Jacqueline Kelly

 

CALPURNIAS

(r)evolutionäre

ENTDECKUNGEN

 

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

 

Carl Hanser Verlag

 

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel The Evolution of Calpurnia Tate bei Henry Holt and Company, New York.

 

Die Zitate über den Kapiteln sind Charles Darwins Buch »Über die Entstehung der Arten« entnommen.

 

Die Zeilen aus Ben Jonsons »Lied an Cecilia« werden im Original und in der Übersetzung von Bertram Kottman zitiert.

 

Mit S/W-Vignetten von Maria Sibylla Merian

 

 

ISBN 978-3-446-24387-3

2. E-Book-Version März 2017

© Jacqueline Kelly 2009

Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © Carl Hanser Verlag München 2013

Umschlag: Maren von Stockhausen

Bildelemente: © Amana Images Inc / Getty Images

John James Audubon / Robert Havell Jr.: Wood Wren (www.brooklynmuseum.org), Gift of the Estate of Emily Winthrop Miles, CC BY 3.0

Harvest mouse of the world, © Oxford Science Archive / Heritage-Images

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

 

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

 

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

 

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

Für meine Mutter, Noeline Kelly

Für meinen Vater, Brian Kelly

Für meinen Mann, Robert Duncan

 

 

 

 

Erstes Kapitel

 

DIE ENTSTEHUNG

DER ARTEN

 

Wenn ein junger Naturforscher eine ihm ganz unbekannte Gruppe von Organismen zu studieren beginnt, so macht ihn anfangs die Frage verwirrt, was für Unterschiede die Arten bezeichnen … denn er weiß noch nichts von der Art und der Größe der Abänderungen, deren die Gruppe fähig ist …

 

 

Die Dunkelheit wussten wir 1899 bereits zu zähmen, doch nicht die texanische Hitze. Wir standen in tiefer Nacht auf, Stunden vor Sonnenaufgang, wenn sich am östlichen Himmel kaum mehr als ein tiefblauer Streifen abzeichnete, während der Horizont ansonsten pechschwarz war. Wir zündeten unsere Kerosinlampen an und trugen sie im Dunkeln vor uns her wie unsere eigenen schwankenden winzigen Sonnen. Die Arbeit eines ganzen Tages musste bis Mittag geschafft sein, wenn die tödliche Hitze ihre schwitzenden Opfer in das große, mit Holzläden verschlossene Haus zurücktrieb, wo wir uns in den dämmrigen hohen Räumen hinlegten. Mutters übliche Methode, im Sommer die Laken mit erfrischendem Eau de Cologne einzusprühen, verschaffte uns nur kurz Erleichterung. Nachmittags um drei, wenn es Zeit war, wieder aufzustehen, war die Hitze immer noch mörderisch.

Für uns alle in Fentress waren diese Temperaturen eine Qual, am meisten jedoch litten die Frauen in ihren Korsetts und Petticoats. (Ich selbst war noch einige Jahre zu jung für diese besondere, den Frauen vorbehaltene Form der Tortur.) Sie lockerten ihre Korsettstangen, seufzten in einem fort und verfluchten die Hitze und ihre Ehemänner, die sie nach Caldwell County verschleppt hatten, um dort auf vielen Morgen Land Baumwolle und Pekannussbäume anzupflanzen. Mutter verzichtete vorübergehend auf ihre Haarteile, die falschen Stirnlocken und ein gewelltes Rosshaarkissen, auf dem sie ihr eigenes Haar täglich zu einen kunstvollen Turm frisierte. Sie machte es sich sogar zur Angewohnheit, an Tagen, an denen wir keine Gesellschaft hatten, den Kopf unter die Wasserpumpe in der Küche zu halten, während Viola, unsere Köchin, so lange pumpte, bis die Haare durch und durch nass waren. Uns Kindern war es strengstens untersagt, während dieser erstaunlichen Vorführung zu lachen. Ebenso wie unser Vater lernten wir bald, Mutter möglichst aus dem Weg zu gehen, während sie nach und nach kapitulierte und einen Teil ihrer sonst so würdevollen Erscheinung der Hitze opferte.

Mit vollem Namen heiße ich Calpurnia Virginia Tate, aber damals nannten mich alle nur Callie Vee. In jenem Sommer war ich elf und das einzige Mädchen unter sieben Geschwistern. Kannst du dir etwas Schlimmeres vorstellen? Ich bildete genau die Mitte zwischen drei älteren Brüdern – Harry, Sam Houston und Lamar – und drei jüngeren – Travis, Sul Ross und Jim Bowie, unserem Jüngsten, den wir nach seinen Anfangsbuchstaben nur Jay Bee nannten. Die kleinen Jungen schafften es sogar, mittags zu schlafen, manchmal in einem wilden Haufen übereinander, wie feuchte, dampfende Hundewelpen. Auch die Männer, die von der Feldarbeit kamen, sowie mein Vater, der aus seinem Büro nach Hause kam, hielten auf der Schlafveranda ihren Mittagsschlaf. Nachdem sie sich vor dem Haus mehrere Blecheimer lauwarmes Wasser über den Kopf gekippt hatten, fielen sie auf ihre Seilbetten, als hätte man ihnen einen Schlag auf den Kopf verpasst.

 

Ja, die Hitze war eine Qual, aber mir verschaffte sie Freiheit. Während der Rest der Familie sich unruhig auf den Betten hin und her warf oder döste, schlich ich mich unbemerkt zum Ufer des San Marcos River und genoss meine tägliche Ruhepause ohne Schule, ohne lästige Brüder und ohne Mutter. Direkt erlaubt war mir dieser Ausflug nicht, aber verboten hatte ihn auch niemand. Es gelang mir auch nur, weil ich ein eigenes Zimmer hatte, ganz am Ende des Gangs, während meine Brüder sich ihre teilen mussten, und sie hätten mich sofort verpetzt. Das Privileg eines eigenen Zimmers war vermutlich das einzig Gute an der Tatsache, dass ich ein Mädchen war.

Zwischen unserem Haus und dem Fluss lag ein fünf Morgen großes, sichelförmiges, nie gerodetes Dickicht. Mir selbst einen Weg da hindurch zu bahnen wäre unendlich mühsam gewesen, doch die anderen regelmäßigen Flussbesucher – Hunde, Wild, Brüder – sorgten stets für einen schmalen freien Pfad inmitten des tückischen Stachelgrases, das mir bis zum Kopf reichte und sich an meinen Haaren und meiner Schürze festzukrallen versuchte, obwohl ich mich schon so dünn wie möglich machte, um hindurchzukommen. Sobald ich am Fluss angekommen war, zog ich mich bis auf mein Unterkleid aus, und gleich darauf ließ ich mich auf dem Rücken treiben und genoss die Kühle des Wassers. Mein Hemd blähte sich in der leichten Strömung, ich war eine Wolke im Fluss, die sich sanft in den Strudeln drehte. Über mir, in den dunkelgrünen Kronen der Eichen, die sich über den Fluss neigten, sah ich das weiße Gespinst der Bärenspinner. Fast wie mein Spiegelbild sahen sie aus, diese Falter, wie sie in Ballons aus weißem Gespinst vor dem blass türkisfarbenen Himmel schwebten.

Bis auf meinen Großvater Walter Tate ließen sich in jenem Sommer alle Männer die Haare ganz kurz schneiden, außerdem rasierten sie sich die dichten Bärte und Schnauzer ab. Der Anblick ihrer bleichen, schutzlosen Gesichter war zunächst ein Schock für uns, nackt wie texanische Brunnenmolche kamen sie uns anfangs vor. Seltsamerweise schien nur Großvater, dem ein schwerer weißer Vollbart auf die Brust hing, die Hitze gar nicht zu stören. Er behauptete, das liege daran, dass er ein Mann fester und moderater Gewohnheiten sei, der niemals vor zwölf Uhr mittags Whiskey trank. Sein Schwalbenschwanz, ein muffiger alter Frack mit langen Rockschößen, war damals schon hoffnungslos aus der Mode, aber er wollte nichts davon hören, sich von ihm zu trennen. Obwohl unser Dienstmädchen SanJuanna ihn regelmäßig mit einem Schwamm und Benzin abrieb, behielt der Frack doch immer seinen muffigen Geruch und seine merkwürdige Farbe, die weder schwarz noch grün war.

Großvater lebte mit uns unter einem Dach, trotzdem war er so etwas wie eine Schattengestalt. Schon vor vielen Jahren hatte er die Leitung des Familienbetriebs seinem einzigen Sohn übertragen, meinem Vater Alfred Tate. Seitdem verbrachte er seine Tage mit »Experimenten« in seinem »Laboratorium« hinterm Haus. Dieses Laboratorium war nichts weiter als ein alter Schuppen, der einmal zu den Sklavenunterkünften gehört hatte. Wenn Großvater nicht in seinem Laboratorium war, dann war er entweder auf der Jagd nach Insekten für seine Sammlung, oder er hatte sich mit seinen modrigen Büchern in einen dämmrigen Winkel der Bibliothek zurückgezogen, wo niemand ihn zu stören wagte.

Ich fragte Mutter, ob ich mir die Haare abschneiden lassen dürfe, die mir schwer und warm weit auf den Rücken hingen, doch sie lehnte es rundweg ab; sie werde es nicht dulden, dass ihre Tochter wie eine kurz geschorene Wilde herumliefe. Ich fand das entschieden unfair, ganz abgesehen davon, dass mir unerträglich heiß war. Also entwickelte ich einen Plan: Jede Woche würde ich mir meine Haare einen Zollbreit abschneiden, also gerade so viel, dass es Mutter nicht auffiel. Sie würde es vor allem deswegen nicht merken, weil ich mich mit Wohlverhalten tarnen würde. In der Verkleidung einer wohlerzogenen jungen Dame gelang es mir oft, Mutters gestrengem Blick zu entgehen. Gewöhnlich hielten die Anforderungen des Haushalts und der ständige Trubel, den meine Brüder verursachten, sie dauernd beschäftigt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Trubel und Unruhe sechs Brüder verursachen. Hinzu kam, dass Mutters lähmende Kopfschmerzen durch die Hitze nur noch schlimmer wurden, und so musste sie immer wieder Zuflucht zu Lydia Pinkhams Kräuterelixier nehmen, dem, wie es hieß, »besten Blutreinigungsmittel für Frauen«.

Am Abend nahm ich mir eine Stickschere und schnitt mir mit klopfendem Herzen und großer Begeisterung zum ersten Mal einen Zollbreit von meinen Haaren ab. Dann betrachtete ich den weichen kleinen Heuhaufen aus Haaren in meiner gewölbten Hand. Ein großer Augenblick, wie ich fand. Ein erster großer Schritt auf dem Weg in meine Zukunft, in das leuchtende neue Jahrhundert, das in wenigen Monaten beginnen würde. In der Nacht schlief ich schlecht, aus Angst vor dem Morgen.

Am nächsten Tag ging ich mit angehaltenem Atem zum Frühstück hinunter. Die Pekannuss-Pfannkuchen schmeckten wie Pappe. Und was passierte? Absolut gar nichts. Keinem ist auch nur das Mindeste an mir aufgefallen. Einerseits war ich ungeheuer erleichtert, andererseits dachte ich: Das sieht meiner Familie mal wieder ähnlich! Ganze vier Wochen und vier Zollbreit abgeschnittener Haare später sah Viola, unsere Köchin, mich eines Morgens sehr scharf an. Doch gesagt hat sie nichts.

So heiß war es, dass Mutter beim Abendessen nicht mehr die Kerzen im Leuchter anzündete, das hatte es in der Familiengeschichte noch nie gegeben. Harry und ich durften sogar zwei Wochen lang unsere Klavierstunden ausfallen lassen. Das war auch gut so, denn Harrys verschwitzte Hände hinterließen eine feuchte Spur auf den Tasten, die er für das Menuett in G-Dur anschlug, und was immer Mutter oder SanJuanna versuchten, sie schafften es nicht, das Elfenbein wieder zum Schimmern zu bringen. Außerdem war unsere Musiklehrerin, Miss Brown, schon uralt, und ihr klappriges Pferd musste ihren Einspänner drei Meilen von Prairie Lea bis zu uns hinaus ziehen. Vermutlich würden beide auf dem Weg zusammenbrechen und müssten eingeschläfert werden. Eigentlich gar keine so schlechte Idee.

Als Vater hörte, dass unsere Klavierstunden erst einmal ausfielen, sagte er: »Umso besser. Ein Junge braucht ein Klavier genau so dringend wie eine Schlange einen Reifrock.«

Mutter war da völlig anderer Meinung. Sie wollte aus dem siebzehnjährigen Harry, ihrem Ältesten, einen richtigen Gentleman machen. Ihr Plan war es, Harry an die Universität im fünfzig Meilen entfernten Austin zu schicken, sobald er achtzehn war. In der Zeitung hatte gestanden, dass fünfhundert Studenten an der Universität eingeschrieben seien, darunter siebzehn streng behütete junge Damen, die die Schule der Freien Künste besuchten, wo sie Musik, Englisch oder Latein studieren konnten. Vater hatte andere Pläne mit Harry: Er sollte Geschäftsmann werden und eines Tages sein Unternehmen weiterführen, die Cotton Gin, die Anlage zur Entkörnung der Baumwolle, sowie die Pekannuss-Plantagen. Außerdem sollte er so wie sein Vater Mitglied bei den Freimaurern werden. Was mich anging, so fand Vater Klavierunterricht anscheinend passend, soweit er überhaupt einen Gedanken darauf verschwendete.

Ende Juni berichtete der Fentress Indicator, dass vor dem Gebäude des Zeitungsverlages eine Temperatur von 41 Grad Celsius gemessen worden sei, und zwar in der prallen Sonne. Wie hoch die Temperatur im Schatten war, wurde nicht berichtet. Wieso eigentlich nicht, fragte ich mich, schließlich würde kein vernünftiger Mensch sich länger als eine Sekunde in der Sonne aufhalten, höchstens auf dem Weg von einem schattigen Ort zum nächsten – einem Baum oder einer Scheune oder einem Zugpferd. Meiner Meinung nach wäre es für die Bewohner unserer Stadt sehr viel nützlicher, die Temperaturen im Schatten zu kennen. Mit viel Mühe verfasste ich einen Leserbrief an die Zeitung, und zu meinem großen Erstaunen wurde er in der Woche darauf abgedruckt. Und zum noch größeren Erstaunen meiner Familie begann die Zeitung damit, auch die Temperatur im Schatten zu veröffentlichen. Wenn wir lasen, dass es im Schatten nur 37 Grad waren, war uns allen gleich nicht mehr ganz so heiß.

Sowohl im Haus als auch draußen gab es eine plötzliche Zunahme an Insektenaktivität. Grashüpfer stiegen in Schwärmen vor den Hufen der Pferde auf. Glühwürmchen erschienen in so großer Anzahl, dass niemand sich erinnern konnte, je in einem Sommer ein größeres Schauspiel erlebt zu haben. Abend für Abend versammelten meine Brüder und ich uns auf der Veranda auf der Vorderseite des Hauses und veranstalteten einen Wettbewerb, wer von uns das erste Aufflackern entdeckte. Das war eine aufregende Sache, und zu gewinnen war eine große Ehre, vor allem, nachdem Mutter einen Streifen blauer Seide aus ihrem Nähkorb genommen und einen schönen Orden mit langen Bändern daraus gemacht hatte. Zwischen einem Kopfschmerzanfall und dem nächsten stickte sie mit goldenem Faden die Worte Großer Glühwürmchenpreis darauf. Es war ein sehr eleganter, sehr begehrter Preis. Der Gewinner durfte ihn bis zum folgenden Abend behalten.

In der Küche erlebten wir eine nie zuvor gekannte Invasion von Ameisen. In militärischer Aufstellung marschierten sie durch winzige Spalten an Fußleisten und Fenstern und steuerten direkt das Waschbecken an. In ihrer verzweifelten Suche nach Wasser ließen sie sich durch nichts aufhalten. Viola erklärte ihnen den Krieg, doch sie unterlag. Wir sahen die Glühwürmchen als einen Segen an und die Ameisen als eine Plage, doch zum ersten Mal fragte ich mich, wieso man so eine Unterscheidung machte. Ich fand, Viola sollte aufgeben und die Ameisen in Ruhe lassen, doch als ich einmal feststellte, dass der schwarze Pfeffer im Eiersalat doch kein Pfeffer war, änderte ich meine Meinung.

Während gewisse Insekten uns überrannten, verschwanden andere, wie zum Beispiel die Regenwürmer, die sonst immer auf unserem Grundstück wohnten, völlig. Meine Brüder beklagten sich, weil sie nicht mehr genügend Würmer zum Angeln fanden und das Graben in der harten, vertrockneten Erde so mühsam war. Vielleicht hast du dich schon einmal gefragt, ob man Regenwürmer dressieren kann. Man kann, allen Ernstes. Die Lösung schien mir naheliegend: Regenwürmer kommen immer hervor, wenn es regnet, also ließ ich es für sie regnen, das war ja nicht schwer. Mehrmals am Tag trug ich einen Blecheimer zu einer schattigen Stelle im fünf Morgen großen Dickicht und goss das Wasser aus, immer an derselben Stelle. Nach vier Tagen musste ich nur mit dem Eimer auftauchen, schon kamen die Regenwürmer an die Oberfläche gekrochen, angelockt von meinen Schritten und dem Versprechen von Wasser. Ich sammelte sie ein und verkaufte sie Lamar für einen Penny das Dutzend. Lamar drängte mich unablässig, ich solle ihm verraten, wo ich sie gefunden hatte, doch ich schwieg. Der Einzige, dem ich meine Methode verriet, war Harry, mein Lieblingsbruder, vor dem ich nichts (na gut, fast nichts) geheimhalten konnte.

»Callie Vee«, sagte er eines Tages, »ich hab was für dich.« Er ging an seinen Schreibtisch und zog ein kleines, in rotes Leder eingebundenes Notizbuch hervor, in das die Worte SOUVENIR AUS AUSTIN eingeprägt waren.

»Schau mal«, sagte er, »ich habe es nie benutzt. Du könntest es nehmen, um deine wissenschaftlichen Beobachtungen aufzuschreiben. Du bist doch auf bestem Wege, mal ein richtiger Naturforscher zu werden.«

Was genau machte ein Naturforscher wohl? Ich war mir nicht sicher, beschloss aber, den restlichen Sommer lang einer zu sein. Wenn es nichts weiter bedeutete, als alles aufzuschreiben, was man um sich herum beobachtete – das war kein Problem. Und nachdem ich jetzt etwas hatte, das nur mir gehörte und worin ich festhalten konnte, was mir auffiel, sah ich auf einmal Dinge, die ich nie zuvor bemerkt hatte.

Die ersten Beobachtungen, die ich mir notierte, bezogen sich auf die Hunde. Wegen der Hitze lagen sie unbeweglich auf der Erde, wie tot sahen sie aus. Selbst wenn meine jüngeren Brüder versuchten, sie mit Stöckchen aus ihrer Langeweile herauszureißen, hoben sie nicht einmal den Kopf. Sie standen gerade einmal so lange auf, wie sie brauchten, um Wasser aus dem Trog zu schlürfen, dann ließen sie sich wieder in ihre flachen Erdmulden fallen, aus denen jedes Mal Staubwolken aufstiegen. Ajax, Vaters preisgekrönter Hühnerhund, hätte sich nicht einmal aufscheuchen lassen, wenn jemand einen Fuß von seiner Schnauze entfernt einen Schuss aus einem Gewehr abgefeuert hätte. Er lag da mit weit offenem Maul, sodass ich seine Zähne zählen konnte. Auf die Weise entdeckte ich, dass der Gaumen eines Hundes nach hinten zu, in Richtung Speiseröhre, tief zerfurcht ist. Der Grund dafür ist sicher, dass erbeutete Tiere in ihrem Abwehrkampf nur in eine Richtung befördert werden sollen – in der Richtung, die auch unser Abendessen nimmt. Das schrieb ich in mein Notizbuch.

Auch beobachtete ich, dass der Gesichtsausdruck bei Hunden weitgehend durch die Bewegung der Augenbrauen bestimmt wird. Warum haben Hunde Augenbrauen?, schrieb ich auf. Wozu brauchen Hunde Augenbrauen?

Ich fragte Harry, doch er wusste es nicht. »Geh und frag Großvater«, sagte er. »Der weiß solche Dinge.«

Doch das mochte ich nicht. Der alte Mann hatte selbst so wilde, zottige Augenbrauen, die mich an einen Drachen erinnerten, und außerdem hatte seine Respekt einflößende Gestalt mich schon als kleines Mädchen davon abgehalten, ihm auf den Schoß zu klettern. Ich konnte mich nicht entsinnen, dass er je mit mir gesprochen hätte, ich war mir nicht einmal sicher, ob er meinen Namen wusste.

Als Nächstes wandte ich meine Aufmerksamkeit den Vögeln zu. Aus irgendeinem Grund hatten wir in dem Jahr auffallend viele Rotkardinäle auf unserem Grundstück.

Ich freute mich, als Harry zu mir sagte, wir hätten es zu einer schönen Menge gebracht, so als hätten wir irgendeinen Anteil daran, so als hätten wir nach harter Arbeit ihre fröhlich leuchtenden Körper geerntet und wie Weihnachtsbaumschmuck in die Zweige der Bäume entlang unserer Einfahrt verteilt. Doch weil sie so viele waren und ihre übliche Nahrung aus Samen und Beeren wegen der Dürre immer weniger wurde, stritten die Männchen erbittert über den Besitz jedes einzelnen Zürgelbaums. Im Unterholz fand ich ein verstümmeltes totes Männchen; das war ein erschreckender und trauriger Anblick. Dann eines Morgens kam ein Vogelweibchen auf die Veranda geflogen und setzte sich auf die Rückenlehne des Korbstuhls neben mir. Ich saß stocksteif da. Ich hätte es mit den Fingern berühren können, ich hätte nur die Hand ausstrecken müssen. Aus dem blass aprikosenfarbenen Schnabel hing ein winziger grau-brauner Klumpen. Er sah aus wie ein Mäuschen, gerade mal fingerhutgroß, halb oder auch schon ganz tot.

Als ich beim Essen davon erzählte, sagte Vater: »Calpurnia, Kardinalvögel fressen keine Mäuse. Sie ernähren sich nur von Pflanzen. Sam Houston, bitte reiche mir die Kartoffeln.«

»Ja, Sir, ich sag ja nur«, antwortete ich lahm. Aber ich war wütend auf mich selbst, weil ich nicht auf dem beharrt hatte, was ich doch mit eigenen Augen gesehen hatte. Den Gedanken, dass die Kardinalvögel vom Wetter zu so unnatürlichem Verhalten getrieben wurden, fand ich schrecklich. Der nächste Schritt wäre dann Kannibalismus. Bevor ich an jenem Abend schlafen ging, nahm ich mir eine Blechdose Hafer aus dem Stall und streute ihn in der Einfahrt aus. Dann schrieb ich in mein Notizbuch: Wie viele Rote Kardinäle werden wir wohl nächstes Jahr haben, wenn sie nicht genug Nahrung finden? Nicht vergessen: Zählen!

Als Nächstes schrieb ich in mein Notizbuch, dass wir in jenem Sommer zwei sehr verschiedene Arten von Grashüpfern hatten. Einmal waren da die, die wir immer hatten – flink, smaragdfarben, mit vielen kleinen schwarzen Flecken verziert. Dann gab es aber auch doppelt so große, leuchtend gelbe, schwerfällige Tiere, unter denen die Gräser sich neigten, wenn die Insekten mit ihren großen Wachsflügeln darauf landeten. Noch nie hatte ich solche Grashüpfer gesehen. Ich wollte wissen, woher diese seltsamen gelben Exemplare kamen, und befragte jeden im Haus (außer Großvater), aber niemand konnte mir etwas dazu sagen. Niemand war auch nur im Geringsten interessiert.

Als ich mir nicht anders zu helfen wusste, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und ging zu Großvater ins Laboratorium. Ich schob den Sackleinenvorhang beiseite, der als Tür diente, und blieb zitternd auf der Schwelle stehen. Großvater sah erstaunt von seinem Arbeitstisch auf, an dem er eine eklig aussehende braune Flüssigkeit in verschiedene Becher und Retorten goss. Er lud mich nicht ein, näher zu kommen. Stotternd brachte ich mein Grashüpferproblem vor, während er mich anstarrte, als hätte er Mühe, sich zu erinnern, woher er mich kennen könnte.

»Oh«, sagte er dann mit sanfter Stimme, »ich vermute, dass ein schlaues kleines Ding wie du allein dahinterkommen kann. Komm wieder und berichte mir, wenn du es weißt.« Damit wandte er sich ab und machte sich Notizen in sein großes Buch.

Das war sie also schon, meine Audienz beim Drachen. Herausgekommen war dabei wohl nichts. Zwar hatte er nicht gerade Feuer gespuckt, als ich hereinkam, aber geholfen hatte er mir auch kein bisschen. Vielleicht hätte Großvater mich mehr beachtet, wenn ich Harry gedrängt hätte mitzukommen. Vielleicht war er ärgerlich, dass ich ihn bei seiner Arbeit gestört hatte, auch wenn er durchaus freundlich gesprochen hatte. Ich wusste, woran er arbeitete. Aus irgendeinem Grund hatte er es sich in den Kopf gesetzt, Pekannüsse zu Whiskey zu destillieren. Seine Überlegung war vermutlich, dass, wenn es möglich war, aus gewöhnlichem Mais und der schlichten Kartoffel gute Spirituosen herzustellen, warum dann nicht aus der vornehmen Pekannuss? Und Pekannüsse, die gab es bei uns weiß Gott im Überfluss – sechzig Morgen.

Ich ging zurück in mein Zimmer und dachte weiter über das Grashüpferrätsel nach. Auf meiner Frisierkommode stand ein Glas mit einem der kleinen grünen Grashüpfer, und ich sah ihn gründlich an in der Hoffnung, so würde mir vielleicht eine Eingebung kommen. Es war mir nicht möglich gewesen, einen von den großen gelben zu fangen, dabei waren sie doch viel langsamer.

»Wieso seid ihr so unterschiedlich?«, fragte ich, doch der Grashüpfer weigerte sich, mir zu antworten.

Am nächsten Morgen wurde ich wie gewohnt von lautem Geraschel in der Wand neben meinem Bett geweckt. Das war das Opossum, das zur üblichen Zeit in seinen Bau zurückkehrte. Bald darauf hörte ich das laute Anschlagen der Gewichtschnüre, als SanJuanna die Schiebefenster im Salon unter meinem Zimmer öffnete. Ich setzte mich in meinem hohen Messingbett auf, und plötzlich kam mir der Gedanke, dass die fetten gelben Grashüpfer eine völlig neue Spezies sein mussten, eine ganz andere Art als die grünen, und dass ich, Calpurnia Virginia Tate, sie entdeckt hatte. Aber war es nicht so, dass eine brandneue Spezies stets nach ihrem Entdecker benannt wurde? Ich würde berühmt werden! Landauf, landab würde man meinen Namen kennen, der Gouverneur würde mir die Hand schütteln, die Universität mir Diplome verleihen.

Aber wie ging es nun weiter? Wie sollte ich meine Ansprüche in der Welt der Wissenschaft geltend machen? Ich hatte so eine vage Ahnung, dass ich an jemanden schreiben musste, um meinen Fund registrieren zu lassen, an irgendeine Behörde in Washington.

Ich hatte gehört, wie mein Großvater und unser Pfarrer, Mr. Barker, sich bei Tisch über das Buch Die Entstehung der Arten von Mr. Charles Darwin unterhalten hatten, über die Dinosaurier, die gerade in Colorado ausgegraben wurden, und darüber, was das alles für das biblische Buch Genesis bedeutete. Sie sprachen darüber, wie die Natur die Schwachen ausmerzt und nur die Zähen weiterleben lässt. Unsere Lehrerin, Miss Harbottle, hatte Mr. Darwin beiläufig erwähnt und dabei nicht sehr angetan ausgesehen. So ein Buch, in dem es um die Entstehung der Arten ging, könnte mir bestimmt sagen, was ich tun sollte. Doch wie um alles in der Welt sollte ich darankommen, wenn in unserem Teil der Welt noch so erbittert darüber gestritten wurde? In San Antonio gab es ja sogar einen Ableger der Flat Earth Society, die die Ansicht vertrat, die Erde sei eine Scheibe.

Dann fiel mir ein, dass Harry mit dem Pferdefuhrwerk nach Lockhart musste, um Vorräte zu besorgen. Lockhart war der Verwaltungssitz des Landkreises Caldwell, und dort befand sich auch die öffentliche Leihbibliothek. Wenn es irgendwo Bücher gab, dann dort. Ich musste also nichts weiter tun, als Harry, den einzigen meiner Brüder, der mir nichts abschlagen konnte, zu bitten, mich mitzunehmen.

 

Nachdem alles Geschäftliche in Lockhart erledigt war, hatte Harry wenig Eile, den Heimweg anzutreten; lieber stand er noch an der Straßenecke herum und betrachtete bewundernd die Figuren der Damen, die vorbeipromenierten und die neuesten Kreationen der örtlichen Hutmacherin vorführten. Ich murmelte eine Entschuldigung und lief eilig über den Platz vor dem Gerichtsgebäude. In der Bibliothek war es kühl und dunkel. Ich steuerte direkt auf den Tisch zu, hinter dem die ältliche Bibliothekarin gerade einem dicken Mann im weißen Leinenanzug mehrere Bücher überreichte. Dann war ich an der Reihe. Im selben Moment näherten sich eine Frau mit einem kleinen Jungen, Mrs. Ogletree und ihr sechsjähriger Sohn Georgie. Georgie und ich hatten dieselbe Klavierlehrerin, und unsere Mütter waren miteinander bekannt.

O nein! Das Letzte, was ich brauchen konnte, war eine Zeugin.

»Guten Tag, Callie«, sagte Mrs. Ogletree. »Ist deine Mutter auch da?«

»Sie ist zu Hause, Mrs. Ogletree. Hallo, Georgie.«

»Hi, Callie«, sagte er. »Was machst du denn hier?«

»Ähm – ich wollte mir nur mal ein paar Bücher ansehen. Aber du hast deine ja schon, geh ruhig vor, bitte.«

Ich trat zurück und überließ den beiden mit einer großzügigen Handbewegung meinen Platz.

»Oh, vielen Dank, Callie«, sagte Mrs. Ogletree. »Wirklich reizend von dir. Das muss ich unbedingt deiner Mutter sagen, wenn ich sie das nächste Mal sehe.«

Nach einer wahren Ewigkeit gingen die beiden endlich. Die ganze Zeit schaute ich mich verstohlen um, ob womöglich weitere Besucher kamen. Die Bibliothekarin sah mich misstrauisch an. Ich trat an ihren Tisch. »Bitte, Ma’am, haben Sie vielleicht ein Exemplar von Mr. Darwins Buch?«

Sie beugte sich weit vor. »Wie war das?«

»Mr. Darwins Buch. Sie wissen doch, Die Entstehung der Arten

Sie sah mich fragend an und legte eine Hand hinters Ohr. »Du musst schon lauter sprechen.«

Mit bebender Stimme, aber lauter als zuvor sagte ich: »Mr. Darwins Buch. Sie wissen schon. Bitte.«

Sie durchbohrte mich mit einem säuerlichen Blick. »Mit Sicherheit nicht. So etwas würde ich in meiner Bibliothek nicht dulden. Die Bibliothek in Austin besitzt ein Exemplar, doch das müsste ich per Post ordern. Das macht fünfzig Cent. Hast du fünfzig Cent?«

»Nein, Ma’am.« Ich spürte, wie mir ganz heiß im Gesicht wurde. In meinem ganzen Leben hatte ich noch keine fünfzig Cent besessen.

»Außerdem«, fügte sie hinzu, »muss deine Mutter dir schriftlich erlauben, dieses Buch zu lesen. Hast du so ein Schreiben?«

»Nein, Ma’am«, sagte ich tief beschämt. Mich juckte es am Hals, ein klares Anzeichen für einen beginnenden Ausschlag.

Sie schnaubte verächtlich. »Dachte ich mir doch. Und jetzt entschuldigst du mich bitte, ich muss noch Bücher einsortieren.«

Wie demütigend! Fast wäre ich vor Wut in Tränen ausgebrochen, aber weinen vor der alten Schnepfe? Niemals! Schäumend vor Wut verließ ich die Bibliothek. Harry stand vor dem Gemischtwarenladen und sah mir besorgt entgegen.

Ich kratzte an den Pusteln, die sich an meinem Hals gebildet hatten, und brüllte: »Wozu hat man denn Bibliotheken, wenn sie einem die Bücher dann gar nicht geben?«

Harry sah sich verstohlen um. »Wovon redest du überhaupt?«

»Manche Leute sind als Bibliothekare absolut unfähig!«, schimpfte ich. »Und jetzt will ich nach Hause.«

Auf der langen, schweigsamen Rückfahrt in der Hitze auf dem hoch mit Waren beladenen Wagen warf Harry mir irgendwann einen Blick zu und fragte: »Was ist los, mein Kätzchen?«

»Nichts«, blaffte ich ihn an. Nichts, gar nichts, abgesehen davon, dass ich vor lauter Wut und Verbitterung fast erstickte und nicht in der Stimmung war, darüber zu reden. Zum ersten Mal war ich froh über die breite Krempe des Sonnenhuts, den Mutter mich gezwungen hatte aufzusetzen, damit ich keine Sommersprossen bekam.

»Weißt du, was in der Kiste da ist?«, fragte Harry. »In der direkt hinter dir?« Ich machte mir erst gar nicht die Mühe zu antworten. Ich wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen. Ich hatte einen Hass auf die ganze Welt.

»Das ist eine Windmaschine«, sagte Harry. »Für Mutter.«

Jeden anderen meiner Brüder hätte ich angefaucht: Mach dich nicht lächerlich, so etwas gibt es nicht.

»Wirklich«, sagte Harry. »Du wirst ja sehen.«

Als wir zu Hause ankamen, waren mir der Lärm und die allgemeine Aufregung beim Entladen des Wagens unerträglich, und ich flüchtete zum Fluss. Ich riss mir den Sonnenhut vom Kopf und Schürze und Kleid vom Leib, warf mich ins Wasser und versetzte Kaulquappen und Schildkröten in Angst und Schrecken. Gut so! Diese Bibliothekarin hatte mir den Tag verdorben, und ich war wild entschlossen, meinerseits anderen den Tag zu verderben. Ich tauchte unter und stieß einen langen, lauten Schrei aus, der mit dem Gurgeln des Baches in meinen Ohren rauschte. Ich tauchte kurz auf, um Luft zu holen, dann tauchte ich wieder unter und schrie noch einmal. Und weil aller guten Dinge drei sind, gleich noch einmal. Das Wasser kühlte mich ab, und nach und nach wurde ich ruhiger. Ein Buch – was war das schon? So wichtig war es doch gar nicht, wenn ich ehrlich war. Eines Tages würde ich alle Bücher der Welt haben, viele, viele Regale voll. Mein ganzes Leben würde ich in einem Bücherturm verbringen. Ich würde von morgens bis abends lesen und Pfirsiche essen und wäre glücklich und zufrieden. Und sollten irgendwelche jungen Ritter in ihrer Rüstung und auf weißen Pferden daherkommen und es wagen, mich anzuflehen – Lass dein Haar herunter! –, dann pfeffere ich ihnen so lange Pfirsichkerne an den Kopf, bis sie wieder abziehen.

Ich legte mich auf den Rücken und beobachtete ein Schwalbenpärchen, das unermüdlich flussaufwärts und flussabwärts segelte, um sich immer wieder wie Akrobaten auf der Jagd nach unsichtbaren Insekten in die Tiefe zu stürzen. Trotz meiner freien Stunden gestaltete der Sommer sich nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Niemand war an den Fragen interessiert, die ich in mein Notizbuch schrieb. Niemand war daran interessiert, mir dabei zu helfen, die Antworten zu finden. Die Hitze saugte das Leben aus allen und allem.

Ich dachte an unser großes, altes Haus, das wir alle so liebten und das jetzt inmitten des vertrockneten, gelben Rasens so traurig aussah. Normalerweise war das Gras weich und kühl und grün, es lud uns ein, die Stiefel auszuziehen und barfuß darüber zu laufen oder Statue zu spielen, aber jetzt war es völlig versengt, es leuchtete golden und war für die Füße so gefährlich wie Stoppelfelder. In dem gelben Gras hatte ich Mühe, meine brandneue Entdeckung, die großen gelben Grashüpfer, zu finden. Man sah sie erst, wenn man fast schon daraufgetreten war. Dann flogen sie auf, schwirrten mit klappernden Flügeln schwerfällig ein Stück in die Luft und verschwanden erneut im Gras. Dick und schwer wie sie waren, ließen sie sich kaum einfangen. Die smaragdgrünen zu erwischen, die eigentlich kleiner und flinker waren, war dagegen ein Kinderspiel. Komisch! Aber die waren einfach zu leicht zu entdecken. Die Vögel waren den lieben, langen Tag damit zugange, sie zu fressen, während die gelben sich gleich nebenan versteckten und ihre glücklosen Brüder verspotteten.

Da auf einmal begriff ich. Es gab keine neue Art. Alle gehörten sie zu derselben Art von Grashüpfern. Diejenigen, die etwas gelber zur Welt gekommen waren, schafften es in dieser Dürre, alt zu werden – die Vögel sahen sie nicht im trockenen Gras. Die grüneren dagegen wurden von den Vögeln geholt, sie lebten so kurz, dass sie gar keine Chance hatten, groß zu werden. Nur die gelberen überlebten, weil sie in dieser Trockenheit die besseren Voraussetzungen dafür hatten. Mr. Charles Darwin hatte recht. Der Beweis war da, vor meiner Haustür!

Wie unter Schock lag ich im Wasser, starrte zum Himmel hinauf und dachte nach, versuchte, irgendeinen Schwachpunkt in meinen Überlegungen zu finden, irgendeinen Riss in meiner Folgerung. Aber ich fand nichts. Platschend ging ich ans Ufer zurück und zog mich mit Hilfe der großen Blätter des Grünen Elefantenohrs, das praktischerweise dort wuchs, heraus. So schnell ich konnte, trocknete ich mich mit meiner Schürze ab, dann rannte ich nach Hause.

Dort fand ich die ganze Familie in der Eingangshalle; alle standen sie um eine offene Holzkiste herum. In einem Nest aus Holzwolle thronte eine eckige Maschine aus schwarzem Metall mit vier Flügeln vorn und einem Glasbehälter für Kerosin hinten. In der Mitte zwischen den Flügeln prangte ein dicker runder Messingknopf, der in geschwungener Schrift verkündete, was ich da sah: Chicagos beste Windmaschine.

»Alle einen Schritt zurück!«, sagte Vater und strich ein Zündholz an. Im nächsten Moment loderte mit einem gewaltigen Zischen die Zündflamme auf, und ein mineralischer Gestank breitete sich aus. Mein Brüder jubelten alle, ich auch, doch aus einem anderen Grund.

Von da ab wurde das Leben in unserem Haus etwas einfacher. Mutter zog sich über Mittag mit ihrer Windmaschine zurück, und allen ging es besser, vor allem Vater, den sie manchmal einlud, sich mit ihr zurückzuziehen.

Eine Woche dauerte es, bis ich den Mut aufbrachte, Großvater noch einmal einen Besuch abzustatten. Er saß in seinem Laboratorium in einem abgenutzten Sessel, dessen hervorquellende Füllung von Mäusen zernagt worden war.

»Ich weiß jetzt, wieso die großen Grashüpfer gelb und die kleinen grün sind«, sagte ich. Dann erzählte ich Großvater von meiner Entdeckung und wie ich dahinter gekommen war. Ich trat von einem Fuß auf den anderen, während er mich ansah und mir schweigend zuhörte. Nach einer Weile fragte er: »Bist du von alleine darauf gekommen? Ganz ohne Hilfe?«

»Ja«, antwortete ich und berichtete von meinem demütigenden Ausflug in die Bibliothek von Lockhart. Einen Moment lang sah er mich groß an, mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht. Vielleicht war er überrascht, vielleicht auch sprachlos, ich wusste es nicht. Jedenfalls betrachtete er mich, als wäre ich eine Spezies, die er nie zuvor gesehen hatte. Dann sagte er: »Komm mal mit.«

Er sprach kein Wort, während wir zusammen zum Haus gingen. Oje! Ich hatte das Undenkbare getan, indem ich ihn bei seiner Arbeit unterbrochen hatte. Und das nicht nur einmal, sondern gleich zweimal. Würde er mich Mutter übergeben, damit sie mir eine weitere ihrer Lektionen in gutem Benehmen erteilte? Doch er führte mich in die Bibliothek, zu der wir Kinder eigentlich keinen Zutritt hatten. Also wollte er mir die Lektion selbst erteilen. Vielleicht würde er mich wegen meiner unbeholfenen Theorie tadeln. Oder vielleicht würde er mir mit dem Stock einen Schlag auf die Hände geben. Meine Angst wuchs. Wer war ich denn schon, dass ich mir anmaßte, mir Gedanken über solche Dinge zu machen – ich, Callie Vee aus Fentress in Texas! Ein Niemand von nirgendwo.

Trotz meiner Furcht sah ich mich gut um, schließlich würde ich nicht noch einmal Gelegenheit dazu haben. Obwohl die schweren, flaschengrünen Vorhänge vor dem großen Doppelfenster zurückgezogen waren, war es dämmrig in der Bibliothek. Direkt neben dem Fenster standen ein breiter Ledersessel und ein kleiner runder Salontisch mit einer Leselampe. Am Boden neben dem Sessel lagen Bücher, mehr Bücher stapelten sich in hohen Regalen aus dem Holz unfruchtbarer Pekannussbäume. (Pekannussbäume kamen nun mal überall in unserem Leben vor, man entging ihnen nicht!) Ein großer Schreibtisch aus Eiche war voller faszinierender Merkwürdigkeiten: ein ausgeblasenes Straußenei auf einem holzgeschnitzten Ständer, ein Mikroskop, das in einem Etui aus genarbtem Leder lag, ein Walzahn, in den das Bild einer üppigen Dame graviert war, deren Rundungen von ihrem Korsett kaum zusammengehalten wurden. Die Familienbibel sowie ein schweres Lexikon mit dem dazugehörigen Vergrößerungsglas lagen Seite an Seite mit einem in roten Samt eingebundenen Album mit steifen Porträts meiner Vorfahren. So – welche Ermahnung würde mir nun zuteil werden, die biblische oder die zum Thema »Enttäuschung für die Vorfahren«? Ich wartete ab, während er seine Entscheidung traf. Mein Blick wanderte an den Wänden entlang, die mit flachen Schachteln bedeckt waren, in denen erschreckende Stabheuschrecken und leuchtend bunte Schmetterlinge ausgestellt waren. Unter jedem fröhlichen Farbfleck stand in der gestochenen Handschrift meines Großvaters der wissenschaftliche Name geschrieben. Ich vergaß mich und ging auf die Regale zu, um die Exponate aus der Nähe zu betrachten.

»Bär«, sagte Großvater.

Hmm?, dachte ich.

»Pass auf, der Bär«, sagte er, doch da stolperte ich bereits über das höhnisch grinsende, offene Maul an einem schwarzen Bärenfell. In dem Dämmerlicht stellten die Fangzähne tatsächlich eine Falle da, wenn man nicht achtsam war.

»Ja, stimmt. Bär, Sir.«

Großvater löste einen winzigen Schlüssel von seiner Uhrenkette und schloss damit die hohe Glasvitrine auf, in der sich noch mehr Bücher, ausgestopfte Vögel, Tiere in Alkohollösung und andere Kuriositäten befanden. Ich schlich hinüber, um einen besseren Blick auf diese unwiderstehliche Ausstellung erhaschen zu können. Ein missgestaltetes Gürteltier fiel mir ins Auge, bucklig, warzig, klumpig, ganz offensichtlich von einem völlig unfähigen Amateur ausgestopft. Wieso verwahrte Großvater das in seiner Vitrine? Selbst ich hätte das besser hinbekommen. Daneben stand ein Präparateglas, das bestimmt seine zwanzig Liter fasste, und darin lag das seltsamste Tier, das ich je gesehen hatte. Eine dicke, unförmige Gestalt mit zahlreichen Armen, zwei großen Glotzaugen, die vom Glas zusätzlich zu untertellergroßen Scheiben verzerrt wurden. Stoff für Albträume. Was um alles in der Welt war das? Ich ging näher heran.

Großvater streckte die Hand nach einem Stapel Bücher aus. Ich sah Dantes Inferno neben einem Band mit dem Titel Wissenschaftliche Grundlagen der Luftschifffahrt. Eine Studie zur Fortpflanzung bei Säugetieren lag neben einer Abhandlung über den weiblichen Akt. Großvater nahm einen in sattes grünes Leder eingebundenen Band mit feinem Goldschnitt heraus. Auch wenn ich kein Staubkörnchen darauf entdecken konnte, polierte er den Einband mit dem Ärmel. Feierlich beugte er sich zu mir herunter und hielt mir das Buch hin. Ich schaute darauf. Die Entstehung der Arten. Hier, in meinem eigenen Haus! Mit beiden Händen nahm ich den Band entgegen. Großvater lächelte.

So begann meine Beziehung zu meinem Großpapa.