Eriksson

Der blaue Strand

Erik Eriksson

Der blaue Strand

Liebe und Krieg
Band 2

(1854-1858)

Übersetzt aus dem Schwedischen von Nicola Jordan

I. DER ENGLÄNDER

Begegnung im Nebel

In dieser Woche hatte sie nur wenig gefangen. Mehrere Tage hintereinander hatte Kristina die Netze zwischen den kleinen Felsen der Svartkobbarna-Inselgruppe ausgelegt, wo sich, wie sie wusste, die Fische gewöhnlich aufhielten, und doch war der Fang nicht der Rede wert gewesen, nur ein paar Zander und einige kleine Maränen.

An diesem Vormittag versuchte sie, die Netze bei der äußersten Felseninsel auszulegen, wo der Boden steil nach unten abfiel. Dahinter begann das offene Meer. Es lag Nebel über dem Åländischen Meer, die Sicht war eingeschränkt.

Kristina brauchte länger als gedacht. Sie war gezwungen, einen Senker zu verlegen und eine Netzbefestigung zu flicken, sie geriet in zu große Tiefe hinaus, näherte sich wieder mehr dem Ufer und warf das Netz erneut aus. Es kümmerte sie nicht, dass der Nebel immer dichter wurde; sie war ja in Landnähe, das steinige Ufer der kleinen Felseninsel und das Wäldchen aus Wacholdersträuchern lagen in Sichtweite. Wenn sie in die andere Richtung blickte, sah sie nur eine dicke graue Wand.

Mit dem Nebel kam die feuchte Kälte vom Meer. Es war die erste Maiwoche des Jahres 1854, und das Meerwasser war immer noch kalt wie im Winter. Die Eiderenten waren schon mit ihren Jungen auf dem Meer, aber die Seeschwalben waren noch nicht an die Strände Roslagens gekommen.

Langsam ruderte Kristina zu der Felseninsel zurück. In diesem Frühjahr hatte sie sich mit der kleinen Räucherei der Familie eine immer größere Arbeitslast aufgebürdet. Aber sie brachte Bargeld, denn der Fisch wurde an das Wirtshaus in Grisslehamn verkauft, und ein Teil ging an das Posthaus oder das Militär.

Kristina hatte in der Woche zuvor eine lange Leine auf einer der äußeren Felseninseln zurückgelassen. Sie hatte am Ufer eine gute Stelle zum Befestigen des Netzes gefunden und die Leine dort gelassen. Als sie jetzt an dieser äußeren Felseninsel vorbeiruderte und schon die nächste Insel erblickte, fiel ihr die Leine wieder ein und sie beschloss, sie zu holen.

Sie sprang an Land, zog das Boot auf den flachen Strand hinauf, fand die Leine und setzte sich auf einen runden Stein, um sich auszuruhen. Jetzt war die Sicht richtig schlecht, sie sah, wenn überhaupt, nur zwanzig Meter weit. Aber sie würde nach Hause finden, Byholma lag ganz nah, und bis Marviken, wo sie die Räucherei hatte, war es nur eine halbe Stunde zu rudern. Sie wusste, wo Norden und Süden waren.

Weit entfernt schrie ein Vogel, vielleicht eine Meerente.

Da hörte sie ein unbekanntes Geräusch, etwas wie ein schwaches Schnaufen draußen auf dem Meer. Es kam näher, und nach einer Weile klang es mehr wie ein heiseres, rhythmisches Schlürfen oder Pfeifen. Kristina musste an strömendes Wasser denken, an den gurgelnden Laut, mit dem Wellen in Uferhöhlen eindringen und wieder hinausfließen. Aber das hier war etwas anderes.

Sie stand auf und ging hinunter zum Ufer, am Ruderboot vorbei und hinaus auf die Landzunge der kleinen Felseninsel. Das Geräusch nahm die ganze Zeit über an Lautstärke zu.

Jetzt hörte sie entfernte Stimmen, Rufe und Schreie, aber sie konnte keine Wörter verstehen. Es klang nicht wie Schwedisch.

Sie blieb bei einem Wacholderstrauch stehen, wartete, hörte immer noch das schnaufende Geräusch und dann wieder die Rufe. Jetzt hatten sich die Rufer dem Land genähert, waren aber immer noch vom Nebel verborgen.

Plötzlich hörte sie ein platschendes Geräusch, so wie wenn jemand mit heftigen Armbewegungen schwimmt. Und dann knallte ein Schuss und dann noch einer. Das Platschen ging weiter. Kristina hockte sich hinter den Wacholderstrauch. Sie war sich jetzt ziemlich sicher, dass jemand mit kräftigen Armzügen auf den Strand zuschwamm.

Schließlich erblickte sie den Mann im Wasser. Er hatte gerade eben das flache Ufer erreicht, stand auf und ging einige taumelnde Schritte, fiel und stand wieder auf. Als er oben am Ufer war, wandte er sich um und sah in Richtung seiner Verfolger, denn nun begriff Kristina, dass der Mann verfolgt wurde.

Es war ein junger Mann, barhäuptig, seine durchnässte Kleidung sah gewöhnlich aus, Walkhosen, helles Hemd, Weste. Er hatte helle Haare und sah aus wie die meisten jungen Männer aus der Gegend.

Der Mann trottete an dem Strauch vorbei, hinter dem Kristina versteckt saß. Sie hörte seinen keuchenden Atem, sie sah ihn aus der Nähe, aber er sah sie nicht. Er lief auf die Insel zu, auf das Gestrüpp und die Klippen, die sich dort befanden. Kristina wusste, wie die Insel aussah. Wusste der fliehende Mann es auch? Kristina kam der Gedanke, dass er vielleicht aus der Gegend war.

Dann kamen die Verfolger. Sie kamen in einem Boot, einem schweren Ruderboot mit drei Riemen an jeder Seite. Als der Steven das flache Ufer erreichte, bewegte sich das Boot durch die Geschwindigkeit, die die Ruderer aufgenommen hatten, noch einige Meter weiter. Drei Männer mit Gewehren sprangen hinaus, gefolgt von einigen der Ruderer, die mit blanken Kurzsäbeln bewaffnet waren. Die Männer trugen Uniformen: blaue Jacken, blaue Hüte, weiße Hosen. Sie riefen sich etwas zu, einer von ihnen zeigte auf etwas, und Kristina hörte wieder jene fremden Wörter.

Sie wusste, dass sich dampfbetriebene englische Kriegsschiffe auf dem Åländischen Meer befanden. Sie waren nach der Eisschmelze gekommen, lagen im Krieg mit Russland und bedrängten Handelsschiffe auf dem Meer. Einige Fischer und Bootsmänner aus Roslagen hatten die seltsamen Kriegsschiffe, die auch bei Windstille gute Fahrt machten, schon gesehen und den erstaunten Zuhörern in Grisslehamn von ihren Beobachtungen berichtet. Kristina hatte durch ihren Vater davon gehört. Jetzt dachte sie, dass das Geräusch im Nebel vielleicht von einem jener Dampfschiffe kam und in diesem Fall die Männer englische Soldaten waren.

Sie teilten sich auf. Einer der Bewaffneten ging geradewegs auf die Insel zu, die anderen verschwanden in verschiedene Richtungen längs des Ufers. Kristina blieb hinter dem Wacholderstrauch sitzen. Dann und wann hörte sie Rufe; die Engländer hielten offensichtlich auf diese Weise Kontakt miteinander, aber es wirkte nicht so, als wären sie bei ihrer Suche erfolgreich.

Kristina lauschte, das zischende Geräusch des Dampfschiffs war die ganze Zeit über da. Aber es war nichts zu sehen, der Nebel war zu dicht.

Nach einiger Zeit spürte Kristina, dass sie den Rücken strecken musste. Sie erhob sich vorsichtig und drehte sich gleichzeitig zur Seite. Da sah sie flüchtig etwas im Nebel und setzte sich schnell wieder hin. Es war der fliehende Mann, der zurückkam. Er kam auf ihr Versteck zu, wurde langsamer, schien unschlüssig zu sein. Kristina verspürte den Wunsch, ihm zu helfen, sie überlegte, war im Begriff sich zu erheben. Da trat einer der bewaffneten Engländer aus dem Nebel hervor, es war einer von denen, die am Ufer entlanggelaufen waren; jetzt war er plötzlich umgekehrt.

Der Mann erblickte den Fliehenden im selben Moment, als dieser seinen Verfolger sah. Der Engländer hob einen kurzen Säbel in Taillenhöhe und ging langsam auf den anderen zu, der vollkommen still dastand. Jetzt lagen nur noch drei Meter zwischen ihnen.

Plötzlich machte der gejagte Mann mit der einen Hand eine Bewegung zu dem Verfolger hin, während er gleichzeitig einen kleinen Schritt vorwärts machte. Der Bewaffnete hob den Säbel in Stoßposition und stand mit der blanken Klinge bereit, hielt den Stoß aber noch zurück.

Da stürzte Kristina aus ihrem Versteck hervor. Sie blieb zwischen den beiden Männern stehen und wandte sich dem Engländer zu. Die Säbelspitze war auf ihre Brust gerichtet, sie sah dem jungen Mann ins Gesicht, begegnete seinen Augen und sah, dass sie hellblaugrau waren.

Langsam senkte er die Waffe ein wenig, hielt jedoch die Hand hart um den Griff geschlossen. Er war immer noch bereit zuzustoßen. Kristina sah ihn die ganze Zeit über an und wusste nicht, was geschehen würde.

»Tu es nicht«, flehte sie.

Der Engländer runzelte die Stirn, sein Gesicht bekam einen fragenden Ausdruck, und er sah Kristina mit einem Blick an, den sie nicht deuten konnte.

»Lieber Freund«, sagte sie. »Warum willst du ihm wehtun, was habt ihr miteinander zu schaffen?«

Jetzt murmelte der Gejagte etwas, das Kristina nicht hören konnte. Sie wandte sich ihm zu.

»Ich habe den Engländern nichts getan«, sagte er mit åländischem Dialekt.

Kristina nickte ihm zu und wandte sich danach wieder dem Bewaffneten zu. Er senkte seine Waffe und richtete die Spitze auf den Boden. Sein Mienenspiel veränderte sich ganz leicht, aber Kristina konnte seine Absichten noch immer nicht deuten.

Sie ging langsam auf den Engländer zu. Jetzt sah er sie wieder an, und ihre Unruhe nahm langsam ab. Er war etwas größer als sie und hatte kurz geschnittene Haare. Etwas von seinem rotbraunen Haar kam unter dem Rand des Huts hervor. Er war glatt rasiert.

Jetzt lächelte er sie an, und sie lächelte zurück. Dann hob sie die Hand und berührte seine Schulter. Er nahm den Hut ab und sah ihr die ganze Zeit über gerade in die Augen.

»Danke, mein Freund«, sagte sie.

Der Mann nickte. Dann trat er einen Schritt zurück, setzte sich den Hut auf und wandte sich dem Gejagten zu. Er sagte etwas in seiner Sprache, zeigte auf Kristina und dann auf die Sträucher, in denen sie sich versteckt hatte. Dann ging er hinunter zum Wasser.

Kristina verstand, und sie sah, dass der åländische Mann ebenfalls verstanden hatte. Gemeinsam setzten sie sich hinter den Wacholdersträuchern hin, und jetzt merkte Kristina, dass der Mann zitterte.

Sie saßen dort dicht beieinander, warteten, atmeten leise, und die ganze Zeit über hörte man das zischende Geräusch von dem Schiff im Nebel.

Dann rief der Engländer etwas, einige seiner Kameraden antworteten, einmal, mehrere Male. Die Rufe kamen näher, bald hatten sich alle Verfolger wieder am Ufer versammelt.

Der Mann, der den fliehenden Åländer hatte entkommen lassen, zeigte in Richtung Land und hinaus auf das Wasser und erklärte etwas. Vielleicht sagte er, dass der Fliehende schwimmend auf eine andere Insel verschwunden war. Die anderen nickten und murmelten; dann kehrten sie zu dem wartenden Ruderboot zurück.

Nach kurzer Zeit hatte der Nebel das Ruderboot verschluckt. Das zischende Geräusch veränderte sich, es nahm an Lautstärke zu, und der Takt wurde ein anderer. Kristina sah von ihrem Versteck auf das Wasser hinaus. Dort war nichts als Nebel und dazu das Geräusch des Dampfschiffs.

Aber dann erblickte sie doch etwas, eine Schiffsseite, ein großes Rad, das sich langsam im Wasser drehte. Das dampfbetriebene Schiff war näher an das Land herangekommen und wendete. Wasser strömte und spritzte von dem großen Rad. Und jetzt sah Kristina eine Reihe von Geschützluken entlang der Schiffsseite, Deckaufbauten und Masten. Plötzlich war das ganze Schiff zu sehen, scheinbar lichtete sich der Nebel in Landnähe etwas.

Es war ein beängstigender Anblick, ein Seeungeheuer, ein Meeresriese, der zischte und brauste, eine schwimmende Kriegsmaschine mit qualmendem Rauch, Kanonen und Feuer an Bord.

Langsam drehte sich das Schiff vom Land weg, das Heck wurde sichtbar, und Kristina konnte den Namen des Schiffes lesen: Hecla.

Dann schloss sich der Nebel wieder um das Schiff. Das Zischen war noch da, aber das seltsame Geräusch wurde leiser, und bald war es still um die Felseninsel.

Kristina stand auf, der durchnässte Mann tat es ihr nach. Sie machten sich miteinander bekannt. Der Mann hieß Sven Granlund und kam aus Hammarland auf Åland. Er gehörte zur Besatzung eines Frachtseglers auf dem Weg nach Sundsvall, wo sie Holzbretter laden sollten. Aber das Schiff war von den Engländern beschlagnahmt und die gesamte Besatzung gefangen genommen worden.

»Sind denn die Åländer Feinde Englands geworden?«, fragte Kristina.

»Wir haben nichts zu sagen«, antwortete der freigelassene Seemann. »England hat eine Blockade gegen den gesamten russischen Seeverkehr verhängt, und da wir ja russische Untertanen sind, sind auch wir betroffen.«

»Und du und deine Kameraden, ihr sollt in Gefangenschaft?«

»In Dänemark oder England lassen sie uns frei, und dann können wir sehen, wie wir nach Hause kommen. Aber sie nehmen uns die Schiffe und brennen unsere Häfen nieder.«

»Für dieses Mal bist du davongekommen.«

»Ja, aber ich verstehe nicht warum. Du etwa?«

Kristina antwortete nicht, sie verstand es auch nicht, aber sie spürte, dass ihr etwas Ungewöhnliches widerfahren war.

An diesem Abend konnte Sven Granlund sich trockene Kleidung leihen und bekam eine Mahlzeit zu Hause bei Kristina in Byholma. Ihre Großmutter Johanna war dort und ihr Vater Markus. Sie fragten und wunderten sich, aber niemand konnte verstehen, warum der Engländer den åländischen Seemann freigelassen hatte.

Sven Granlund blieb über Nacht. Am folgenden Tag war seine Kleidung getrocknet. Markus leistete ihm Gesellschaft hinunter nach Grisslehamn, wo sie im Hafen nach auslaufenden Schiffen fragten. Sven würde gewiss zurück nach Hause kommen; ein Åländer konnte hier immer mit Hilfe rechnen, er war ja ein Nachbar.

Als die Männer gegangen waren, saß Kristina eine Weile mit ihrer Großmutter in der Küche. Sie sprachen oft miteinander, wenn sie alleine waren, und verstanden sich meist gut. Kristina berichtete noch einmal über das, was auf der kleinen Felseninsel geschehen war, und dieses Mal tat sie es ausführlicher.

»Ich erinnere mich so gut an das Gesicht des Engländers«, sagte sie.

»Denkst du an ihn?«, wollte Johanna wissen.

»Ja, schon.«

»Das merke ich, und es ist nicht verkehrt, aber vielleicht kommt er nicht zurück.«

»Oder er tut es irgendwann einmal.«

»Ich verstehe so gut, was du denkst. Vielleicht habe ich dir eines Tages etwas zu erzählen.«

Johanna verstummte, und Kristina fragte sich, was ihre Großmutter eigentlich meinte. Aber sie begriff, dass sie jetzt nicht mehr erfahren würde.

Fremde Last

Eine Woche nach dem dramatischen Auftauchen des Dampfschiffs Hecla im Nebel wussten alle in Grisslehamn, was geschehen war. Der Åländer Sven Granlund war mit einem schwedischen Frachtsegler zurück nach Hause gefahren, und den würden die Engländer wohl nicht durchsuchen, um nicht die Freundschaft mit dem schwedischen König Oskar I. aufs Spiel zu setzen, da dieser ernsthaft darüber nachdachte, auf der Seite Englands in den Krieg einzutreten. Er hoffte, Finnland und Åland zurückzubekommen, die Russland Schweden fünfundvierzig Jahre zuvor in dem bedauerlichen Krieg abgenommen hatte.

Mehrere englische Kriegsschiffe legten im Frühsommer 1854 in Grisslehamn an. Die Matrosen gingen an Land, vertraten sich die Beine und besuchten das Wirtshaus. Eines der Schiffe hieß Odin; es hatte Masten und Segel, wurde aber auch mit einer Dampfmaschine betrieben.

Die Odin fuhr spät am Nachmittag des 12. Mai in den Hafen von Grisslehamn. Das Schiff machte wenig Fahrt; man merkte, dass der Kapitän vorsichtig war, vielleicht weil er keine gute Seekarte oder keinen Lotsen an Bord hatte. Als sich die Odin dem Land näherte, sahen die Männer, die sich im Hafen versammelt hatten, dass ganz vorn im Bug ein Ausguck stand. Er schaute ins Wasser hinunter, zeigte auf etwas und rief, gab dann mit der Hand ein Zeichen, das vielleicht vorwärts bedeutete, denn das Schiff nahm etwas mehr Fahrt auf. Als das lange Kriegsschiff sich gerade gegenüber dem Posthaus befand, stoppten die Bewegungen der großen Schaufelräder. Wenige Sekunden später begannen sie, sich in die entgegengesetzte Richtung zu drehen, der Rumpf zitterte und bebte, bevor das Schiff still lag.

Der Anker wurde geworfen und die Ankerkette zog sich stramm.

Unter den Männern, die sich am Ufer versammelt hatten, befand sich Markus von Nygården, Kristinas Vater. Er hatte russische Dampfschiffe gesehen, als er nach Åland zur See gefahren war, aber das waren nur kleine, leichte Schiffe gewesen. Dies war das erste Mal, dass er ein großes dampfbetriebenes Kriegsschiff sah.

Jetzt wurde ein größeres Ruderboot von der Odin abgefiert. Als es im Wasser lag, dauerte es nicht lange, bis blaugekleidete Matrosen an den Riemen saßen. Zwei Offiziere stiegen an Bord und dann setzte sich das Ruderboot in Bewegung und fuhr auf das Land zu.

Die Männer am Ufer wussten, dass die Engländer Freunde waren, aber sie waren doch auch Ausländer und Soldaten.

Jetzt kamen auch drei schwedische Armeeangehörige herunter zum Hafen, ein Leutnant und zwei bewaffnete Soldaten. Sie kamen aus der Kaserne gleich beim Hafen, in dem Grisslehamns Wachtrupp stationiert war. Als das Ruderboot ans Hafenpier glitt, erhob sich einer der englischen Offiziere und salutierte. Der schwedische Leutnant erwiderte den Gruß.

Die Engländer vertäuten das Boot und die Offiziere und einer der Ruderer gingen an Land. Die versammelten Zuschauer zogen sich etwas zurück, als die Besucher ein Gespräch mit dem schwedischen Leutnant begannen. Der Ruderer diente als Dolmetscher.

Sie wollten die Nacht über hier liegen und auf ein Transportschiff warten, das mit Steinkohle aus England unterwegs war. Es müsste bald da sein.

Sollte das Laden der Kohle auf See oder im Hafen erfolgen?

Draußen auf See im Windschutz des Landes, wenn das ruhige Wetter anhielt.

Ausgezeichnet.

Und dann musste die Odin noch die Wassertanks auffüllen.

Das war leicht zu arrangieren. Gab es noch etwas, bei dem die Gäste Hilfe brauchten?

Ja, wie stand es um die Möglichkeit, ein Telegramm zu senden?

Der neue elektrische Telegraf hatte gerade eine Station in Grisslehamn eröffnet.

Vortrefflich. Und dann noch etwas: Die Odin hatte Gefangene an Bord, ungefähr zwanzig Åländer. Die Einwohner sollten deswegen nicht allzu nah an das Schiff herangelassen werden.

Verstanden.

Die englischen Offiziere salutierten. Dann wurde die Gruppe hinauf zum Posthaus geleitet, in dem sich Grisslehamns höchster Beamter befand, Postmeister Oxenstierna, der zugleich auch der Kommandant des Ortes war. Die englischen Offiziere wollten einen Höflichkeitsbesuch abstatten sowie formell um Genehmigung ersuchen, dass die Odin über Nacht im Hafen liegen bleiben konnte. Der schwedische König hatte die Häfen des Landes bereits für die Flotte Englands freigegeben, das Gesuch war lediglich eine Formsache.

Als die Engländer gegangen waren, wartete Markus einen kleinen Moment, dann ging er in dieselbe Richtung. Drei der Männer, die im Hafen gestanden und zugeschaut hatten, begleiteten ihn. Sie gingen am Posthaus vorbei und weiter bis zum Wirtshaus, das zweihundert Meter dahinter lag.

Markus hörte das schwache Gemurmel, als er auf den ausgetretenen Weg vor dem Wirtshaus einbog. Er sah einige Männer mit Bierkrügen, die an einem Tisch vor dem Haus saßen, aber das Gemurmel kam von drinnen aus der Gastwirtschaft.

Einer der Männer, die Markus begleitet hatten, erkannte einen der Gäste am Tisch vor dem Haus. Es gab ein kurzes Gespräch. Markus hörte zu. Als die anderen hineingehen wollten, blieb er zurück und entschuldigte sich. Er selbst ging um das Haus herum zum Kücheneingang.

Die Frau, die über einen niedrigen Tisch an der Wand gelehnt stand, sah nicht, dass Markus hereinkam. Er blieb hinter ihr stehen, streichelte ihr mit der Hand über die Hüfte, wiederholte die Bewegung hastig.

Sie wandte sich um, streckte den Rücken und strich eine Haarsträhne zur Seite, die ihr ins Gesicht gefallen war. Sie hatte rote Haare und eine Reihe dünner Sommersprossen lief von der Nase über die Wangenknochen. Auf der rechten Gesichtshälfte vereinigten sich die Sommersprossen mit einem großen dunkelroten Feuermal, das sich bis zum Hals herunter erstreckte.

»Ach, du bist es, Markus«, sagte sie.

»Hätte es jemand anders sein sollen?«, antwortete er.

»Wer weiß.«

»Das weißt nur du, Marta.«

Sie ahnte, dass er etwas wissen wollte, aber sie hatte keine Lust zu antworten und antwortete deshalb nicht. Stattdessen lächelte sie ihn an und streichelte ihm gleichzeitig über die Wange, freundschaftlich und schnell.

»Ihr bekommt Besuch von der englischen Flotte«, sagte er.

»Dann wird es spät heute Abend, oder heute Nacht.«

»Darf ich zu dir kommen?«

»Es kann sein, dass ich erst am frühen Morgen frei habe; du weißt ja, wie das ist.«

»Dann kann ich also nicht kommen?«

»Dieses Mal vielleicht besser nicht, Markus.«

Er nickte und versuchte, ihr zuzulächeln, aber es wurde eher eine schiefe Bewegung mit dem Mundwinkel daraus.

»Josef fragt nach dir«, sagte sie.

»Ach ja«, murmelte er.

»Er mag dich, das weißt du, Markus.«

»Mmh.«

»Ich wünschte, du würdest irgendwann mal nur kommen, um uns zu besuchen, den Jungen und mich, meine ich, uns beide gemeinsam treffen und mit uns zusammen sein wie mit, ja, gewöhnlichen Menschen.«

»Ja, das verstehe ich«, murmelte er.

»Tust du das, Markus, verstehst du das wirklich?«

Er berührte mit der Hand ihre Schulter, nickte zum Abschied und schickte sich an zu gehen. Nach einigen Schritten wandte er sich um.

»Ich lasse von mir hören«, sagte er.

Sie antwortete nicht. Als er um die Hausecke bog, hatte sie die Arbeit, die sie unterbrochen hatte, schon wieder aufgenommen. Sie versuchte, den Boden einer angebrannten Pfanne mit Hilfe eines abgebrochenen Löffels, den sie als Werkzeug benutzte, sauber zu bekommen; es ging nur langsam.

Markus blieb vor dem Eingang des Wirtshauses stehen. Die Männer am Tisch an der Hauswand saßen noch da. Sie hatten noch mehr Bier bestellt; einer von ihnen hatte einen halben Krug Branntwein vor sich stehen. Er schüttete sich gerade etwas ein und hob das Glas in Markus’ Richtung, der nickte, ohne etwas zu sagen.

»Du, Markus von Nygården«, sagte der Mann mit rauer Stimme.

»Ja«, antwortete Markus.

»Was sind das für Seeleute, die gekommen sind?«

»Engländer.«

»Russentöter, will ich hoffen.«

»Ja, vielleicht.«

»Vielleicht? Man kann doch zum Teufel nur hoffen, dass sie so viele Russen erschlagen werden, wie sie können.«

»Gewiss doch, ich widerspreche dir nicht. Ich gebe allen Recht, die die Russen in ihre Schranken weisen wollen, bevor sie die ganze Ostsee übernehmen.«

»Trinken wir auf die Engländer.«

Der Mann hob erneut sein Glas. Auch die anderen Männer am Tisch erhoben ihre Gläser auf die Engländer und auf den Sieg in diesem neuen Krieg.

Markus konnte sich nicht entscheiden, ob er heimwärts oder für eine Weile ins Wirtshaus gehen sollte. Er schaute zum Hafen hinunter; die großen Pappeln versperrten ihm die Sicht. Die Baumkronen wogten, der Wind schien sich gedreht zu haben und jetzt von Norden zu kommen.

Markus war ebenso sehr auf dem Wasser zuhause wie als Bauer auf dem Land. Er achtete oft auf die Wolken und auf Windstärke und -richtung. Jetzt fiel ihm ein, dass die Odin sich wohl gedreht hatte; der Wind war direkt aus Westen gekommen, als sie ankerte.

Er bekam Lust sich anzusehen, wie das Kriegsschiff jetzt aussah, wo es dem Land vermutlich eine andere Seite zuwandte. Zur Bucht war es ja nur ein Spaziergang von einigen Minuten.

Er ging vor dem Posthaus her und hinauf auf den Flaggenberg gleich neben der Zollstation. Die Odin lag jetzt direkt unter ihm, sie hatte sich um die Ankerbefestigung gedreht und wandte dem Land die Heckseite zu. Nur zehn Meter trennten Markus vom Heck der Odin.

Ein bewaffneter englischer Soldat stand an die hintere Reling gelehnt, zwei andere waren weiter weg postiert. Zwischen den drei Soldaten saß eine Schar von Männern auf dem Deck des Schiffs. Sie waren gefesselt und aneinandergebunden.

Jetzt winkte einer der Gefangenen Markus zu, der zurückwinkte. Der nächststehende Soldat sah, was geschah, kümmerte sich aber nicht darum.

Dann rief jemand Markus etwas zu. Er konnte es nicht richtig hören, ging so weit auf die Klippe hinaus, wie er konnte, und legte die eine Hand hinter das Ohr. Der Mann auf der Odin rief wieder, und dieses Mal konnte Markus es verstehen.

»Grüß meine Mutter in Jomala«, rief der Mann.

Markus hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

»Grüße sie von Anders Gren«, rief der Mann. »Sag ihr, dass ich eine Zeit lang fort sein werde, aber dass ich nach Åland zurückkomme.«

»Ich hoffe, du bist bald wieder zu Hause«, rief Markus zurück.

Jetzt riefen mehrere der Männer etwas. Die Wörter vermischten sich und waren schlecht zu verstehen. Markus konnte nur vage unterscheiden: grüße sie, geht es gut, sehne mich, warte, daheim, komme zurück.

Er hob wieder die Hand, aber er wusste nicht, wer was gesagt hatte. Dann hörte er, wie jemand hinter ihm auf den Hügel trat. Er wandte sich um und erkannte zwei der schwedischen Soldaten aus der Kaserne. Ein Stück weiter weg sah er drei Einwohner Grisslehamns, die er recht gut kannte.

Bald hatte sich eine kleine Gruppe auf dem Flaggenberg versammelt. Einige riefen etwas, bekamen Antwort und versprachen zu grüßen.

»Das ist doch zu merkwürdig«, sagte eine Frau in der Gruppe. »Meine Schwester ist mit einem Åländer verheiratet, viele hier haben Verwandte auf Åland. Und jetzt werden sie von den Engländern wie Feinde behandelt und wir sollen einfach nur zusehen.«

Einige gaben ihr Recht, dass das merkwürdig sei, andere zogen es vor, nichts zu sagen; einer von ihnen war Markus. Er blieb nicht mehr länger, hatte gesehen, was er wollte.

Aber er ging nicht nach Hause. Es war immer noch früh am Abend, er hatte keine Eile. Er ging zurück zum Wirtshaus; vielleicht würde er noch ein bisschen mit Marta reden.

Er war schon auf dem Weg zum Kücheneingang, konnte sich aber nicht recht entschließen. Er wählte den vorderen Eingang und betrat den Speisesaal des Wirtshauses.

Der Raum war gut mit Gästen gefüllt. Die meisten Plätze waren besetzt, aber an der einen Wand gab es ganz außen noch einen freien Platz auf der Bank, und dort ließ Markus sich nieder. Er grüßte die Männer, die um ihn herum saßen; die meisten erkannte er.

Ein Stück weiter an dem langen Tisch längs der Wand saßen vier englische Soldaten; einer von ihnen war der Ruderer, der als Dolmetscher gedient hatte, als die Offiziere zu ihrem Besuch an Land gingen. Er hatte helles Haar und war groß und kräftig. Er saß nach vorne über den Tisch gebeugt und diskutierte mit dem Mann auf der gegenüberliegenden Seite.

Auch an den kleineren Tischen im Saal sah man englische Matrosen, dazu einige schwedische Soldaten und Bewohner Grisslehamns, Seeleute und zufällige Besucher. An einem der Tische nahmen eine Frau und zwei Herren ihr Abendessen ein. Sie waren wie Städter gekleidet und vermutlich auf der Durchreise; vielleicht würden sie im Wirtshaus übernachten. Sie saßen etwas abseits von den übrigen Gästen der Wirtschaft. Vor ihrem Tisch stand eine Anrichte, auf die das Servierpersonal des Hauses Schüsseln und Flaschen gestellt hatte.

Markus bestellte einen Krug Bier, ein Stück gesalzenen Speck und etwas Brot. Er stieß mit seinem Tischnachbarn an, der in Tomta wohnte, dem Dorf südlich von Grisslehamn.

Jetzt hörten immer mehr an dem langen Tisch dem Gespräch zwischen dem schwedisch sprechenden Engländer und dem Mann gegenüber zu. Sie sprachen über die Seefahrt, ein Thema, mit dem alle vertraut waren, und es wurde deutlich, dass der schwedisch sprechende Mann gar kein Engländer war, sondern ein Finnlandschwede aus Österbotten, der viele Jahre auf englischen Schiffen zur See gefahren war. Jetzt hatte er sich bei der englischen Flotte anwerben lassen.

Und wie gefiel es ihm, mit gefangenen Landsmännern als Ladung zu segeln?

Nun ja, das gefiel ihm nicht gerade, aber mit der Politik und dem Krieg war es eben nun einmal so, dass der Einzelne nichts tun konnte.

Ja, so war es wohl. Die meisten gaben ihm Recht, andere murmelten Widerworte. Es war ziemlich still im Saal geworden. Alle wollten hören, was der Mann aus Österbotten zu sagen hatte. Er stellte sich vor; sein Name war Lars Petersson Adler.

»Sagt einfach Adler, das genügt«, bemerkte er.

Mehrere stießen mit dem Adler, wie er sofort genannt wurde, an.

»Die englische Flotte braucht Lotsen, die sich auf dem Åländischen Meer auskennen«, sagte er. »Wenn es also hier jemanden gibt, der Erfahrung mit den åländischen Schären hat, dann kann er bei den Engländern eine Anstellung bekommen.«

Mehrere im Saal wollten wissen, wie es mit der Bezahlung aussah.

Ja, sie bezahlten gut und das Essen an Bord war anständig.

Die Gäste hörten auf zu fragen, viele begannen mit ihren Tischnachbarn über die Neuigkeit zu sprechen. Lotse bei den Engländern, ja, das konnte vielleicht etwas sein. Aber dann landete man natürlich im Krieg, das sollte man sich schon durch den Kopf gehen lassen.

Als Markus an diesem Abend nach Hause ging, sah er, dass die Odin immer noch mit dem Heck zum Land hin lag. Auf dem Achterdeck war ein schwaches Licht angezündet, aber man hörte keine Stimmen. Es war noch nicht richtig dunkel; der Frühlingsabend war kühl und frisch, der Himmel wolkenfrei.

Er dachte an das Angebot des Adlers. Das konnte vielleicht etwas für ihn sein. Er ging langsam, hatte zwei Krüge Bier getrunken. Zu Hause gab es Branntwein. Er spürte, dass er ein oder zwei Glas haben wollte, bevor er zu Bett ging.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er viel getrunken, gleich nach dem Tod seiner Frau Sofia vor gut zwanzig Jahren. Sie waren frisch verheiratet gewesen; sie starb, als Kristina 1832 geboren wurde, und das war der Beginn der schwersten Zeit seines Lebens gewesen.

Plötzlich sah er Sofia vor sich. Das kam manchmal vor, und er fühlte wieder die Trauer, trotz all der Jahre. Und wie schon so viele Male zuvor schlug das Gefühl von Trauer schnell um in Zorn und Hass auf das Kind, Kristina, die ihm ja Sofia genommen hatte. Und auch seine Mutter Johanna konnte er hassen, wenn all das hochkam, sie, die ihm Kristina dann weggenommen, das Mädchen aufgezogen und gegen ihn eingenommen hatte.

Immer waren sie gemeinsam gegen ihn, die Frauen, das spürte er jetzt. Und die Bitterkeit war schwarz und schwer, und so kam auch das starke Verlangen nach Branntwein. Er wusste ja, dass der Alkohol Linderung und Vergessen gewährte.

Kristina und Johanna saßen am Küchentisch, als er nach Hause kam. Sie hatten den offenen Kamin angezündet; das Licht flackerte und huschte durch das Zimmer. Er grüßte und setzte sich hin. Kristina fragte, ob er etwas zu essen haben wolle. Er antwortete, dass er das gerne hätte.

Sie stellte etwas geräucherten Fisch, Roggenbrot und ein Stück Käse hin.

Und was wollte er zu trinken haben?

Er holte selbst Wasser im Eimer und goss sich außerdem ein erstes Glas Branntwein ein. Dann erzählte er vom Adler und seinem Angebot. Sie antworteten nicht; er aß das Essen auf.

»Der Krieg«, sagte Johanna nach einer Weile. »Du musst in den Krieg, wenn du diese Anstellung annimmst.«

»Das weiß ich wohl«, antwortete Markus.

»Aber weißt du eigentlich, was Krieg bedeutet?«

»Ich weiß nur, dass die Russen sich immer mehr ausbreiten; sie sind bald die Herren über die ganze Ostsee und noch weiter. Jemand muss sie aufhalten, und das macht jetzt England. Frankreich ist auch dabei, und Schweden sollte mithelfen.«

»Das ist gut und schön, aber du weißt nicht, was Krieg bedeutet. Er bedeutet verlassene Kleinkinder, einsame Frauen und verbrannte Höfe, Armut und Trauer. Krieg hat nichts mit Helden zu tun, nichts mit Ruhm und Ehre. Wenn die Männer aus dem Krieg nach Hause kommen, sind sie zerrüttet – diejenigen, die überleben.«

Markus antwortete nicht. Er wusste ja, dass seine Mutter, die achtundsechzig Jahre alt war, den Krieg aus der Nähe gesehen hatte, den russischen Krieg, der in ihrer Jugend gewütet hatte. Sie sprach selten davon, aber wenn sie es einmal tat, war sie immer aufgewühlt und verzweifelt.

»Die Zeiten ändern sich«, sagte er.

»Ja, aber der Krieg bleibt immer derselbe«, antwortete Johanna.

Kristina hatte still dagesessen. Sie wusste, was ihre Großmutter vom Krieg hielt. Und sie vermutete, dass Johanna während des Kriegs etwas erlebt hatte, das ihr Leben grundlegend verändert hatte, obwohl sie nicht darüber sprach.

»Ich finde, dass Großmutter Recht hat«, sagte sie. »Der Krieg ist etwas, das die Obrigkeit uns aufzwingt, und ich glaube nicht, dass er etwas Gutes mit sich bringt.«

»Wer Tyrannen ausweicht, geht leicht unter«, antwortete Markus. »Jetzt, wo wir wieder von den Russen bedroht werden, müssen wir mit Kraft dagegenhalten. Schweden darf nicht das nächste russische Großfürstentum werden.«

»Das hast du von jemand anderem gehört«, sagte Johanna. »Ich glaube nicht, dass das deine eigenen Gedanken sind.«

Markus antwortete nicht. Warum sollte er auch, wenn seine Mutter seine Ansichten gering schätzte und Kristina ebenso. Er nahm die Branntweinflasche mit in seine Kammer, und obwohl er sie fast leer trank, war ihm sehr unbehaglich zu Mute. Die Frauen blieben in der Küche sitzen. Er hörte ihre murmelnden Stimmen durch die Tür und war sich sicher, dass sie über ihn sprachen.

Kurzer Besuch

Kristina wurde früh wach; es war schon hell, ein stiller Morgen Mitte Mai. Als sie aus der Herdasche Glut hervorgestochert und mit einigen Stücken Birkenrinde Feuer angeblasen hatte, ging sie nach draußen und wusch sich an der Wassertonne den Schlaf aus den Augen, streckte sich und sah die Katze vom Stall kommen. Bald würde sie melken, das wusste die Katze genau.

An der Hausecke war alles zugewuchert, vieles auf dem Hof war vernachlässigt worden, Dach und Zaun mussten repariert werden. Es war Markus’ Sache, sich darum zu kümmern, aber er war oft auf See und fischte oder nahm vorübergehend Arbeit auf Frachtseglern an. Als die Post Matrosen einstellte, war er ein halbes Jahr mit dem Postschiff gesegelt. Er war mehrere Tage in der Woche von zu Hause fort gewesen und hatte seiner alten Mutter und jungen Tochter viel von der Verantwortung für den Hof aufgeladen. Sie hatten zwar Hilfe von Per Stensson, einem Knecht von Singö, den Markus dann und wann für Tagewerke gedungen hatte, aber es fehlte doch ein Mann.

Jetzt war Markus zu Hause, aber es war, als sehne er sich die ganze Zeit fort. Und so war es offensichtlich schon seit seiner frühen Jugend gewesen. Seine Mutter Johanna wusste es ja. Markus hatte oft von Amerika gesprochen. Sein Freund aus Kindertagen, Gustaf Unonius, der Sohn des alten Postmeisters, war nach Amerika gefahren und hatte von dort Berichte für das Aftonbladet geschrieben. Es waren auch Briefe von Gustaf gekommen, und es kam immer wieder vor, dass Markus die Briefe hervorholte und in ihnen las.

Es war Johanna gewesen, die Kristina mit Hilfe alter Zeitungen das Lesen gelehrt hatte. Es gab einen kleinen Stapel Tageszeitungen in Nygården, zerlesene Ausgaben von Stockholms Posten und Dagligt Allehanda, die Großmutter Johanna in ihrer Jugend angeschafft hatte, und neuere Exemplare von Aftonbladet und Folkets Röst, die Markus und Kristina für eigenes Geld bei reisenden Händlern gekauft hatten. Zeitungen waren immer ein Quell des Wissens für die Leute in Nygården gewesen.

Die Amerikabriefe wurden wohl gehütet. Die Zeitungen hingegen lagen auf einem Haufen, zwar ordentlich gefaltet und sorgfältig geordnet, aber sie lagen herum. Die Briefe waren in Markus’ privater Schublade im Sekretär eingeschlossen. Die Frauen wussten, wo der Schlüssel lag, aber sie wären nie auf den Gedanken gekommen, sie zu öffnen.

Aus einigen der Briefe hatte Markus in der Küche so oft vorgelesen, dass Kristina Teile davon auswendig konnte. Es waren schwindelerregende Abenteuer von Indianern und merkwürdigen Dingen, und vieles in Amerika war unermesslich groß, wie die Prärie, die ungeheure Grasebene:

»Sie ist bar jeglichen Anzeichens von Wald«, schrieb Gustaf Unonius. »Nicht einmal der allerkleinste Busch ist zu sehen. Das Ganze ist ein unermesslicher, unüberschaubarer Gras- und Blumenteppich, der in allen Farben schillert. Wie ein unendliches Meer liegt sie vor dem Betrachter.«

Kristina wusste, wie das Meer aussah und versuchte, sich ein Blumenmeer bis an den Horizont vorzustellen, aber das war schwer. Von allen merkwürdigen Beschreibungen in den Briefen aus Amerika war die Prärie am schwindelerregendsten.

Konnte Johanna sich dieses Blumenmeer vorstellen?

»Man muss sich wohl eine schwedische Blumenwiese zur Mittsommerzeit vorstellen und dann in der Fantasie die Wiese tausendmal größer machen«, sagte sie.

»Oder vielleicht wie das Åländische Meer«, meinte Kristina, »wenn man auf Skatudden steht und an einem windstillen Tag hinausschaut, nur mit Gras und Blumen anstelle des Wassers.«

Aber es war nicht leicht, so zu denken. Amerika war nicht wie Schweden, das war einmal sicher. Markus hörte zu, sagte aber nichts. Er hatte seine eigenen Gedanken und behielt sie für sich.

An diesem Nachmittag ging Markus nach Grisslehamn. Er brauchte zwanzig Minuten. Einmal blieb er stehen und lauschte; er meinte, einen Kuckuck zu hören, den ersten des Jahres. Der Laut kam von Süden und bewegte sich nach Westen; vielleicht war der Vogel zwischen einigen Wäldchen hinunter auf Orneviken zugeflogen.

Kuckuck aus Süden oder Westen bringt den Tod oder alles zum Besten, dachte Markus. Das nächste Mal ist das entscheidende; fliegt er zurück nach Süden, sieht es übel aus, bleibt er im Westen, wird es ein gutes Jahr für mich.

Er lauschte und ging weiter, aber der Vogel war still.

Genau dazwischen, dachte Markus. Weder Tod noch Glück, also zu Hause bleiben und die Dinge auf sich beruhen lassen.

Er ging am Hafen vorbei, sah einige Soldaten, die vor der Kaserne standen und rauchten, und passierte das Posthaus. Als er sich dem Wirtshaus näherte, zögerte er. Es gab einen Pfad um den Stall und die Nebengebäude herum, hinunter zum Ufer und von dort hinauf durch das Gestrüpp zur Rückseite des Wirtshauses. Er konnte sich dort herumschleichen und ungesehen ankommen.

Er wählte den Umweg, blieb einige Male stehen und ging weiter, als er niemanden sah. Dann blieb er direkt vor der Küchenseite stehen, wo er von einem Wacholderwäldchen verdeckt wurde. Aber niemand war dort. Er wartete. Marta hielt sich gewöhnlich an der Arbeitsbank vor der Küche auf; das war ihr Arbeitsplatz, wo sie spülte und Töpfe schrubbte, Kartoffeln schälte und Holz hackte. Sie erledigte viel von der schweren und schmutzigen Arbeit.

Markus blieb stehen und wartete, eine Viertelstunde, zwanzig Minuten, dann sah er jemanden. Ja, sie war es.

Marta brachte einen Stapel Teller heraus, stellte sie auf die Bank, ging wieder hinein und kam mit einem weiteren Stapel zurück. Da trat Markus vor. Sie sah ihn im selben Moment, tat aber dennoch so, als würde sie überrascht, wandte sich langsam ab und machte plötzlich wieder kehrt.

»Nein, da kann man mal sehen«, sagte sie und lachte.

»Guten Morgen, Marta«, sagte er.

Er schaute sie an und sagte eine kleine Weile lang nichts; dann lächelte er. Sie erkannte sein Lächeln wieder und wusste, was er wollte.

»Du hast viel zu tun«, sagte er.

»Wie immer.«

»Hast du heute irgendwann mal frei?«

»Vielleicht, aber ich bin umgezogen. Sie brauchten das Dachzimmer, jetzt wohne ich im Stallhäuschen.«

»Im Stallhäuschen?«

»Ja, du hast richtig gehört. Da wohne ich jetzt mit Josef.«

Markus fand, dass sie bekümmert aussah, als sie den Namen ihres Sohnes erwähnte.

»Sollst du dort den Sommer über wohnen?«

»Ich weiß nicht, sie haben zu wenig Platz. Das sagte Lundgren jedenfalls.«

»Er braucht wohl noch mehr Zimmer für Gäste.«

»Ja, höhere Einkünfte, aber mich bezahlt er lausig.«

»Ich helfe dir ja, das weißt du.«

Marta machte einen Schritt auf ihn zu, fasste ihn um den Oberarm und fuhr mit der hohlen Hand hinunter zum Ellenbogen, ein leichter Griff, der vielleicht als Liebkosung gemeint war.

»In einer Stunde gehe ich für eine Weile in die Hütte«, sagte sie. »Dann kannst du kommen.«

Er nickte ihr zu und versuchte zu lächeln.

»Aber ich werde nicht so lange dort bleiben«, sagte sie.

Markus ging hinunter zum Ufer und weiter zum Aussichtsberg. Auf dem Sandstrand unterhalb der steilen Felswand blieb er stehen. Das letzte hartnäckige Eis war geschmolzen und hatte zwei Stöcke, ein Stück von einem Brett und eine leere Flasche zurückgelassen. Er hob die grün schimmernde Flasche auf, die vermutlich Wein enthalten hatte. Sie brauchten leere Flaschen im Haushalt. Er versteckte die Flasche in einem Busch ein Stück oberhalb des Wassers, um sie ein anderes Mal mitzunehmen.

Da hörte er den Kuckuck wieder, und jetzt fand er, dass der Laut vom Meer her kam, aus Osten. Kuckuck aus Ost bringt Trost, dachte er.

Aber der Vogel konnte nicht draußen auf dem Meer sitzen; es musste ein Echo sein oder eine akustische Täuschung.

Da kam der Laut wieder. Konnte es die Bergwand sein, die die Täuschung hervorrief? Er entschied, dass es so sein musste, auch wenn ihm der Gedanke an Trost gefiel.

Das hier war einer der wenigen Sandstrände in der Gegend. Die Küste von Roslagen ist steinig und unfreundlich, aber hier und da gibt es kurze Stücke mit weichem, feinkörnigem Sand. Der Strand unterhalb des Aussichtsbergs war so ein Platz.

Und plötzlich erinnerte sich Markus, dass seine Mutter eine Sage von diesem Strand erzählt hatte, als er klein war. Aber er erinnerte sich nur vage an etwas über einen Soldaten und ein wartendes Mädchen; wie es ihnen erging, wusste er nicht mehr.

Er wartete noch eine Weile, bevor er zurück zum Wirtshaus ging. Das Stallhäuschen lag ein Stück vom Hauptgebäude entfernt. Es war ursprünglich ein Hühnerstall gewesen, den man etwas ausgebaut, mit dickeren Wänden versehen und mit einem eisernen Ofen ausgestattet hatte. Aber die Decke war niedrig, das einzige Fenster war klein und hatte nur Einfachverglasung, die Tür schloss nicht richtig.

Markus wartete draußen hinter einem Busch. Wären sowohl Marta als auch Josef in der Hütte gewesen, hätte er wohl Stimmen gehört. Vielleicht war der Junge da, aber Markus wollte ihn nicht treffen, nicht allein. Es war besser, wenn Marta dabei war.

Er sah sie kommen und trat hinter dem Busch hervor, hinter dem er gewartet hatte. Sie hob die Hand zum Gruß, er tat es ihr nach. Keiner von ihnen sagte etwas.

Sie ging als Erste hinein. Josef war zu Hause; er saß mit einem Buch am Tisch neben dem Fenster. Als Markus ins Zimmer kam, stand er auf, verbeugte sich leicht und streckte die Hand aus.

»Guten Tag, Onkel Markus«, sagte er.

»Guten Tag, Josef«, antwortete Markus. »Was liest du?«

»Das Buch, das ich von dir bekommen habe, das von Amerika handelt.«

Markus erkannte das Buch wieder. Er hatte es selbst vor vielen Jahren als Geschenk von Gustaf Unonius bekommen, als sein Freund aus Kindertagen sein Zuhause verließ und Kadett in Karlberg wurde.

»Ist es interessant zu lesen?«, fragte Markus.

»Sehr«, antwortete Josef. »Ich habe gerade über die Indianer gelesen. Die würde ich gerne kennen lernen.«

»Ich dachte genauso, als ich ein Junge war«, sagte Markus.

»Könntest du etwas für mich erledigen, Josef?«, fragte Marta.

»Gewiss, Mama«, antwortete Josef.

»Kannst du runter zum Fischereihafen gehen und nachsehen, ob jemand Dorsch zu verkaufen hat? Lass dir Zeit. Onkel Markus und ich haben ein paar Dinge zu besprechen.«

Josef ging hinaus. Die Tür klapperte, als er sie schloss; ein Scharnier musste befestigt werden. Marta legte den Riegel auf der Innenseite vor, der als einziges Schloss diente.

»Wir haben eine Weile für uns«, sagte sie und reckte sich nach einer Flasche, die zwischen den Tongefäßen im Wandschrank stand.

Sie goss ein wenig in einen Becher und ließ ihn auf dem Tisch stehen. Dann nahm sie einen Schluck aus der Flasche. Markus trank aus. Es war Branntwein derselben Sorte, die auch im Wirtshaus serviert wurde und er nahm an, dass sie den Alkohol von dort mitgenommen hatte.

Sie setzte sich auf das Bett und machte eine Bewegung mit der Hand. Er setzte sich neben sie. Als er ihren Rock hob, spreizte sie die Beine und als er mit dem Unterrock herumfummelte, half sie ihm.

Er kniete, sie blieb im Bett sitzen und hatte die Beine um ihn geschlungen. Als er sich schneller zu bewegen begann, ließen ihre Beine los und als er sich eilig aus ihr herauszog, bewegte sie die Hüften mit einem Ruck zurück.

Er kniete immer noch. Sie strich ihm zuerst über die Wange und dann über das Haar. Er erhob sich.

Dann setzte er sich auf den Stuhl am Tisch. Sie brachte ihre Kleider in Ordnung, und er blickte hinunter auf das aufgeschlagene Buch. Der Text handelte von den Biber-Indianern, die am Friedensfluss lebten.

Bevor er ging, legte er zwei Reichstaler neben das Buch auf den Tisch. Das war auch für den Jungen, ein Reichstaler für sie und einer für ihren Sohn.

Als er zurück zum Hafen ging, konnte er Josef nicht sehen. Der Junge war wohl irgendwo dort unten geblieben. Es gab ja viel zu sehen und Markus wollte ihm im Moment ohnehin nicht begegnen. Aber jemand anders kam dort hinten auf dem Pfad, eine Frau, die vermutlich auf dem Weg zum Wirtshaus war. Sie trug einen Korb. Er schien einiges zu wiegen; die Frau wechselte die Hand.

Da sah Markus, dass die Frau seine eigene Tochter Kristina war. Sie war natürlich mit geräuchertem Fisch unterwegs zum Wirtshaus. Er ging zur Seite, hoffte von der Reihe Sträucher entlang des Weges verdeckt zu werden. Aber es war zu spät. Sie hatte ihn gerade erblickt und anders als er zweifelte sie nicht, sondern erkannte ihn augenblicklich. Sie setzte den Korb ab, winkte mit der Hand und wartete.

Er ging auf sie zu und hob die Hand zum Gruß.

»Ah, du machst einen Spaziergang«, sagte sie.

»Ja, ich habe eine Runde gedreht«, antwortete er.

»Ich habe gesehen, dass du aus der Hütte da drüben gekommen bist, aber ich habe dich nicht richtig erkannt, bevor du nähergekommen bist.«

»Ich habe jemanden besucht. Ich hatte etwas zu fragen.«

»Ach so. Ich selbst will Fisch im Wirtshaus abgeben. Ich glaube, dass Marta jetzt da ist. Ich gebe den Fisch gewöhnlich bei ihr ab.«

»Dann sehen wir uns wohl später zu Hause.«

Kristina setzte den Weg zum Wirtshaus fort. Markus ging heimwärts. Er begriff, dass seine Tochter bald nach Marta fragen und vermutlich erfahren würde, dass diese Hütte ihr Zuhause war.

Sie kann es ruhig erfahren, dachte er. Auf irgendeine Art wird sie es sowieso mitbekommen.

Er hing dem Gedanken den ganzen Weg lang nach, als er am Hafen vorbeiging, und als er das Bootsmannshäuschen passierte, dachte er immer noch daran, aber als er Nygården erblickte, gingen seine Gedanken in eine andere Richtung und er begann darüber nachzudenken, Lotse zu werden.

Raus aufs Meer, dachte er. Und über das große Wasser weit weg von hier.