ISBN 978-3-492-98026-5
© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2013
© Piper Verlag GmbH, München 2013
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: © Alex Emanuel Koch / Shutterstock.com
Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
2. Auflage 2013
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Jenseits der Altstadt, dort wo Herdern liegen musste, flackerte der Nachthimmel in einem schmutzigen Rot, und die tief hängenden Regenwolken schoben sich wie von roten Scheinwerfern angestrahlt auf den Schlossberg zu. Weiter im Osten, wo der Schwarzwald begann, löste das grelle Licht eines Blitzes eine bewaldete Kuppe aus der Finsternis. Gleich darauf verschwand die blau flackernde Anhöhe wieder, die roten Wolken blieben.
Als Alexander Kilian an der Schwabentorbrücke in den Schlossbergring einbog, verdeckte der Berg das gespenstische Schauspiel. Er drehte das Radio lauter. Seit Tagen hatte er keine Nachrichten gehört. Während der Konferenz in Dresden hatte ein kleines und den Normalsterblichen weitgehend unbekanntes Lebewesen namens Zebrafisch sein Denken beherrscht, und er war gemeinsam mit über sechshundert Wissenschaftlern und Technikern aus aller Welt von einer Veranstaltung zur nächsten geeilt. Was außerhalb der Stadt oder, genauer gesagt, des Kulturpalastes aus der Zeit des real existierenden Sozialismus geschah, war unbemerkt an ihm vorbeigegangen. Auf dem Flug von Dresden nach Stuttgart hatte er geschlafen.
Der Nachrichtensprecher berichtete von der zunehmenden Schuldenlast für jeden einzelnen Bundesbürger: fast fünfundzwanzigtausend Euro öffentliche Schulden pro Kopf. Dabei waren Säuglinge und Greise ebenso mitgerechnet wie alle weiteren für den Schuldenabbau untauglichen Staatsbürger. Alexander schaltete das Radio aus. Seine Hoffnung auf eine gute Nachricht würde sich auch heute nicht erfüllen, zum Beispiel, dass der Freiburger Universität ab sofort der zehnfache Forschungsetat zur Verfügung stehen würde.
Als er vor seiner Haustür aus dem Wagen stieg, hatte er den roten Himmel längst vergessen. Der Gewitterregen war weitergezogen, aber die Nässe hing noch wie warmer Atem zwischen den Häusern. Alexander nahm den kleinen Lederkoffer vom Rücksitz und schlug die Autotür zu. Nicht zum ersten Mal überfiel ihn bei der Rückkehr nach einer Reise plötzlich die Furcht, während seiner Abwesenheit könne sich ein Unglück ereignet haben, von dem er nichts wusste. Er atmete tief durch die Nase ein. Was da in der Luft hing, war nicht der Rauch eines Holzfeuers oder der Geruch von angebrannten Grillwürsten, es war der beißende Qualm eines zerstörerischen Brandes. Prüfend sah er zu seiner Wohnung empor, bis er sich sicher war: Die stinkenden Schwaden stammten nicht aus diesem Haus. Wieder mal hatte sich seine Befürchtung nicht bestätigt.
In der Ferne hörte er ein Martinshorn. Es kam näher, war plötzlich direkt hinter ihm. Mit flackerndem Blaulicht und heulender Sirene jagte ein Polizeifahrzeug durch die stille Mozartstraße, vorbei an ein paar Menschen am Straßenrand, die gestikulierend herumstanden. Den Blick hatten sie in eine Ferne gerichtet, die er von seinem Haus aus nicht sehen konnte. Zögernd setzte sich die Gruppe in die Richtung in Bewegung, in der das Polizeifahrzeug verschwunden war.
Alexander stellte seinen Koffer in den Wagen zurück und ging auf die Mozartstraße zu, kehrte jedoch nach ein paar Schritten wieder um. Er, Professor Alexander Kilian, Leiter des Instituts für Molekulare Genetik, würde sich nicht unter die Gaffer mischen, die sich wie Geier um das Aas um jeden Unglücksfall scharten. Er nicht!
Beunruhigt blieb er neben seinem Auto stehen.
Und wenn er doch etwas Wichtiges versäumte?
Sekunden kämpfte er mit sich selbst, dann folgte er langsam und unschlüssig dem Grüppchen, ehe er seinen Schritt beschleunigte und die anderen überholte.
Die Nässe verschleierte grau und gespenstisch die Konturen der Häuser und Bäume, aber ein paar Steinwürfe entfernt zuckten blaue Lichter in der Finsternis. Alexander ging noch schneller, lief schließlich auf das Schauspiel zu. Das ungute Gefühl hatte sich längst wieder eingestellt, nach weiteren hundert Metern war daraus eine Gewissheit geworden. Noch ein paar Meter, dann erstarrte er.
Alexander Kilian schloss die Augen. Am liebsten hätte er sie gar nicht wieder geöffnet, als könne er die Katastrophe ungeschehen machen, indem er sie nicht zur Kenntnis nahm. Das träume ich nur, redete er sich ein, das ist nicht die Wirklichkeit. Ich muss nur aufwachen, dann ist alles wie immer.
Er riss die Augen auf.
Nichts war wie immer.
Fünfzig Meter von ihm entfernt standen rot-weiße Kegel auf der Straße. Der Fußweg war mit einem flatternden Band gesperrt – die Grenze zwischen Gaffern und Rettern. Wenn es denn noch etwas zu retten gab! Hinter dieser Grenze stand auf der rechten Straßenseite eine große Villa aus der Gründerzeit, ein hohes Haupthaus, an das sich beiderseits zwei schiefergedeckte Seitenflügel anschlossen. Man sah dem Haus nicht an, dass die letzte Renovierung erst zehn Jahre zurücklag. Die Nässe unter den alten Kastanien hatte dem Mauerwerk zugesetzt, die filigrane Steinbrüstung des Balkons in der Mitte des Haupthauses war mit den Jahren schwarz geworden, und von den geschwungenen und verzierten Konsolen und den Stuckquadern der Hauswand blätterte die Farbe. Das Gebäude beherbergte sein Institut.
Er hatte das alte Haus in der Nähe des Stadtgartens abseits des Institutsviertels der Universität vom ersten Tag an geliebt und als sein zweites Zuhause betrachtet. Nun züngelten aus dem Dach des Südflügels kleine rote Flammen. Harmlos anzusehen war das, aber er wusste, dass dies die Vorhut eines Feuersturms war, der nur noch auf das Kommando zum Ausbruch wartete. Auf der Stirnseite loderten die Flammen bereits meterhoch. Zwei Fenster im Obergeschoss waren geborsten. Prasselnd und fauchend verschlang das Feuer, was sich dahinter befunden hatte. Die Fenster gehörten zu Frau Brändles Zimmer. Brändle wie brennen. Er verfluchte den Tag, als ihm der Satz zum ersten Mal in den Sinn gekommen war. Mit diesem Gedanken über seine Sekretärin musste er das Feuer geradezu angelockt haben!
Neben den beiden Fenstern des Sekretariats zersplitterte mit lautem Knall die nächste Scheibe, und in einem Funkenregen loderten die Flammen in den nächtlichen Himmel. Es war ein Fenster seines Arbeitszimmers.
Alexander schlug die Hände vor das Gesicht. Alles, was er in seinem Leben geleistet hatte, ging dort in Flammen auf. Sein Lebenswerk brannte wie Zunder: die Zeitschriften mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die Urkunden über Ehrungen und Wissenschaftspreise, die er in langen Jahren zusammengetragen hatte. Was blieb davon? Nichts als Asche!
Er nahm die Hände vom Gesicht und drängte sich zwischen den Gaffern hindurch bis zur Absperrung. Vor dem brennenden Institut standen sechs oder sieben Feuerwehrautos: Fahrzeuge mit Drehleitern, Löschfahrzeuge mit Schläuchen, ein Einsatzleitwagen. Für einen winzigen Augenblick dachte er, dass seine kleine Corinna bei dem Anblick leuchtende Augen bekommen hätte. Ihm hingegen war zum Heulen zumute. Er starrte auf die Männer in Uniform, zuckende Akteure, deren neonfarbene Reflexstreifen sich im Blaulicht ruckartig bewegten wie die Glieder von Tänzern in einem modernen Ballett. Mit den Helmen sahen die Köpfe der Tänzer wie fahlgelb fluoreszierende Kugeln aus. Die Männer rannten hin und her, brüllten Kommandos, zerrten Schläuche durch die Eingangstür, verschwanden mit Atemmasken und Pressluftflaschen im Haus. Nur eines taten sie nicht: löschen! Zumindest sah er nichts davon. Interessierte es denn niemanden, dass hier sein ganzes Leben in Flammen aufging?
Wenigstens aus einem einzigen Schlauch könnte doch endlich Wasser kommen! Es dauerte eine Ewigkeit, bis schließlich eine Drehleiter vor den Fenstern ausgefahren war und ein armdicker Wasserstrahl ins Feuer schoss. Eine Ewigkeit! So kam es ihm jedenfalls vor.
Dann ein zweiter Strahl, ein dritter. Wassermassen ergossen sich durch die geborstenen Fenster und auf das brennende Dach, flossen von dort in Sturzbächen am Gebäude herunter, überschwemmten die Straße. Das ganze Haus musste gleich in den Fluten versinken. Was das Feuer übrig ließ, zerstörte das Wasser. Ohnmächtig sah Alexander der Vernichtung zu.
Als er sich endlich abwandte, fiel sein Blick auf ein Gesicht inmitten der Gaffer. Ina! Ein paar Meter von ihm entfernt stand sie in der ersten Reihe und starrte gebannt in die Flammen. Gebannt, ja, auch erschrocken, aber nicht verzweifelt. Sie sah aus wie immer, wenn sie für kurze Zeit das Haus verließ. Ihr schulterlanges braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und zur engen Jeans trug sie ein hüftlanges Top und darüber eine kurze schwarze Jacke.
Ohne Rücksicht auf fremde Füße, Schultern und Bäuche drängte er sich zu ihr durch. »Ina!« Er klammerte sich an sie wie ein Schiffbrüchiger an den einzigen Rettungsring im tosenden Ozean. »Dass du hier bist!«
Eine Weile standen sie so, bis sich Ina aus seiner Umarmung befreite. »Die Polizei wollte dich benachrichtigen und hat bei mir angerufen, weil du nicht zu erreichen warst. Ich bin sofort gekommen.« Inas Stimme: Wie immer. Besonnen, nüchtern. Sein Entsetzen schien sie nicht zu teilen. Und das, wo sie doch sonst so einfühlsam war!
»Hattest du kein Handy dabei?«
Er dachte an das Handy, das wie fast immer ausgeschaltet in seiner Tasche steckte, und überging die Frage seiner Lebensgefährtin. »Alles ist verloren!«, stieß er hervor.
»Alles?« Ina sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihm auf.
Er nickte in stummer Verzweiflung.
»Dein Laptop? Alle neuen Arbeiten?« Jetzt klang Inas Stimme doch besorgt.
Alexander schüttelte den Kopf. »Der ist im Koffer«, antwortete er knapp. »Ich hatte ihn in Dresden dabei.«
»Na, siehst du. Nicht alles.«
In der Tat war wahrscheinlich nichts von dem, was er elektronisch gespeichert hatte, durch den Brand verloren gegangen. Seit er einmal seinen Laptop verloren hatte und ihm schon unzählige SD-Karten und USB-Sticks auf unerklärliche Weise aus den Hosentaschen entkommen waren, speicherte er alles doppelt und dreifach. Schwierig war nur das Wiederfinden.
»Aber alles andere ist verloren! Die ganzen Veröffentlichungen, meine Bücher, überhaupt alles.« Sein Ton erinnerte ihn an den von seiner kleinen Corinna, wenn sie sich nicht den Anlass für ihre Tränen nehmen lassen wollte. Er versuchte es noch einmal auf die vernünftige Art: »Es ist ein Unterschied, ob ich von meinen Arbeiten eine Kopie auf dem Computer habe oder den gedruckten Artikel in der Hand halte.«
»Verstehe«, sagte Ina. »Aber die gedruckten Artikel wird man ersetzen können, wenn du sie unbedingt brauchst. Auch die Bücher. Wozu hast du Frau Brändle?«
»Die wird vermutlich anderes zu tun haben«, widersprach er matt.
Ina sah ihn lange an, und die steile Falte auf ihrer Stirn verriet ihm, wie angestrengt sie überlegte. »Du musst …« Sie stockte und sah zu den lodernden Flammen hinüber.
Er ahnte, was jetzt kommen würde: ein Rat, den er nie und nimmer berücksichtigen konnte, weil er unweigerlich eine seiner vielen Schwächen berühren würde.
»Du musst das Positive sehen. Du kannst endlich deine guten Vorsätze umsetzen und Ordnung schaffen. Du brauchst nicht einmal etwas wegzuwerfen. Du kannst ganz neu anfangen.«
Er schwieg. Immer wieder hatte er neu angefangen: ein neuer Arbeitsplatz, eine neue Wohnung, eine neue Frau, ein neuer Computer. Nur er selbst war nicht neu. Das war der Haken an jedem Neuanfang. Er selbst machte jeden guten Vorsatz in kürzester Zeit zunichte. Wie oft hatte er sich vorgenommen, unvermeidbare Aufgaben sofort zu erledigen und die unnötigen gleich abzuweisen. Unerledigte Arbeiten, verbunden mit Stapeln von Erinnerungszetteln, die ihn jeder Freiheit beraubten und seine Kreativität schon im Keim erstickten, sollten längst Vergangenheit sein. Doch ihr Überlebenswille war mächtiger als jeder Neuanfang. Ina musste wissen, wie sinnlos ihr Rat war, schließlich war sie eine kluge Frau.
»Nimm den Brand als die Chance deines Lebens«, sagte sie mit dem Kopf-hoch-Ton, der kaum geeignet war, sein Unglück zu mindern.
»Ich verstehe nicht, wie du dieser Katastrophe noch etwas Positives abgewinnen kannst«, stieß er so heftig hervor, als wäre sie schuld an dem Feuer. »Es wird Monate dauern, bis wir hier wieder arbeiten können.«
»Da hast du wahrscheinlich recht«, räumte Ina ein.
Alexander starrte in den dichten Qualm, der jetzt statt der lodernden Flammen aus dem Sekretariat drang. Was sich dort befunden hatte, war nur noch Schutt und Asche. Bei diesem Gedanken besserte sich seine Stimmung ein ganz klein wenig. Die Postmappe zum Beispiel, mit den seit Langem unerledigten Anfragen und Anträgen, die ihm seine Sekretärin jeden Morgen aufs Neue mit unerschütterlichem Optimismus auf den Schreibtisch legte. Zumindest hier würde es einen Neuanfang geben.
In diesen winzigen Trost hinein entdeckte er jetzt die Verluste, die wirklich schmerzten: die Kleinigkeiten, deren Wert sich nicht in Geld messen ließ und die keine Versicherung ersetzte. Das letzte Foto von seinen Eltern, kurz bevor sie vor fast fünfzig Jahren bei einem Verkehrsunfall umgekommen waren – es hatte in einem Regal zwischen anderen Bildern gestanden. Oder der kleine Kaktus, den seine Sekretärin einst aus einem Samenkorn gezogen hatte und der in diesem Jahr zum ersten Mal Blütenknospen hervorgebracht hatte.
Überhaupt Frau Brändle: Ihr Reich war zerstört, nicht nur die Blumen auf der Fensterbank, auch das schwarze Adressbüchlein auf ihrem Schreibtisch, aus denen sie Adressen und Telefonnummern in einer Geschwindigkeit hervorzauberte, die jeden Computer übertraf. Auch ihr PC war vermutlich vernichtet, ebenso wie die Espressomaschine, die sie erst vor drei Wochen mit der Bahn aus Italien herbeigeschleppt hatte. Eine Gaggia aus poliertem Edelstahl, angeblich ein Traum eines jeden Espressoliebhabers. Hatte die Gute nicht alles, was ihr wichtig war und was die Seele des Instituts ausgemacht hatte, in ebendiesem Zimmer aufbewahrt? Wenigstens die Kaffeemaschine würde ersetzt werden können.
Die erste wirkliche Katastrophe erkannte er Augenblicke später, und die übertraf alles andere bei Weitem. In den Räumen unter dem brennenden Stockwerk lagerten in Brut- und Gefrierschränken die Produkte der jahrelangen Anstrengungen junger Forscher, dort hatte sich materialisiert, was in ihren Köpfen herangewachsen war und worum sich ihre Zukunftsträume rankten. Ob als genau temperierte Bakterienkulturen, als tiefgekühlte Proben oder in kleinen Glasbecherchen wimmelnde Fruchtfliegen, als Zebrafische in den Aquarien oder als winzige Würmer in flachen Glasschalen – hier wuchsen die Karrieren der nächsten Generation als vergängliche Substanz heran. Seine eigene war längst in Papier und elektronischen Dateien festgeschrieben.
»Vielleicht wirst du immer noch gesucht«, sagte Ina. »Du solltest dich bei der Feuerwehr oder bei der Polizei melden.«
Diesen Gedanken hatte Alexander gerade selbst gehabt, schließlich musste er in Erfahrung bringen, wie es um die Stromversorgung in den unteren Räumen stand, er musste wissen, welche Schäden das Löschwasser dort anrichtete, er musste alle Mitarbeiter informieren, die in diesen Räumen ihre Schätze aufbewahrten. Und deren Telefonnummern? Er blickte zu den rauchenden Fenstern des Sekretariats. Auch die Nummern waren nur noch Staub und Asche.
»Man müsste die Mitarbeiter verständigen«, sagte Ina in diesem Augenblick.
»Die Telefonnummern sind auch verbrannt.«
»Wozu gibt es eine Telefonauskunft?«
Er dachte daran, welcher Schritt jetzt der nächste sein müsste, der einzig sinnvolle. Der Schritt, der längst hätte getan sein müssen und der wie ein Berg vor ihm stand.
»Du solltest Frau Brändle anrufen«, fuhr Ina in ihrem telepathischen Höhenflug fort.
»Ich weiß ihre Privatnummer nicht«, sagte er, obwohl er nur ein wenig in seinem Gedächtnis hätte suchen müssen.
»Weißt du sie wirklich nicht?«
»Doch.« Er zog sein Handy aus der Tasche. »Außerdem ist die Nummer hier gespeichert, auch ihre Handynummer.« Er hielt Ina das Telefon hin. »Kannst du nicht …? Ich sollte jetzt unbedingt der Feuerwehr sagen, dass ich hier bin.«
Ina zögerte, dann nahm sie das Handy ohne Widerspruch entgegen, mitleidig irgendwie, und er wusste nicht, ob das Mitleid ihm oder Frau Brändle galt.
»Danke«, sagte er. »Ich gehe dann mal.«
Bereits die Vorstellung, jetzt auch noch seine in Tränen aufgelöste Sekretärin trösten zu müssen, überforderte ihn. Er versuchte seine Feigheit hinter Gedanken wie »So ein Unglück wird besser von Frau zu Frau mitgeteilt« zu verstecken, stieg über die Absperrung und ging zum Einsatzleitwagen. Der Mann neben dem Fahrzeug – etwa vierzig Jahre, gelbliche Haut, auffällig klein und wie verloren unter einem großen Helm und einer weiten Uniform – war mit seinem Sprechfunkgerät beschäftigt.
»Entschuldigung«, sagte Alexander, obwohl es eigentlich nichts gab, wofür er sich entschuldigen musste. »Sie haben mich vorhin gesucht.«
Der Blick des Einsatzleiters streifte ihn, blieb am quakenden Sprechfunkgerät hängen, kehrte wieder zu ihm zurück.
»Kilian«, stellte er sich vor. »Ich bin der Leiter des Instituts.«
Der Einsatzleiter sagte etwas, aber Alexander verstand kein Wort. In seiner Vorstellung war der Brand eines Hauses etwas gewesen, was sich lautlos vollzog. Doch das war völlig falsch. Es war nicht nur der Lärm, der unmittelbar vom Feuer ausging, lauter noch waren die Fahrzeugmotoren und Pumpen, aber am schlimmsten waren die Sprechfunkgeräte.
»Was ist mit dem Strom?«
»Der Strom ist selbstverständlich abgeschaltet«, erklärte der Mann in der übergroßen Uniform. Alexanders Protest über das stromlose Institut ging im Quaken des Sprechfunkgeräts unter. »Sind Menschen im Haus?«
Wie hätte er das mit Sicherheit wissen sollen? »In den brennenden Räumen sicher nicht«, schrie er. Das Sprechfunkgerät machte ihn verrückt. »In den unteren Stockwerken stehen Gefrierschränke und andere Geräte, die unbedingt Strom brauchen!«
Der kleine Mann, der hier das Sagen hatte, sah ihn an, als hätte er es mit einem Schwachsinnigen zu tun. Ganz offenbar hatte er andere Sorgen.
Alexander versuchte es noch einmal in derselben Lautstärke: »Gibt es irgendeine Möglichkeit, die Stromversorgung wiederherzustellen?«
Jetzt reagierte der Mann. »Heute und in diesem Teil des Hauses sicher nicht.«
»Aber es muss sein! Verstehen Sie denn nicht? Es stehen die Ergebnisse jahrelanger Forschung auf dem Spiel.«
Der Helm des Einsatzleiters begann sich im raschen Wechsel mal nach rechts zu drehen und mal nach links. Offenbar schüttelte der Mann unter dem Helm seinen Kopf. »Sie sehen doch selbst, was hier los ist!«
Alexander gab auf. Diese Art zu reden kannte er. Es war der schneidende Ton eines kleinwüchsigen Mannes in leitender Position, der sich nicht mit seiner rein körperlichen Unterlegenheit abfinden wollte. Kompromisse waren nicht zu erwarten. Er ließ den Einsatzleiter stehen.
Jetzt stürzte wirklich alles um ihn herum zusammen. Nicht ihn ereilte das Unglück mit voller Wucht, sondern der Nachwuchs war am schlimmsten betroffen. Er dachte an die hoffnungsvollen Doktorandinnen, die mit blassen Gesichtern ihre freie Zeit mit Pipetten, Elektrophoreseplatten und Zentrifugen verbrachten, während ihre Freundinnen im Schwimmbad waren, an die Postdocs, die sich anschickten, mit revolutionären Ideen die Wissenschaft in nie gekannte Höhen zu führen, und an die Arbeitsgruppenleiter, ohne deren Einsatz weder die Finanzierung noch die Koordination der vielen Projekte möglich waren. Und mit diesen Gedanken landete er wieder bei sich selbst, denn woran wurde er gemessen, wenn nicht an den Arbeiten seiner fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?
Keine Sekunde würde er sich von der Brandstelle entfernen, solange auch nur die geringste Chance bestand, den Wettlauf mit der Zeit doch noch zu gewinnen. Es ging ja nicht nur um die Stromversorgung. Auch die Zebrafische, Fruchtfliegen und Fadenwürmer konnten nicht ewig unversorgt überleben. Nur die Knock-out-Mäuse, auf denen er seinen Ruhm gegründet hatte, waren nicht in Gefahr. Die fristeten ihr freudloses Leben in den unterirdischen Tierställen beim pharmakologischen Institut.
Vergeblich suchte sein Blick nach Ina, bis er im nächsten Augenblick mit ihr zusammenstieß.
»Hast du mich nicht gesehen?«
Er hatte nicht. Kein Wunder bei ihrer Größe. Dabei war sie nicht wirklich klein mit ihren hundertzweiundsiebzig Zentimetern, aber er entdeckte sie nie, wenn er sie in einer Menschenmenge suchte.
»Was hat Frau Brändle gesagt?«, fragte er.
Ina schüttelte bedauernd den Kopf. »Gar nichts. Ich habe auf ihrem Handy die Nachricht hinterlassen, dass sie dich so bald wie möglich anrufen soll.« Sie gab ihm das Handy zurück und sah auf die Uhr. »Ich sollte längst wieder zu Hause sein.«
»Ist Corinna allein zu Hause?«, fragte er so erschrocken, als sei seine Tochter noch ein kleines Kind und keine achtjährige Schülerin.
»Corinna wartet bei Jana auf mich.«
»Corinna wartet«, wiederholte er und konnte sich nicht vorstellen, dass seine Tochter bei dieser besonderen Freundin mit der frühreifen Schwester auch nur eine einzige Sekunde an ihre Mutter denken würde.
Ina umarmte ihn stumm und sah ihn dann mit einem festen Blick an, der wohl Zuversicht signalisieren sollte. Einen Augenblick glaubte er, sie würde ihm ein »Alles wird gut« zurufen, aber sie drehte sich um und ging. Dabei hatte er mit ihr nicht einmal über die Katastrophe gesprochen, die sich im stromlosen Gebäude anbahnte. Es gab Augenblicke, da bedauerte er, von Ina getrennt in einer eigenen Wohnung zu leben. Dieser gehörte dazu.
Stundenlang harrte Alexander bei den qualmenden Trümmern aus, während die Menschenmenge langsam von den Rändern her zerbröckelte und sich schließlich auflöste. Zuletzt stand er allein neben der Absperrung. Für die Gaffer lohnte sich der Anblick nicht mehr. Die meisten Schläuche waren eingerollt, der erste Löschzug abgerückt. Ein paar Männer befanden sich noch im Gebäude. Was sie dort trieben, wusste er nicht. Die Ruhe war gespenstisch: Es war die Ruhe eines Friedhofs. Keine Autos fuhren, niemand sprach, selbst das Sprechfunkgerät quakte nicht mehr.
Alexander näherte sich dem kleinwüchsigen Einsatzleiter. Dies war die letzte Chance. Die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte er und fürchtete doch, dass jegliches Leben im Südflügel bereits der Hoffnung in den Tod vorangegangen war.
»Wir brauchen schnellstens wieder Strom im Gebäude. Unsere gentechnisch veränderten Organismen kann man nicht einfach ersetzen!«
Der Mann mit der Macht über Leben und Tod von abertausend Lebewesen in den unteren Räumen verzog seinen Mund. Einen Augenblick sah er aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen, gleich darauf ähnelte das ganze gelbe Gesicht einer sauren Frucht. »Ich dachte, der Breisgau wäre eine gentechnikfreie Zone!«
Mit Gentechnik hatte Alexander offenbar das falsche Stichwort gegeben. »Wir haben nichts mit Genmais oder irgendwelchen Monsterkühen zu tun«, beeilte er sich, die Sachlage richtig darzustellen. »Wir forschen, damit Krankheiten wie Alzheimer vielleicht eines Tages geheilt werden können.« Das ›vielleicht‹ hätte er wohl besser weggelassen. Das Zitronengesicht blieb. »Es geht hier nicht um materielle Werte, es geht um die Wissenschaft.«
»Wir tun, was wir können.«
Alexander bezweifelte das. Die Miene des Einsatzleiters war nicht geeignet, ihm die geringste Hoffnung zu machen. Daher machte er einen neuen Vorschlag: »Wir könnten die empfindlichen Bestände herausholen und anderswo im Gebäude unterbringen.«
»Ich sagte, wir tun, was möglich ist.«
Alexander wich auch jetzt nicht von der Seite des einzigen möglichen Retters. Vielleicht war der froh, wenn von den genmanipulierten Monstern nichts übrig blieb – selbst wenn es nur harmlose Fadenwürmer waren?
Waren die genmanipulierten Organismen womöglich der Grund für das Feuer? Es gab viele Menschen, die in Wissenschaftlern wie ihm die Handlanger der Apokalypse sahen, denen man das Handwerk legen musste.
Der Einsatzleiter hatte sich in sein Fahrzeug zurückgezogen. Offenbar telefonierte er. Und zwar lange. Alexander lief ungeduldig in immer engeren Kreisen um den Wagen herum. So lange konnte doch kein Mensch in dieser Situation telefonieren! Endlich stieg der Mann aus.
»In zehn Minuten kommt ein Techniker von der Badenova und wird im Haupthaus und dem unbeschädigten Seitenflügel die Stromversorgung wiederherstellen.« Sein Tonfall dabei: Als hätte er das schon immer gesagt. »Sobald meine Männer im Gebäude grünes Licht geben, können Sie Ihre persönlichen Gegenstände und das, was gefährdet ist, aus den unteren Räumen holen. Das zweite Stockwerk können Sie nicht betreten, ehe es der Baustatiker freigegeben hat.«
Für einen Augenblick war Alexander sprachlos. Wie sollte er allein all das retten, was gerettet werden musste?
»Nur ich oder auch die Mitarbeiter?«
»Jeder, der hier arbeitet. Anschließend werden Sie diesen ganzen Trakt für mehrere Tage nicht betreten können.«
Warum hatte er das nicht gleich gesagt! Jetzt stand er hier als Einziger mitten in der Nacht, und vor ihm lag eine Aufgabe, die für ihn allein unlösbar war.
Auf seinem Handy hatte er die Nummern von ein paar Mitarbeitern gespeichert. Zwei davon hatten in dem zerstörten Flügel gearbeitet. Er erreichte beide und bat sie, ein paar Kollegen zu benachrichtigen und dann sofort zu kommen.
Er hatte nicht gedacht, dass Telefonketten im elektronischen Zeitalter noch funktionierten. Oder wurden solche Nachrichten heute getwittert? Eine Viertelstunde nach seinem ersten Anruf wimmelte es in dem Gebäude wie in einem Ameisenhaufen. Allerdings hatte er noch nie so ratlose Ameisen gesehen. Wohin mit dem ganzen Zeug? Alles, was in diesem Haus zur Aufbewahrung geeignet schien, war sowieso überfüllt. Er tat, als würde er nicht bemerken, dass die Ersten begannen, ihre Schätze in Kühltaschen aus dem Haus und vermutlich in die eigenen Gefriertruhen oder Kühlschränke zu schleppen. Gentechnisch veränderte Organismen ohne Genehmigung aus dem Institut zu schaffen war nicht erlaubt.
Vom Münsterturm schlug es Mitternacht, als er – durch den Anblick des zerstörten Südflügels um mindestens zehn Jahre gealtert – zu seiner Wohnung zurückkehrte. Geisterstunde, dachte er, als er die Glocke hörte, und gab sich schwarzen Gedanken hin.
Doch das, was vor seiner Haustür lag, war weiß. Leuchtend weiß, wie ein kleines Fleckchen Schnee. Ein Taschentuch? Schon ehe er sich bückte, wusste er, dass es keine harmlose Erklärung für dieses kleine bisschen Weiß vor seiner Wohnung geben würde. Er berührte den weißen Fleck und fuhr zurück. Sein Herz schlug schneller. Nein, das war kein Papier, es war viel weicher und glatter. Etwas Haariges? Ein totes Tier? Er schaltete das Licht an.
Auf dem Abtreter lag eine tote Ratte. Keine graue, wie sie hunderttausendfach in Freiburg hausten. Nein, es war eine weiße Ratte. Eine graue Ratte hätte ihn weniger erschreckt. Die nächste Falle mit Giftködern stand im Stadtgarten nicht weit von seiner Wohnung entfernt. Er erwartete schon lange, eines Tages auf eine vergiftete Ratte zu stoßen. Irgendwo mussten die armen Tiere schließlich ihr Leben beenden. Aber diese Ratte war weiß.
Eine Weile betrachtete er unentschlossen das ungewöhnliche Exemplar, dann entschied er, ihm nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als er es bei einem grauen getan hätte. Der Brand allein war schlimm genug. Er hob das Tier an der Schwanzspitze hoch und versenkte es in der Mülltonne.
Ein Unglück kommt selten allein, dachte er, als er die Tür aufschloss, und im selben Augenblick überkam ihn die Gewissheit, dass sich das nächste bereits ereignet hatte. Die Wohnung roch, wie sie nicht riechen sollte. Unangenehm wäre für das, was ihm entgegenschlug, stark untertrieben. Die Wohnung stank widerlich. Leichengeruch? Den hatte er glücklicherweise nur ein einziges Mal in seinem Leben so intensiv wahrgenommen, und das lag lange zurück. Dreißig Jahre? Damals war er Medizinstudent gewesen und hatte eine Leichenöffnung in der Rechtsmedizin ertragen müssen. Der Tote damals war erst viele Tage nach seinem Ableben in einem von der Sonne beschienenen Bauwagen gefunden worden. Genauso wie der Tote damals roch es jetzt in seiner Wohnung.
Und nun? Die Polizei anrufen? Alles in ihm wehrte sich dagegen, der nächsten Katastrophe ins Auge zu sehen, noch dazu allein. Doch er hatte keine andere Wahl.
Schritt für Schritt bewegte er sich in den Flur. Die Haustür hatte er offen gelassen. Als Fluchtweg. Er stieß die Wohnzimmertür so weit auf, dass sie an der Wand anschlug. Dahinter war nichts. Hier war alles in Ordnung, abgesehen von den Rosen in der Vase, die wie eine Ansammlung von Trauernden die Köpfe hängen ließen. Er betrat sein Arbeitszimmer. Der Rollladen war geschlossen, das war ungewöhnlich. Hatte seine Putzfrau im Dunkeln geputzt? Nein, sie war diese Woche krank – jetzt erinnerte er sich.
Er kehrte in den Flur zurück und fuhr erschreckt zusammen, als die Schlafzimmertür mit lautem Knall ins Schloss fiel. Mit einem schnellen Schritt erreichte er eine Nische neben der Garderobe, die im Dunkeln lag. Er atmete kaum. Nichts geschah. In der Wohnung war es totenstill, nur durch die offene Wohnungstür hörte er die Blätter der alten Akazie rauschen.
Nach einer Zeit, die ihm endlos erschien, wagte er die Nische zu verlassen. Er öffnete die Schlafzimmertür und knipste das Licht an. Niemand war hier, und auch sonst entdeckte er nichts, was ihn beunruhigte. Er bückte sich trotzdem und sah unter das Bett. Nichts. Zumindest kein Einbrecher, auch keine Leiche, nur dicke Mäuse – Wollmäuse –, zwei alte Taschentücher und ein Zettel, der ihn an etwas erinnern sollte, was längst Vergangenheit war, und der aus einer Zeit stammte, als sich seine Putzfrau noch bester Gesundheit erfreute.
Er fand die Leiche in der Küche, zumindest die Teile, die Ina, Corinna und er davon übrig gelassen hatten. Sie lag im Mülleimer. Es war ein roher Hasenrücken, von dem Ina vor dem Braten mit gekonnten Bewegungen die Filets gelöst hatte. Den Rest, an dem jetzt dicke weiße Maden fraßen, hatte er selbst im Mülleimer entsorgt. Angeekelt trug er den stinkenden Beutel zur Mülltonne. Morgen kam die Müllabfuhr, aber bis dahin würde die ganze Umgebung nach Verwesung riechen.
Er riss alle Fenster auf und öffnete die Terrassentür. Draußen schaukelte seine altmodische Laterne in der windigen Nacht und warf ein unruhiges Licht in die Finsternis.
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Im Garten bewegte sich etwas. Was es war, konnte er nicht erkennen, aber er hörte deutlich das Rascheln im Efeu unter den Hainbuchen. Ein Igel? Eine Katze? Vielleicht hatte eine Katze die tote Ratte vor seiner Haustür abgelegt, vielleicht die fette mit dem grauweißen Fell und dem zu kleinen Kopf? Katzen gab es hier genug. Nur passte das Geräusch nicht zu einer Katze, jedenfalls nicht zu einer auf vier Beinen.
Er hätte jetzt nachsehen können, aber er zögerte. Für heute keine erschreckenden Entdeckungen mehr! Das Maß der zumutbaren Aufregung war nicht nur voll, es war längst übergelaufen. Nein, er hielt die tote Ratte nicht ernsthaft für das Präsent einer Katze.
Halbherzig tat er ein paar Schritte in den Garten, der in völliger Finsternis vor ihm lag, dann kehrte er um und ging zu seinem Auto, um den Koffer zu holen. Sorgfältiger als gewöhnlich verschloss er danach alle Fenster und Türen seiner Wohnung. Den Gestank von Verwesung, der immer noch in den Räumen hing, würde er ertragen müssen.
In dieser Nacht träumte Alexander von Zebrafischen. Riesengroß waren sie und hatten silbrig-weiße und blaue Längsstreifen, die wie Neonröhren leuchteten. Die Tiere schwammen in einem Aquarium, das fast den ganzen Raum ausfüllte. Der Raum, das erkannte er erst jetzt, war ein großes Zirkuszelt mit zwei Masten, und statt einer Manege stand in der Mitte das Wasserbecken wie ein großes Haus. Im Aquarium schwebte ein Mann, der wie ein Dompteur gekleidet war, nicht wie ein Taucher. Es war Thomas Tuschl, ein jüngerer Kollege, der seit ein paar Jahren einen Wissenschaftspreis nach dem anderen abräumte. Alexander wunderte sich – weniger über Tuschls Auftritt im Zirkus als über die Zebrafischnummer. Mit Fischen hatte Tuschl doch gar nichts zu schaffen. Alexander hörte das vor Begeisterung tosende Publikum und spürte eine bohrende Eifersucht auf den erfolgreichen Wissenschaftler.
Auf einmal sah er sich selbst. Er stand neben dem Tunnel für die Raubtiere. Mit beiden Händen hielt er einen Käfig, in dem Dutzende kleiner Mäuse wie verrückt hin und her hüpften. Es mussten seine Knock-out-Mäuse sein. Mit solchen Tieren hatte er vor vielen Jahren durch das Ausschalten einzelner Gene deren Funktion erforscht und damit seinen Ruhm begründet. Er wusste nicht, warum sich seine Mäuse kurz vor ihrem großen Auftritt so wild gebärdeten. Gab es deswegen die ausbruchsicheren Raubtiergitter? Nie zuvor hatten seine Tierchen solche Käfige gebraucht.
Die Zeit verging, und in Alexander stieg das brennende Gefühl auf, dass man seinen Auftritt vergessen hatte. Tuschl hatte ihm die Schau gestohlen! Mit diesem Gefühl in der Brust drängte er sich durch die Gaffer hindurch, die hinter einer rot-weißen Absperrung herumstanden. Er suchte den Zirkusdirektor. Plötzlich entdeckte er Ina in der Menge. Sie sah ihn an, und die steile Falte auf ihrer Stirn sah aus wie ein dunkler schmaler Tannenbaum. Den Direktor, mit quakendem Sprechfunkgerät und im gleichen Dompteurkostüm wie Thomas Tuschl, fand er draußen neben einem winzigen Auto, mit dem er eben davonfahren wollte. »Die Mäuse?«, sagte der Direktor und schüttelte den Kopf. »Ihr Auftritt ist längst vorbei.« Alexander wollte widersprechen. »Sie sehen doch selbst, was hier los ist«, schnitt ihm der Zirkusdirektor das Wort ab. Plötzlich wurde Alexander sehr traurig. Er presste den Käfig an seine Brust und schlich davon mit seinen Mäusen, die nun ganz still saßen und ihn ansahen, als würden sie seine Enttäuschung teilen.
Mit diesem Gefühl abgrundtiefer Traurigkeit über den verpassten Auftritt wachte Alexander auf. Gnadenlos hatte ihm der Traum vor Augen geführt, was er schon seit Jahren befürchtete: Seine Erfolge waren Auslaufware. Darüber täuschte auch die Tatsache nicht hinweg, dass die Väter der Knock-out-Mäuse 2007 den Nobelpreis bekommen hatten. In den Achtzigerjahren war ihre Methode eine Sensation gewesen. Er selbst hatte ebenfalls in dieser Zeit die Idee gehabt, kleine Teile des Erbguts einer Maus auszuschalten, um aus den Veränderungen am erwachsenen Tier auf die Funktion dieses Gens zu schließen. Anderen war dies schneller gelungen als ihm, sonst – er konnte den Satz noch immer nicht zu Ende denken, ohne die Enttäuschung wie eine riesige Faust im Magen zu spüren – sonst hätte er vermutlich den Nobelpreis bekommen.
Mittlerweile gab es andere Möglichkeiten, die Funktion von Genen aufzuklären, als Mäuse zu züchten und umzubringen. Tuschl kam sogar ganz ohne Versuchstiere aus. Andere Forscher hatten sich statt der Mäuse längst Haustiere zugelegt, deren Schicksal weniger Mitleid erregte. Zebrafische zum Beispiel oder Fadenwürmer. An dieser Tatsache änderte auch sein Interview mit der Badischen Zeitung nichts, in dem er die große Bedeutung der Knock-out-Mäuse auch in der heutigen Zeit betont hatte. Die Mäuse waren im Vergleich mit anderen Organismen Auslaufware. Er wiederholte in Gedanken das Wort: Auslaufware – genau wie sein eigener Name es eines Tages sein würde.
Er konnte sich nicht entschließen aufzustehen, sondern blieb mit offenen Augen liegen und sah zu, wie der Morgen mit seinen Grautönen ins Zimmer drang, einer deprimierender als der andere. Das Beste wäre, als Forscher noch einmal von vorn anzufangen, Ideen hatte er genug. Er beneidete die Kollegen, die für den Fortschritt der Menschheit und nicht nur für den Fortbestand der Bürokratie arbeiteten. Wenn er wenigstens wieder eine eigene Arbeitsgruppe leiten könnte, wenn er schon selbst keine Pipette mehr in die Hand nahm! Stattdessen würde er seine letzten zehn Jahre an der Uni in nervtötenden Sitzungen und mit dem Korrigieren von Aufsätzen verbringen, die in irgendeiner wissenschaftlichen Zeitschrift erscheinen sollten. Viel zu wenig Zeit blieb für die Besprechungen, in denen es um das ging, was ihn am meisten interessierte: um die Forschung seiner eigenen Mitarbeiter. Zehn Jahre würde es noch so weitergehen – und dann? Ein Kämmerchen mit einem Schreibtisch, das war in der Regel das Äußerste, was eine deutsche Universität ihren Professoren als Altenteil zugestand, und dieser Augenblick rückte unbarmherzig näher. Für einen Neuanfang war es höchste Zeit. Gestern erst hatte er mit Ina darüber gesprochen.
Plötzlich war die Erinnerung wieder da. Das Feuer! Oder hatte er auch das nur geträumt, genau wie den verpassten Auftritt im Zirkus? Die Ratte vor der Haustür. Nein, beides hatte er nicht geträumt. Die Erinnerung an die ausgebrannten Fensterhöhlen im Südflügel traf ihn so heftig, dass ihm ein Kribbeln bis in die Fingerspitzen fuhr. Er sprang aus dem Bett.
Frau Brändle hatte nicht angerufen. Er suchte sein Handy, um die Anruferliste durchzusehen, aber das Display blieb dunkel. Wieder einmal hatte der Akku im entscheidenden Augenblick den Geist aufgegeben. Als hätte er ein Gespür dafür! Auf dem Anrufbeantworter seines Festnetztelefons waren elf Anrufe eingegangen, seit er nach Dresden geflogen war – eindeutig zu viele, um sich jetzt darum zu kümmern.
Ein Montag, dachte er und wusste im selben Moment, es würde nicht einfach nur der Montag nach dem Brand bleiben oder der Montag mit den elf unerledigten Anrufen. Ein schrecklicher Montag würde es werden, einer, an den er sich noch Jahre später erinnern würde. Er wählte die Privatnummer seiner Sekretärin. Es meldete sich nur der Anrufbeantworter: »In dringenden Fällen probieren Sie es bitte unter 0172 …« Doch unter der Handynummer landete er auf der Mailbox.