenachtlied, aber es harmonierte nicht mit dem Walzertakt zwischen Kopfsteinen und Hufeisen.

trennermutter.psd trennermutter.psd trennermutter.psd

Ich verstand, dass sie mich für einen Idioten hielten. Solche Worte waren mir in fast jeder Sprache der bekannten Welt geläufig, und wenn nicht, verstand ich sie intuitiv. Natürlich kapierten sie nicht, warum ich, ein erwachsener Mann, eine Puppe auf dem Arm hielt. Aber sie sprach mit der Stimme meiner Frau, deren Blut den Boden und viele der Gegenstände, die darauf verteilt lagen, bedeckte. Ich hätte mir nie verziehen, wenn Ynge etwas zugestoßen wäre. Ich hielt sie so, dass sie alles sehen konnte. Es roch seltsam – hinterließ der Tod solch einen Geruch?

„Signor, wenn du uns sagen könnte, was fehlt von den Sachen der Signora Dottoressa?“, hatte der Polizist in seinem gebrochenen Deutsch gefragt, und ich hatte bereits festgestellt, dass außer unseren Kleidern beinahe alles mitgenommen worden war – meine lederne Tasche und meine Staffelei jedoch klemmten in einer Nische zwischen dem kleinen, altersschwachen Tisch und der Wand, wo ich sie hingestellt hatte. Auf dem Boden, im Blut, lag Kreide. Nicht meine schwarze, mit der ich zeichnete, sondern Æmelies weiße Schulkreide, mit der sie während ihres Vortrags auf die Tafel des großen Kongresssaales geschrieben hatte.

„Was soll ich sehen?“, fragte ich Ynge. „Wo ist dein Körper, Æmelie?“

Als die Puppe nicht antwortete, nahm ich zunächst Æmelies Zylinder, der vom Hutständer gefallen war, auf und strich mit dem Daumen über die teure, feine Seide. Ich setzte ihn auf, denn in dem seltsamen Zustand, in dem sich mein Geist befand, schien dies der geeignete Platz dafür, dann öffnete ich meine Umhängetasche und zog vorsichtig meinen Notizblock hervor. Ich schlug ihn auf – da war Æmelie, trug den Zylinder, den ich gerade aufhatte, und den ernsten schwarzen Anzug, der sie so klein, zierlich und schlank machte. Sie sah mich ernst an und zeigte mir etwas mit dem Stock, den sie in der Hand hielt.

Æmelie. Die Erlenhofen-Zelle. Ich nahm den Zylinder wieder ab.

„Sie haben dich deshalb getötet, nicht wahr?“, flüsterte ich in Ynges kleines, muschelartiges Porzellanohr. Eine seltsam heiße Träne rann mir aus dem rechten Auge, und ich konnte sie gerade noch wegwischen, bevor sie hinab tropfte auf die Zeichnung. Hastig klappte ich den Skizzenblock zu.

War sie tot? War dieses Bild, die hastigen Striche auf dem Papier, das, was von ihr übriggeblieben war?

Wie konnte das sein?

Der Polizist sah mir wortlos zu. Der Tatort war bereits dokumentiert, und er ließ es zu, dass ich wahllos Dinge vom Boden aufnahm, auf dem Bett aufreihte und betrachtete.

Sie war tot, und die Dinge, die sie einst mit Leben erfüllt hatte, waren jetzt leblos. Der Zylinder nur ein Hut. Der Anzug nur ein Kleidungsstück. Das Blut … das Blut war nur eine Flüssigkeit.

Aber die Skizze war mehr. Ich hängte mir die Tasche um.

„Ich werde ein richtiges Bild daraus machen, Æmelie.“

„Ynge.“

„Ein Gemälde. Æmelie von Erlenhofen auf dem Kongress der … ach, was schert es mich, wie der hieß?“ Ich lachte auf, ein bitteres, durchdringendes Geräusch, das den Polizisten erschrecken ließ.

„Signor?“, kam eine Stimme aus dem Flur. „Könnte du mitfahren zu der Dottore Belluni?“

In meine Ledertasche knüllte ich ein Hemd, ein zweites zog ich an und ersetzte damit das Nachthemd, das ich noch unter dem Mantel trug. Ich stopfte auch dieses zu meinen Farben und den Döschen mit Kreide, Kohle und Bleistiften. Eine Hose dazu, meine Taschenuhr. Ich fasste an den Zylinder auf meinem Kopf, vergewisserte mich, dass er da war.

„Ich weiß immer noch nicht, was du mir zeigen wolltest, Ynge“, sagte ich eingeschnappt.

„Warte nur“, antwortete sie endlich.

trennermutter.psd trennermutter.psd trennermutter.psd

Den Weg zu Dottore Belluni legten wir wieder mit der Polizeikutsche zurück. Ich sah nicht hinaus – Venedig war mir gleichgültig geworden, seine gefrorenen Kanäle, seine malerischen Brücken und Balustraden und all dieses dumme Zeug. Warum hatte es jemand als zweckmäßig erachtet, eine Stadt auf einer modernden Lagune zu errichten? Warum hatte es jemand als zweckmäßig erachtet, für eine Galvanische Gasbatterie meine Frau zu ermorden? Wider Erwarten regte sich Hoffnung in mir, obgleich Vernunft und Gefühl dagegenhielten. Vielleicht hatte man Æmelie verschleppt. Ich musterte Ynge skeptisch – hätte sie aber gesprochen, wenn dieser grässliche, gebrochene Blick meiner Frau nicht Wirklichkeit gewesen wäre?

Ich seufzte und schloss die Augen. Obgleich ich nicht schlief, weigerte ich mich, sie zu öffnen, bis das Rumpeln und Trappeln vor dem Haus des Dottores verstummte.

Die Haushälterin öffnete uns, eine junge, brünette Frau, deren Schürze eng wie ein Mieder um den drallen Körper lag. Sie lächelte mich an, und erst, als ich mich von ihr abwandte, wurde mir bewusst, dass zwei Polizisten ein etwa menschengroßes Bündel aus dem Kofferraum der Kutsche holten – Æmelies Leiche, deren Entdeckung man mir vorenthalten hatte?

„Was ist das, Herr Gendarm?“, fragte ich den Gesetzeshüter, von dem ich glaubte, er sei der gewesen, der bruchstückhaft des Deutschen mächtig war. Unter ihren großen Mützen sahen sie alle gleich aus, alle mir gleichgültig.

„Corpus Delicti, Signor“, erwiderte dieser und ließ mich eine lange Weile mit der Haushälterin allein, die mich in einem dunkelplüschigen Salon mit Tee und Petit Four versorgte. Sie gurrte immer wieder das Wort „Bambola!“ und wies dabei auf Ynge, die ich neben mich auf ein Kissen gesetzt hatte. Ich überlegte, ob die Puppe wohl auch Nahrung brauchte, denn Æmelie hatte meinen Träumen von irrwitzigen Maschinen mehrmals mit dem Verweis auf das Gesetz der Energieerhaltung den Wind aus den Segeln genommen. Wenn Ynge sprach, musste sie auch Energie aufnehmen, und vielleicht tat sie das in Form von Tee und Petits Fours.

„Möchtest du etwas essen?“, fragte ich Ynge. „Muss ich an dir eine Schraube aufziehen? Hast du …“

Ein Gedanke durchfuhr mich. Ich nahm die Puppe und rüttelte sie vorsichtig. Ich löste die Schleifen und Knöpfe ihres Kleidchens und zog sie aus, auch ihre kleinen ledernen Schühchen, die Strümpfe, die Bluse. Der Porzellanleib lag weiß und unversehrt vor mir, kleine Kinderspeckfalten waren in ihn hinein modelliert. Ich rüttelte die Puppe Ynge erneut.

„Hat sie dir so eine Zelle eingebaut? Um dich zu betreiben – und einen Phonographen und eine Vorrichtung, um ihre Seele einzufangen?“

„Signor?“, piepste die Haushälterin, als habe ihr eigener Phonograph soeben beschlossen, seine Funktionen einzustellen.

„Ich spreche in deinem Kopf, weil du verrückt geworden bist“, antwortete die Puppe mit Æmelies Stimme. Sie klang neckend, als wolle sie mich ärgern. „Du Traumtänzer!“

„Es steht einem Traumtänzer wohl gut zu Gesicht, verrückt zu sein“, antwortete ich mit Würde und begann, die Puppe wieder anzuziehen.

Mittendrin traten der Dottore, ein langbärtiger Mann, der vermutlich wesentlich älter aussah, als er war – eine Tatsache, die sicherlich von ihm beabsichtigt war – und einige Wachtmeister an mich heran. Ich legte Ynge so hin, dass keine neugierigen Blicke ihrer Nacktheit gewahr wurden – obgleich sie ja ein geschlechtsloses Wesen war, sah man von ihren eindeutig weiblichen Kulleraugen und den Schillerlocken ab – und beharrte darauf, sie zu Ende anzukleiden, bevor ich meine Aufmerksamkeit dem perfekten Deutsch des Doktors zuwandte. Er musste bereits eine ganze Weile reden, dachte ich bei mir, als der Polizist, der so mühevoll meine Sprache beherrschte, sich zu mir herab und in mein Blickfeld beugte.

„Identifizieren, Signor. Könntest du der Mann angucken? Per Dio, un brutto gioco!“

trennermutter.psd trennermutter.psd trennermutter.psd

Mit Ynge folgte ich dem Dottore und den Polizisten in den Keller.

„Ist es das, was du mir zeigen wolltest?“, fragte ich die Puppe. Mein Flüstern hallte von den feuchten Wänden wider. Wir kamen in einen Kellerraum, dessen ebenfalls nasse Wände mit kalten, akkuraten Platten verfliest waren. Venedigs Keller waren wahrscheinlich alle von einer kalten Feuchtigkeit durchdrungen, in alle Ritzen, in alle Poren schlüpfte sie und machte den Ort zu einem widerlichen, vollgesogenen Schwamm, den ich kaum mehr ertragen konnte. Ich schüttelte mich.

„Wie geht es Ihnen, Herr von Erlenhofen?“, fragte der Dottore sacht, dem mein Schauder nicht entgangen war.

„Ich hasse es hier“, lächelte ich, und er lächelte unbestimmt zurück.

Inmitten des gefliesten Raums, umgeben von rostenden Metallschränken und -tischen, stand eine Liege, auf der eine Leiche aufgebahrt war. Nein, nicht aufgebahrt, sie lag mit dem Gesicht nach unten, und der haarlose Kopf, die breiten Schultern und die Narben gaben mir sogleich zu verstehen, dass es nicht Æmelies Körper war.

Tot jedoch war dieser Mann ohne Zweifel, lange tot, und von ihm ging der Geruch aus, den ich bereits in dem Raum bemerkt hatte, in dem Æmelie ihr Leben ließ.

Ich trat näher heran, der Dottore wollte mich am Arm zurückhalten, doch ich streifte seine Hand ab und beugte mich über den Mann.

„Sie müssen ihn nicht so genau anschauen“, versuchte er noch, mich zu hindern, doch ich spürte weder Grauen noch Ekel. Dottore Belluni hatte die Wirbelsäule offen gelegt, die blutleeren, lappenartigen Haut- und Muskelschichten säuberlich aufgeschnitten und beiseite geklappt, so dass der gelblich-weiße Knochen offen lag.

„Wer ist der Mann?“ fragte ich das Innere des Körpers.

„Das wissen wir nicht. Er lag im Korridor hingestreckt in einer nach Schwefel stinkenden Pfütze, vermutlich verdünntes Vitriol-Öl – der Hauswirt hat ihn gefunden, zusammen mit der Leiche des anderen Gastes.“

„Wo ist meine Frau?“ fragte ich und musterte die erstaunliche Anatomie des menschlichen Rückens.

„Auch das wissen wir nicht. Aber diese Leiche erlaubt uns vielleicht Rückschlüsse darauf.“

„Nicht Leiche, Shelly!“, widersprach der Polizist aus dem Hintergrund.

„Auch ein Shelly, mein Lieber, ist ein Leichnam. Oder gar mehrere“, wies ihn der Arzt zurecht.

„Shellys gibt es nicht“, lachte ich. „Es gibt sie so wenig wie sprechende Puppen oder Wissenschaftlerinnen.“

Er warf mir einen eigenartigen Blick zu.

„Oh, Sie irren, mein Freund“, begann er dann. „Auf dem 3. Internationalen Kongress der Gesellschaft für Außerordentliche Naturwissenschaften – Schwerpunkt Anatomie – wurde ein Prototyp aus Ængland vorgestellt. Er konnte drei Schritte wandeln und fiel dann um. Aber drei Schritte sind eine große Leistung! Der Erfinder, Professor Clockworth-Merenge aus London, musste aufgrund großer Anfeindungen von Seiten der Kirchen und diverser Ethikkommissionen überstürzt abreisen, obgleich er betonte, dass nurmehr die Hülle sozusagen menschlich ist. Resteverwertung nannte er es.“

„Interessant“, brummte ich, obgleich ich es nicht interessant fand. „Aber hier sind noch einige Teile im Inneren menschlich, so kommt es mir vor.“

Ein Shelly. Die Hülle, Shell in ænglischer Sprache, der elektronischen Männer sollte also eine Resteverwertung menschlicher Abfälle sein. Ich hatte immer gedacht, diese Geschichten von Leichenfledderei seien in den Bereich einzuordnen, den Æmelie stets „Wissenschaftsmärchen“ genannt hatte.

Aber nun lag einer davon vor mir aufgebahrt und hatte vermutlich mit mehreren seiner Kumpane meine Frau auf dem Gewissen. Hatte Vitriol-Öl geblutet wie eine Batterie.

„In der Tat, obgleich die meisten Organe entfernt wurden, gibt es immer noch die Knochen, denn nichts anderes verleiht dem Körper Stabilität, nicht wahr? Doch sehen Sie genau hin!“, forderte mich der Wissenschaftler auf. Ich beugte mich vor, der Geruch stieg mir in die Nase – der beißende Gestank von Chemikalien, strenger noch als die Lösungsmittel, die ich zum Entfernen von Farbe verwendete.

Der Arzt zog eine Glühlampe, die an einem Arm beweglich an der Decke hing, zu uns herab und leuchtete damit den grausigen Körper aus. Durch das Rückgrat zog sich eine blanke kupferne Leitung, ich konnte sehen, wie sie zwischen den Wirbeln offen lag, wie sie sich dort teils gabelte, von kleinen metallenen Spulen und Plättchen unterbrochen.

„Eine elektrische Leitung?“, fragte ich. „Wissen Sie, meine Gattin forscht an Elektrizität. Sie hat eine Zelle erfunden, die die Galvanische Primärzelle ersetzen kann, mit verschiedenen Chemikalien und Platinbeschichtung, Methan rein und elektrischer Strom raus, ohne Aufladen, ganz wunderbar.“ Ich lächelte stolz und töricht. Hinter mir scharrte der Polizist mit den Füßen.

„Nun, Signor, die Signora Dottoressa leider tot! Was für eine Scheiße-Zufall!“

Der Arzt lächelte schmallippig. „Da spricht die Spürnase aus dem Wachtmeister, Herr von Erlenhofen. Clockworth-Merenges Shelly konnte nur drei Schritte laufen, weil ihm eine geeignete Energiequelle fehlte, nicht wahr? Wie praktisch wäre doch eine solche Erfindung, wie Ihre Frau sie anstrebte!“

„Aber … aber der hier konnte mehr als drei Schritte laufen, ehe ihm der Strom ausging! Er konnte – er hat meine Frau töten können, nicht wahr, und nun haben sie sie verschleppt, und ihre Skizzen dazu und ihren Prototyp!“

Ich musste einen sehr eigenartigen Schrei ausgestoßen haben, er hallte im kalten Raum wider, und ich hörte ihn nur im Nachhinein. Ynge beruhigte mich. „Siehst du, das wollte ich dir zeigen. Jetzt weißt du es. Ist es nicht furchtbar?“

Als ich mich wieder gefasst hatte, hielt mir der Arzt mit einer groben Pinzette eine kleine Apparatur entgegen, die aus zwei ungleich gewickelten Spulen auf einem Eisenrahmen bestand.

„Hat Ihre Frau mit dem ænglischen Professor zu tun gehabt? Wissen Sie etwas über diese Abscheulichkeit?“

„Nicht … das … Geringste“, sagte ich mit Nachdruck.

„Das hier ist ein Transformator, im Nacken des Shellys. Nehmen Sie die Lupe!“

Ich nahm die Lupe, die er mir auf den Tisch gelegt hatte, direkt neben die geöffnete Hand des Shellys, als würde der sogleich danach greifen und sich erheben, um seine eigenen Bauteile zu ergründen. So, wie wir es taten und damit Gott dem Allmächtigen die Lupe aus der Hand nehmen.

Meine Hand zitterte, als gehöre sie nicht zu mir, und ich brauchte lange, bis ich betrachten konnte, worauf der Doktor wies.

Firma Hoesch, Æsta stand dort, auf dem Eisenrahmen eingeprägt.

„Æsta?“, las ich tonlos.

„Die schwimmende Stadt“, bestätigte Belluni. „Zumindest dieses kleine Teil wurde dort hergestellt, aber es ist die einzige Spur, die ich der Polizei geben kann.“

„Besser als gar nichts“, erwiderte ich pragmatisch, doch der Polizist unterbrach mich.

„No, no, Signor, nicht besser! Alle Scheiße! Der Stadtstaat Venezia hat keine Befugnis, Polizei zu schicken nach Æsta. Die Stadt fährt unter kaiserlicher Hoheit.“

Belluni schnitt eine Grimasse. „Es ist ein Jammer, Herr von Erlenhofen. Wer in Venedig einem Mordanschlag zum Opfer fällt, sollte darum beten, dass es der Polizei gelingt, den Mörder noch im Herrschaftsbereich des Dogen zu fassen. Denn darüber hinaus gibt es keine polizeiliche Verfügungsgewalt, und die Beziehungen zwischen dem Dogen und dem deutschen Kaiser sind ohnehin etwas abgekühlt in den letzten Jahren.“

„Gibt es Hoffnungen, dass – gesetzt den Fall, ich bete – der Mörder noch innerhalb des … was auch immer … gefasst wird?“

„Wir haben leider zur Zeit nur diesen Hinweis – und wenn ich der Mörder wäre und hätte die Leiche Ihrer Frau und einige wichtige Dokumente im Gepäck, dann hätte ich bereits in der letzten Nacht ein Luftschiff genommen. Gibt es Hoffnung, dass Ihre Frau noch lebt?“

Ich wollte nicken, wollte hoffen können, aber auch der Polizist blickte mehr als mitleidig drein und wiegte seinen kleinen, runden Kopf. Ich antwortete nicht.