Sebastian Thiel
Die Dirne vom Niederrhein
Historischer Kriminalroman
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unter Verwendung des Bildes »Mystische Hochzeit der Hl. Katharina von Alexandrien« von Parmigianino; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Parmigianino,_matrimonio_mistico_di_santa_caterina,_national_gallery_di_londra.jpg
ISBN 978-3-8392-4028-1
»Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.«
Aischylos
Neuß am Niederrhein, 02. April 1642
Ihre Schritte waren schwer, ihr Blick zu Boden gerichtet. Ihr Körper war umhüllt von dicken Leinentüchern, die Last der letzten Tage schien jeglichen Lebenswillen aus ihrem Leib getrieben zu haben. Blonde Strähnen wippten mit jedem ihrer Schritte mit. Die Kapuze hatte sie sich tief ins Gesicht gezogen. Niemand sollte die Schmach sehen, die sich in ihren blauen Augen offenbarte. Sie hatte nichts anderes verdient als den Tod, dessen war sie sich sicher.
Ihre einsame Gestalt verlor sich zwischen tiefen Wäldern und großen Wiesen. Der Himmel schien ihr Befinden widerspiegeln zu wollen. Tiefhängende Wolken zogen sich zu einer grauen Wand zusammen und donnerten ihr dunkles Lied in den Abend hinein.
Elisabeth blickte nach oben.
In düsteren Farben zeichnete sich das vergangene Unheil ab, als hätte der Teufel selbst das Bild gemalt. Unzählige Male hatte sie in den vergangenen Wochen gen Himmel gestarrt, stundenlang die Wolken beobachtet und gehofft, etwas zu finden. Ein Zeichen, eine Geste, die ihr diese unendlich schwere Last von den Schultern nehmen würde. Wie immer entdeckte sie nichts. Wie sollte sie auch? Nicht einmal der Allmächtige konnte diese Sünde ungeschehen machen.
»Bitte, verzeih mir«, hauchte Elisabeth in die finsteren Abendstunden.
Tief im Inneren hoffte sie, dass ihre Schwester sie hörte. Sie würde Elisabeth ihre Antwort schuldig bleiben. Zumindest bis zu dem Tage, an dem sie sich wiedersehen würden. Für Elisabeth war die Hölle bestimmt, da gab es für sie keinen Zweifel. Qualen für alle Ewigkeiten. Vielleicht, wenn der Herrgott Erbarmen hatte, dürfte sie ihrer Schwester für einen Moment noch einmal begegnen. Lediglich für einen kurzen Augenblick, damit Antonella ihr eine Antwort geben konnte. Vielleicht war sie jetzt glücklich mit ihrem Lorenz vereint. In den letzten Lebenstagen hatte sie viel ertragen müssen, es wäre nur gerecht, wenn die Hölle auf Erden über Elisabeth hereinbrechen würde und Antonella die Ewigkeit in den Armen ihres Geliebten verbringen dürfte.
Erste Regentropfen benetzten ihre Haut und erinnerten sie daran, dass sie noch lebte. Zumindest ihr Körper. Das Licht ihres Geistes, vormals lebensfroh und voller Kraft, schien erloschen. Wie sollte es weiterbrennen, nach dem, was sie getan hatte?
Verrat – die schlimmste aller Sünden. Und das an dem einzigen Menschen auf Erden, der sie verstanden hatte. Elisabeth hatte alles verloren. Ihren Vater durch die plündernden Hessen und die Machenschaften seines Sekretärs, ihr bisheriges Leben durch den Krieg und ihre Schwester durch ihre eigenen Worte.
Sie schloss ihre Augenlider. Plötzlich nahm der Regen an Intensität zu und vermischte sich mit ihren Tränen.
Wie hatte sie ihre Schwester als Hexe bezeichnen können? Ihrer verblendeten Eitelkeit wegen hatte sie Antonella in den grausamen Flammentod geschickt.
Ein weiteres Mal donnerte es. Diesmal kamen die Geräusche nicht vom Himmel, sondern aus einem kleinen Dörfchen in ihrem Rücken. Die Geschosse der französischen Artillerie rückten immer näher. Dort musste Kempen liegen. Die Stadt, in der sie wie eine Prinzessin gelebt hatte. Mittlerweile lag ihre Heimat in Trümmern. Von überall her drangen Menschen in dieses kleine Fleckchen Erde und machten es zu einem Ort der Gewalt. Nach der Niederlage bei Crefeld hatten sich die kaiserlichen Truppen allerorts verstreut und nahmen sich, was sie kriegen konnten. Ihr Heerführer, General de Lamboy, befand sich in französischer Hand und seine Streitmacht wütete beinahe noch schlimmer als die siegreichen Hessen und Franzosen. Wie Hühner, denen man die Köpfe abgeschlagen hatte, irrten die Soldaten voller Panik durch die Länder.
Die Gefahr war jedoch noch lange nicht vorüber. Der Sieger bestimmt die Regeln, hatte Elisabeths Vater einmal gesagt. Damals war sie zu klein, um seine Worte zu verstehen, nun ergab alles einen Sinn. Die Hessen unter Eberstein und die Franzosen unter Marschall Guébriant machten ihre eigenen Gesetze. Die Männer mussten sich ernähren, viele Männer. Jedes Dorf, das nicht freiwillig alles gab, was es besaß, wurde mit Waffengewalt dazu gezwungen. Sie raubten Essen und Vieh und vergewaltigten die Frauen. Elisabeth hatte es aus der Ferne beobachtet. Die Brutalität hätte sie früher hochschrecken lassen, aber jetzt, da sie nicht mehr leben wollte, war es ihr egal.
Sollen sie mich töten, dachte sie. Es wäre mir recht. Sie würde sich nicht einmal wehren, sich nicht verstecken, nicht davonlaufen. Dann müsste sie nicht den Mut finden, durch ihre eigene Hand zu sterben.
Das Knurren ihres Bauches erinnerte sie daran, warum sie diesen Weg angetreten war. Sie wollte nach Neuß, dieser vormals wohlhabenden Stadt, deren Mauern vor langer Zeit ein Jahr der Belagerung standgehalten hatten. Zumindest hatte das Vater immer erzählt. Deshalb hatte man der Stadt erlaubt, den Reichsadler in ihrem Wappen zu führen und Münzen zu prägen. Dieser Ruhm war verblasst und die Schönheit dahin. Genau wie bei ihr. Waren wirklich nur ein paar Monate vergangen, seit junge Männer am ganzen Niederrhein sie umworben hatten? Jeden hätte sie sich aussuchen können. Ihre Familie war reich gewesen, angesehen, und mit einem Augenaufschlag hatte Elisabeth immer bekommen, was sie gewollt hatte.
Heute war ihre prachtvolle blonde Mähne lediglich noch gelbes Stroh, ihre glühenden Wangen waren matt und ihr Blick glich dem einer Kranken auf dem Sterbebett.
Elisabeth überlegte, ob das alles nicht ein Traum gewesen war, der es für einen kurzen Moment ins Hier und Jetzt geschafft hatte. Nichts war ihr mehr aus dieser Zeit geblieben. Vielleicht war dies der Grund, warum ihre Beine sie in die Stadt schleppten. Sie besaß keine Reichstaler mehr und nannte lediglich wenige Groschen ihr Eigen. Sollte sie sich nichts mehr zu essen kaufen können, würde sie sich in eine Scheune legen und sterben. Einfach so.
*
Die Schnitte in seinen Armen schmerzten, als würde die Glut, in der er früher Schwerter geschmiedet hatte, durch seine Adern laufen. Es waren einige Wochen vergangen, seit Maximilian die Stadt Kempen und damit seine Familie verlassen hatte. Dieser Moment, dieser eine Moment, in dem sein Säbel das Fleisch seines Bruders durchdrungen hatte und die Kraft aus Lorenz’ Blick gewichen war, spielte sich wie ein immerwährendes Theaterstück vor seinem inneren Auge ab. Obwohl Kempen nicht allzu weit hinter ihm lag, kam ihm sein altes Leben wie eine Einbildung vor. Zu unwirklich waren die Erinnerungen an seine Eltern, seine Geschwister, ja sein ganzes Leben, zu schemenhaft formte sich das Antlitz von Lorenz in seinem Geist. Bald zweifelte er daran, dass Lorenz wirklich ausgesehen hatte, wie er ihn in Erinnerung hatte. Die Zeit spielte seinem Gedächtnis einen Streich.
Auf einem Feldweg bei Viersen verließ Maximilian die Kraft. Mitten auf dem aufgeweichten Boden ließ er sich fallen und wünschte sich nichts sehnlicher, als tot zu sein. Auf die Knie gestützt, nahm er die vom Blut rot gemalten Leinenverbände ab. Die Schnitte, die er sich zugefügt hatte, waren tief, bereits einige Wochen alt – er wollte sie nicht verheilen lassen. Der Versuch, sich selbst zu richten, war ihm misslungen. Wie eine stumme Erinnerung an seinen Bruder wollte er die Schnitte so präsent wie möglich halten.
Mit dem Fingernagel fuhr er sich durch die Wunden an seinen Handgelenken und Unterarmen. Maximilian wollte nicht mehr leben. Er wollte Lorenz wiedersehen, wollte seinem Bruder sagen, wie leid es ihm tat, dass er alles dafür geben würde, um die Tat im Wald bei Kempen ungeschehen zu machen. Sein Körper tat ihm diesen Gefallen nicht. Egal wie oft er sich abends auf den kalten Waldboden legte, er wachte jeden Morgen auf, und der Tag begrüßte ihn mit wärmenden Sonnenstrahlen.
Maximilian schüttelte den Kopf und sein langes Haar fiel ihm wie ein Schleier über die Augen. Lorenz war sein kleiner Bruder gewesen, er hatte die Verantwortung für ihn gehabt, er hätte auf ihn aufpassen müssen – stattdessen war Lorenz durch seine Hand gestorben. Und das nur, weil Lorenz seine geliebte Antonella hatte retten wollen. Die Erinnerung an vergangene Tage kroch in Maximilian hoch. Wie sein jüngerer Bruder versucht hatte, seine Geliebte vom Scheiterhaufen zu befreien, wie Maximilian ihn davon abhalten wollte und sich die Klinge wie von Seilen gezogen in den Körper des Bruders bohrte.
Maximilian hatte sie alle enttäuscht: seine Eltern, seine Geschwister und sich am meisten. Er hätte Lorenz helfen müssen, sich gegen die Übermacht zu stemmen, auch wenn die Lage aussichtslos schien. Stattdessen war sein Bruder in seinen Armen verblutet, während Antonella in den Flammen qualvoll verbrannt war. Er schloss die Augen. Es kam ihm wie ein nicht enden wollender Albtraum vor, aus dem er nicht aufwachen konnte.
Lautes Gebrüll riss ihn aus seinen Gedanken. Kurz blickte er sich um und entdeckte eine große Gruppe hessischer Soldaten. Er hatte an der Seite seines Bruders gegen die Hessen gekämpft, in der Schlacht bei Crefeld. Unzählige Soldaten hatte er auf dem Gewissen. Trotzdem waren Marschall Guébriant und der hessische Feldherr Eberstein siegreich gewesen und hatten seine Heimat zerstört. Kempen hatte lange durchgehalten. Mehrere Tage konnte die Stadt dem Ansturm der Männer standhalten. Als schließlich ein Geschoss die Stadtmauer an der Turmmühle traf und ein Loch in der Verteidigung klaffte, gaben die Bewohner auf. Mord und Plünderungen waren die Folge. Nicht nur in seiner Heimatstadt, allerorten benahmen sich die Soldaten wie Barbaren. Ganz gleich, ob Freund oder Feind. Die Grenzen verschwammen, Gesetze hatten keine Gültigkeit mehr. Ein Menschenleben war nicht mehr wert als der Dreck unter den Fingernägeln der Soldaten.
Maximilian blieb auf dem Weg sitzen. Sollten sie ihn töten, ihm die schmutzigen Kleider vom Leib reißen und Gottes Strafe auf Erden vollziehen. Damit hätte sein kümmerliches Dasein ein Ende und er könnte seinen Bruder um Verzeihung bitten. Inständig hoffte er, dass Lorenz im Tod mit seiner geliebten Antonella fand, wonach er immer gesucht hatte. Leichter Regen setzte ein, als Maximilian eine stumme Entschuldigung gen Himmel schickte.
»Guck dir den an«, grollte ein älterer Soldat, der die Spitze des Zuges anführte. »Ist der einer von uns?«
Der bärtige Mann packte Maximilian an seinen langen schwarzen Haaren und blickte in die tiefblauen Augen, die auch Lorenz besessen hatte.
»Sieht mir fast wie einer von Lamboys Männern aus.«
Innerlich seufzte Maximilian. Natürlich trug er nichts mehr, was ihn wie einen Soldat hätte aussehen lassen.
Der Hesse sah in ein eingefallenes Gesicht, mit Augenringen tief wie Wagenräder – eine schmutzige, bemitleidenswerte Gestalt, dem Tod näher als dem Leben.
Maximilian bewegte sich nicht. Der Soldat verpasste ihm einen Schlag auf den Hinterkopf und setzte seinen Weg fort. Maximilian überlegte, wohin die Soldaten wohl gehen würden. Etliche Dörfer waren ihnen angesichts der drohenden Übermacht kampflos übergeben worden. Und obwohl der kaiserliche Befehlshaber Hatzfeldt keine Anstalten machte, die Bedrohung zu stellen, wurden die Lagerstellungen der Hessen und Franzosen gesichert. Dafür benötigten sie Munition, Geld und Nahrung – alles Mangelware in dieser vom Krieg gebeutelten Region. Wenn dieser französische Bastard Guébriant und sein hessischer Bluthund Eberstein ihre Karten richtig ausspielten, könnten sie vielleicht sogar bis nach Köln vordringen. Wenn Kurköln fiel, wäre es aus mit des Kaisers geliebtem Reich. Dieser viel zu lange währende Krieg wäre damit entschieden. Weitere Gedanken verbat sich Maximilian. Warum noch über den Krieg grübeln? Alles war unwichtig geworden.
Die Wolken zogen sich zusammen, als wollten sie ihm den Weg in den Himmel versperren. Unzählige Männer gingen an ihm vorbei, ihre Säbel rasselten und vermischten sich mit den rauschenden Blättern der Bäume zu einer ganz eigenen Melodie. Ihre Uniformen waren von Schlamm verschmiert. Jeder trug das am Leib, was ihm gerade so passte, wählerisch konnte man in diesen Zeiten nicht sein. Doch selbst sie gaben kein so jämmerliches Bild ab, wie Maximilian es tat. Ab und zu bekam er einen Tritt, einige spuckten ihn an. Aber das war unwichtig. Gerechtigkeit gab es auf dieser Welt nicht. Ansonsten würde sein Bruder noch leben und seine Geliebte im Arm halten. Stattdessen hatte Gott zugelassen, dass Maximilian zum Mörder geworden war.
Er starrte vor sich auf den aufgeweichten Boden. Erst die letzten beiden Männer des Trosses schenkten ihm mehr Beachtung. Ein schmächtiger Soldat packte ihn an den Haaren. Maximilian spürte eine kalte Klinge an seinem Hals, während der andere seine Kleidung durchsuchte.
»Ein paar Groschen«, sagte der Soldat und hielt dem Schmächtigeren, der ihn immer noch gepackt hielt, triumphierend die Münzen vors Gesicht. »Ich dachte, der Lump hat gar nichts dabei.«
Maximilian lächelte. Die hatte er beinahe vergessen. Genau wie seine Eltern, genau wie alles andere. Er hatte seine Familie verlassen müssen. Alles in Kempen erinnerte ihn an seinen Bruder. Das Leben ist einfach, wenn einem alles egal erscheint, und der Tod wird damit zur letzten, großen Herausforderung. Wenn er nur den Mut aufbringen würde, seine Adern von Neuem …
»Vielleicht hat er noch etwas«, sagte der Soldat und festigte seinen Griff. Maximilian spürte, wie die Klinge langsam in die Haut schnitt und warmes Blut sich mit dem Regen vermischte.
»Da ist sonst nichts. Gar nichts.«
»Soll ich ihn aufschlitzen?«
Innerlich betete Maximilian, dass er es tun würde. Lediglich ein kleiner Stich … ein kurzer Dolchstoß, schon würden die Augen trüb werden und die letzten Kräfte den Körper verlassen. In wenigen Lidschlägen könnte er seinen Bruder wieder in die Arme schließen, ihn um Verzeihung bitten und seine Tat auf ewig in den Qualen des Höllenfeuers büßen.
Anstatt ihm die Waffe in die Rippen zu stoßen, erhob sich der Soldat und ließ die Klinge in den Gürtel gleiten.
»Guck ihn dir an. Der Bauernlümmel hat den Verstand verloren, seine Augen sind tot. Lass ihn hier in Ruhe sterben. Die Tiere besorgen den Rest.«
Mit diesen Worten verließen sie ihn. Im zunehmenden Regen wurden die Geräusche der Soldaten schnell schwächer, und Maximilian blieb allein auf dem Feldweg zurück. Die Tropfen schlugen neben ihm ein, wie die Geschosse vor wenigen Wochen auf dem Schlachtfeld. Sollte er auf den Tod warten? In seinem Magen herrschte eine Leere, wie er sie noch nie erlebt hatte. Der Hunger war beinahe übermächtig, sein Geist schien zu schwirren, seine Gelenke wurden taub. Und doch war es nicht genug für den Tod.
Die nächste Stadt war Viersen. Vielleicht sollte er versuchen, dort an einen Halunken zu geraten, der ihn auf die letzte Reise schicken würde. Allein war er offensichtlich nicht dazu imstande.
Es dauerte noch einige Zeit, ehe er mühsam aufstand und sich auf wackligen Beinen in Richtung der Stadt aufmachte.
Neuß war schnell erobert worden. Guébriant hatte in drei Tagen erreicht, was Karl der Kühne mit 20.000 Mann in elf Monaten nicht fertiggebracht hatte. Die Stadt war gefallen und diente ihm als Hauptquartier. Beinahe der gesamte Niederrhein war nun in seiner Hand.
Hier wimmelte es von Soldaten. Elisabeth zog ihre von Schlamm überzogene Kleidung an sich heran. Es war beinahe ungewohnt, über das vom Matsch verschmierte Kopfsteinpflaster zu gehen. In den Wäldern hatten Dornenbüsche und Gestrüpp gegen ihre Beine gepeitscht und kleine Schnittwunden hinterlassen. Sichelförmige rote Linien zogen sich über ihre blanken Waden. Einen Schuh hatte sie verloren, der andere bestand lediglich aus Nähten und Lederfetzen. Dort, wo keine Steine mehr lagen, gab der aufgeweichte Boden bei jedem Schritt einen schmatzenden Ton von sich. Dicke Wassertropfen fielen vom Himmel und durchnässten sie bis auf die Haut. In den eng verwinkelten Gassen suchte sie Schutz, doch nichts an diesem Ort vermittelte auch nur im Ansatz Sicherheit. Jede Schenke, jedes Gasthaus war voll von Soldaten, die ihre Humpen in die Höhe streckten und Lieder auf den Sieg sangen. Während die französischen und hessischen Männer feierten, lag über den Bewohnern das stille Tuch der Angst. Die Holzvorschläge vor den Fenstern waren geschlossen, allein fahler Kerzenschein kündete davon, dass die Häuser bewohnt waren. Die einfachen Bürger litten am meisten unter der Besatzung. Jedes Brot, jeder Schlafplatz, ja sogar Decken und Kleidung mussten sie den Siegern überlassen. Andernfalls wäre ihnen der Tod sicher. Recht, Gesetz und Moral waren an diesem von Gott verlassenen Ort nicht mehr zugegen. Hier herrschte die Angst.
Elisabeth konnte es spüren: Die Häuser, die Straßen, die ganze Stadt zitterte förmlich unter der Bedrohung, die sich hier niedergelassen hatte.
Ohne aufzublicken und die Kapuze tief in das Gesicht gezogen, ging Elisabeth nah an den Häuserfassaden entlang. Bloß keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, dachte sie und überlegte es sich im selben Moment anders. Sollen sie ruhig kommen, mit mir machen, was ihnen beliebt. Dann wäre diese Tortur vorbei. Es war ein schmaler Grad zwischen Erlösung und Wahnsinn, den sie beschritt. Bald wollten ihre Beine das Gewicht ihres Körpers nicht mehr tragen. Am nördlichen Ende der Stadt fand sie, wonach sie gesucht hatte – einen Ort zum Sterben.
Das quietschende Tor der Scheune öffnete sich einen Spalt, schnell schlüpfte sie hindurch und streifte ihre Kapuze ab. Ein paar alte Werkzeuge hingen an der Wand, dazu konnte sie einen Karren in der Ecke ausmachen und etliche Jutesäcke, die den Boden bedeckten. Die Gegenstände würden für ihr Vorhaben reichen. Ihre Finger waren blau und zitterten vor Kälte, als Elisabeth ein von Rost überzogenes Messer an sich nahm und sich auf die Säcke fallen ließ. Sie spürte die Feuchtigkeit an jeder Stelle ihres Körpers und ein Schauer lief ihr über den Rücken, während sie mehrmals tief durchatmete.
Nur noch einen Moment, Schwester. Noch wenige schwache Herzschläge und wir sind wieder vereint. Wenn auch nur kurz.
Durch fehlende Bretter im Scheunendach konnte sie in den dunklen Nachthimmel blicken. Die Wolken wirkten in diesem Augenblick so nah, als wäre sie imstande, nach ihnen zu greifen. Sie stellte sich das schüchterne Lächeln Antonellas vor, ihre weichen Gesichtszüge, die makellose, fast weiße Haut, das rabenschwarze Haar und die tiefdunklen Augen.
Bis gleich, Schwester. Ich bitte dich, vergib mir.
Sie erhob eine Hand, als wollte sie nach etwas greifen. Dann stach sie die Klinge in ihren Unterarm und warmes Blut tropfte auf ihre Kleidung. Bald war aus den wenigen roten Perlen ein ganzer Schwall geworden, der ihr entgegenströmte. Ein Lächeln umspielte Elisabeths Lippen. Der Schmerz war erträglich, beinahe erlösend. So fühlte es sich also an, glücklich zu sein. Ein lange nicht mehr gekanntes Gefühl.
Kraftlos sank ihr Arm nieder. Zu der Feuchtigkeit des Regens gesellte sich die Wärme ihres Blutes. Sie spürte, wie sich die Flüssigkeit auf ihrem Bauch verteile, und schloss langsam die Lider.
Das war es also. Das gerechte Ende. Leicht öffneten sich ihre Lippen und ihnen entwich ein langer Seufzer.
Das Gesicht Antonellas verschwamm vor ihren Augen und das Aufschlagen des Regens auf dem Scheunendach wurde leiser, bis Elisabeth das Gefühl hatte, von einer unsichtbaren Hand fortgetragen zu werden. Alles war leicht, ihr Körper war von sämtlicher Last befreit und die Schrecken der irdischen Welt schienen keine Rolle mehr zu spielen.
Gleich werde ich bei dir sein. Ich spüre deine Anwesenheit, höre dich rufen, Schwester. Verzeih mir alles, was ich dir angetan habe, das Feuer der Hölle ist nicht genug Strafe dafür. Noch wenige Sekunden und wir sind vereint …
»Kann man da am Preis nichts machen?«
»Nichts da. Der Preis steht!«
War das ein Traum? Elisabeth war sich nicht sicher. Die Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen. Zwei Stimmen – die dunkle eines Mannes und die hohe einer Frau.
»Ist nicht gerade schön hier«, stellte der Mann gereizt fest.
»Du wolltest es schnell, also kriegst du es schnell. Wir sind hier ja nicht am Bonner Hof.«
Die beiden näherten sich. Elisabeth konnte das Geraschel von Kleidung ausmachen. Hastige, von Gier zerfressene Berührungen, wilde Küsse.
»Lieber Gott, du hast es aber nötig«, sagte die Frau resolut. »Immer langsam mit den jungen Pferden, du wirst schon gut bedient, mein Hübscher.«
Wieder kamen sie ein Stück näher.
»Du hast keine Ahnung, wie lange ich nicht mehr …«, dann stockte die Männerstimme. Elisabeth wollte die Augen öffnen, sich vergewissern, dass dies keine Einbildung war, doch der kalte Hauch der Schwäche hatte sie bereits in seiner finsteren Umarmung eingeschlossen. Jeder Ton war gedämpft, als ob sie unter der Wasseroberfläche wäre. Auch die Nässe auf ihrer Haut war nicht mehr so unangenehm.
»Da liegt wer«, polterte der Mann. »Ich glaube, die verreckt gleich. Ist bestimmt ne Kranke. Lass uns hier verschwinden.«
Die Frau dachte allerdings gar nicht daran, sondern stürzte auf Elisabeth zu. Diese spürte die warmen, fast heißen Berührungen an ihrem Arm.
»Jesses Maria im Himmel. Das arme Kind. Lauf los und hol Hilfe!«
Erst jetzt schaffte es Elisabeth, die Augen zu öffnen.
Vor ihr kniete eine beleibte Frau, deren Hände fest auf ihre Wunde gedrückt waren. Dabei berührte ihr riesiger Busen beinahe Elisabeths Wangen. Dunkle Strähnen fielen ihr in das puterrote, runde Gesicht, als sie sich erneut zu dem Soldaten umdrehte. »Lauf schnell und hol Hilfe!«
Der Mann zuckte lediglich mit den Schultern, rieb die Handflächen aneinander und blickte zum Tor. »Lass sie in Ruhe sterben und wir beide suchen uns einen anderen Ort. Ich habe Geld.«
»Ich spucke auf dein Geld«, entfuhr es der Frau und ihre Stimme wurden einige Nuancen tiefer. »Hier laufen Tausende von Soldaten herum, ich könnte an jedem Tag Dutzende Freier haben, wenn ich will.«
Die beherzten Worte ließen Elisabeth trotz ihrer Benommenheit hochschrecken. Mit ihrem Organ könnte die Frau ohne Probleme eine ganze Kompanie befehligen.
»Dann such ich mir ne andere Hure«, schrie der Mann voller Zorn und verschwand.
»Das sind alles meine Mädchen und ich werde dafür sorgen, dass du niemals mehr eine abbekommst. Da kannst du warten, bis du platzt.«
Eilig riss sie von ihrem Unterrock ein Stück Stoff ab und band es mehrmals um Elisabeths Wunde. Diese stöhnte unter dem Druck. Die Frau verband sie so fest, dass Elisabeth glaubte, es würden Tonnen auf ihrer Haut lasten. Ihr Unterarm schmerzte augenblicklich dermaßen stark, dass sich ihre Augen weiteten. Die Kraft verließ sie, es fiel ihr schwer, den Kopf zu bewegen. Durch die Löcher in der Decke tropfte Regen ungehindert in ihr Gesicht und ließ Elisabeth noch mehr frösteln.
»Ganz ruhig, Kleines«, flüsterte die Frau und kam mit ihrem Gesicht ganz nahe. Sie strahlte eine fast unheimliche Ruhe aus, wie es Menschen tun, die viel in ihrem Leben gesehen haben und noch mehr ertragen mussten. Dabei hatte sie einen gutmütigen Blick, sodass Elisabeth sich seit Wochen zum ersten Mal geborgen fühlte. Zärtlich streichelte die Frau ihre Wange und drückte weiterhin mit aller Kraft auf das Handgelenk. »Ich bringe dich weg von hier. Es wird alles gut, das verspreche ich …«
Das Letzte, was Elisabeth sah, war der gegerbte rote Rock der massigen Frau. Ihre Umrisse verschwammen zu einer Schattenfigur. Sie vermochte nicht mehr zu unterscheiden zwischen Worten und Gesten, alles war gleich, nichts hatte mehr Bedeutung. War dies das Ende und dieser Schatten der Tod, der sie ins Jenseits begleiten würde? Die Nacht wurde für einen Wimpernschlag zum Tag, zuckende Sterne tanzten vor ihren Augen – schließlich wurde alles schwarz und ihr Verstand verlor sich in der Finsternis.
Maximilians Körper zitterte, tiefrot waren die Verbände, aus denen sein Blut auf den nassen Schlammboden tropfte. Als er sich vor die Tore der Stadt schleppte, begleiteten ihn die jagenden Wolken am Abendhimmel. Endlich hatte er Viersen erreicht.
Auch diese Gemeinde schien vom Krieg gebeutelt zu sein. Die Verteidigung der Stadt war praktisch nicht mehr existent. Ohne Probleme konnte er die wenigen Wachen umgehen und fand sich schnell im Ortskern wieder. Niemand sonst war auf dem Platz zugegen, die Fensterläden der Häuser waren geschlossen und kein Licht drang durch die Türspalten hervor. Viersen hatte ebenfalls Einquartierungen bekommen. Ein schöner Begriff dafür, dass die Bewohner ihre Betten, ihre Kleidung, ja ihr gesamtes Hab und Gut der Streitmacht zur Verfügung stellen mussten. Einige verwinkelte Gassen schlängelten sich vom Marktplatz ab und das Kopfsteinpflaster war vom nassen Dreck braun gezeichnet.
Nicht einmal die Hunde wollten bei diesem Wetter draußen sein, dachte Maximilian und ging einige Schritte weiter. Die mächtige Remigiuskirche ragte wie eine spitze Nadel, die in Wolken stechen wollte, in den Himmel. Das Dach des Bauwerks warf einen Schatten, der ihn zu verschlucken drohte. Die Dämmerung hatte die Stadt bereits in ihrer dunklen Umarmung eingeschlossen. Bald würde neben den feindlichen Soldaten die absolute Dunkelheit regieren. Blitze zuckten durch die Nacht, als ob Gottes Zorn über Maximilian hereinbrechen würde. Der Donner grollte, die Stimme der Gerechtigkeit wollte den Tribut für seine schreckliche Tat einfordern.
Obwohl die Nässe vollends seine Kleidung durchdrungen hatte, brannte seine Haut, als stünde sie in Flammen. Sein Atem beschleunigte sich, sein Herz schlug wie wild in seiner Brust. Erneut blitzte es, danach folgte der Donner.
Maximilian war gegen eine Wand aus Arkebusen angelaufen, hatte gegen etliche Männer gekämpft, die größer und kräftiger waren als er, mitten im französischen Artilleriehagel hatte er seinen Säbel gezogen und in die hasserfüllten Augen seiner Feinde geblickt, doch noch nie hatte er solche Angst verspürt wie in diesem Moment. Wie eine unheilbare Krankheit nistete sie sich in seinem Leib ein, griff und zerrte an ihm, bis nichts mehr übrig blieb außer der puren Verzweiflung.
Maximilian sank, ohne es zu wollen, auf die Knie. Er hatte das Gefühl, als würde das Gotteshaus auf ihn stürzen. Der Donner war ohrenbetäubend. Kalter Schweiß vermischte sich in Maximilians Nacken mit dem peitschenden Regen. Die Tropfen schmerzten auf seiner Haut. Sein gepresster Atem bildete kleine weiße Wölkchen, die sich sofort auflösten. Erschöpfung und Übermüdung ließen ihn nicht mehr klar denken. Und dann dieser Hunger, dieser unbeschreibliche Hunger, der ihm jegliche Kraft aus dem Körper zog. Erbarmungslos schien sich der Schlund des Teufels zu öffnen und der Allmächtige grollte dazu seine donnernde Symphonie.
Ja, dies musste der Eingang der Hölle sein. Jetzt würde der Sensenmann ihn holen. Dessen war er sich sicher.
»Es tut mir leid«, wisperte er in die Nacht hinein. »Lorenz, es tut mir unendlich leid.«
Tränen rannen über seine Wangen und die nassen Haare fielen ihm ins Gesicht, als er mit den Händen vor Scham seine Augen bedeckte. Die Mauern der Kirche wurden von den Blitzen weiß gezeichnet, als ein weiterer Paukenschlag ertönte. Es war zu viel, einfach zu viel.
Von Panik erfüllt sammelte er seine letzte Kraft. Weg von hier, nur weg von diesem Ort. Doch seine Beine versagten ihren Dienst. Maximilian torkelte, seine Füße versanken im Schlamm, bis er fiel. Benommen blickte er nach oben. Als weitere Blitze die Nacht durchschnitten, meinte er, in das Antlitz von Lorenz zu blicken. Das konnte nicht wahr sein. Es musste die Täuschung seines ausgemergelten Geistes sein. Wann hatte er das letzte Mal gegessen? Wann geschlafen?
Angst trieb ihn auf die Beine. Mit reinem Entsetzen im Gesicht rannte er, so schnell er konnte. Irgendwann war seine letzte Kraft verbraucht. Die Lider halb geschlossen, lehnte er sich an eine Hauswand. Sein Atem rasselte, seine Knie gaben nach. Der totalen Erschöpfung nahe, legte er sich in den Hauseingang und rollte sich zusammen wie ein Hund. Noch immer tobte das Unwetter. »Verzeih mir, Lorenz«, murmelte er bereits im Halbschlaf. Wenige Atemzüge später wurde alles dunkel und die Gesetze der Welt verloren in seinen Albträumen ihre Gültigkeit.
»Wach auf, Schönheit.«
Elisabeth wähnte sich in einem Traum. Schönheit? So hatte sie lange Zeit niemand mehr genannt.
»Ah, blinzeln kannst du also noch.«
Ihr Körper schmerzte, ihre Arme konnte sie kaum bewegen und das Atmen fiel ihr schwer. Ihr Handgelenk war mit einem dicken Verband umwickelt. Es dauerte etliche Sekunden, bis sie verstand, dass sie noch am Leben war.
»Wer …?«, versuchte sie zu sagen. Ihr Mund fühlte sich trocken wie eine Wüste an. Sofort wurde sie von der Frau unterbrochen und ein Becher wurde an ihre Lippen gesetzt.
»Trink das, es wird dir guttun.«
Sie kannte den Geschmack des Getränks. Es war Wein.
»Ja, genau. Trink den ganzen Becher aus, damit du schnell zu Kräften kommst.«
Jeder Schluck schmerzte, als ob ihr Körper das Trinken erst wieder lernen musste. Nachdem sie ausgetrunken hatte, festigte sich Elisabeths Blick. Sie lag auf weichen Laken und ein süßlicher Duft drang ihr in die Nase. Die Fetzen, die sie am gestrigen Tag noch getragen hatte, waren verschwunden und eine dicke Wolldecke bedeckte ihren nackten Körper.
Die Frau bemerkte ihre Scheu. »Keine Angst«, sagte sie laut.
»Wo bin ich?«, versuchte Elisabeth es erneut. Ihre Worte waren schwach und durchzogen von Unsicherheit. Die Frau hievte ihren massigen Körper hoch, lächelte mild und tunkte ein Stück Stoff in eine dickflüssige Paste.
Elisabeth sah in verständnisvolle blaue Augen, dann blickte sie sich im Raum um. Sie lag in einem kleinen Wagen, nicht größer als die Rumpelkammer ihres Elternhauses. Bunte Stoffe hingen von der Decke herab, zwei kleine Fenster waren in den Wagen eingelassen, durch die zarte Sonnenstrahlen hereinfielen. Ruhigen Schrittes kam die Frau zurück und legte den alten Verband beiseite.
»Ich weiß nicht, was dir widerfahren ist, Kind«, sagte sie. »Aber für ein schönes Mädchen wie dich wird es eine Menge Gründe geben, um weiterzuleben, oder?«
Als ihre tiefe Wunde zum Vorschein kam, wand Elisabeth ihren Blick ab. »Nein«, hauchte sie und beobachtete die tanzenden Staubflocken im Sonnenlicht. Es brannte fürchterlich, als die Frau den nassen und widerlich stinkenden Stofffetzen auf ihre Haut drückte. Voller Schmerz verzog Elisabeth das Gesicht.
»Hoffentlich wird sich die Wunde nicht entzünden«, murmelte die Frau und zog den Verband eng um das verletzte Handgelenk.
Voller Zorn blickte Elisabeth sie an: »Wieso hast du mich nicht einfach in Ruhe sterben lassen?«
Die Frau gab ihr einen Klaps auf die Finger.
»Nicht in diesem Ton, junge Dame«, erwiderte sie scharf. »Du hast mir gar nichts zu befehlen. Ich habe schon Dinge erlebt, als deine Eltern noch nicht einmal imstande waren, dich zu zeugen.« Einige Sekunden herrschte Ruhe, nach wenigen Sekunden setzte sie erneut an. Dabei hatte sie eine so kraftvolle Ausstrahlung, dass sich Elisabeth eingeschüchtert auf die Lippen biss. »Zeig lieber Dankbarkeit.«
Noch nie hatte jemand auf diese Weise mit ihr geredet. Ihre Mutter war früh verstorben und ihr Vater hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Erst versuchte Elisabeth, dem Blick der Frau standzuhalten, doch es dauerte nicht lange, bis sie ihr Haupt senkte: »Danke schön.«
»So ist es besser«, sagte die Frau und streichelte ihre Wangen.
An ihrem Blick erkannte Elisabeth, dass die Fremde ein gütiges Herz hatte. Genau wie Antonella. Bei diesem Gedanken wurde ihr Gemüt schwer.
»Sagst du mir deinen Namen?«
»Ich heiße Elisabeth. Elisabeth Dannen aus Kempen.«
Ruhig nickte die Frau. »Ich verstehe«, flüsterte sie. »Die Bewohner haben tapfer gekämpft, konnten die Hessen mehrere Tage in Schach halten, schließlich fiel auch diese Gemeinde dem Krieg zum Opfer. Und du bist aus der Stadt geflohen, nur um dir das Leben zu nehmen?«
Auf einmal waren die Erinnerungen wieder da. Die brennenden Häuser, die schreienden Männer, die ihre Säbel in die Höhe reckten und schreckliche Schatten an die Wände malten. Sie konnte nicht sagen, warum, aber diese fremde Frau hatte etwas Mütterliches an sich, dessen sie sich nicht erwehren konnte. Erst kämpfte sie noch mit den Tränen, schließlich drang ein leichtes Schluchzen über ihre Lippen.
Die Frau streichelte über ihr Haar. »Wen hast du verloren, Kleines?«
In dem Augenblick brachen die Dämme. Elisabeth war sich sicher, dass sie alle Tränen vergossen hatte, doch nun rollten sie in dicken Tropfen über ihre Wangen. »Meinen Vater und meine Schwester.«
Ihre Blicke trafen sich, behutsam nahm die Frau Elisabeth in den Arm. Für einen Herzschlag erschrak sie. Die Frau war eine Fremde, jemand, den sie kaum kannte. Die Berührung tröstete.
»Wir haben alle jemanden verloren, Kindchen. Der Krieg holt aus uns Menschen das Schlimmste hervor«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Doch wir dürfen uns davon nicht unterkriegen lassen. Wir müssen weitermachen, hörst du?«
Elisabeth nickte und wollte sich aufrichten. Augenblicklich drehte sich alles um sie herum.
»Ruhe dich noch ein wenig aus«, sagte die Frau und drückte Elisabeth wieder auf das Bett. »Anscheinend bleiben wir noch ein paar Tage hier in Neuß. Umso mehr einsame Männer in der Stadt sind, desto mehr verdienen wir. Und derzeit verdienen wir viel.«
Obwohl sich bereits der düstere Schleier der Müdigkeit über Elisabeths Augen legte, arbeitete ihr Verstand noch immer. Ihre Stimme zitterte und war kaum mehr im Raum zu vernehmen. »Du bist also …«
»… eine Hure, ja. Obwohl ich unsere Mädchen nicht gerne so nenne. Jeder muss in diesen Zeiten schauen, wie er über die Runden kommt. Ich und meine Mädchen leben derzeit vorzüglich«, sie zuckte mit den Schultern. »Wenigstens eine gute Sache, die der Krieg mit sich bringt.«
Elisabeth wollte etwas erwidern, doch sofort spürte sie einen Finger auf ihren Lippen.
»Und jetzt ist Schluss. Schlaf noch ein wenig, heute Abend gibt es für dich eine richtige Mahlzeit und dann sehen wir weiter.«
Langsam erhob sich die Frau und ging die wenigen Schritte bis zur Tür. Unter ihrem Gewicht knarrten die Holzbalken des Wagens. »Ich bin übrigens Roswitha, aber nenn mich Rosi.«
*
Maximilians Träume waren dunkel. Im Schlaf meinte er, hundert Empfindungen gleichzeitig zu fühlen. Doch sie ließen ihn nicht hochschrecken, als wäre er in einem Labyrinth seiner eigenen Gedanken gefangen. Erst ein Schwall Wasser, der sich in sein Gesicht ergoss, riss ihn aus seinen Albträumen.
»Gut, du bist also am Leben.«
Von grauenvollen Bildern geplagt, hatte sein Herz eben noch schnell in seiner Brust geschlagen und drohte, vor Schreck zu zerspringen. Hastig atmend sah er sich um und blickte in die Augen einer groß gewachsenen Nonne. Die spitzen Gesichtszüge erinnerten ihn an eine Maus, passten jedoch gut in das schmale Gesicht mit den hohen Wangenknochen.
»Wie heißt du, Bursche?«, wollte die Frau wissen. Sie klang hochmütig und arrogant. Ihre Tunika bestand aus eingefärbter grauer Schafswolle. Dazu trug sie das Skapulier, ein schürzenartiges Arbeitskleid aus einem schwarzen Tuchstreifen mit Kopfloch. In ihrer Hand baumelte ein leerer Eimer.
Langsam kam Maximilian zu sich. Es war also kein Traum. Er hatte gestern wirklich Viersen erreicht. Die Sonne begrüßte die Stadt mit wärmenden Strahlen. Er musste blinzeln, um zu erkennen, dass er die Nacht vor einem Kloster verbracht hatte.
»Hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen? Wie ist dein Name?«
»Mein Name ist Maximilian. Maximilian Cox aus Kempen«, antwortete er. »Und wer seid Ihr?«
»Kannst du arbeiten?«, wollte sie wissen, ohne ihm eine Antwort zu geben.
Für einen Moment waren seine Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse fortgespült, wie der Gestank einer Jauchegrube nach einem Regenguss. Der alte, stolze Maximilian versuchte, sich zu erheben. Er atmete die frische Luft des Morgens ein, wollte sich in die Höhe recken, doch seine Beine gaben augenblicklich nach.
»Sieh einer an«, stellte die Nonne fest. »Vielleicht wird es nach einer Mahlzeit besser. In dieser Verfassung kann ich dich nicht gebrauchen.« Sie machte einen Schritt zur Seite und warf ihm den Eimer zu.
Nur mit Mühe war er in der Lage, ihn zu fangen.
»Willst du hier Wurzeln schlagen? Es gibt viel zu tun. Der Sturm hat das Dach abgedeckt, eine Scheune ist eingestürzt und der Zaun ist umgefallen«, kritisch beäugte sie Maximilian. »Bist du imstande, das alles zu reparieren?«
Eigentlich sollte er nicht hier sein. Nicht in einem Kloster, nicht wenn Gott auf Rache sann und ihm gestern nach dem Leben getrachtet hatte. Er musste verrückt sein, wenn er sich in dieses Haus traute. Doch sein Geldbeutel war leer und mit ihm sein Magen. Zaghaft machte er den ersten Schritt an der Nonne vorbei.
»Mein Name ist Schwester Agathe und du befindest dich im Franziskanerinnenkloster Sancti Pauli Bekehrung.«
Gemeinsam gingen sie durch die flache Eingangshalle. Maximilian zuckte innerlich zusammen, als er die schlichte, hölzerne Ausstattung und die Kreuze sah, die an den Wänden angebracht waren. Er hatte Mühe, den langen Schritten der Nonne zu folgen, dazu sprach sie schnell, während sie durch die Gänge eilten.
»Wenn du arbeitest, kannst du bleiben. Der Vorsteher dieses Konvikts ist Vikar Nikolas Weisen. Ihn wirst du nach dem Essen kennenlernen«, erneut blickte sie an seiner zerlumpten Kleidung herab. »Wir sollten dich vorher neu einkleiden und zum Allmächtigen beten, dass der Vikar dich nicht des Hauses verweist.«
Unter den dicken Staubschichten der Erinnerungen begann Maximilians Verstand zu arbeiten. Vater hatte ihn und Lorenz mehrmals mit nach Viersen genommen. Sogar über das Nonnenkloster hatte er gesprochen, wenn sie hier ihre Waren auf dem Markt verkauft hatten. »Sollte das Kloster nicht von einer Oberin geführt werden?«
Unvermittelt wurde der Schritt der Schwester langsamer, ein kurzer Blick zum massigen Holzkreuz folgte, schließlich blieb sie stehen.
»Tatsächlich erhielten wir im Jahre des Herrn 1438 das Recht, Oberinnen zu wählen. Doch unser Vorsteher führt nun diesen Konvent. Er hat viel Geld und Mühe für das Kloster aufgewandt, und das in einer Zeit, in der man ungern etwas entbehrt.«
Maximilians Blick blieb an den Kreuzen hängen. »Er hat sich also diesen Posten gekauft«, murmelte er. »Muss gute Verbindungen nach Kurköln haben.«
»Schweig!« Die durchdringende Stimme Schwester Agathes hallte im Gemäuer wider. Voller Zorn funkelte sie ihn an. »Wenn du dein Mundwerk nicht beherrschen kannst, ist dies der falsche Ort für dich, Bursche. So zu reden – das ist gefährlich in unseren Zeiten.«
Hunger und Schwäche rieten Maximilian, auf ihre Schelte nicht zu reagieren. Nach einigen Momenten setzte Schwester Agathe ihren Weg durch das Kloster fort.
»Der Vikar hatte bereits Männer angefordert, welche die Arbeiten in unseren Räumlichkeiten übernehmen. Leider sind die meisten, die dazu körperlich in der Lage wären, im Krieg gefallen oder geflohen, sodass wir niemanden fanden, der diese Aufgaben erledigen kann.« Sie deutete auf den Gang zu ihrer Rechten. »Dort ist die Krankenstube, Doktor Sylars Reich.«