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Contents

Vorwort

1 Was ist Leben?

1.1 Definition des Lebens

1.2 Die Chemie des Lebens

1.3 Das Lösungsmittel des Lebens

1.4 Lebensenergie

1.5 Andere Voraussetzungen

1.6 Schlussbemerkungen

2 Ursprünge eines bewohnbaren Universums

2.1 Der Urknall und die Folgen

2.2 Die ersten Sterne und Galaxien

2.3 Die schwereren Elemente

2.4 Eignung von Sternen für den Ursprung und die Evolution des Lebens

2.5 Eignung von Galaxien für den Ursprung und die Evolution des Lebens

2.6 Schlussbemerkungen

3 Ursprung eines bewohnbaren Planeten

3.1 Die Proto-Sonne

3.2 Die Entstehung der Planeten

3.3 Der geheimnisvolle Mond

3.4 Hausputz und Wasserlieferung

3.5 Die flüchtigen Verbindungen der anderen inneren Planeten

3.6 Schlussbemerkungen

4 Ursuppe

4.1 Das Inventar flüchtiger Verbindungen

4.2 Miller-Urey-Chemie und die junge Erde

4.3 Mechanismen der Miller-Urey-Reaktionen

4.4 Die präbiotische Synthese von Kohlenhydraten

4.5 Die präbiotische Synthese von Nucleinsäuren

4.6 Was fehlt – Fette

4.7 Andere Möglichkeiten

4.8 Präbiotische Polymerisation

4.9 Schlussbemerkungen

5 Der Funke des Lebens

5.1 Panspermia

5.2 Theorien zum Ursprung des Lebens

5.3 Stoffwechsel zuerst

5.4 Gene zuerst

5.5 Die RNA-Welt

5.6 Offene Fragen

5.7 Schlussbemerkungen

6 Von Molekülen zu Zellen

6.1 LUCA

6.2 Zurück zur RNA-Welt

6.3 Wie kann RNA die Synthese von Proteinen lernen?

6.4 Die Evolution des genetischen Codes

6.5 DNA als Archivmaterial

6.6 Was kam zuerst – Proteine oder DNA?

6.7 Enzym-getriebene Stoffwechselnetzwerke

6.8 Membranen

6.9 Schlussbemerkungen

7 Eine kurzgefasste Geschichte des Lebens auf der Erde

7.1 Der Ausbruch des Lebens auf der Erde

7.2 Die ersten komplexen Ökosysteme

7.3 Wann lebte LUCA?

7.4 Wie die Photosynthese die Welt veränderte

7.5 Die Einführung des aeroben Stoffwechsels

7.6 Eukaryonten: größere und bessere Zellen

7.7 Vielzeller: Explosionen und Artensterben

7.8 Schlussbemerkungen

8 Die Grenzen des Lebens

8.1 Lebe wild und gefährlich

8.2 Manche mögen’s heiß

8.3 Kühl kalkuliert

8.4 Trocken und salzig

8.5 Extreme pH-Werte

8.6 Leben unter Druck

8.7 Leben im Untergrund

8.8 Schlussbemerkungen

9 Bewohnbare Welten im Sonnensystem und darüber hinaus

9.1 Mögliche Lebensräume im übrigen Sonnensystem

9.2 Die Erkundung des Mars

9.3 Die Monde des Jupiters

9.4 Die Monde des Saturns und darüber hinaus

9.5 Planeten ferner Sterne

9.6 Schlussbemerkungen

10 Die Suche nach außerirdischem Leben

10.1 Die Suche nach Leben

10.2 Leben auf dem Mars?

10.3 Mars nach Viking

10.4 Mars-Mikroben auf der Erde?

10.5 Astrobiologie des äußeren Sonnensystems

10.6 Die Suche nach Leben jenseits des Sonnensystems

10.7 SETI: die Suche nach außerirdischer Intelligenz

10.8 Schlussbemerkungen

11 Nachwort

Glossar

Personenregister

Sachregister

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Groß, M.

9 Millionen Fahrräder am Rande des Universums

Obskures aus Forschung und Wissenschaft

2011

ISBN: 978-3-527-32917-5

Weigert, A., Wendker, H. J.,

Wisotzki, L.

Astronomie und Astrophysik

Ein Grundkurs

2010

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Liddle, A.

Einführung in die moderne Kosmologie

2009

ISBN: 978-3-527-40882-5

Bührke, T., Wengenmayr, R. (Hrsg.)

Geheimnisvoller Kosmos

Astrophysik und Kosmologie im 21. Jahrhundert

2009

ISBN: 978-3-527-40899-3

Horneck, G., Rettberg, P. (Hrsg.)

Complete Course in Astrobiology

2007

ISBN: 978-3-527-40660-9

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Autoren

Kevin W. Plaxco

kwp@chem.ucsb.edu

Michael Groß

michaelgrr@yahoo.co.uk

Vorwort

Das Weltall ist, das lässt sich kaum bestreiten, ganz schön groß. Als Wissenschaftler im Jahre 2003 das Hubble-Weltraumteleskop Hubble anwiesen, elf Tage lang auf denselben kleinen Himmelsfleck zu starren, entdeckte es mehr als 10.000 Galaxien in einem Ausschnitt des Himmels, dessen Anteil am Blickfeld nicht größer war als der eines Stecknadelkopfes, den man mit ausgestrecktem Arm gen Himmel streckt (Abb. 1). Extrapoliert man dieses Ergebnis auf die gesamte Himmelskugel, dann muss es im beobachtbaren Universum etwa 130 Milliarden Galaxien geben. Und diese enthalten im Durchschnitt jeweils um die 400 Milliarden Sterne. Das Weltall ist wirklich ziemlich groß.

Wenn das Weltall so unvorstellbar groß ist und wirklich 52 Trilliarden (5,2 × 1022) Sterne enthält, kann man daraus schließen, dass es auch jenseits unserer Atmosphäre irgendwo Leben geben muss? Oder sind wir vielleicht alleine im Universum? In Film, Fernsehen und Science-Fiction-Romanen ist man sich weitgehend einig, dass es dort draußen von Aliens nur so wimmelt. Schließlich wäre Science-Fiction ziemlich langweilig, wenn alle Himmelskörper so wüst und leer wären wie unser Mond.

Abb. 1 Galaxien wie Sand am Meer. Dieses Photo zeigt eine mit dem Hubble-Weltraumteleskop durchgeführte Langzeitbelichtung eines kleinen Himmelssegments. Dieser Abschnitt des Himmels wurde ausgewählt, weil er auf den ersten Blick nahezu leer erschien. Er enthält nur zwei Sterne, die in unserer eigenen Galaxie, der Milchstraße, angesiedelt sind. Von den übrigen 3.000 hellen Flecken auf diesem Photo ist jeder einzelne eine eigene Galaxie in weiter Ferne. Dieser Ausschnitt stellt nur ein Fünfmillionstel des Himmels dar und enthält demnach auch nur einen entsprechend kleinen Anteil der schätzungsweise 130 Milliarden Galaxien unseres Universums (Photo: NASA/STScI/ESA).

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Selbst WissenschaftlerInnen hängen oft der romantischen Vorstellung eines von vielfältigen Lebensformen bevölkerten Universums an. In den 1960er und frühen 70er Jahren gab es vorübergehend eine Wissenschaftsdisziplin namens Exobiologie, die sich ganz speziell dem Studium außerirdischen Lebens widmete. Da es jedoch bisher keinen Nachweis für Leben jenseits unseres eigenen Planeten gibt, fiel die Exobiologie schon bald dem Spott anheim, dass es sich um eine Wissenschaftsdisziplin ohne Untersuchungsgegenstand handele, und damit kam sie auch bald aus der Mode. Die Exobiologie war zu eng gefasst und auf Dinge konzentriert, die wir im Moment einfach noch nicht umfassend untersuchen können.

Dennoch will die Grundfrage: „Sind wir allein im Universum?“ angemessen behandelt werden. Dies übernimmt jetzt eine neue Forschungsdisziplin, die Astrobiologie. Im Gegensatz zur früheren Exobiologie hebt die Definition der Astrobiologie die Trennung zwischen Leben auf der Erde und Leben im restlichen Universum auf. Die Astrobiologie befasst sich mit der weiter gefassten, fundamentaleren und zugänglicheren Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Leben und den physikalischen und chemischen Gegebenheiten in unserem Universum. Zu diesem Zweck konzentriert sich die Astrobiologie zunächst einmal – verständlicherweise – auf das Leben auf der Erde, denn dieses ist schließlich das einzige Beispiel, das wir zur Hand haben. Sie versucht allerdings, dieses einzelne Beispiel im breiteren Zusammenhang des Universums zu verstehen.

Auf der Grundlage der umfassenden (wenn auch unvollständigen) wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Leben auf der Erde stellt die Astrobiologie sich drei fundamentalen Fragen über das Leben im Universum:

Der Wert der Astrobiologie liegt zum Großteil darin, dass diese Fragen vielleicht zu den fundamental wichtigsten Problemen der heutigen Wissenschaft gehören. Sie sprechen grundlegende Bedürfnisse des Menschen an, nämlich, zu wissen, wer wir sind, wo wir herkommen, und ob wir in den Weiten des Weltalls allein sind. Zusätzlicher Nutzen ergibt sich daraus, dass diese Fragen eine ungewöhnlich interdisziplinäre Vorgehensweise erfordern. Die Astrobiologie berührt eine Vielzahl von traditionellen Disziplinen wie Kosmologie, Astrophysik, Astronomie, Geologie, Chemie, Biochemie und natürlich die Biologie. Dieser Umstand verleiht den einzelnen Wissensgebieten einen neuen Grad an Bedeutung, da sie in einem weiter gefassten Kontext eingebettet werden. Andererseits macht die interdisziplinäre Natur der Astrobiologie auch eine reibungslose Kommunikation zwischen weit auseinanderliegenden Disziplinen erforderlich. Es gilt, Astronomie für Biologen verständlich zu machen und Zellbiologie für Astrophysikerinnen. In diesem Sinne versuchen wir mit diesem Buch, den gegenwärtigen Stand der Astrobiologie einem breiten Spektrum von wissenschaftlich Interessierten, „also Hörerinnen und Hörern aller Fakultäten“, zugänglich zu machen und beschränken uns deshalb auf die notwendigen wissenschaftlichen Einzelheiten.

Im ersten Kapitel beginnen wir damit, dass wir dieses obskure Objekt unserer Wissbegierde, das Leben, zu definieren versuchen. Obwohl es uns hier auf der Erde leicht fällt, lebende und nicht lebende Systeme zu unterscheiden, ist es nicht ganz so einfach, eine Definition zu erstellen, die alle Lebensformen, die vielleicht irgendwo im Universum vorkommen, einschließt und gleichzeitig alle nicht lebenden Systeme ausschließt.

Im zweiten Kapitel untersuchen wir, wie die Entstehung und Entwicklung unseres Universums die Bühne bereitete für die Entstehung des Lebens. Wie entstand das Universum und welche seiner Charakteristika unterscheiden sich von anderen denkbaren Universen, die womöglich kein Leben beherbergen können?

Von den expandierenden Weiten des Universums kommen wir dann in Kapitel 3 mit einem Zoom-Effekt zu dem kleinen Ausschnitt, der uns vertraut ist, nämlich unserem Planeten und seinen Nachbarn im Sonnensystem. Warum verwandelte sich der dritte Planet unserer Sonne in einen Lebensraum, während dies seinen Nachbarn nicht gelang? Welche Schritte sind notwendig, damit ein Planet – irgendein Planet, irgendwo im Universum – nicht nur bewohnbar wird, sondern auch Leben hervorbringt?

Ein weiterer Zoom bringt uns in Kapitel 4 zu der molekularen Welt an der Oberfläche der urzeitlichen Erde. Wir befassen uns mit den chemischen Bedingungen und möglichen chemischen Reaktionswegen, die dazu führten, dass Leben auf der Erde entstehen konnte.

Nachdem das Universum, die Erde und die Moleküle alle in geeigneter Form zur Entstehung des Lebens bereitstehen, bleibt noch die entscheidende Frage: wie entzündete sich das Feuer? Wie wurde unbelebte Materie zu belebter, ein unbewohnter Planet zu einem lebendigen? Die kurzgefasste Antwort lautet: Wir wissen es (noch) nicht. Allerdings gibt es partielle Antworten auf einige der Fragen in diesem Bereich sowie Randbedingungen, welche die Antworten auf andere Fragen einschränken, was es uns ermöglicht, einige spekulative Szenarien in Kapitel 5 durchzuspielen.

Im sechsten Kapitel folgen wir dann der Geschichte des Lebens auf der Erde von dessen Entstehung bis zu den ersten Zellen. Auch in dieser Phase weiß man bisher nur sehr wenig darüber, was wirklich geschah, wir können aber einschränkende Bedingungen dafür angeben, was auf der Erde – und auf anderen Planeten – geschehen konnte.

Der Nebel unserer Unwissenheit lichtet sich ein wenig, wenn wir in Kapitel 7 auf den gemeinsamen Vorfahren aller heute auf der Erde vorkommenden zellulären Lebewesen zu sprechen kommen. Es handelt sich um einen Einzeller namens LUCA, der bereits hochgradig evolviert war und DNA, RNA und mehrere hundert verschiedene Proteine besaß. Von diesem Punkt an kann man die Molekulargenetik benutzen, um die Geschichte des Lebens auf der Erde nachzuvollziehen. In zunehmendem Maße kommen dann auch Fossilien zur Hilfe, insbesondere ab der so genannten kambrischen Explosion vor rund 540 Millionen Jahren. Die Entwicklung des Lebens auf der Erde ist natürlich nur ein von vielen Zufällen und Randbedingungen geprägter Einzelfall, doch gibt sie uns immerhin einen Eindruck davon, was auch anderswo im Universum möglich sein könnte, und wie viel Zeit für eine solche Entwicklung erforderlich ist.

Der in den letzten Jahren gewachsene Optimismus der Astrobiologie, dass es auch anderswo im Universum Leben gibt, beruht unter anderem auch auf dem rasch anwachsenden Wissen von Arten, die unter extrem unwirtlichen physikalischen bzw. chemischen Bedingungen überleben, etwa bei hohen Drücken oder Temperaturen oder in extrem salzigen, sauren oder alkalischen Gewässern. Die Entdeckung dieser so genannten Extremophilen, die wir in Kapitel 8 behandeln, hat unsere Vorstellung davon, welche Orte im Sonnensystem als mögliche Lebensräume in Frage kommen, drastisch erweitert. Diese Verbindung zwischen der Erforschung von Habitaten auf der Erde und der Suche nach Leben im übrigen Universum ist ein wichtiger Aspekt, der die Astrobiologie von der früheren, enger definierten Exobiologie unterscheidet.

Nachdem wir die Entwicklung und die Grenzen des Lebens auf unserer Erde ausgelotet haben, können wir nun in Kapitel 9 wieder einen breiteren Blickwinkel anwenden und uns fragen, wo sonst in unserem Sonnensystem, und auch in anderen Planetensystemen, geeignete Lebensräume zu finden sein könnten. Ein Großteil der Weltraumforschung der letzten Jahre wurde mit dieser Fragestellung begründet. Im letzten Kapitel kommen wir dann von der Suche nach Lebensräumen zu der etwas schwierigeren und bisher erfolglos gebliebenen Suche nach außerirdischem Leben.

Seit die erste englische Ausgabe dieses Buches im Jahre 2006 erschien, hat es beträchtliche Fortschritte sowohl bei der Erforschung der Planeten unseres Sonnensystems als auch bei der Entdeckung von Planeten anderer Sterne gegeben. Irdische Extremophile sind an noch unwirtlicheren und entlegeneren Stellen aufgetaucht, und selbst die seit Jahrzehnten nur im Schneckentempo vorwärtskriechende Erforschung des Ursprungs des Lebens hat einige Fortschritte gemacht. Wir haben für die zweite englische Ausgabe (2011) und anschließend für diese deutsche Übersetzung den gesamten Text auf den jeweils neuesten Stand gebracht und uns bemüht, jegliche Fehler zu eliminieren. Wir hoffen, dass wir unsere Leserinnen und Leser mit dieser Ausgabe überzeugen können, dass die Astrobiologie tatsächlich eine lohnende Forschung an real existierenden Forschungsobjekten ist, und dass sie unserer Zivilisation hilft, unseren Platz im Universum zu verstehen.

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Was ist Leben?

In diesem Kapitel …
wird versucht, den Begriff „Leben“ so zu definieren, dass man die Definition überall im Universum anwenden könnte. Wir glauben, dass wir Leben erkennen, wenn wir es sehen. Aber können wir es auch so definieren, dass die uns noch nicht bekannten Lebensformen, die womöglich anderswo im Universum existieren, zuverlässig mit erfasst werden?

Erwin Schrödinger (1887–1961), Mitbegründer der Quantenmechanik wider Willen, Nobelpreisträger (Physik, 1933) und Urheber eines berühmten Gedankenexperiments mit Stubentiger, sagte gerne unverblümt seine Meinung. Nach der Machtergreifung der Nazis erkannte er, dass ihm diese Angewohnheit Schwierigkeiten mit den neuen Machthabern bereiten würde, trat von seinem Lehrstuhl an der Berliner Universität zurück, den er erst sechs Jahre vorher übernommen hatte, und emigrierte zunächst nach Oxford, dann in sein Geburtsland Österreich. Von dort vertrieb ihn 1938 der Anschluss. Im Jahre 1939 bot die Regierung des neutralen Irland ihm einen Lehrstuhl für Theoretische Physik am neu gegründeten Dublin Institute for Advanced Studies an. Trotz seiner schwierigen Situation als politischer Flüchtling am Anfang des Zweiten Weltkriegs fand er in Dublin eine neue Heimat und profitierte enorm von den 17 Jahren, die er dort verbringen sollte.

Zu seinen Aufgaben zählte ein einmal jährlich zu haltender öffentlicher Vortrag. Im Jahr 1943 hielt er sogar eine Serie von drei Vorträgen am Trinity College in Dublin, wo über 400 Menschen ihm zuhörten, als er die Frage behandelte: „Was ist Leben?“ Zu jener Zeit gab es die Disziplin Biophysik noch nicht, und es war geradezu unerhört, dass sich ein theoretischer Physiker in das Gebiet der Biologie hineinwagte. Überdies gab es in der damaligen Biologie praktisch nichts, was zu den streng logischen Denkweisen eines Physikers gepasst hätte. Deshalb konnte Schrödinger auch keine Antworten auf biologische Fragen geben. Stattdessen formulierte er die fundamentalen Fragen der Biologie so, wie er sie aus seiner Perspektive als Physiker sah.

Schrödinger behandelte hauptsächlich zwei grundlegende Aspekte des Lebens: Vererbung und Thermodynamik. Diese formulierte er als parallele Grundfragen: Wie erzeugt das Leben Ordnung aus Ordnung, und wie erzeugt es Ordnung aus Unordnung? In seiner Betrachtung der Genetik (Ordnung aus Ordnung) schätzte er die Anzahl der Atome, die in einem Gen enthalten sein müssten. (Zu dieser Zeit war „Gen“ noch ein vollständig abstraktes Konzept.) Er schlug vor, dass die genetische Information in einer Art „aperiodischem Kristall“ enthalten sein könnte, also einer regelmäßig wiederholten Struktur mit charakteristischen, informationstragenden Variationen. Angesichts der späteren Erkenntnisse zur Struktur der DNA erscheint diese Idee verblüffend hellseherisch.

In der zweiten Hälfte seiner Vortragsreihe erläuterte Schrödinger, dass Lebewesen wohlgeordnete Muster von Molekülen (und im Falle höherer Organismen, auch von Zellen und Geweben) erzeugen können, wobei sie allerdings eine größere Unordnung in ihrer Umgebung erzeugen. Auf diese Weise bleibt die Evolution von hochgradig komplexen und „geordneten“ Lebewesen aus einem ungeordneten Reservoir von einfachen, leblosen Molekülen vereinbar mit dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der für jedes geschlossene System und für das Universum insgesamt eine Zunahme der Entropie (Unordnung) festschreibt.

Schrödingers Vortragsreihe wurde später auch als Buch veröffentlicht. Dieses erwies sich als äußerst einflussreich und ist bis heute erhältlich. Zum ersten Mal hatte ein prominenter Wissenschaftler hier die Frage aufgeworfen, wie die Physik unseres Universums dessen Biologie eingrenzt. Dennoch war die Frage „Was ist Leben?“ 1943 nicht beantwortbar und stellte nicht nur die Biologie, sondern auch die anderen Wissenschaften vor unüberwindbare Herausforderungen. In den knapp sieben Jahrzehnten, die seitdem vergangen sind, hat die Wissenschaft viele Aspekte dieser Frage gelöst. Deshalb können wir heute, in diesem Einführungskapitel, zumindest versuchen, Leben zu definieren und einige seiner fundamentalen Voraussetzungen aufzuführen.

1.1 Definition des Lebens

Heute gibt es ja nicht mehr nur „die“ Biologie, sondern ein ganzes Spektrum von Lebenswissenschaften, deren Interessen von der Urzeit bis in die Zukunft, vom Abstrakten bis in die medizinischen Anwendungen, und von den kleinsten Mikroben bis hin zur Biosphäre reichen. Eine gemeinsame Definition, was denn dieses „Leben“ nun ist, das diese bunte Versammlung von Disziplinen verbindet, haben die Forscherinnen und Forscher allerdings noch nicht gefunden.

Solange man sich nur für die Lebewesen auf der Erde interessiert, die ja, wie wir in Kapitel 5 diskutieren werden, auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen, kann man sich vielleicht noch auf sein Bauchgefühl verlassen und darauf, dass man ein Lebewesen schon erkennen wird, wenn es einem über den Weg läuft.

Hier wollen wir allerdings auch diskutieren, welche anderen Arten von Leben möglicherweise an anderen Orten im Universum entstanden sein könnten, und welche Rahmenbedingungen zur Entstehung des Lebens geeignet sind. Zu diesem Zweck müssen wir auch eine brauchbare Definition haben, die festlegt, was Leben überhaupt ist.

Dabei muss uns auch bewusst sein, dass unsere Perspektive notwendigerweise beschränkt ist. Unsere Auffassung davon, unter welchen Bedingungen Leben entstehen oder gedeihen kann, ist mit Sicherheit stark beeinflusst von unserem Verständnis des Lebens auf der Erde. Solange wir uns dieser Probleme bewusst sind, können wir zumindest versuchen, die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für Leben im Universum so objektiv wie eben möglich zu sondieren. Was, nach langer Vorrede, ist also Leben?

Die auffälligste Eigenschaft, die lebende Systeme von der unbelebten Welt abhebt, ist ihre Fähigkeit, weitere Exemplare ihrer Art zu erstellen, oder, etwas wissenschaftlicher ausgedrückt, sich zu replizieren. Bei Homo sapiens lässt sich dieser Prozess in dem biblischen Imperativ „Seiet fruchtbar und mehret Euch“ beschreiben, dem die Menschheit in stetig wachsendem Maße nachgekommen ist.

Die Fähigkeit, sich zu vermehren, wird naturgemäß von der Evolution belohnt (wer es nicht tut, scheidet aus dem Spiel aus) und ist daher eine zentrale Eigenschaft des Lebens. Wenn man diese Sichtweise ins Extrem treibt, kann man alle Erscheinungsformen des Lebens, von Bakterien bis hin zu kriegsführenden Nationen, lediglich als Hilfsmittel betrachten, welche DNA-Moleküle zu ihrer Vermehrung nutzen.

Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Definition des Lebens als chemisches System (und dessen Abgrenzung gegenüber mechanischen und elektronischen Systemen). Über Jahrzehnte hinweg haben Autoren von Science-Fiction und sogar von angeblichen Sachbüchern, die gegenwärtige Trends der Nanotechnologie in die Zukunft extrapolieren, behauptet, dass selbstreplizierende, mikroskopisch kleine Roboter bald unsere Arterien sauber halten, Giftmüll beseitigen und viele andere nützliche Dinge tun würden. Von der Erfolgsaussicht dieser Prognosen einmal abgesehen, würden die physikalischen Gesetze unseres Universums solchen Robotern wohl nicht grundsätzlich im Wege stehen, und da sie sich replizieren, würden sie zumindest unsere erste Bedingung für Lebewesen erfüllen.

Auch im Cyberspace gibt es replizierende Wesen, so genannte Würmer. Obwohl diese einen Computer, eine Internet-Verbindung, und eine mit Sicherheitslücken ausgestattete Software benötigen, um sich zu vermehren, könnte man argumentieren, dass diese Umweltbedingungen einfach den Lebensraum des Wurms darstellen. Wir und alle anderen Lebewesen auf der Erde sind auch in der einen oder anderen Weise von Dingen abhängig, die unser Lebensraum uns zur Verfügung stellt. Wenn man eine universell gültige Definition des Lebens sucht, dann ist es nicht so einfach, diese beinahe lebendigen Systeme auszuschließen. Mit dem Fortschritt der Technik wird es sogar zunehmend schwieriger, da die Grenzen zwischen mechanischen, elektronischen, und biologischen Systemen zunehmend verwischen, wenn zum Beispiel Gehirne direkt mit Computern verknüpft werden können und Kleinstroboter den natürlichen Insekten immer ähnlicher werden.

Wenn wir allerdings den Ursprung und die Ausbreitung des Lebens im Universum betrachten, dann wäre es schwer zu erklären, wie mechanisches Leben oder gar Leben, das von Computer-Netzwerken abhängig ist, spontan hätte entstehen können. Das Problem liegt darin, dass mechanische Objekte definitionsgemäß Bauteile enthalten, die deutlich größer sind als Moleküle. Anders herum ausgedrückt, wenn wir ein System betrachten, in dem Moleküle die entscheidenden Funktionseinheiten sind, dann würden wir dieses als chemisches System beschreiben.

Vor der Entstehung der ersten Lebewesen gab es bereits Molekülgemische, in denen die Brownsche Bewegung alle Moleküle chaotisch durcheinander wirbeln ließ. Die Brownsche Bewegung ist nicht besonders schnell. Wenn Sie eine Flasche Parfum in einem geschlossenen Raum öffnen, wie lang dauert es, bis sich der Duft im ganzen Raum ausgebreitet hat? Und da die thermischen Bewegungen proportional der Quadratwurzel der Masse des bewegten Objekts langsamer werden, würde es länger als das gegenwärtige Alter des Universums dauern, bevor sich die Bauteile einer Uhr spontan zu einem funktionierenden Chronometer zusammensetzen würden, und auch ein selbstreplizierender mechanischer Roboter hätte keine Chance, jemals geboren zu werden. Mechanisches Leben, egal ob es dem ehemaligen Gouverneur von Kalifornien ähnelt oder nicht, kann zwar durch intelligentes Design von Hand existierender chemischer Lebensformen entstehen, doch es erscheint ausgeschlossen, dass es spontan entstehen könnte. Kurz und gut, wir können die mechanischen und elektronischen Wesen der Science-Fiction bei unserer Suche nach einer Definition des Lebens getrost ausschließen.

Ein letztes, aber wichtiges, Element gilt es allerdings noch zu berücksichtigen: Nicht alle selbstreplizierenden chemischen System sind lebendig. Kristalle können zum Beispiel unter gewissen Umständen die Bildung weiterer Kristalle ihrer Art anregen. Man nehme, zum Beispiel, eine übersättigte Lösung, also eine Lösung in der die Konzentration des gelösten Stoffs (zum Beispiel Kupfersulfat) höher ist, als sie gemäß dessen Löslichkeit offiziell sein dürfte. Bringen wir in diese Lösung einen Kristall als Kristallisationskeim ein, so wird er wachsen. Brechen wir den Kristall in mehrere Stücke, so wird jedes der Bruchstücke wieder zu der Größe des Originalkristalls (und darüber hinaus) wachsen, und jedes wir exakt dasselbe Kristallgitter aufweisen wie der erste Kristall.

Das ist im Falle des Kupfersulfats nicht besonders überraschend, da alle Kupfersulfat-Kristalle dieselbe Struktur haben. Aber auch bei chemischen Substanzen, die verschiedene Arten von Kristallen bilden können, kann man identische „Nachkommen“ erzeugen. Natriumchlorat bildet zum Beispiel chirale Kristalle (d. h. eine links- und eine rechtshändige Version, die spiegelbildlich und nicht überlagerbar sind, mehr darüber in Kapitel 5), obwohl das Molekül selbst nicht chiral ist. Wenn man ein Becherglas mit übersättigter Natriumchloratlösung einfach stehen lässt, bis die Substanz auskristallisiert, wird man etwa gleiche Mengen links- und rechtshändiger Kristalle finden. Wenn man hingegen die Lösung anhaltend und kräftig umrührt, werden die Kristalle alle dieselbe Händigkeit aufweisen (nein, es hängt nicht davon ab, in welcher Richtung sich der Rührer dreht!). Wie kann das passieren? Die heftige Rührbewegung wird den ersten kleinen Kristall, der sich bildet, in viele kleine Kristalle zerbrechen, die alle dieselbe Händigkeit aufweisen. Sobald diese wieder eine gewisse Größe erreichen, werden sie wieder zerbrochen. Im Prinzip vererbt sich die (zufällige) Chiralität des ersten Kristalls, der mit dem Rührer kollidiert, an die überwältigende Mehrheit der später gebildeten Kristalle. Auch das könnte man Replikation nennen. Dennoch ist es unumstritten, dass Kristalle nicht lebendig sind und nie waren. Was müssen wir also unserer Lebensdefinition noch hinzufügen, um zwischen unbelebten Kristallen und lebenden chemischen Systemen unterscheiden zu können? Ein Wort: Evolution.

Lebewesen erzeugen Nachkommen, die ihnen ähneln, durch Replizieren ihres Erbguts. Doch diese Replikation ist nicht perfekt. Zufällige Genmutationen erzeugen erbliche Variationen, welche die Überlebensfähigkeit der Nachkommen begünstigen oder verringern können. Diese erblichen Variationen geben der natürlichen Auslese die Chance, die Eigenschaften der nachfolgenden Generation und damit die Evolution der Art zu gestalten. Evolution, oder die Fähigkeit auf Selektionsdruck mit Anpassung zu reagieren, ist eine grundlegende Eigenart des Lebens und grenzt dieses klar von unbelebten selbstreplizierenden Systemen ab. Ein Kristall kann perfekte Kopien seiner selbst erzeugen, doch der erste Quarz-Kristall, der aus dem Sonnen-Nebel vor 4,57 Milliarden Jahren kristallisierte, hatte exakt dasselbe Kristallgitter wie jeder Quarz-Kristall, der heute industriell hergestellt wird. Kristalle und ihr Entstehungsprozess sind nicht wandelbar und können deshalb nicht zu anderen, komplexeren oder besser angepassten Formen evolvieren. Demnach sind sie auch nicht lebendig.

Nun, da haben wir ja schon unsere Definition. Leben erfordert ein selbstreplizierendes chemisches System, das evolvieren kann, so dass seine Nachkommen bessere Überlebenschancen haben. Das ist eine hübsche Definition, kurz, knapp und treffend, aber leider ist noch ein Wurm drin. Zwar ist ein chemisches System, das die genannten Bedingungen erfüllt eindeutig lebendig, aber in der entgegengesetzten Richtung funktioniert die Verbindung nicht so perfekt. Es gibt viele Lebewesen, die diese Bedingungen nicht erfüllen. Maultiere sind zum Beispiel grundsätzlich unfruchtbar, können sich also weder vermehren noch evolvieren, doch jeder, der sich mit einem solchen Tier im Urlaub herumgeschlagen hat, und zum Beispiel versucht hat, es zum Boden des Grand Canyon zu führen, wird bestätigen, dass Maultiere sehr wohl lebendig sind.

Ebenso werden diejenigen unter uns, die aus dem Alter des Kinderkriegens schon herausgewachsen sind, oder die keine Kinder bekommen wollen oder können, deswegen nicht gleich aus der Gemeinschaft der Lebendigen ausgeschlossen werden wollen. Um Ärger zu vermeiden, müssen wir also unsere kurze und knappe Definition um eine umständliche Erläuterung erweitern. Ein einzelnes Lebewesen für sich genommen, etwa ein einzelner Mensch, mag zwar lebendig sein, doch um das Kriterium der Evolution zu testen (und natürlich auch, um das Leben über die Lebensspanne des Individuums hinaus aufrechtzuerhalten), braucht man eine ganze Population von Lebewesen derselben Art. Für unsere astrobiologische Definition des Lebens wäre also ein einzelnes lebendiges Exemplar nicht hinreichend. Wir sind so anspruchsvoll, dass wir gleich eine ganze Horde von Lebewesen sehen wollen.

Von diesen philosophischen Ausführungen abgesehen, benötigen wir zum Glück keine Definition, die umfassend genug ist, um selbst alternde Akademiker mit abzudecken. Da die Evolution auf der Ebene von Populationen und Arten wirkt, kann sie sehr gut mit Individuen zurechtkommen, die sich nicht vermehren, aber der Population auf andere Weise helfen. Das gilt zum Beispiel für die überwiegende Mehrzahl der Mitglieder von Ameisen- und Bienenvölkern. Wenn wir Leben als selbstreplizierendes, evolvierendes chemisches System definieren, dann erfassen wir damit alle Arten, wenn auch nicht alle Individuen. Und selbst die nicht-replizierenden Individuen haben ja replizierende Eltern, also liegen wir mit unserer Definition nicht ganz falsch. Da diese unseres Wissens die einfachste Definition ist, die die Behandlung des Ursprungs und der Evolution des Lebens nicht unnötig einschränkt, erscheint sie uns als Grundlage für die weiteren Diskussionen geeignet.

Nachdem wir das geklärt haben, lautet die nächste Frage: Welches sind die minimalen (und somit fundamentalen) Voraussetzungen, die Leben benötigt? Da unsere Kenntnis dieses Themas zwangsläufig beschränkt ist, sollten wir unser Netz so weit wie möglich auswerfen, und uns bemühen, dass wir nicht irdische Grenzbedingungen irrtümlich zu universell gültigen Grenzen erklären. Dennoch können wir eine Anzahl von Kriterien identifizieren, die für die Entstehung und Ausbreitung des Lebens absolut unabdingbar zu sein scheinen.

1.2 Die Chemie des Lebens

Ein überwältigender Anteil von 99,9% der Atome im Universum sind entweder Wasserstoff- (H) oder Heliumatome (He). Helium kann keinerlei chemisch Verbindungen bilden, und Wasserstoff für sich allein bildet nur eine Molekülsorte, nämlich das Wasserstoffmolekül H2. Leben, wie wir es definiert haben, erfordert eine deutlich komplexere Chemie als die Bildungsreaktion des Wasserstoffmoleküls, das können wir trotz aller Vorsicht gegenüber Erd-zentrischer Voreingenommenheit zweifelsfrei feststellen. Wir brauchen also schwerere Atome. Wasserstoff- und Heliumkerne entstanden bereits in den ersten Minuten nach dem Urknall, doch die Geburt der schwereren Atome ist eine längere Geschichte, auf die wir in Kapitel 2 detaillierter eingehen werden.

Welche Elemente benötigt das Leben? Hier müssen wir ein wenig spekulieren, doch nicht ohne eine wissenschaftliche Grundlage. Schließlich gibt es nur eine begrenzte Zahl von Elementen im Periodensystem (Abb. 1.1), und viele von diesen sind aus verschiedensten Gründen nicht dazu geeignet, Leben zu ermöglichen. Demnach können viele der rund 90 natürlich vorkommenden Elemente ausgeschlossen werden. So viele, dass für die Hauptrolle des zentralen Elements des Lebens womöglich nur der Kohlenstoff (C) übrig bleibt, der ja, wie das Leben so spielt, auch in unserer irdischen Biochemie das wichtigste Element ist. Am einfachsten kann man die besondere, wenn nicht gar einzigartige, Eignung des Kohlenstoffs für die Hauptrolle auf der Bühne des Lebens würdigen, indem man ihn mit seinem nächsten Verwandten vergleicht, dem Silizium (Si).

Viele der Eigenschaften, die den Kohlenstoff für diese Rolle qualifizieren, teilt er mit dem Silizium, das ihn in manchen sogar übertrifft. So ist Silizium zum Beispiel auch vierwertig (d. h. jedes Atom geht vier Bindungen ein), was eine Vielfalt von komplexen molekularen Strukturen ermöglicht. Obwohl eine einfache Bindung zwischen zwei Siliziumatomen schwächer ist als zwischen zwei Kohlenstoffatomen, beträgt diese Abweichung nur rund 25%. Beide Elemente können lange Kettenmoleküle bilden. Verbindungen aus Silizium und Wasserstoff, so genannte Silane, können zum Beispiel bis zu 28 Si-Si-Bindungen hintereinander enthalten. Kohlenstoff ist zwar häufiger als Silizium im Sonnensystem insgesamt (Abb. 1.2), doch an der Erdoberfläche ist Silizium um mehrere Größenordnungen häufiger anzutreffen (Abb. 1.3). Tatsächlich wird die Häufigkeit des Siliziums in der Erdkruste nur von einem Element, dem Sauerstoff, übertroffen. Dennoch kann Silizium einfach nicht so eine reichhaltige Chemie unterstützen wie sein Nachbar aus der oberen Etage. Seine Probleme liegen sowohl in der Thermodynamik (Stabilitäten von Verbindungen im Gleichgewicht) als auch in der Kinetik (Geschwindigkeit) seiner chemischen Reaktionen mit anderen Elementen.

Abb. 1.1 Die atomaren Bausteine des Lebens. Selbst eine flüchtige Betrachtung des Periodensystems der Elemente muss uns zu dem Schluss führen, dass relativ wenige Elemente geeignet sind, die komplexe Chemie zu fördern, die das Leben auf der Erde (und vermutlich überall) benötigt. Insbesondere ist nur der Kohlenstoff sowohl vierwertig als auch imstande, starke kovalente Bindungen mit seinesgleichen und mit den Nachbarn im Periodensystem einzugehen. Diese Eigenschaften verleihen dem Kohlenstoff eine einzigartige Befähigung, die enorm vielfältige organische Chemie zu entwickeln, auf die sich auch die Chemie des Lebens stützt.

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Ein Blick auf die relative Bindungsstärke (eine thermodynamische Eigenschaft) der verschiedenen Bindungen, die Kohlenstoff und Silizium eingehen können, versorgt uns mit Belegen für unsere Argumente (Tabelle 1.1). Der Energiegehalt einer typischen Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindung (C–C) ist nicht weit entfernt von den entsprechenden Energien der Bindungen des Elements mit Wasserstoff (C–H), Sauerstoff (C–O) und Stickstoff (C–N). Deshalb hat die Chemie der Kohlenstoffverbindungen freie Bahn. Die Natur muss nicht viel Energie investieren, um den Bindungspartner eines Kohlenstoffatoms auszutauschen. Diese Eigenschaft ist ein erheblicher Vorteil bei der komplexen Art von Chemie, die man vermutlich für jede Art von Leben benötigt. Aufgrund dieser Eigenschaft fällt es der Biologie leicht, Kohlenstoff von einem Molekül zum anderen zu leiten, durch eine verwirrende Vielfalt von organischen Verbindungen.

Abb. 1.2 Die relative Häufigkeit von Elementen in der Sonne. Diese Häufigkeitsverteilung gibt (abgesehen von der seither erfolgten Fusion von Wasserstoff zu Helium) einen Eindruck von der relativen Häufigkeit der Elemente in dem Nebel, aus dem unser Sonnensystem entstand, und damit der Elemente, die als Bausteine für die Entstehung der Planeten zur Verfügung standen. Man beachte, dass die Sonne im Vergleich zu anderen Sternen ihrer Größe relativ reich an schwereren Elementen (also allen jenseits des Helium) ist. Dennoch sieht die Häufigkeitsverteilung bei den meisten Sternen dieser Generation im Wesentlichen ähnlich aus (mehr darüber in Kapitel 2).

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Abb. 1.3 Die Liste der Zutaten für erdähnliche Planeten. Dargestellt ist die relative Häufigkeit der Elemente in der Erdkruste. Man beachte, dass sich die Verteilung dramatisch von der Häufigkeit der Elemente im Sonnensystem insgesamt unterscheidet (siehe Abb. 1.2).

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Tabelle 1.1 Typische Bindungsenergien für Einfachbindungen von Kohlenstoff und Silizium (Energie pro Bindung in kJ/mol). NB: Laut Konvention zeigen negativere Werte eine höhere Stabilität an.

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Silizium teilt hingegen diesen Vorzug nicht. Zwar sind seine Bindungen mit seinesgleichen, mit Wasserstoff und mit Stickstoff vergleichbar in ihrem Energiegehalt, doch die Silizium-Sauerstoff-Bindung ist weitaus stabiler als diese drei (Tabelle 1.1). Demzufolge lässt sich Silizium bereitwillig zu Siliziumdioxid (Quarz, Glas, Sand) oxidieren, was dessen Verfügbarkeit überall dort einschränkt, wo Sauerstoff zugegen ist. Und Sauerstoff ist das dritthäufigste Element im Universum.

Die besondere Eignung des Kohlenstoffs als chemische Grundlage des Lebens liegt aber nicht nur in den einfachen Bindungen. Kohlenstoff bildet auch Doppel- und Dreifachbindungen, welche seine chemische Vielseitigkeit noch erweitern. Ebenso wie bei den Einfachbindungen sind auch die Doppelbindungen des Kohlenstoffs mit Sauerstoff, Stickstoff und mit seinesgleichen von vergleichbarer Energie (Tabelle 1.2). Dasselbe gilt auch für Dreifachbindungen des Kohlenstoffs mit seinesgleichen und mit Stickstoff. Als zusätzliches Geschenk der Natur haben die Doppelbindungen ungefähr doppelt so viel und die Dreifachbindungen dreimal so viel Bindungsenergie wie die entsprechenden Einfachbindungen. Das hört sich trivial an, ist aber keineswegs selbstverständlich, da die quantenmechanischen Grundlagen der Mehrfachbindungen völlig andere sind als die der Einfachbindungen. Aus diesem Grund kann die Natur Bindungen in organischen Verbindungen recht einfach verschieben und umklappen, ebenso wie man auch in der Formelschreibweise der organischen Chemie die Striche, die jeweils eine Bindung oder ein freies Elektronenpaar symbolisieren, mit Leichtigkeit hin und her schiebt.

Tabelle 1.2 Typische Bindungsenergien für Mehrfachbindungen des Kohlenstoffs (Energie pro Bindung in kJ/mol).

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Und beim Silizium? Da sieht es nicht so gut aus. Moleküle mit Silizium-Silizium-Doppelbindungen und sogar eine Dreifachbindung sind zwar im Labor hergestellt worden, doch diese Verbindungen sind so instabil, dass sie nur in flüssigem Stickstoff (also bei ca. –200 °C) aufbewahrt werden können oder auf chemischem Wege durch sperrige Schutzgruppen vor unerwünschten Reaktionen bewahrt werden müssen. Im Gegensatz zu der zweiten Bindung in einer Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung wirkt die zweite Bindung beim Silizium destabilisierend, das heißt, die Doppelbindung ist weniger stabil als die Einfachbindung. Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir uns ein wenig mit Atom- und Molekülorbitalen (also Elektronenwolken) befassen. Wenn Ihnen diese Aussicht Angst einflößt, dürfen Sie den nächsten Absatz aber einfach überspringen. Gar nicht schlimm. Wirklich, kein Problem!

Ch03_image001.jpg Wichtig zu wissen
Warum Silicium keine Doppelbindungen mag Die vier äußersten Elektronen des Kohlenstoffs, also diejenigen, die für chemische Bindungen verantwortlich sind, befinden sich in vier Atomorbitalen, nämlich einem (kugelsymmetrischen) 2s- und drei (entlang der drei Raumkoordinaten angeordneten) 2p-Orbitalen. Da jedes dieser Orbitale im Prinzip zwei Elektronen aufnehmen kann, bleiben vier Plätze frei, bis sich ein passender Bindungspartner findet. (Bei dem Edelgas Neon sind alle acht Plätze besetzt, deshalb kann dieses Element keine Bindungen eingehen.) Untersucht man ein Molekül mit einer C=C-Doppelbindung, etwa Ethen (H2C=CH2), so kann man aus den Winkeln zwischen den Bindungen folgern, dass die Geometrie der an den Bindungen beteiligten Orbitale sich geändert hat. Das 2s-Orbital und zwei der drei 2p- Orbitale eines jeden Kohlenstoffatoms haben gemeinsam eine Mischform gebildet, so genannte sp2-Hybridorbitale. Diese drei identischen Orbitale liegen in einer Ebene und bilden die Bindungen zu den Wasserstoffatomen, und die „erste“ der beiden Bindungen zwischen den Kohlenstoffatomen. Statt der Atomorbitale definiert man nun Molekülorbitale, welche jeweils das bindende Elektronenpaar beherbergen. Die genannten Bindungen bestehen aus so genannten σ-Orbitalen, welche sich im Wesentlichen zwischen den beteiligten Atomen befinden und rotationssymmetrisch in Bezug auf die (gedachte) Achse sind, welche die Atome verbindet. Alle fünf σ-Orbitale des Ethens liegen in einer Ebene. Senkrecht zu dieser Ebene haben wir noch die verbleibenden 2p-Orbitale der Kohlenstoff-Atome, mit je einem Elektron. Mit einem Bindungsabstand von etwa 150 Picometern (Billionstel Metern) sind sich die beiden Kohlenstoffatome so nahe, dass die beiden aus der Ebene herausragenden p-Orbitale überlappen und ihrerseits ein Molekülorbital bilden können, nämlich ein so genanntes π-Orbital. Diese zweite Bindung, auch π-Bindung genannt, ist energetisch beinahe ebenso günstig wie die erste σ-Bindung. Silizium hat, da es in derselben Spalte des Periodensystems steht, auch vier Elektronen in der äußersten Schale, doch hier handelt es sich um die dritte Schale, also um 3s- und 3p-Orbitale, die deutlich weiter vom Atomkern entfernt sind als die 2s- und 2p-Orbitale, die beim Kohlenstoff die chemischen Bindungen bestimmen. Aufgrund dieser größeren Entfernung ist auch der Abstand zwischen zwei einfach gebundenen Siliziumatomen deutlich größer, nämlich rund 220 Picometer. Dieser Abstand ist zu groß, als dass es noch zu einer günstigen Überlappung der verbleibenden 3p-Orbitale kommen könnte. Aus diesem einfachen geometrischen Grund ist eine Silizium-Silizium-Doppelbindung energetisch nicht günstiger als eine Einfachbindung, was die Fähigkeit des Elements, komplexe chemische Verbindungen zu bilden, erheblich einschränkt.

Und als ob es mit der Thermodynamik nicht schon genug Probleme hätte, ist Silizium auch noch überaus reaktionsfreudig. Im Sinne der Gleichgewichtsthermodynamik sind sowohl Methan (CH4) als auch Monosilan (SiH4) extrem instabil gegenüber ihren jeweiligen Oxidationsprodukten, also Kohlendioxid und Siliziumdioxid. (Silan ist wegen der oben diskutierten Bindungsenergien sogar noch ein bisschen instabiler als Methan, aber darauf kommt es jetzt nicht an.) Methan ist allerdings kinetisch stabil in der Luft. Das heißt, obwohl Methan (z. B. Erdgas) heftig und mit erheblicher Energiefreisetzung brennt, wenn es angezündet wird, entzündet es sich nicht von selbst, wenn es mit Luft in Berührung kommt. Bei Zimmertemperatur reagiert Methan mit Luftsauerstoff so langsam, dass die Halbwertszeit seines Abbaus mehrere Jahrzehnte beträgt. Deshalb können sich natürliche Methanemissionen, etwa von Reisfeldern und von Wiederkäuern, in der Atmosphäre anreichern und einen erheblichen Beitrag zum Treibhauseffekt leisten.1) Monosilan hingegen entzündet sich an der Luft von selbst und verbrennt explosionsartig. Allgemein reagieren Siliziumverbindungen rascher als die entsprechenden Kohlenstoffverbindungen. Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir uns noch einmal mit Molekülorbitalen befassen (und die Ängstlichen dürfen den nächsten Absatz wieder überspringen).

Ch03_image001.jpg Wichtig zu wissen
Warum Silicium schnell reagiert Um einen der Bindungspartner eines Kohlenstoffatoms gegen eine andere molekulare Einheit auszutauschen, haben wir – rein theoretisch – zwei Wege zur Auswahl. Wir können den neu hinzukommenden Partner zuerst binden, was praktisch vorübergehend zu einem fünfbindigen Kohlenstoffatom führt, und dann die Bindung zur Abgangsgruppe auflösen. Alternativ können wir auch zunächst die eine Bindung auflösen, bevor wir die neue bilden, und somit einen Kohlenstoff mit nur drei Bindungspartnern als Übergangszustand in Kauf nehmen (Abb. 1.4). Der dreibindige Kohlenstoff im letzteren Mechanismus ist energetisch ungünstig, und diese Energiebarriere verlangsamt die Reaktion erheblich (da molekulare Zusammenstöße mit der erforderlichen Energie nur selten stattfinden). Allerdings ist der fünfbindige Übergangszustand der ersten Variante noch ungünstiger. Das Problem liegt darin, dass das niedrigste Orbital, das zur Ausbildung einer fünften Bindung verfügbar wäre, ein 3s-Orbital ist, also eine ganze Schale höher als die zweite Schale, in der sich die Chemie des Kohlenstoffs normalerweise abspielt.2) Im Gegensatz dazu steht dem Silizium jedoch ein günstiges 3d-Orbital zur Verfügung, das nicht so weit weg ist von den 3s-und 3p-Orbitalen, mit denen es normalerweise seine chemischen Bindungen aufbaut. Deshalb kann Silizium relativ stabile Verbindungen mit fünf Bindungspartnern eingehen, indem es einfach dieses 3d-Orbital als Notunterkunft für Bindungselektronen benutzt, bis der alte Mieter ausgezogen ist. Diese Ausweichmöglichkeit reduziert die Energiebarriere für Reaktionen am Siliziumatom erheblich, so dass dessen Reaktionen typischerweise um mehrere Größenordnungen schneller ablaufen als die des Kohlenstoffs.

Abb. 1.4 Kohlenstoff gegen Silizium. Um einen Bindungspartner des Kohlenstoffs zu ersetzen, muss man eine Bindung lösen. Wenn dies zu Anfang der Reaktion geschieht, führt es zur Bildung eines höchst instabilen Übergangszustands, in dem der Kohlenstoff nur drei Bindungspartner aufweist. Deshalb reagieren Kohlenstoffverbindungen oft recht langsam. Nur wenige thermische Zusammenstöße bringen genügend Energie mit, um diesen Zustand zu erreichen. Silizium hat hingegen eine energetisch günstigere Alternative. Es kann kurzzeitig auch fünfbindige Zustände annehmen. Da in diesem Fall die Energiebarriere sehr viel niedriger ist als beim dreibindigen Kohlenstoff, verlaufen die Reaktionen des Siliziums oft schneller.

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Damit haben wir die Unterschiede zwischen den beiden Elementen erfasst. Kohlenstoff bietet ein ausgewogenes chemisches Umfeld, in dem die Natur Einfach- und Mehrfachbindungen zwischen Kohlenstoffatomen und mit anderen wichtigen Elementen hin und herschieben kann, ohne einen zu hohen Preis für die Energieunterschiede zu bezahlen. Ebenso wichtig ist, dass die Reaktionskinetiken des Kohlenstoffs langsam sind, das heißt, wenn man ein Kohlenstoffatom in ein Molekül eingebaut hat, dann bleibt es auch dort (außer wenn die Nature ihre wunderbaren Katalysatoren anwendet, auf die wir später zu sprechen kommen werden). Silizium reagiert hingegen auf das heftigste, wenn Sauerstoff zugegen ist, und die Richtung der Reaktionen geht immer nur „bergab“ (im Sinne der Energieprofile) und enden somit in den äußerst stabilen Silizium-Sauerstoff-Bindungen, also als Quarz oder Sand. Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, dass die Chemie mehr als 10 Millionen Kohlenstoffverbindungen beschrieben hat – vergleichbar viele wie die kohlenstofffreien Verbindungen aller anderen Elemente zusammengenommen.

Wenn Sie immer noch glauben, dass, irgendwo in den Tiefen des Weltalls, Silizium-Lebewesen die spiegelverkehrte Diskussion führen, dann gibt es noch einen Aspekt zu bedenken: da die zweite Bindung in einer Kohlenstoff-Sauerstoff-Doppelbindung stabiler ist als die erste, ist Kohlenstoff sehr willig, mit zwei Sauerstoffatomen Doppelbindungen einzugehen und damit das gasförmige Kohlendioxid zu bilden. Silizium hingegen, wie oben besprochen, mag keine Doppelbindungen und muss sich deshalb mit vier, statt mit zwei Sauerstoffatomen verbinden. Da der Sauerstoff seinerseits zwei Bindungen eingehen muss, bildet sich ein dreidimensionales Netzwerk, das man nicht auflösen kann, ohne höchst stabile chemische Bindungen zu brechen. Der Gegensatz ist nicht zu übersehen. Wir essen wasserlösliche Kohlenstoffverbindungen wie Zucker und andere Kohlenhydrate, oxidieren sie mit wasserlöslichem Sauerstoff und scheiden noch besser lösliches Kohlendioxid aus. Lebewesen auf Siliziumbasis hätten es hingegen schwer, sie müssten Siliziumdioxid ausatmen, welches ausschließlich in fester Form auftritt, etwa als Sand.