Inhalt

  1. Cover
  2. Über die Autorin
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. Zitat
  7. Kapitel 1
  8. HOTMAMIS BLOG
  9. Kapitel 2
  10. Kapitel 3
  11. HOTMAMIS BLOG
  12. Kapitel 4
  13. HOTMAMIS BLOG
  14. Kapitel 5
  15. HOTMAMIS BLOG
  16. Kapitel 6
  17. HOTMAMIS BLOG
  18. Kapitel 7
  19. HOTMAMIS BLOG
  20. Kapitel 8
  21. Kapitel 9
  22. HOTMAMIS BLOG
  23. Kapitel 10
  24. HOTMAMIS BLOG
  25. Kapitel 11
  26. Epilog
  27. Body & Baby Balance Forum
  28. Nachwort

Eva Völler

ICH BIN ALT
UND
BRAUCHE
DAS GELD

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

 

Für Elisabeth

 

Das Leben ist viel zu kurz,
um schlechten Wein zu trinken.

Johann Wolfgang von Goethe

Kapitel 1

Die Schlafzimmertür ging auf, ein schwacher Lichtschein fiel in den Raum, und Dirk kam ins Wohnzimmer getappt. Die Boxershorts hingen ihm schlabbrig um die Hüften und rutschten noch weiter hinab, als er sich ausgiebig an den Hoden kratzte. Das dabei erzeugte Geräusch untermalte er mit einem zufriedenen Summen, rhythmisch begleitet vom Patschen seiner nackten Füße auf dem Parkett – das Dirk-muss-aufs-Klo-Nachtkonzert.

Auf seinem Weg ins Badezimmer kam Dirk am Sofa vorbei und spähte zu mir herüber. »Oh, bist du wach, Charlotte?«

»Nein.«

»Ups. Ich hoffe, ich hab dich nicht gestört.«

»Nein, überhaupt nicht.« Wieso auch, ich höre dir und Dorothea gern dabei zu, wie ihr das Bett zum Wackeln bringt, und besonders mag ich die Stelle, an der du so laut hyperventilierst, dass ich beim ersten Mal fast den Notarzt gerufen hätte.

Dirk verschwand im Bad und ließ es ins Klo plätschern, auch eines der Geräusche, mit denen ich seit einer Woche lebte. Ich hätte mir längst Ohrstöpsel besorgen können, aber irgendwie schaffte ich nicht mal das. So wie ich in den letzten Tagen kaum was geschafft hatte, außer lethargisch auf Dorotheas Sofa herumzuliegen und darauf zu warten, dass etwas geschah. Doch es passierte jeden Tag dasselbe – nämlich nichts.

Die Klospülung rauschte, Dirk kam – wie immer ohne die Klobrille runterzuklappen und mit ungewaschenen Händen – aus dem Bad und tappte zurück ins Schlafzimmer.

»Alles okay, Charlotte?«, fragte er im Vorbeigehen.

»Alles super«, behauptete ich.

»Gut. Brauchst du noch irgendwas?«

»Nein, danke.« Bloß meine Ruhe.

Die Schlafzimmertür fiel leise wieder zu, und ich versuchte, endlich einzuschlafen, aber meine Gedanken wollten keine Nachtruhe einhalten. Sie kreisten um die Frage, wie zum Teufel ich auf dieses Sofa gekommen war.

Schuld daran waren zwei Personen, der Gerichtsvollzieher und Klaus.

*

Meine Begegnung mit dem Gerichtsvollzieher hatte vor genau einer Woche stattgefunden, und als er auftauchte, war ich zuerst davon überzeugt, das Ganze müsse ein Versehen sein. Oder ein Albtraum. Vor allem, als er einer Horde schwitzender Möbelpacker befahl, alle Sachen aus dem Haus zu holen. Aber es war weder ein Versehen noch ein Albtraum, sondern eine Räumung.

Die spulte sich seit letzter Woche immer wieder wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab, aber mir fielen rückblickend ständig neue Einzelheiten ein. In dieser Nacht auf Doros Sofa erinnerte ich mich beispielsweise daran, dass der Gerichtsvollzieher einen seltsamen Sprachfehler gehabt hatte. Er hatte Probleme gehabt, das B vom P zu unterscheiden; genauer gesagt, hatte er jedes B wie ein P ausgesprochen.

»Es geht nicht, dass Sie im Haus wohnen pleipen«, hatte er beispielsweise gesagt. Und: »Den Schlüssel müssen Sie mir hier und jetzt herausgepen.«

Als er an der Tür geklingelt hatte, ahnte ich nichts Böses. Im Gegenteil – ich hatte ein paar Tage vorher Schuhe im Internet bestellt und wartete schon auf die Lieferung. Doch als ich die Tür öffnete, stand nicht der Paketbote draußen, sondern ein Typ, der aussah wie die personifizierte Behörde: steife Haltung, stechender Blick, verkniffenes Gesicht, gebügelte Hose, blank geputzte Schuhe.

»Ich pin Gerichtsvollzieher.« Er zeigte mir ein amtlich aussehendes Schriftstück. »Das ist der Räumungspefehl.«

Ich starrte das Dokument verblüfft an. »Das muss ein Irrtum sein. Hier ist nichts zu räumen.«

»Doch. Und zwar zwangsweise.« Er winkte einer Truppe von Männern zu, die gerade aus einem großen Möbeltransporter stiegen. »Es kann losgehen!«

»Aber ich wohne hier! Und das Haus gehört mir!« Ich besann mich. »Oder jedenfalls so gut wie. Der Eigentümer ist mein ehemaliger Lebensgefährte. Er ist nach unserer Trennung vor vier Monaten ausgezogen und hat das Haus mir überlassen. Als Ausgleich für ein Darlehen, das ich ihm gegeben habe.« Mit Betonung fügte ich hinzu: »Ein großes Darlehen.«

Der Gerichtsvollzieher musterte mich mit einer Spur von Mitleid. »Sie wissen sicher, dass pei Grundstücksüpertragungen nur notarielle Verträge und Eintragungen im Grundpuch zählen, oder?« Er gab den Möbelpackern einen Wink, ins Haus zu gehen.

»Moment mal!« Ich versuchte, mich ihnen in den Weg zu stellen. »Das mit der Eigentumsübertragung des Hauses an mich ist doch nur eine Formsache! Klaus – Herr Pieper – hat gesagt, die Umschreibung ist praktisch schon durch!«

»Das ist sie tatsächlich. Und zwar im Wege der Zwangsversteigerung für die Grundschuldgläupiker. Darf ich Sie jetzt pitten, die Räumung nicht zu pehindern? Das wäre nämlich Widerstand gegen Vollstreckungspeamte und eine Straftat.«

Während ich verschreckt zur Seite wich und die Möbelpacker ausschwärmten, erklärte mir der Gerichtsvollzieher mit vielen P die Sachlage. Klaus’ Vorstadtvilla war bis unters Dach mit Hypotheken belastet, und weil er die fälligen Raten nicht mehr gezahlt hatte, war schließlich Antrag auf Zwangsversteigerung gestellt worden. Dass ich davon keine Ahnung gehabt hatte, lag natürlich daran, dass Klaus es mir verheimlicht hatte.

»Was ist denn mit dem Darlehen, das ich Herrn Pieper gegeben habe?«, erkundigte ich mich mit angstvoll klopfendem Herzen bei dem Gerichtsvollzieher.

»Wann war das?«

»Gleich nach meinem Einzug, vor viereinhalb Monaten. Da hatte ich nach dem Verkauf meines Elternhauses und meines Weingeschäfts ziemlich viel Geld auf dem Konto. Klaus brauchte es nur für eine Zwischenfinanzierung. Er wollte mir das Geld eigentlich sofort zurückzahlen, aber dann … dann trennten wir uns und wollten das Darlehen irgendwie mit diesem Haus hier verrechnen.«

Der Gerichtsvollzieher schüttelte bloß den Kopf.

Immer noch in der Hoffnung, dass das alles sich ganz schnell aufklären ließ, wählte ich mit zitternden Fingern Klaus’ Handynummer und wartete mit angehaltenem Atem, dass er sich meldete, doch es ging nur die Mailbox dran.

»Klaus!«, rief ich, als die Automatenstimme mich zum Hinterlassen einer Nachricht aufforderte. »Du musst sofort herkommen! Hier passiert gerade etwas Furchtbares! Sie räumen das Haus leer! Sie sagen, es wäre wegen einer Zwangsversteigerung! Wie kann das sein? Du hast mir doch versprochen, dass …«

Tuuut. Die Sprechzeit war vorbei. Spontan wollte ich noch einmal anrufen und den Rest erzählen, aber dann ließ ich es sein, denn allmählich dämmerte mir, dass der Grund für all das hier nicht etwa ein Irrtum war, sondern nur meine eigene Dämlichkeit. Mir blieb jedoch keine Zeit, genauer darüber nachzudenken, denn gerade kamen zwei Möbelpacker mit der Le-Corbusier-Lederliege aus dem Wohnzimmer ins Freie gestapft. Zwei andere fingen an, den Dielenschrank leer zu räumen und die Jacken und Mäntel in Umzugskisten zu packen.

»Das sind meine Sachen!«, rief ich entsetzt. »Sie können doch nicht einfach meine Sachen mitnehmen!«

Der Gerichtsvollzieher war kein Unmensch. Meinen nachweislich eigenen Besitz durfte ich behalten.

Alles, was Klaus gehörte, wurde erbarmungslos aus dem Haus und in den Transporter geschleppt. Meine Habseligkeiten durfte ich in Kisten verstauen und sie mithilfe der Möbelpacker in der Garage abstellen, aber das auch nur kulanzhalber und bis zum nächsten Morgen, dann musste alles weg sein.

Und nicht nur meine Sachen hatten zu verschwinden, sondern auch meine Person. Ich war nämlich weder Mieterin noch Eigentümerin, sondern quasi nicht existent – Klaus hatte bei Gericht ausdrücklich angegeben, das Haus sei unbewohnt.

»Verstehen Sie?«, fragte der Gerichtsvollzieher mich, nachdem er mir alles erklärt hatte. Dabei sah er mich an, als hätte ich den IQ einer Fußmatte. »Sie könnten theoretisch auch eine x-peliepige Hauspesetzerin sein. Sie ahnen nicht, was wir schon alles hatten! Wenn Sie auf ein Nutzungsrecht pochen und es nicht peweisen können, käme Sie das teuer. Und Sie müssten trotzdem raus. Das muss pedacht werden.«

Ich wollte nichts pedenken, aber mir blieb keine Wahl, wenn ich nicht auf der Straße wohnen wollte.

*

Deswegen lag ich nun hier auf Doros Sofa und konnte an nichts anderes denken als an mein verkorkstes Leben. Ich fing an zu heulen, weil alles so schrecklich war. In diesem Moment ging die Schlafzimmertür erneut auf, und diesmal kam Doro heraus. Eigentlich wollte sie nur aufs Klo, aber dann hörte sie mein Schniefen und kam zu mir. Sie setzte sich neben mich auf die Sofakante und streichelte mir übers Haar. »So schlimm?«

Ich nickte bloß und heulte weiter.

»Willst du reden?«

»Nein«, sagte ich dumpf.

Das war für sie völlig in Ordnung. Sie hörte zu, wenn ich reden wollte, und wenn ich einfach nur flennen wollte, hielt sie meine Hand, bis ich wieder aufhörte. Praktischerweise hat meine Freundin Doro ein riesengroßes Herz, und wenn es sie nicht gäbe, hätte ich die letzten Monate, vor allem aber die letzte Woche, wahrscheinlich in wesentlich schlechterer Verfassung überstanden. Wenn überhaupt. Sie hat mir nicht nur ihr Sofa geliehen, sondern auch ein offenes Ohr, wann immer ich es nötig hatte, also praktisch rund um die Uhr.

»Heul dich aus«, sagte sie mitfühlend, und dann wartete sie geduldig, bis mein Schluchzen verebbt war.

»Geht es wieder?«, fragte sie.

Ich murmelte irgendwas, und sie strich mir noch einmal über den Kopf und ging ins Bad. Sie machte dabei nicht ganz so viel Lärm wie Dirk, aber dafür brauchte sie länger, weil sie sich noch frisch machte. Das konnte nur eins bedeuten. Und tatsächlich, kaum war sie wieder in ihrem Schlafzimmer verschwunden, setzten auch schon wieder eindeutige Geräusche ein. Runde zwei mit Dirk.

Inzwischen war mir klar, was Doro neulich gemeint hatte, als sie frisch verliebt erzählt hatte, Dirk könne die ganze Nacht. Ich hatte angenommen, dass sie maßlos übertrieb – aber Dirk war offenbar wirklich mit unerschöpflicher Potenz ausgestattet. Bis jetzt hatte es noch keine Nacht gegeben, in der er das nicht mehrfach unter Beweis gestellt hatte.

Ich versuchte, wieder einzuschlafen, aber es ging nicht. Stattdessen dachte ich an die andere Person, die daran schuld war, dass ich auf diesem Sofa lag – Klaus.

*

Damals, vor knapp zwei Jahren, hatte es mit uns beiden wirklich verheißungsvoll angefangen.

Wahnsinn, was für ein Mann! Strahlende Augen, dunkelblondes, leicht verwuscheltes, an den Schläfen ergrauendes Haar, groß, schlank, sportlich-leger gekleidet – das war mein erster Eindruck von Klaus, als er damals in den Laden kam und den teuersten Wein kaufen wollte, den ich auf Lager hatte. »Ein besonderes Geschenk für einen besonderen Geschäftspartner. Egal, was er kostet – ich nehme ihn!«

»Glauben Sie mir, den teuersten möchten Sie nicht«, sagte ich. »Außerdem verstaubt der seit zwanzig Jahren in meinem Keller, ein echter Ladenhüter also.«

»Jetzt bin ich neugierig. Was ist es für einer?«

»Ein Bordeaux, und zwar ein 61er Château Pétrus Pomerol. Kostet viertausend.«

Er pfiff durch die Zähne. »Klingt nach einem guten Tropfen. Packen Sie ihn als Geschenk ein. Und erzählen Sie ein bisschen was.«

»Worüber?«

»Über den Wein.« Er lächelte. »Und über sich selbst.«

So lernte ich ihn kennen. Er war fast eine Stunde im Laden, und es blieb nicht dabei, dass ich ihm diverse Eckdaten über seine kostspielige Neuanschaffung mitteilte, sondern ich erfuhr auch einiges über ihn persönlich. Er hatte eine Import-Export-Firma, hauptsächlich Industrieanlagen und Baumaschinen, aber auch Elektronik und Hightech. Er war auf der Durchreise und hatte auf seinem Weg nach Frankfurt nur einen Abstecher von der Autobahn gemacht, weil er vor Ladenschluss unbedingt noch ein ordentliches Geschenk für einen wichtigen Geschäftsfreund besorgen musste. Der feierte einen runden Geburtstag, deshalb sollte es schon was hermachen.

Klaus schien sich überhaupt nicht daran zu stören, dass zwischendurch andere Kunden in den Laden kamen und bedient werden mussten, er wartete einfach jedes Mal, bis ich wieder Zeit für ihn hatte. Er stand ganz entspannt da, lässig an die Theke gelehnt und gut gelaunt in die Runde blickend – als wäre mein Geschäft der ultimative Hotspot für Weinkenner statt bloß ein biederes, in die Jahre gekommenes Lädchen in der Kasseler Provinz.

Auf dieselbe Weise schaute er auch mich an. Nicht wie eine Endvierzigerin mit fünf Kilo zu viel, sondern wie jemanden, der wirklich so attraktiv war, wie er behauptete (»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie ein bisschen so aussehen wie Bettina Zimmermann?«). Meine Hände zitterten leicht, als ich die Magnumflasche sorgfältig in eine gepolsterte Schachtel packte und meine Geschäftskarte an das Geschenkband heftete.

Klaus wartete, bis ich den Laden zumachte. Dann begleitete er mich vor die Tür und blickte mich lächelnd an. »Ich werde mich melden und Ihnen Bescheid sagen, ob meinem Freund das Geschenk gefällt.«

Mein Herz geriet ins Stolpern, als er mir dabei in die Augen sah. Im Grunde war es da schon um mich geschehen. Am nächsten Tag kam eine witzige, launige E-Mail und eine Woche später wieder er selbst. Diesmal kaufte er nach einem ausführlichen und vergnüglichen Beratungsgespräch ein Dutzend edler spanischer Roter für zusammen fast fünfhundert Euro und bestand hinterher darauf, dass ich ihn nach Ladenschluss zum Essen begleitete. Er hatte einen Tisch für zwei reserviert, im besten Restaurant Kassels. Die ganze Zeit über klopfte mein Herz wie verrückt, weil ich es nicht fassen konnte, dass ich wirklich dort saß, mit diesem kultivierten, unterhaltsamen und gut aussehenden Mann, der es sichtlich zu genießen schien, mit mir zu reden und zu lachen und zu essen. Als er mich anschließend in seinem funkelnagelneuen Porsche Cayenne nach Hause brachte, küsste er mich leidenschaftlich, und dann sagte er, falls mir das überstürzt vorkomme, liege es daran, dass er keine Zeit zu verlieren habe – in seinem Leben sei er bisher nur sehr selten einer Frau begegnet, bei der er sofort gewusst habe: Die ist es einfach.

Genau das waren seine Worte gewesen: »Die ist es einfach.« Oder, bei späteren Anlässen auch des Öfteren: »Du bist es einfach.«

Aus unerfindlichen Gründen hatte ich bereits in der Vorwoche, nachdem er mir zum ersten Mal gemailt hatte, das Haus vorzeigbar aufgeräumt, alles gründlich geputzt, die Gardinen gewaschen und mein Bett frisch bezogen. Mit schöner, neuer, spitzenbesetzter Bettwäsche.

Nicht er war derjenige, der fragte, ob er noch mit auf einen Absacker reinkommen könne – ich bot es ihm an. Und ich erlebte die Nacht aller Nächte. So kam es mir jedenfalls damals vor. Aber sogar, wenn ich heute zurückblicke, mit all dem Wissen, das mir damals fehlte, muss ich sagen, dass es grandios war. Er war es einfach. Eben Klaus.

Nachdem wir fast anderthalb Jahre lang eine Wochenendbeziehung geführt hatten, war ich zu ihm in sein Haus nach Frankfurt gezogen.

Und knapp zwei Wochen später hatten wir uns getrennt.

Seither hatte ich vier Monate Zeit gehabt, um über ihn hinwegzukommen. Gerade, als ich das Gefühl hatte, es geschafft zu haben, war der Gerichtsvollzieher aufgekreuzt. Und jetzt gab es noch nicht mal mehr jemanden, auf den ich wütend sein konnte – denn Klaus war gestorben. Vorige Woche, und zwar zufällig am Tag der Räumung. Als ich meine letzte Nachricht auf seine Mailbox gesprochen hatte, war er schon nicht mehr am Leben gewesen. Einerseits hatte mich das sehr erleichtert (immerhin hatte ihn nicht die Aufregung über meinen Anruf umgebracht), aber auf der anderen Seite war die Vorstellung, eine Nachricht für einen Toten zu hinterlassen, ziemlich gruselig. Wenigstens war er nach allem, was ich gehört hatte, sofort tot gewesen – Herzinfarkt. Nicht ungewöhnlich für Männer über fünfzig, die zu hohen Blutdruck und zu viel Stress im Beruf haben und trotzdem nicht kürzertreten wollen. Und auch sonst über die Stränge schlagen.

*

Das rhythmische Knarzen nebenan hörte auf, zeitgleich mit dem unterdrückten Keuchen von Dirk, das sich immer anhörte, als sei er ein Fall für die Intensivstation. Auch der nachfolgende Rest lief ab wie üblich. Diesmal stellte ich mich schlafend, aber ich hatte auch so alles bestens vor meinem geistigen Auge. Zuerst kam Dirk aus dem Schlafzimmer, zu erkennen am Patschen seiner großen Füße auf dem Parkett und dem schabenden Geräusch, mit dem er sich an seinen meiststrapazierten Teilen kratzte. Dann das springbrunnenartige Plätschern im Bad, dann wieder tapsende Schritte zurück zum Schlafzimmer. Wenig später etwas leiseres Tappen und Plätschern von Doro. Anschließend die Klospülung.

Irgendetwas war diesmal anders gewesen – richtig, sie hatten nur einmal die Spülung gedrückt, vermutlich aus Rücksicht auf mich. Oder weil Dirk vergessen hatte abzuziehen, so wie er auch jedes Mal das Händewaschen oder das Runterklappen der Klobrille vergaß.

Wie auch immer. Mir reichte es. Ich konnte es nicht länger aushalten. Wie hatte bloß alles so weit kommen können? Dass ich bei anderen Leuten auf dem Sofa pennen und ihnen Nacht für Nacht bei ihrem olympiareifen Sportprogramm zuhören musste? Dass ich kein Zuhause mehr hatte? Keine berufliche Existenz, keine Möbel, kaum noch Geld und als einzigen persönlichen Besitz nur noch ein paar Kisten in der hinteren Ecke von Doros Wohnzimmer?

Diesmal fing ich nicht nur einfach an zu weinen. Es war der heftigste Heulkrampf aller Zeiten. Sogar noch schlimmer als der vor vier Monaten bei der Trennung von Klaus. Damals hatte ich die Wahrheit (die erste und schlimmste) über ihn herausgefunden: dass er nicht allein zu mir Du bist es einfach gesagt hatte, sondern auch zu mindestens zwei anderen Frauen. Vielleicht sogar zu dreien. Und zwar parallel.

Die Erinnerung verwandelte mich in ein von Schluchzern geschütteltes Elendsbündel. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, meinen Nervenzusammenbruch möglichst lautlos zu gestalten, um Doro und Dirk nicht auf den Plan zu rufen, denn das hätte ich in dem Augenblick nicht auch noch ertragen. Die Hand vor den Mund gepresst und blind vor Tränen, stolperte ich ins Bad, schloss hinter mir ab und suchte in Doros Medizinschränkchen nach etwas, womit ich meinem Leben ein schnelles, schmerzloses Ende bereiten konnte. In dem Moment war mir wirklich alles egal. Ich wollte nicht mehr auf der Welt sein. Nach hektischem Wühlen fand ich eine Packung, auf der – ich konnte es durch den Tränenschleier nicht richtig erkennen – irgendwas von Beruhigungsmittel stand. Ich schluckte alle zwölf Pillen, die noch drin waren, spülte mit Wasser nach, wusch mir das Gesicht und atmete tief durch.

Während ich auf das Einsetzen der Wirkung wartete, las ich die Gebrauchsanweisung, aus der hervorging, dass ich gerade eine Tagesdosis Baldrian zu mir genommen hatte. Immerhin wirkte das Zeug tadellos. Zum ersten Mal seit einer Woche schlief ich wie ein Stein, sogar zwölf Stunden, einmal rund um die Uhr. Und als ich aufwachte, lag das Schlimmste hinter mir. Es war entschieden – ich würde nicht mehr zurückblicken, sondern von vorn anfangen. Ich würde ein neues Blatt aufschlagen. Neue Wohnung, neuer Job, neues Leben. Irgendwie würde ich es schon packen. Nur einen Fehler würde ich bestimmt niemals wieder begehen – auf einen Kerl hereinzufallen. Männer würde ich künftig nie näher als drei Schritte an mich heranlassen. Wenn ich das beherzigte, würde sich alles andere schon wieder von allein einrenken und ich ein problemfreies, ruhiges, zufriedenes Leben führen. Dachte ich.

*

»Genau, da sind Sie bei mir richtig«, sagte der sechste Makler, den ich anrief. »Nein, die Wohnung ist noch nicht vergeben.«

Ich atmete unauffällig aus. Das war die erste von den inserierten Zweizimmerwohnungen, die sich nicht schon andere vor mir gekrallt hatten.

2 Zi., 75 qm, 620,– mtl. + 150,– NK, EBK, Bad, ZH, sofort frei – genau das, was ich brauchte und mir gerade noch leisten konnte. Die 2,14 Monatsmieten an Maklercourtage waren nicht so erfreulich, aber für weniger war praktisch keine Mietwohnung zu haben, so viel wusste ich bereits von Doro, die schon etliche Wohnungssuchen hinter sich hatte.

»Ganz gefragte Wohnlage in Bornheim«, fuhr der Makler fort. »Die Berger Straße ist praktisch um die Ecke.«

»Super«, sagte ich erfreut.

»Die Wohnung soll an eine ruhige, möglichst weibliche Einzelperson vermietet werden, ungebunden, zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig.«

Das fand ich ein wenig seltsam, aber dann wurde mir klar, was dahintersteckte: Jüngere Frauen konnten sich Nachwuchs zulegen, der dann spielenderweise die Wohnung verwüsten und Lärm veranstalten konnte, und ältere Frauen … Ja, was war mit denen? Waren sie als Mieter vielleicht schwerer loszuwerden als andere? Egal, ich erfüllte die Voraussetzungen, das war die Hauptsache.

»Ich bin eine ruhige weibliche Einzelperson und fast fünfzig«, sagte ich eifrig. »Und Single.«

»Hört sich an, als würden wir rasch zusammenkommen«, meinte der Makler.

»Welches Stockwerk?«, zischte Doro im Hintergrund. Sie hatte darauf bestanden, auf Lautsprecher zu schalten, damit sie mithören und mich auf Fallstricke bei dem Angebot hinweisen konnte.

»Welches Stockwerk?«, fragte ich den Makler, während ich Doro leicht entnervt anblickte. Ich traute mir durchaus zu, das hier allein zu schaffen, doch davon hatte sie nichts wissen wollen.

»Vierter Stock«, sagte der Makler.

»Ah. Okay.«

»Aufzug?«, zischte Doro, bevor ich mir selbst die nächste Frage überlegen konnte.

Ich verdrehte die Augen. »Gibt es einen Aufzug?«

»Hm, nein.« Eilig fügte der Makler hinzu: »Aber dafür gibt es etwas, das aus der Anzeige nicht hervorgeht, nämlich einen dritten Raum in der Wohnung. Er ist zwar klein, kann aber ohne Weiteres als zusätzlicher Schlafraum genutzt werden. Außerdem ist ein Garten hinterm Haus, sogar mit altem Baumbestand.«

»Das klingt sehr gut«, sagte ich. Die nächste Frage wollte ich selbst stellen. »Was heißt ZH?«, fragte ich.

»Zentralheizung«, sagte der Makler.

Doro schlug sich vor die Stirn und machte ihr Wie-kann-ein-Mensch-nur-so-blöd-sein-Gesicht. »Baujahr?«, zischte sie dann.

Ich drehte mich von ihr weg. »Und EBK? Was heißt das?«

»Einbauküche«, sagte der Makler verbindlich. »Das heißt, es ist eine drin, und Sie müssen sich keine anschaffen.«

Das war für mich ein schlagendes Argument. Wenn ich mir keine Küche kaufen musste, war das buchstäblich schon die halbe Miete.

»Renovierungsbedarf?«, zischte Doro.

Doch ich war der Meinung, dass man den Rest vor Ort besprechen sollte. »Ich möchte mir die Wohnung ansehen«, erklärte ich mit fester Stimme.

*

Ich bestand darauf, allein hinzugehen, obwohl Doro mir sofort prophezeite, dass ich mich garantiert abkochen lassen würde, wenn sie nicht dabei war. Aber ich war wild entschlossen, ihr das Gegenteil zu beweisen. Zu meinem neuen Leben gehörten auch eigenständige Entscheidungen.

Der Makler wartete vor dem Haus auf mich. Er war ein Hänfling mit pickligem Kindergesicht und sah aus, als müsste er noch zur Schule gehen. Ich war bei seinem Anblick schon drauf und dran, ihn zu fragen, ob er wirklich einen Vermittlungsauftrag besaß. Sonst würde ich ihm am Ende womöglich die Courtage in den Rachen werfen, und in Wahrheit war die Wohnung gar nicht zu vermieten. So was in der Art kam manchmal vor, Doro hatte mich davor gewarnt.

Aber der junge Mann – er stellte sich mir als Lars Liebermann vor – hatte einen Hausschlüssel dabei, das überzeugte mich sofort.

Das Mietshaus sah halbwegs nett aus. Kein Jugendstil, wie ich gehofft hatte und wie es hier in der Gegend recht verbreitet war, sondern ein vierstöckiger Nachkriegsbau, aber das Haus hatte eine auf gefällige Weise verwitterte Sandsteinpatina und einen kleinen Vorgarten. Als der Makler die Haustür aufschloss, wehten uns orientalische Kochdünste entgegen. »Riecht nach Curry«, sagte ich.

»Echt?« Lars Liebermann schnupperte. »Hm, ja, kann sein. Im zweiten Stock wohnen Pakistanis. Sehr freundliche Menschen. Das Haus ist richtig multikulti.«

Das hörte sich gut an, fand ich. Ich mochte die pakistanische Küche.

Das Treppenhaus wirkte ansonsten nicht wirklich einladend – überquellende Briefkästen und ausgetretene Steinstufen.

Als wir den Hausflur betraten, öffnete sich eine der beiden Wohnungstüren im Erdgeschoss, und eine vollbusige Blondine kam uns entgegen. Sie trug ein ultrakurzes Elastikkleidchen und High Heels und hatte eine Zigarette im Mundwinkel. Hüftschwingend stolzierte sie zu den Briefkästen. Einen davon schloss sie auf, zerrte einen Stapel Werbebroschüren heraus und warf sie achtlos auf den Boden. Die übrige Post durchblätternd, stöckelte sie zurück zu ihrer Wohnung, doch bevor sie hineingehen konnte, öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung, und ein Mann im grauen Kittel erschien. Er war von hagerer Statur und ungefähr vierzig, und er trug einen Gesichtsausdruck zur Schau, der mich entfernt an den Gerichtsvollzieher erinnerte.

»Frau Dimitriewa!«, sagte er anklagend zu der Blondine. »Sie haben wieder die Werbung auf den Boden geworfen! Ich habe Sie doch schon zigmal darum gebeten, dass Sie die in den Papiermüll tun!«

»Und ich hab dir schon oft gesagt, dass du mich nennen sollst Natascha«, gab die Blondine mit starkem osteuropäischen Akzent zurück. »Dann können wir über alles viel besser reden, na?« Sie warf die langen Locken zurück und grinste breit, während ihr Wohnungsnachbar rot anlief und die Backen aufblähte, als hätte sie von ihm verlangt, sich sofort nackt auszuziehen. Er rang immer noch um Fassung, als die Blondine schon wieder in ihrer Wohnung war und mit einem nachlässigen Fußtritt die Tür hinter sich zustieß.

Der graubekittelte Mann zuckte bei dem Geräusch zusammen, dann wandte er sich entrüstet an Lars Liebermann. »Haben Sie das mitgekriegt?«

Lars Liebermann zuckte die Achseln. »Es gibt Schlimmeres. Kommen Sie, Frau Hagemann.« Er nahm Kurs auf die Treppe, und ich folgte ihm. Auf dem Weg nach oben beugte er sich vertraulich zu mir. »Sein Name ist Knettenbrecht. Sehr pingeliger Mensch.«

»Ist er hier der Hausmeister?«

»Nur stundenweise, quasi freiberuflich. Dafür zahlt er etwas weniger Miete.«

»Wie viele Parteien gibt es denn hier im Haus?«

»Na, die im Erdgeschoss haben Sie ja schon gesehen. Den Hausmeister und die russische Lady.« Wir erreichten das erste Obergeschoss, Lars Liebermann deutete auf die beiden Wohnungstüren. »Dort wohnt ein IT-Spezialist, der ist aber das ganze Jahr beruflich unterwegs. In der anderen Wohnung lebt eine Rentnerin.« Er ging die nächste Treppe hoch. »Im zweiten Obergeschoss gibt es nur eine Wohnung, da leben die Pakistanis. Lassen Sie sich nicht davon beeinflussen, was der Knettenbrecht eben gesagt hat – die Ansaris sind nette, absolut integrierte Leute.«

Hier oben roch es wie in einem indischen Restaurant, es machte richtig Appetit. Durch die geschlossene Tür hörte man eine Frau lachen, untermalt von Kindergesang. Es klang nach einer großen, fröhlichen Familie.

Lars Liebermann war schon auf der nächsten Treppe. »Im dritten Stock wohnt nur ein alleinstehender älterer Herr. Sehr ruhiger und höflicher Typ. Von dem werden Sie kaum was hören.«

Dann waren wir endlich oben im vierten Stock. Die eine der beiden Türen führte zum Dachboden mit ein paar Abstellräumen, wie Lars Liebermann mir erklärte, und die andere zu der freien Wohnung. Der Makler schloss die Wohnungstür auf. Der Flur war schmal und fensterlos, aber Lars Liebermann stieß sofort eine weitere Tür auf. »Das Wohnzimmer.«

Der Raum war relativ groß, wurde aber von einer durchgehenden Dachschräge förmlich erdrückt. An der zum Nachbarhaus ausgerichteten Stirnseite gab es ein Fenster, und gegenüber der Tür ein weiteres, das in der Schräge eingelassen war und eher einer Luke als einem Fenster ähnelte. Die Wände waren mit leicht angeschmuddelter Raufaser tapeziert, und der Bodenbelag bestand aus Linoleum, dessen Farbe irgendwann vor vielen Jahren vermutlich mal blau gewesen war.

»Die Wände können Sie nach Ihrer Wahl anstreichen«, sagte Lars Liebermann. »Dafür müssen Sie beim Auszug nicht renovieren.« Er ging zurück in den Flur und öffnete die nächste Tür. »Badezimmer. Klein, aber alles vorhanden.«

In Wahrheit war das Bad so winzig, dass man sich kaum darin umdrehen konnte. Es bot gerade genug Platz für die Benutzung von Dusche, Klo und Waschbecken, vorausgesetzt, man war nicht über eins sechzig groß oder gewöhnte sich beizeiten daran, auf dem Weg von der Dusche zur Tür – es ging um die Ecke unter der Schräge hindurch – ziemlich weit den Kopf einzuziehen.

»Das ist … sehr platzsparend«, erklärte ich, weil ich das Gefühl hatte, irgendwas Höfliches beisteuern zu müssen. Über die stumpfgelben Fliesen und die verkalkten Armaturen sagte ich lieber nichts.

»Da muss man mal mit ein bisschen Essigessenz dran, dann blinkt das alles wieder«, sagte Lars Liebermann, der anscheinend Gedanken lesen konnte.

Der nächste Raum war eine winzige, fensterlose Gruft von höchstens vier Quadratmetern.

»Ah, die Abstellkammer«, sagte ich.

»Eigentlich ist es das dritte Zimmer, das ich erwähnte«, meinte Lars Liebermann. »Man kann ohne Weiteres ein Bett reinstellen. Der Vorteil ist, dass man hier im Dunkeln schlafen kann. Viele Leute haben es sehr gern dunkel, wenn sie schlafen. Und hier drin braucht man nicht mal Rollläden.«

Jetzt, wo er es erwähnte, fiel mir auf, dass ich in der Wohnung sowieso noch keine gesehen hatte, zumindest nicht an den beiden einzigen bisher gesichteten Fenstern.

Lars Liebermann ging voraus in das richtige zweite Zimmer, das ungefähr halb so groß war wie das Wohnzimmer, aber trotzdem geräumig wirkte, denn hier wurde die Schräge durch eine breite Gaube mit großem Fenster aufgelockert.

»Schön ruhig«, sagte Lars Liebermann. »Kein Straßenlärm, denn unten ist nur der Garten.«

»Oh. Kann ich mal sehen?« Ich ging zum Fenster und öffnete es. Das heißt, ich wollte es öffnen, aber bei meinem Versuch, das klemmende Ding aufzuziehen, brach der Hebel ab. Erschrocken starrte ich den Metallgriff in meiner Hand an, dann legte ich ihn schnell aufs Fensterbrett.

»Keine große Sache«, sagte Lars Liebermann. »Das bringt der Hausmeister in Ordnung.« Er deutete auf die letzte Tür in der Wohnung. »Hier wäre die Küche.«

Die lag fast komplett unter der Schräge, aber dafür gab es ein recht großes Dachfenster, und in dem einfallenden Sonnenlicht war das altertümliche Interieur gut zu erkennen. Die erwähnte Einbauküche bestach durch unverfälschtes Sechzigerjahre-Design: beige-braune, geriffelte Resopalfronten, zerkratzte Arbeitsflächen und eine vorsintflutliche Dunstabzugshaube. Es sah so ähnlich aus wie bei meinen Großeltern, als ich noch ein Kind gewesen war. Ich dachte an die Designerküche in Klaus’ Villa, und in mir krampfte sich alles zusammen. Aber ich biss die Zähne zusammen. Ich würde der Vergangenheit nicht hinterherheulen! Mit ein bisschen gutem Willen und Fantasie war diese Küche hier nicht wirklich schäbig, sondern … Retro-look.

»Wo ist die Spülmaschine?«, fragte ich betont sachlich.

»Nicht vorhanden. Aber dafür gibt es einen Wasch- und Trockenkeller. Das heißt, Sie müssen sich weder eine Waschmaschine noch einen Trockner zulegen.«

Daran hatte ich überhaupt noch nicht gedacht und setzte es sofort als Punkt auf meine mentale Pro-Liste. Auf der leider bisher außer Günstige Miete und nettes Multikulti und Küche könnte nach einem großen Glas Grand Cru vielleicht als Vintage durchgehen nichts stand.

»Na, wie gefällt Ihnen die Wohnung?«, fragte Lars Liebermann. Er blickte mich hoffnungsvoll an. »Wenn Sie wollen, machen wir hier und jetzt den Vertrag klar.«

»Ähm … Was ist mit dem Garten?«, fragte ich leicht überrumpelt. »Kann ich mir den vielleicht auch noch ansehen?«

»Klar. Bei der Gelegenheit kann ich Ihnen auch gleich den Keller zeigen.«

Wir gingen wieder nach unten. Im ersten Stock kam uns der Hausmeister entgegen und starrte mich argwöhnisch an. »Ich wollte nur mal sehen, ob Sie zurechtkommen.«

Dieser Herr Knettenbrecht war definitiv ein Kontrollfreak. Vorsorglich setzte ich ihn auf die Kontra-Liste, womit diese auf eine beträchtliche Länge anwuchs.

»Sie kommen gerade richtig«, sagte Lars Liebermann. »Oben ist ein Fenstergriff abgebrochen. Ich gehe rasch mit hoch und schließe Ihnen auf, dann können Sie das sofort reparieren.« Zu mir sagte er: »Gehen Sie ruhig schon raus in den Garten. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«

Ich ging durch die Hintertür in den Garten, der sich als Innenhof mit ein paar mickrigen Büschen am Rand entpuppte. An der Rückseite des Grundstücks gab es einen Geräteschuppen und ein paar Garagen, von denen eine von einem Torbogen überdachte Durchfahrt zur Straße führte. Der dürre Ahorn in der Mitte des Geländes war vermutlich der alte Baumbestand. Im Hof lagen in wildem Durcheinander ein Dreirädchen, ein Bobby-Car, ein Kinderfahrrad und diverse Spielsachen, die von reichlicher Ingebrauchnahme kündeten. Dieser kunterbunte, anheimelnd unaufgeräumte Hinterhof war zwar kein Garten, aber er kam trotzdem sofort auf die Pro-Liste.

Ich wandte mich möglichst objektiv der Frage zu, ob die Wohnung für mich infrage kam. Sie war ziemlich abgewohnt, doch das musste ja nicht so bleiben. Ich kniff die Augen zu und sann darüber nach, was man daraus machen konnte, doch meine Vorstellungen blieben leicht nebulös. Ein frischer Anstrich, klar. Damit würde sicher alles nur noch halb so hässlich aussehen. Weiße Gardinen? Bastteppiche?

Ich kniff die Augen noch fester zusammen und fing an, mir neue Möbel vorzustellen, mit Rücksicht auf meinen Kontostand vor allem welche aus dem IKEA-Sortiment. Ein paar Tausend Euro hatte ich noch. Genug, um die Wohnung in eine nette Bleibe zu verwandeln. Bevor das Geld aufgebraucht wäre, hätte ich längst einen Job gefunden, und alles war im Lack. Ja, ich würde die Wohnung nehmen. Heute fing mein neues Leben an. Genau hier und jetzt! Ich seufzte erleichtert.

»Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

Beim Klang der Männerstimme fuhr ich herum und sah mich einem Fremden gegenüber, bei dessen Anblick ich leicht zurückschrak, denn er sah nicht gerade vertrauenerweckend aus. Mein erster Eindruck war: groß, breit, haarig.

Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig, obwohl das schwer zu sagen war, denn der größte Teil seines Gesichts war von einem grau melierten Bart überwuchert. Das Haar war eine Spur dunkler, aber ebenso zottig wie der Bart. Und er war bestimmt an die eins neunzig groß. Mit den buschigen Brauen, dem massiven Körperbau und den enormen Händen und Füßen sah er aus wie eine Art Rübezahl, was durch das verschossene Holzfällerhemd und die abgeschabten Jeans noch unterstrichen wurde.

Ich räusperte mich. »Es geht mir gut. Ich war nur in Gedanken.« Mit einer leicht verlegenen Geste deutete ich auf das Haus. »Wohnen Sie auch hier?«

»Wieso auch?«

Seine Stimme war dunkel und volltönend und ein bisschen heiser, sie passte zu seiner Rübezahl-Gestalt.

»Na ja, ich überlege gerade, ob ich hier einziehen soll. Mir wurde die Wohnung im vierten Stock angeboten.«

Er blickte mich aus eisblauen Augen an, und es kostete mich Überwindung, zwei Schritte auf ihn zuzugehen und ihm die Hand hinzustrecken. »Hagemann. Charlotte Hagemann.«

»Adrian Köhler. Wer hat Ihnen denn die Wohnung angeboten?«

»Ein Makler.«

»Was für einer?«

Ich fand, dass ihn das überhaupt nichts anging, aber ich wollte nicht unhöflich sein. Offensichtlich wohnte er hier, und da war es wohl angebracht, die Weichen frühzeitig in eine friedlich-nachbarschaftliche Richtung zu stellen. Wahrscheinlich war er dieser ominöse IT-Spezialist aus dem ersten Stock.

»Sein Name ist Lars Liebermann.«

»So ein junges Pickelgesicht?«

Ich nickte stirnrunzelnd.

Adrian Köhler zog die dichten schwarzen Brauen zusammen. »Verstehe. Gab es irgendwelche Vorgaben?«

»Was für Vorgaben?«, fragte ich irritiert.

»Für die Eigenschaften, die Sie als Mieterin mitbringen sollten.«

Das irritierte mich erst recht. »Wieso fragen Sie das?«

»Nur aus Interesse. Hat man Ihnen vielleicht gesagt, dass Sie alleinstehend sein müssen? Und zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig? Und gut aussehend?«

Ich wurde rot. »Von gut aussehend war nicht die Rede. Aber vom Rest schon.«

Er nickte, als hätte er es geahnt.

Ich war restlos verwirrt. »Was hat das alles zu bedeuten? Gibt es da irgendwas, das ich wissen sollte?«

»Wie man’s nimmt.« Er zog eine zerknautschte Zigarettenschachtel heraus und steckte sich eine Zigarette an. »Eigentlich sollte die Wohnung nämlich überhaupt nicht vermietet werden. Der Eigentümer wollte sie leer stehen lassen, mit den letzten Mietern gab es ihm zu viel Stress.«

»Anscheinend hat er es sich wieder anders überlegt.«

Er schüttelte den Kopf und pustete Zigarettenqualm von sich. »Das hat sich dieser Liebermann bloß so hingebogen. Ich war nämlich zufällig dabei, als der Eigentümer das letzte Mal mit ihm sprach.«

»Worüber sprach?«

»Darüber, ob die Wohnung neu vermietet werden soll oder nicht. Der Eigentümer sagte klipp und klar, dass er daran kein Interesse hat. Es sei denn …« Er hielt inne und musterte mich durchdringend.

»Es sei denn was?«

»Ich hab noch im Ohr, wie die beiden darüber sprachen. Der Liebermann sagte: Wir finden bestimmt jemanden, der Ihren Anforderungen entspricht und alle Kriterien erfüllt, auf die Sie Wert legen!, worauf der Eigentümer meinte: Ja klar, machen Sie doch ein Profil nach meinen persönlichen Bedürfnissen, wie wäre es mit einer scharf aussehenden Single-Braut zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig. Das hatte er natürlich sarkastisch gemeint«, schloss Adrian Köhler. »Quasi als eine Art Parodie auf eine Bekanntschaftsanzeige.«

»Sie meinen so was wie Vermieter sucht Frau?«, wollte ich ungläubig wissen.

Adrian Köhler grinste, zwischen dem Bartgestrüpp blitzten die Zähne auf. Er wedelte verneinend mit der Zigarette. »In Wahrheit sucht er gar keine, er hatte das nur gesagt, um seine Ruhe zu haben, weil dieser Liebermann schon seit Monaten wegen einer Neuvermietung an ihm dranhing.«

»Soll das heißen, die Wohnung ist gar nicht zu vermieten?« Meine ganze Zuversicht war schlagartig verflogen. Doro hatte mich gewarnt, ich hätte besser auf sie hören sollen. Zum Glück hatte ich dem Makler noch kein Geld gegeben.

Adrian Köhler zuckte die Achseln und pustete eine weitere Qualmwolke von sich. »Die Firma Liebermann hat die Verwaltung für das Haus inne, und die haben auch die Vollmacht, im Namen des Eigentümers die Mietverträge abzuschließen. Wenn Sie also den Vertrag unterschreiben, den die Ihnen vorlegen, ist das rechtlich nicht zu beanstanden, das heißt, der Eigentümer kann Sie dann auch nicht mehr rauswerfen. Im Grunde interessiert es ihn sowieso herzlich wenig, wer hier im Haus wohnt.«

»Aber dann hätte er sich doch wegen einer Neuvermietung der Dachgeschosswohnung nicht so angestellt!«

»Oh, na ja, das war ziemlich verständlich, in Anbetracht dessen, was vorher für Leute oben im Vierten gewohnt haben … Da kann man wohl von einer echten Pechsträhne sprechen.«

Jetzt hatte er mich neugierig gemacht.

»Was für Leute waren das denn?«

»Vor drei Jahren wohnte dort ein Kerl, der ziemlich ruhig war, man sah den nur selten im Haus, eigentlich so gut wie nie. Bis plötzlich ein schwer bewaffnetes Sondereinsatzkommando das Treppenhaus mit Tränengas einnebelte und die Dachgeschosswohnung stürmte, um den Typen zu verhaften. Es stellte sich raus, dass er ein international gesuchter Bombenbauer war. Die ganze Wohnung war voller Sprengstoff.«

»Oje«, sagte ich bestürzt.

Adrian Köhler nickte. »Danach zog ein nettes Ehepaar ein, beide so um die vierzig, mit soliden Jobs im öffentlichen Dienst und superfreundlich. Keiner konnte ahnen, dass sie ihre Gehälter aufbesserten, indem sie aus ihrem Wohnzimmer eine Marihuana-Plantage machten. Es fiel bloß auf, weil im Keller ständig die Hauptsicherung rausflog, was daher kam, dass sie in der Wohnung wahnsinnig viel Strom für die Leuchten verbrauchten.« Adrian Köhler sah meinen verständnislosen Gesichtsausdruck und fügte erklärend hinzu: »Für die Pflanzen. Hanfkulturen brauchen extrem starkes Licht. Dann kam wieder eine neue Mieterin, die ist letztes Jahr eingezogen. Eine Verwaltungsangestellte, auf den ersten Blick sehr seriös.«

»Warten Sie«, unterbrach ich ihn. »Lassen Sie mich raten. Sie war in Wirklichkeit eine Domina, und von den gequälten Männerschreien, die abends aus der Wohnung schallten, fielen alle im Haus aus dem Bett.«

Das entlockte Adrian Köhler ein breites Lächeln. »Sie haben Sinn für schrägen Humor, hat Ihnen das schon mal jemand gesagt? Und nein, sie war keine Domina, aber einen Hang zur Gewalt hatte sie durchaus. Sie hat sich ständig mit ihrem Freund geprügelt, wir hatten dauernd die Polizei im Haus.«

Klar, dass ihm das nicht gefallen hatte. Mich hätte das auch genervt.

»In welchem Stockwerk wohnen Sie eigentlich?«, fragte ich, um die unangenehme Stille zu unterbrechen.

»Im dritten«, sagte er.

Ich stutzte kurz, dann fiel der Groschen. Demnach war er gar nicht dieser Computertyp, sondern wohl der ältere Herr, von dem Lars Liebermann gesprochen hatte. Ich fand Adrian Köhler nicht älter, aber das war natürlich rein subjektiv, beziehungsweise relativ. Für Leute unter dreißig fiel er sicher in die Kategorie älter, während ich persönlich erst Leute ab siebzig älter fand. Wahrscheinlich hat es die Natur so eingerichtet, dass man sich selber nie älter vorkommt, vor allem nicht im Vergleich zu anderen. Zumindest nicht freiwillig, woraus sich vermutlich auch der weltweite Siegeszug von Botox und Viagra erklärt.

»Ich bin sicher, dass wir gute Nachbarn werden, Herr Köhler. Sofern ich hier einziehe.« Ich bemühte mich um ein vertrauensbildendes Lächeln. »Von mir haben Sie nichts zu befürchten, und das können Sie den Eigentümer gern wissen lassen, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen. Ich baue keine Bomben, züchte keine verbotenen Pflanzen, verprügele niemanden und bin auch sonst ein Musterbeispiel an Gesetzestreue.«

Adrian Köhler grinste erneut. »Da kann ich mich ja direkt freuen. Sofern Sie hier einziehen.« Er wurde nachdenklich. »Übrigens kann ich Ihnen noch einen guten Spartipp geben. Dieser Makler – Lars Liebermann – wird sicher eine fette Provision von Ihnen wollen.«

»Das stand in dem Inserat«, stimmte ich zu. »Wie kann ich da was sparen? Ist die Courtage denn verhandelbar?«

»Die Sache ist die – er darf gar keine Provision kassieren. Er tritt zwar nach außen hin als Makler auf, aber tatsächlich ist er der Sohn von Jürgen Liebermann, dem Inhaber der Hausverwaltungsfirma. Er ist da angestellt und macht gerade bloß die Urlaubsvertretung vom Senior. Ab und zu hat er hier im Auftrag der Hausverwaltung zu tun. Deshalb kennt er auch alle hier im Haus.«

Das hätte mir selbst schon auffallen sollen. Es war wirklich merkwürdig, dass ein Makler über die Bewohner eines Mietshauses so viel wusste. Doro hatte wohl doch recht – ich hatte einfach zu wenig Erfahrung in diesen Dingen.

»Es gibt ein Gesetz, danach dürfen Hausverwaltungen keine Maklergebühren verlangen«, erklärte Adrian Köhler. »Auch nicht mithilfe von jemandem, den sie als Makler vorschieben. Kriegt man das raus, kann man die Maklerprovision zurückverlangen. Beziehungsweise muss sie gar nicht erst bezahlen.«

»Klingt so, als wäre diese Hausverwaltung nicht besonders seriös. Oder aber der Seniorchef weiß gar nichts davon.«

»Höchstwahrscheinlich Letzteres.«

Ich dachte nach. »Wenn es rauskommt, dass der Junior hier sein eigenes Süppchen kochen will, platzt am Ende noch der ganze Vertrag. Ich sollte lieber zuerst unterschreiben, bevor ich Lars Liebermann sage, dass ich keine Courtage zahlen muss, was meinen Sie?«

»Gute Idee«, pflichtete Adrian Köhler mir bei. »Dann kriegen Sie die Wohnung und können die Provision für neue Schuhe verpulvern. Oder wofür Sie sonst gern Geld ausgeben.«

Ich sah unwillkürlich auf meine Schuhe, ein wirklich gutes und teures Paar von Trussardi, das ich mir noch zu Klaus’ Lebzeiten gekauft hatte. Als ich noch dem Irrglauben unterlag, auf Rosen gebettet zu sein.

»Ich werde es ganz einfach sparen, im Moment kann ich mir keine großen Sprünge leisten.« Ich merkte, dass meine Stimme leicht unterkühlt klang, und bemühte mich um etwas mehr Höflichkeit, schließlich hatte er mir gerade ziemlich viel Geld gespart. Wohnungsangebote ohne Maklerkosten waren in Frankfurt so rar wie ein Lottogewinn, so viel Glück würde ich bestimmt nicht mehr haben.

»Besten Dank für den guten Tipp«, sagte ich deshalb freundlich.

»Keine Ursache.« Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, ließ sie auf den gepflasterten Boden fallen und trat sie aus. Dann hob er die Kippe auf und warf sie in eine der Mülltonnen, die im Torbogen der Ausfahrt standen. »Eigentlich will ich damit aufhören«, sagte er.

»Guter Plan«, antwortete ich.

»Tja, die guten Pläne …«

»Sind oft schwer umzusetzen«, stimmte ich dem unausgesprochenen Ende seiner Bemerkung zu.

Er nickte und lächelte dabei leicht. Auf dem Weg ins Haus blickte er kurz zurück. »Tschüss dann, bis demnächst mal!«

Nur eine Minute später tauchte Lars Liebermann auf. »Alles wieder in Ordnung, der Fenstergriff ist angeschraubt. Wenn es drauf ankommt, ist auf den Knettenbrecht wirklich Verlass.« Er betrachtete mich fragend und wirkte dabei ein wenig angespannt. »Sind Sie gerade Herrn Köhler begegnet?«

»Ja, wieso?«

»Äh … haben Sie sich über die Wohnung unterhalten? Haben Sie ihm erzählt, dass Sie eventuell einziehen? Hat er was dazu gesagt?«

Ich setzte ein Pokerface auf. »Nichts, was mich davon abhalten würde, sie zu mieten. Wo ist der Vertrag?«

*

Als wir abends bei einem Glas Wein zusammensaßen, lobte mich Doro für meine Geschäftstüchtigkeit. Sie hatte mein Exemplar des Mietvertrags mehrmals gründlich gelesen, aber keinen Haken gefunden, und über die gesparte Provision war sie völlig aus dem Häuschen. Außerdem musste ich ihr sofort alles über meinen neuen Nachbarn aus dem dritten Stock erzählen. Es ärgerte sie, dass ich kaum was über ihn wusste, nicht mal, ob er einen Ring am Finger gehabt hatte, und als ich sagte, er habe irgendwie alternativ ausgesehen, so wie eine Art bärtiger Alt-Hippie, verlangte sie sofort genaue Detailbeschreibungen seines Barts (»War er eher struppig oder eher seidig?«) und seiner Kleidung.

»Hatte er eins von diesen tuntigen Eso-Hängerchen an oder eher etwas, was auch ein echter Kerl anziehen würde?«

Bei echter Kerl schmiegte sie sich an Dirk, der sich gerade durch alle Sportkanäle zappte und schließlich bei einem Fußballspiel hängen blieb.

»Es sah eher männlich aus«, sagte ich, während ich mir und Doro Wein nachschenkte. »So, als würde er gleich mit der Axt in den Wald gehen und Holz schlagen.« Ich schnupperte an meinem Glas und sog den feinen Duft ein. Zur Feier des Tages hatte ich eine Flasche Pinot noir von der Côte d’Or aufgemacht, aus einer meiner Weinkisten, die ich unter Aufbietung all meiner Überzeugungskraft vor dem unerbittlichen Zugriff des Gerichtsvollziehers bewahrt hatte. Weil ich meine Weinvorräte mangels passender Lagerung nur noch begrenzte Zeit aufheben konnte (Doro hatte keinen geeigneten Keller, und ein Klimaschrank war mir zu teuer), mussten sie sowieso sukzessive aufgebraucht werden.

»Sagtest du gerade Axt?«, fragte Doro. »Vielleicht gibt es ja ganz andere Gründe, warum die Wohnung über ihm nicht mehr vermietet werden sollte.«

»Ja, klar«, sagte ich. »Er ist ein Serienkiller und wartet nur auf neue Opfer.«

»Jedenfalls werde ich ihn mir genau ansehen«, erklärte Doro. Sie trank einen Schluck von dem Wein. »Mhm, lecker. Und davon hast du noch eine ganze Sechserkiste? Bist du sicher, dass du nicht noch eine Weile bei mir wohnen bleiben willst?«

»Bis zum nächsten Ersten musst du mich sowieso noch ertragen.« Ich bemühte mich, Dirk nicht beim Trinken zuzusehen. Er legte den Kopf in den Nacken und ließ sich den Burgunder zu dreißig Euro Einkaufspreis die Kehle runtergluckern wie Bier. Mit der freien Hand streichelte er Doros Hüfte. Sie hatte sich mit angezogenen Beinen neben ihn aufs Sofa gefläzt, während ich ihnen auf dem Sessel gegenübersaß und alles gut im Blick hatte, einschließlich Dirks Fingern unter Doros T-Shirt.

Duftreisen ins Ich Dein innerer Garten