Titel

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
Party bei Random House, New York.

This translation published by arrangement
with Random House Children’s Books,
a division of Random House, Inc.

ISBN 978-3-446-24288-3

© 2010 by Tom Leveen

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2013

Satz: Greiner & Reichel, Köln

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Für Joy, für Mom & Dad,

für die Jungs und für Jennifer S.

Beckett

Ich bin das Mädchen, das keiner kennt. Bis sie sich umbringt. Dann will plötzlich jeder mit ihr in einer Klasse gewesen sein.

Ihr wisst schon, wen ich meine.

Das Mädchen, das von niemandem gehänselt wird, weil keiner weiß, dass es da ist. Sie sitzt hinter dir in Chemie oder dir gegenüber in Spanisch. Du hast sie nackt in der Umkleide gesehen nach dem Sport (Leibesertüchtigung – gibt es ein schlimmeres Wort?) – aber du weißt nicht, welche Farbe ihre Augen haben.

Wie sie heißt.

In welcher Klasse sie ist.

Sie ist immer schon da gewesen, wie der Kaugummi unter deinem Pult im Matheunterricht. Und wenn du doch mal neugierig bist und mit dem Finger da unten lang fährst und ihn berührst, zuckst du sofort zurück und schreist Iiiih. Und wenn dieses Mädchen dann irgendwann weg ist, ist es auch egal; da ist immer ein anderes, das seinen Platz einnimmt.

Das nächste Mädchen, das keiner kennt ...

Das Mädchen, das in den Pausen immer Comics in der Schulbücherei liest. Das Mädchen, das lange, fließende Kleider, eine RastaMütze und bunte Hemden trägt – außer damals in der Neunten, als sie ein paar Wochen lang mit einem Tony-Hawk-T-Shirt rumlief, nachdem sie mit ihrer besten Freundin und deren Familie bei unglaublich coolen X-Games in San Diego war. Das Mädchen, das dich mal angelächelt hat und dem du womöglich auch zurücklächeln wolltest, nur hattest du leider keine Zeit dafür, weil in dem Moment eine SMS von einer Freundin kam, die du dann drei Minuten später vor dem Klassenzimmer getroffen hast.

Schon okay.

Mädchen, die so sind, sind es freiwillig. Wir haben uns dafür entschieden, in der Masse unterzutauchen, den Kopf gesenkt zu halten, nicht aufzufallen. Die Gründe dafür mögen von Mädchen zu Mädchen verschieden sein, aber das Ergebnis bleibt gleich:

Wir sind in Sicherheit.

Wir gehen diesem ganzen Highschool-Kram aus dem Weg, weil es außerhalb der Schule eine Menge Dinge gibt, die viel wichtiger sind. Dinge, von denen niemand weiß.

Nur ich.

Zum Beispiel das Mädchen, das sich nie am Unterricht beteiligt? Das nie zu Footballspielen oder Theaterstücken oder dem alljährlichen Schulflohmarkt geht? Das nie mit jemandem redet? Die Wahrheit ist: Für so was hat es keine Zeit. Es muss – musste – schnell nach Hause und sich um seine kranke Mutter kümmern. Niemand weiß, dass es jetzt ganz alleine lebt, weil sein Vater sich schon vor Jahren aus dem Staub gemacht hat und keine Nachsendeadresse hinterließ. Nun hat es Angst, dass die Schule das herausfindet und man es in eine Pflegefamilie steckt. Dass das Geld bald weg ist und es die Schule verlassen und sich einen Job suchen muss, um die Miete zu bezahlen, einen Job, wo es höchstens den Mindestlohn bekommt. Dass die elfte Klasse vielleicht sein letztes Schuljahr an der Highschool gewesen ist.

Das sind Dinge, von denen niemand weiß.

Dinge, die niemand über mich weiß.

Ich vermisse meine Mutter.

Hätte sie mir im Januar, einen Monat vor ihrem Tod, keine Vollmacht für unser kleines – die Betonung liegt auf klein – Bankkonto ausgestellt, ich weiß nicht, was ich getan hätte. Ich war gerade sechzehn geworden und schaffte es irgendwie, alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen, wie der Bestatter es nannte. Ich ließ sie einäschern und verstreute ihre Asche am Strand und im Pazifik. So hätte sie es gewollt. Es gab keinen Gottesdienst, keine Beerdigung, keine Töpfe mit Essen, die sich im Kühlschrank stapeln, mitgebracht von aufrichtig betrübten Verwandten und Freunden.

Meine Mutter war ganz anders als ich. Sie war voller Elan. Ein Freigeist, wie mein Vater sagte, während er heimlich eine Bratschenspielerin aus Seattle vögelte. Seit Dads Abgang lebten wir allein, und Mom war völlig zufrieden damit. »Ich brauche keinen Penis, um meine Tochter großzuziehen«, sagte sie und änderte unseren Nachnamen wieder in ihren Mädchennamen, als ich zwölf war.

Deshalb gab es in den letzten Monaten nur uns beide, außer ab und zu eine Krankenschwester, wenn wir uns ihren Besuch leisten konnten. Falls ihr es nicht wissen solltet: Musiker verdienen allgemein nicht besonders viel Geld. Jennifer M. & The Pasadena Theory kamen nie groß raus. Außerdem hörte Mom während ihrer ersten Chemo auf, neue Stücke zu schreiben, aber ihre Gitarre, eine Gibson Epiphone, und ihre Aufnahmegeräte stehen immer noch in dem kleinen Studio, das sie für sich gebaut hat. Die Leute kaufen immer noch ihre Platten, hin und wieder – das weiß ich, weil ab und zu Schecks über fünf Dollar im Briefkasten lagen, Tantiemen von dem kleinen Plattenlabel, mit dem sie zusammenarbeitete. Jetzt gehen die Tantiemen an mich. Die Leute von der Plattenfirma gehören zu den wenigen, die wissen, dass sie gestorben ist. Ich habe es sonst nicht mal den Menschen erzählt, die uns am längsten kennen. Ashley und Anthony und ihren Familien. Weil ich total bescheuert bin.

Wahrscheinlich muss ich bald ihr Equipment verkaufen. Wegen des Geldes. Ich will das nicht.

Samstag Abend, der Abend, an dem die größte Party des Jahres steigt, gehe ich zu der Franziskanermission, die gleich bei uns um die Ecke ist, und setze mich allein in die Kapelle. Ich begutachte meine gewebte Leinentasche, in die ich alles gestopft habe, was ich zu der Party mitnehmen wollte, wenn ich gehe: Geldbeutel, Handy, eine zerfledderte Ausgabe von Batman: Das erste Jahr, falls mir langweilig wird, Wohnungsschlüssel; alles.

Ich kenne die alte Dame, die den Souvenirladen der Mission führt, und sie lässt mich rein, ohne Eintritt zu verlangen. Ich komme gerne hierher und sitze in einer der hinteren Bänke, betrachte die Statuen von Jesus und den Heiligen und beobachte die Touristen, die mit ihren Digitalkameras drauflosknipsen und so tun, als würden sie Ehrfurcht empfinden. Viele machen sich nicht mal die Mühe, andächtig zu wirken.

Das ist schon in Ordnung. Jesus und die Heiligen scheint das nicht zu stören. Und es gibt Wichtigeres auf der Welt. Schließlich befinden wir uns im Krieg. Und jeden Tag sterben Menschen an Krebs. Jesus und die Heiligen haben bestimmt alle Hände voll zu tun.

Wenn niemand hier ist, was etwa die Hälfte der Zeit der Fall ist, rede ich mit Mom. Ich weiß nicht, ob sie mich hört. Sie ist nie in die Kirche gegangen, deshalb weiß ich nicht, ob sie jetzt hereindarf.

»Heute Abend findet eine Party statt«, erzähle ich ihr. Die Mission ist geschlossen, und die meisten Touristen sind schon weg. Gleich wird Carlos, der Hausmeister, kommen und mich mit seinem riesigen Besen hinausscheuchen. Das macht ihm Spaß. Er tut dann immer so, als sei er stocksauer auf mich, aber wenn er mit dem Besen vor mir herumfuchtelt, muss er immer lächeln. Ich mag Carlos. Er ist echt. Er sieht mich.

»Ich weiß nicht, ob ich gehen soll«, sage ich zu ihr, laut, aber gedämpft, damit man mich nicht für eine Wahnsinnige hält, falls jemand hereinkommt. Vielleicht bin ich das ja, so, wie ich hier sitze und mit meiner Mutter spreche, die vor fast fünf Monaten gestorben ist, als würde sie mir antworten oder die Statue der heiligen Maria zum Weinen bringen oder so.

»Ich meine, ich kenne da keinen«, fahre ich fort. »Ich meine, ich kenne sie schon. Ich weiß ihre Namen und mit wem sie befreundet sind und auf welches College sie gehen wollen. Ich weiß, dass Antho immer noch für die Raiders spielen will, obwohl ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr mit ihm geredet habe. Aber ich kenne sie nicht wirklich. Ich war noch nie auf einer richtigen Party. Ich meine, ich konnte nicht ...«

Ich verstumme. Meine Mutter weiß, warum ich nicht konnte.

Ich war zu sehr damit beschäftigt, sie zu füttern, als sie zu schwach war, um selbst zu essen. Das und hundert andere Pflichten, die ihr euch bestimmt nicht mal vorstellen wollt und die mit sämtlichen Flüssigkeiten zu tun haben, die ein menschlicher Körper überhaupt nur produzieren kann, und zwar in ganz unvorstellbaren Mengen.

»Ich habe das Gefühl, ich sollte es tun«, sage ich. »Einfach hingehen. Also, ich sollte gehen, gerade weil ich niemanden kenne. Einfach nur Hallo sagen oder so. Oder vielleicht Tschüss. Zu irgendjemand.«

Ich schließe die Augen. »Ich war auf keiner Party mehr seit Ashleys Geburtstag kurz nach Beginn der neunten Klasse.«

Ashley Dixon. Ich lächle fast. Wir waren seit dem Kindergarten befreundet, die ganze Zeit, bis Mom krank wurde. Dann zog Morrigan Lewis in die Stadt, und danach habe ich Ashley kaum noch gesehen. Ich hab die beiden die ganze Zehnte hindurch beobachtet, zuerst voller Eifersucht. Dann war ich so mit Moms Krankheit beschäftigt, dass ich meine frühere Freundin aus den Augen verlor. Für Mädchen, die ihre Mütter zur Chemotherapie ins Krankenhaus fahren müssen, ist Eifersucht ein Luxus. Nach ein paar Monaten war es, als hätte ich Ashley nie gekannt. An dem Tag, an dem Mom mir von ihrer Krankheit erzählte, nahm sie mir den Schwur ab, mit niemandem darüber zu sprechen.

»Ich werde schon wieder gesund«, sagte sie, und damals klang ihre Stimme noch stark und schön. »Es wird alles gut.«

»Was ist mit Ashley?«, fragte ich sie. »Und ihre Eltern? Können wir nicht ...«

»Mit niemandem, meine Kleine. Nicht mal mit Bob und Diane.«

»Und Antho und Mike ...?«

»Nein, auch nicht mit den Lincolns, Liebling. Mit niemandem. Versprich es mir.«

Also versprach ich es, und ich hielt mein Versprechen. Ich verbarg die schlimmste Nachricht meines Lebens vor meinen besten Freunden.

Ich habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen, als mir klar wird, dass ich zum ersten Mal seit über einem Jahr so richtig an Ashley denke, obwohl ich sie jeden Tag in der Schule sehe. Sie sagt immer Hallo, unablässig, jeden Tag, während Morrigan daneben steht und die Augen verdreht. Aber in den letzten Monaten habe ich sie nicht mal mehr angeschaut. Und Antho, er war immer so abwesend und hat gar nicht bemerkt, wie ich langsam unsichtbar wurde.

»Okay, ich gehe zu der Party«, sage ich zu Mom. »Wenn du wirklich willst. Ich gehe, und ich werde ... ich werd mich mit jemand unterhalten. Mit Ashley. Oder sonst jemandem. Einfach ein bisschen Smalltalk machen. Wenn du wirklich meinst, dass ich das tun sollte.«

Mom, Jesus und die Heiligen schweigen.

Als die Mission zur Nacht schließt – ein anderer Hausmeister, den ich nur Nicht-Carlos nennen kann, verriegelt die Tür –, nehme ich den Bus, auch gerne Loser-Express genannt, zu dem Haus, wo die Party stattfindet. Doch nachdem der Bus an der State Street vorbeigefahren ist, entscheide ich mich um. Ich steige an der Micheltorena Street aus, um einen anderen Bus zurück zur State zu erwischen. Beim Umsteigen tue ich so, als würde ich Morrigan Lewis nicht sehen, die von der anderen Straßenseite aus zu mir herüberschreit. Bestimmt ist Ashley in der Nähe, und ich will den beiden nicht begegnen.

Sobald der Bus hält, springe ich auf. Ich erkläre Mom, dass ich auf gar keinen Fall zu der Party gehe.

***

Ich bekomme Hunger und gehe zu diesem Pizzaimbiss an der State Street. Ich bin überrascht, Azize dort hinter dem Tresen zu sehen. Er ist so ziemlich der einzige Mensch, den ich als Freund bezeichnen kann, wenn damit jemand gemeint ist, mit dem ich mich ab und zu in der Bücherei unterhalte. Azize ist cool. Jedenfalls liest er gute Comics. Ich rede ein bisschen mit ihm, bis ich merke, dass mein Geld nicht mal reicht, um mir so ein blödes Stück Pizza zu kaufen. Ich verabschiede mich schnell und gehe weiter die State Street runter Richtung Meer. Wie peinlich.

Ich komme an Charles vorbei, einem älteren Schwarzen, der fast jeden Abend an der State Street Geige spielt. Er ist unglaublich. Er spielt alles, von Mozart bis Led Zeppelin. Als ich an ihm vorbeigehe, spielt er Figaros Hochzeit. Ich bleibe stehen und höre zu. Charles lächelt mich an, und ich würde gerne zurücklächeln, aber ich bin nicht in der Stimmung. Ich mag Charles. Er ist echt. Er sieht mich. Charles’ Augen glitzern im Licht der Straßenlampen, und er trippelt rüber zu mir, als wolle er mich um einen Tanz bitten. Da muss ich doch lächeln, und Charles’ Grinsen wird noch breiter, und man sieht seine kaputten Zähne, die die gleiche Farbe haben wie sein graues Haar.

»Schicke Mütze, Schätzchen«, sagt Charles, während er spielt und lächelt.

Charles’ Musik wühlt mich zutiefst auf. Sie ist wunderschön und treibt mir die Tränen in die Augen. Als würde Charles versuchen, mich aufzuheitern, und ich wäre zu kindisch, um mich darauf einzulassen.

Das ist ihm gegenüber nicht fair.

Ich krame in meiner Tasche. Charles verdient etwas für seine Mühe. Aber ich finde nur die paar Münzen, die noch nicht mal für ein Stück Pizza gereicht haben. Ich kann es mir nicht leisten, sie ihm zu geben.

Während ich zuhöre, sehe ich, wie leer sein Geigenkasten ist – es liegen nur ein paar Münzen darin, keine Scheine, genau wie in meinem Geldbeutel –, und mir wird klar, dass er das Geld bestimmt dringender braucht als ich. Gleich Montag werde ich auf Jobsuche gehen. Hoffentlich finde ich was, als Bedienung in einem Café oder so, vielleicht bei Coffee Cat. Und vielleicht noch einen zweiten Job, wenn es sein muss. Ich habe Moms altes Auto bereits an einen Gebrauchtwagenhändler verkauft.

Ich werfe die zwei Vierteldollar in seinen Kasten. Sie landen in der Einbuchtung, wo die Schnecke – oder der Kopf, wenn es eine Gitarre wäre – liegt. Ehe er was sagen kann, gehe ich rasch weiter. Ich will ihm nicht das Gefühl geben, er müsse sich bedanken, als hätte ich ihm einen Riesengefallen getan.

Ich laufe weiter zum Hafen und gehe bis zum Ende des Piers. Dort lasse ich die Beine baumeln, beobachte, wie der Ozean hin und her wogt, und atme die frische Luft ein.

Ich komme zu dem Schluss, dass es die dümmste Idee war, die ich je hatte, zu der Party zu gehen.

»Sie wissen gar nicht, wer ich bin«, sage ich, in der Hoffnung, dass Mom mich über die Wellen hinweg hören kann. »Bestimmt lassen sie mich gar nicht rein. Ich war nie in einer AG oder bei einer Theateraufführung oder einem Schulfest. Das ist doch albern.«

Ich habe ein Jahrbuch gekauft, ein Mal, letztes Jahr, hab es aber niemand zum Unterschreiben gegeben. Ich hab kein einziges Mal reingeschaut. An dem Tag, als ich es kaufte, vergaß ich es gleich in der Bücherei; fast wäre ich nicht mehr zurückgegangen, um es zu holen. Ich hatte noch nie einen Freund, der ein Herz über mein Foto gemalt hätte oder so. Das ist einer der vielen Nachteile, wenn man unsichtbar ist – ziemlich schwierig, sich mit einem Jungen zu verabreden.

Die Wellen rauschen weiter unbeeindruckt gegen den Strand.

***

Es hat keine zwei Jahre gedauert.

Keine zwei Jahre, bis die Krankheit sie aufgefressen hat, ein Biss nach dem anderem. Erst hat sie an der Brust meiner Mutter genagt, dann hat sie sich den Mund abgewischt und ist weitergezogen zum Hauptgang, der Leber. Mom war eine Kämpfernatur. Monatelang ging es hin und her, während sie gegen den Krebs kämpfte und versuchte, den Mut nicht zu verlieren. Als es begann, fing ich an, Batman zu lesen, allein – zuerst – in der Schulbücherei. Ich nannte den Krebs Joe Chill, nach der Figur, die Batmans Eltern tötete. Ein passender Name für das Monster, das mir den letzten Rest meiner Familie raubte.

Ich wusste, sie würde verlieren. Mom hatte sogar eine Lebertransplantation. Die Überlebenschance lag bei 65 Prozent nach fünf Jahren, wenn alles gut ging.

Es war nicht gut gegangen.

Aber Mom weinte nur einmal. In der ganzen Zeit. Ich fütterte sie gerade mit Suppe, als sie unvermittelt in Tränen ausbrach. Zuerst dachte ich, es seien die Schmerzen oder die Angst vor dem Krebs.

»Das ist nicht richtig«, schluchzte Mom. »Du bist so jung, Beckett. Du solltest das nicht tun. Du solltest mit deinen Freunden herumziehen. Herumziehen und dich amüsieren.«

Ich habe keine Freunde mehr, dachte ich, sagte es aber nicht.

»Du solltest die ganze Nacht aufbleiben«, sagte Mom. »Den Sonnenaufgang anschauen. Am Strand. Du solltest erst heimkommen, wenn es hell ist. Damit ich dir Hausarrest verpassen kann. Aber das wäre dir egal. Weil du so eine schöne Nacht gehabt hast. Das ist nicht fair.«

»Schon okay«, sagte ich, doch ich wusste genau, dass es nicht okay war. Ich wusste genau, was meine Mutter meinte. Meine Kindheit war vorbei. Wir hätten miteinander streiten sollen, so typisches Mutter-Tochter-Gezoffe, wo ich sie irgendwann anschreie: Du verstehst mich einfach nicht! Und Mom zurückbrüllt oder mir Hausarrest gibt, und ich die Tür zuschlage und heule und Musik höre und alberne, schwermütige Gedichte in ein Tagebuch schreibe.

Ich habe nichts von alldem gemacht. Es ging nicht. Ich hatte zu tun. Dad war der Geldverdiener gewesen, unser Ernährer, ehe er abgehauen ist, und Mom war zu stolz, um jemanden um Hilfe zu bitten. Mich bat sie auch nicht. Bei mir war es keine Frage.

Das Weinen strengte sie zu sehr an, und schließlich fiel Mom in einen erschöpften Schlaf.

»Geh zum Strand«, nuschelte sie, während ihr die Hühnerbrühe aus dem Mundwinkel tropfte. »Schau dir den Sonnenaufgang an, Beckett. Geh ...«

Sie schlief ein.

Ich wischte ihr Gesicht mit einem feuchten Waschlappen sauber und goss den Rest der Suppe in den Ausguss. Dann ging ich in mein Zimmer, schloss die Tür, kniete mich vors Bett, ein Kissen vor dem Gesicht, und schrie, schrie, schrie.

Joe Chill lachte nur.

Ich kann nicht ewig hier am Kai sitzen, deshalb stehe ich auf und gehe los. Ein Teil von mir weiß genau, wohin mich meine Schritte führen, auch wenn mich eine Stimme in mir warnt, dorthin zu gehen. Ich gehe trotzdem weiter.

Die Flut geht zurück, als ich am Shoreline Beach ankomme. Der Ozean ist wie ein Magnet; er lockt mich, in die Wellen zu springen und mich einfach mit der Flut treiben zu lassen. Aber das werde ich nicht tun, nicht wirklich. Ich will nicht sterben. Ganz bestimmt nicht. Vom Sterben habe ich in letzter Zeit genug gesehen, aus nächster Nähe.

Trotzdem frage ich mich, ob es jemandem auffallen würde, wenn ich es täte.

Ich gehe in die Hocke und schaue auf das Wasser hinaus, überlege, ob sich die Party lohnt. Draußen im Pazifik hüpft ein Boot über die Wellen. Seine weißen Lichter malen Bögen über das Wasser. Die hohen Klippen hinter mir halten sämtliche Geräusche der Stadt fern und machen diesen einsamen Fleck am Strand zu einem Zufluchtsort, der nur mir gehört.

Das ist einer der Gründe, warum ich ihre Asche hier verstreut habe.

Ich müsste jetzt nur die Stufen hinter mir hochsteigen, zum Shoreline Park, und dann die Straße hochlaufen bis zur Party. Es ist ganz leicht.

Aber warum? Ich meine, wozu überhaupt? Ein sinnloser Versuch der Selbstbestätigung? »Bitte, bitte bemerkt mich doch endlich, zeigt mir, dass ich lebe«? Einen Jungen kennenlernen, für eine leidenschaftliche Romanze in meinem letzten Schuljahr?

Lächerlich.

Selbst wenn es irgendwo da draußen einen Jungen für mich geben sollte, werde ich es nie erfahren.

Das ist total bescheuert.

Es ist, als wäre ich schon tot. Ein Baum, der im Wald umfällt – macht der ein Geräusch? Und ein Mädchen, das nicht spricht, dessen Namen niemand kennt – existiert es überhaupt?

Aber ich muss es wissen. Gibt es da draußen noch einen Menschen, der weiß, wer ich bin?

Das wird mein Antrieb: Ich gehe zu der Party. Ich gehe zwischen den Leuten dort herum. Ich warte, bis irgendjemand, nur ein Mensch, meinen Namen sagt. »Hallo« sagt. Oder: »Waren wir nicht in der Zehnten zusammen in Spanisch.«

Sollte das nicht passieren, dann ist der Fall erledigt. Meine Schulzeit, mein Leben, alles wird sich als unsichtbar erweisen.

Ich zwinge mich die Stufen hinauf, die in die Felsen gehauen sind, und gehe die Beachfront Avenue entlang zur Party. Ich bereue meinen Entschluss schon in dem Moment, als ich die Tür öffne.

***

Später renne ich die Straße entlang, weg von der Party, setze mich auf den Bürgersteig und lege die Arme auf die Knie.

Die ganze Nacht unterwegs sein? Den Sonnenaufgang betrachten? Mit meinen Freunden herumziehen?

Träume, nichts weiter. Hirngespinste einer halb toten Frau, gezeichnet von Schmerzmitteln und Krankheit. Warum habe ich das nicht kapiert, bevor ich einen Fuß in dieses blöde Haus setzte?

Ich öffne meinen Batman-Comic, um nicht loszuheulen. »Ich verdiene wohl nicht mehr«, lese ich auf Seite eins. »Dies hier ist mein Fegefeuer.«

Genau, Lieutenant Gordon.

Ich versuche, im schummrigen Licht der Straßenlampe zu lesen, und achte nicht auf die Sirenen, die in der Ferne heulen. Sie gehören zum Hintergrundlärm jeder Stadt mittlerer Größe wie Santa Barbara. Ich schaue erst auf, als drei Polizeiautos und ein Krankenwagen in die Straße einbiegen und vor dem Haus anhalten, wo die Party immer noch in vollem Gange ist.

Ich reibe mir übers Gesicht und beobachte zwei Polizisten, die auf das Haus zugehen. Ich bin zu weit entfernt, um es genau zu sehen, aber sie scheinen in Richtung Haustür zu laufen. Ich sehe, wie einer der Sanitäter seinen Kollegen ein Stück die Straße runterwinkt, in Richtung Shoreline Drive.

Es ist etwas passiert.

Eine Minute später gehen zwei weitere Polizisten über den Rasen zum Haus. Ich stehe auf, stecke mein Buch ein und gehe langsam zurück, von einer morbiden Neugier getrieben. Plötzlich schwappt eine Welle von Jugendlichen in den Vorgarten, sie rennen nicht, zerstreuen sich aber und gehen zu ihren Autos oder setzen sich auf den Bürgersteig.

Ich gehe so lange weiter, bis ich das Haus wieder sehen kann. Ich schlendere zu einem Typen, der ganz allein auf dem Bürgersteig steht, und erkundige mich, was passiert ist.

Ich frage mich, ob er weiß, welche Farbe meine Augen haben.

In welche Klasse ich nächstes Schuljahr gehen sollte.

Wie ich heiße.

Morrigan

Heute Abend steigt die größte Party des Jahres, und wenn mein Vater nicht bald mit diesem Gebrüll aufhört, werde ich sie verpassen.

Das ist so was von ätzend.

Und das kam so: Ende letzter Woche habe ich mein erstes Auto bekommen, zu meinem sechzehnten Geburtstag. Ein alter blauer Käfer, den mein Dad bei einem Kumpel, der Autohändler ist, gekauft hat. Ich habe den Führerschein, aber erst seit ein paar Tagen. Das Fahren mit dem Käfer muss ich noch üben, weil er keine Automatik, sondern eine Gangschaltung hat, aber immerhin hab ich ja die Prüfung bestanden und den Führerschein bekommen!

Ich sagte zu meiner Mutter, ich würde auf eine Party gehen, und sie gab mir zwanzig Dollar für Essen (eher fünf fürs Essen und fünfzehn für ein bisschen Dope, das ich von diesem Typen aus dem Schauspielkurs kaufen wollte, bei dem die Party stattfand, aber davon ahnte meine Mutter natürlich nichts). Ashley und ich hingen den ganzen Tag am Telefon und überlegten, was wir anziehen sollten, wer alles da sein würde, ob wir kiffen sollten oder nur trinken, mit welchem Typen wir schlafen würden, wenn es denn unbedingt sein müsste ... das Übliche eben.

(Die Antworten: Schwarze Cargoshorts, rotes Tanktop, rote Chucks; alle aus der Schule; erst trinken, später kiffen; der Typ aus dem Englischunterricht ... ich meine, wenn es sein müsste. Ashley weigerte sich, »über Letzteres zu spekulieren«.)

Zu meiner Mutter sagte ich also, wir würden – Zitat – »zu einer Party gehen«. Ich meine, ist doch keine große Sache, oder? Aber offenbar hätte ich es anders formulieren sollen, nämlich so: »Ich habe vor, in meinem neuen (alten) Auto zu einer Party zu fahren.«

Mein Fehler, weil: Vor zwanzig Minuten kam ich ins Wohnzimmer. In der Glotze lief ein Baseballspiel. (Es läuft eigentlich immer irgendein Spiel.) Ich stand in der Tür und sagte – Zitat – »Ich fahre jetzt zu Ashley.« Die ungefähr fünf Kilometer von uns weg wohnt.

Meine Mom, in ihr Kreuzworträtsel vertieft, sagte: »Mm-hmm.«

Mein Vater sagte: _____________________

Eigentlich ganz normal für die beiden. Wenn ich nicht spontan in Flammen aufgehe, was bisher erst einmal passiert ist (nur ein Witz!), scheine ich, was ihre Wahrnehmung betrifft, mit den beigefarbenen Wänden unseres Hauses zu verschmelzen. Sieh zu, dass du gute Noten schreibst und Werde ja nicht schwanger! – das sind die einzigen Regeln, an die ich mich halten muss. Davon abgesehen mache ich, was ich will. Was cool ist. Meistens zumindest.

Ein Beispiel: Mom hat nichts dagegen, dass ich zu einer Party gehe, und gibt mir sogar noch Geld dafür. Sie ist also ’ne tolle Mutter, oder? Sie ist echt gut drauf.

Genau.

Da Mom meinen Plan scheinbar gebilligt hatte, ging ich raus, stieg in meinen alten blauen Käfer, ließ den Motor an und fuhr (langsam) rüber zu Ashley, wo wir uns für die Party fertig machen wollten. Es war schon acht, und die Party sollte eigentlich schon um sieben losgehen.

Aber – kein Witz: Zwei Minuten später klingelte mein Handy.

Es ist Mom.

»Wo bist du?«, schrie sie.

Ehrlich, ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Ich prustete laut los und machte dabei so ein Geräusch, als würde ich im hohen Bogen Milch ausspucken. Pffffff, bah ha ha ha!

So ähnlich.

Ich war überrascht, dass sie überhaupt bemerkt hat, dass ich weg war. Ehe ich meiner Mutter sagen konnte, dass ich gerade mal zwei Straßen entfernt war, brüllte sie: »Komm sofort nach Hause, mit dem Auto!«

Erst dachte ich, mit dem Auto stimmt was nicht und Dad hat es mir nicht gesagt. Ich meine, um zu Ashley oder zu der Party zu kommen, muss ich nicht auf die Schnellstraße, aber vielleicht funktionieren die Bremsen nicht richtig oder so. Komisch, man sollte meinen, dass er so was erwähnt hätte, oder?

Also sagte ich: »Ja, okay«, und drehte um. Da lachte ich schon nicht mehr. Ich parkte vor dem Haus und ging hinein.

»Was ist los?«, fragte ich, als ich wieder ins Wohnzimmer kam.

»Leg den Schlüssel auf den Tisch«, sagte mein Dad, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

Ich legte die Schlüssel hin, wie ferngesteuert, weil ich – und das schwöre ich – total verwirrt war.

»Oooo-kay«, sagte ich und wartete.

Er sagte nichts. Ich hatte keine Ahnung, wo meine Mutter war.

»Also«, sagte ich, »was ist los? Was ist mit dem Auto?«

Mein Vater: _____________________

Also ehrlich, echt! Ist das nicht die Höhe? Wieso kriegt dieser Arsch den Mund nicht auf?

Ich versuchte es noch mal: »Dad ...?«

In dem Moment kam meine Mutter herein. »Da bist du ja!«, keifte sie, und wieder – ich konnte echt nicht anders – fing ich an zu lachen.

»Schön, dass dir das auffällt!«, entgegnete ich. »Was ist denn los?«

»Wir haben dir doch gesagt, dass du das Auto nur nehmen darfst, wenn du vorher gefragt hast!«, verkündete Mom.

In meinem Kopf gab es ein Geräusch, das ungefähr so klingt: DOINK!

Hä?

Und ich sagte: »Hä?«

»Hör mit dem Gegrunze auf, Morrigan, du klingst wie ein Neandertaler«, sagte Mom. Sie ließ sich wieder auf das Sofa fallen und nahm ihr Kreuzworträtsel zur Hand. So nach dem Motto: Das Gespräch ist hiermit beendet.

Was es nicht war, das versichere ich euch.

»Moment mal«, sagte ich und hielt die Hände in die Höhe. (Und, Gott, der Fernseher war vielleicht laut. Und da beschweren sie sich immer über meine Musik!) »Ich habe doch vor fünf Minuten hier gestanden und euch gesagt, dass ich zu Ashley fahre.«

Und dann ... dann kommt der Moment, wo die ganze Sache endgültig aus dem Ruder läuft.

Meine Mutter sagt – Zitat – »Hast du nicht.«

So. Jetzt reichte es aber.

»Mom! Ich stand hier direkt vor dir und hab gesagt: Ich fahre zu Ashley rüber, worauf du gesagt hast – Zitat – ›Ah‹ und ›Ha‹. Was scheinbar«, fügte ich hinzu, weil ich gerne sarkastisch werde, wenn ich sauer bin, »kein Gegrunze ist.«

Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Ich fand den Spruch ziemlich cool. Mom war ganz anderer Meinung. »Red nicht so neunmalklug daher, Morrigan.«

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Das hast du vorhin selbst gesagt!«

»Mäßige deinen Ton, junge Dame!«, schnauzte Dad. Und ich schwöre, er wandte dabei nicht eine Sekunde seinen Blick vom Bildschirm ab. Wahrscheinlich werden seine Augen bis an sein Lebensende am Fernseher festgetackert bleiben.

Arsch.

»Könntest du vielleicht den Fernseher etwas leiser stellen, damit ihr mich besser hört?«, fragte ich. Vielleicht einen Hauch zu höflich.

Worauf meine Mutter meinem Vater einen kurzen Blick zuwarf, den dieser nicht erwiderte. Mom zog die Augenbrauen kurz hoch, wie um zu sagen: Tja, das stimmt natürlich, der Fernseher war wirklich laut, und möglicherweise habe ich dich deshalb tatsächlich nicht richtig gehört, und da du ja so ein braves Kind bist, sollte ich die ganze Sache vielleicht zu deinen Gunsten auslegen, dieses eine Mal, damit du mit deiner besten Freundin zur größten Party des Jahres gehen kannst.

Zumindest sah es kurz so aus, als würde sie das denken. Dann notierte sie ein Wort in ihrem Kreuzworträtsel, und der Moment war vorbei.

Ich schwieg. Ich wartete. Ich zögerte.

Dann warf ich die Arme in die Luft und drehte mich um, um in mein Zimmer zu gehen.

Vom Sofa kläffte Dad mir nach: »Wo willst du hin?«

Als würden wir uns unterhalten und als würde ich mitten im Gespräch davonlaufen. Mann, ihr habt seit drei Minuten nichts mehr gesagt! Sind eigentlich alle Eltern so bescheuert?

Ich blieb stehen: »Ashley anrufen, damit sie mich abholt.«

»Du gehst nirgendwohin.«

Mittlerweile zitterte ich buchstäblich vor Wut. Meine Hände waren eiskalt und schweißnass. Ich hätte sie beide umbringen können.

»Wie bitte?«, fragte ich, weil ich nicht glauben konnte, was ich da eben gehört hatte.

»Du hast ohne Erlaubnis das Auto genommen, du bleibst zu Hause«, sagte meine Mutter, als wäre es das Logischste von der Welt.

Und damit hatte ich ganz offiziell GENUG. Ich war schon alleine mit dem Auto gefahren, ohne es an eine Wand zu setzen. Was zum Teufel sollte dieser Quatsch? Okay, ich war bisher immer nur die Straße hinunter und wieder zurück gefahren, aber trotzdem. Muss ich jedes Mal um Erlaubnis fragen, wenn ich irgendwohin will, bis ich achtzehn bin? Außerdem habe ich sie gefragt – oder es ihnen zumindest mitgeteilt, und sie haben nicht Nein gesagt, was im Grunde so was wie eine Erlaubnis ist.

Ich stürmte zurück ins Wohnzimmer und legte so richtig los: Ich wiederholte meine Seite der Geschichte (ein bisschen lauter diesmal) und stellte mich dabei vor den Fernseher, damit sie mich hören konnten und um meinen Dad zu ärgern. Na ja, der zweite Teil des Plans funktionierte: Er sprang auf und fing an, mich anzubrüllen, irgendwas über Verantwortung und die Lautstärke meiner Stimme.

Ich verstummte, verschränkte die Arme und tat so, als würde ich zuhören.

Es ist so was von hoffnungslos.

Jetzt schreit er schon seit zehn Minuten so rum. Während ich ihm so zuhöre, merke ich, dass im Fernsehen gerade Halbzeitpause ist.

Er hat sich nur zurückgehalten, bis das Spiel vorbei war. Wenigstens sieht es so aus.

Das Spiel beginnt wieder, und dieses Arschloch macht sich nicht mal die Mühe, den Satz zu beenden. In dem Moment, in der Sekunde, wo er die Stimme des Kommentators hört, bricht er mitten im Wort ab. Das Wort ist »Einstellung«, klingt aber wie »Einst«. Etwa so: Morrigan, mir stinkt deine Einst.

Ich glaube, dieses neue Wort muss ich unbedingt bei meinen Freunden einführen. Hurra!

Mom sagt gar nichts, aber ich merke, dass sie mit Dad einer Meinung ist. Typisch. Immer kuscht sie vor ihm. Ich habe mich sogar mal bei ihr darüber beschwert und sie gefragt, warum eigentlich immer alles so gemacht wird, wie Dad es will, oder eben gar nicht. Das hat sie selbst wortwörtlich so gesagt. (So was von lahm.) Mom lachte nur und sagte, ich würde ihn eben nicht so kennen wie sie. Soll das heißen, er verprügelt dich sonst, oder was? Nein, sagte Mom und lachte immer noch, er ist eben, wie er ist. Man muss ihn einfach lieben, sagte sie.

Vielleicht müsste ich das, aber im Moment tu ich es garantiert nicht.

Ich kann es nicht fassen. Ich habe absolut nichts falsch gemacht, und trotzdem darf ich nicht mit meinem Auto fahren und einen lustigen Abend mit meiner besten Freundin verbringen.

Sobald Dad fertig ist, gehe ich in mein Zimmer und rufe Ashley an. Sie merkt sofort, dass was nicht stimmt.

»Alles Sahne?«, fragt sie. Das ist so ein Spruch von uns, den wir immer sagen. Zur Begrüßung.

Ich erzähle ihr die ganze Geschichte, und weil sie meine beste Freundin auf der ganzen Welt ist, will sie den beiden sofort in die Kniescheibe schießen.

»Das ist so was von bescheuert! Mann, Morrigan ... und was ist mit der Party?«

»Keine Ahnung. Sie sagen, ich muss zu Hause bleiben.«

»Morry, das geht nicht«, sagt Ashley, als hätte sie in dieser Sache was zu melden. »Das ist die größte Party seit Jahren. Wir müssen da hin und mit Antho feiern und so.«

»Ich weiß, Ash.« Ich lasse mich völlig frustriert aufs Bett fallen. Ich starre auf die schwarze Umhängetasche, die vollgestopft ist mit allem, was ich mit zur Party nehmen wollte – Ersatzkleider, eine Flasche Jack Daniels, geklaut aus dem persönlichen Vorrat meines Vaters, meinen Führerschein (hüstel!), Moms Zwanziger – alles.

»Weißt du was?«, sage ich. »Scheiß drauf. Komm vorbei und hol mich ab.«

»Bist du sicher?« Ashley klingt, als hielte sie das für keine gute Idee.

»Natürlich bin ich mir sicher, Ash! Ruf mich an, wenn du vorne an der Ecke bist. Ich schleich mich dann raus und hüpfe sofort ins Auto, wenn du da bist. Und du fährst einfach los, egal, was passiert, kapiert?«

Meine Wut wandelt sich um in Aufregung. Das wird lustig. Wie ein Gefängnisausbruch. Und die Chancen stehen gut, dass meine Eltern es nicht mal merken. Bei einem Spiel der San Francisco 49ers habe ich meinem Vater mal erzählt, ich sei schwanger, nur um zu sehen, was passiert. In Wahrheit habe ich noch nie mit einem Jungen geschlafen, weil mein beknackter Ex es sich in seinen beknackten Kopf gesetzt hat, es wäre falsch – warum auch immer. Als würde Gott so was behaupten. (Wenn ich nur daran denke, könnte ich mich schon wieder aufregen.) Jedenfalls hat Dad nicht reagiert, bis zur nächsten Werbepause. Da sagte er: »Hast du gesagt, du bekommst ein Kind?« Und ich sagte: »Nö, ich sagte, ich mag kein Rind«, worauf er unsicher lächelte und sich wieder dem Fernseher zuwandte.

Deshalb bin ich ziemlich sicher, dass sie meinen Ausbruch gar nicht mitkriegen.

Was, wenn man mal ernsthaft darüber nachdenkt, ganz schön beschissen ist. Was wäre, wenn so ein Psycho bei uns einbricht und mich entführt? Sie würden es erst merken, wenn sie einen Erpresserbrief bekommen, so einen aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben.