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Renée Schroeder

mit Ursel Nendzig

VON MENSCHEN, ZELLEN UND WASCHMASCHINEN

Anstiftung zur Rettung der Welt

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Unseren Söhnen

INHALT

VORWORT

Sollten wir unsere Zukunft nicht besser gestalten?

Oder: Weiterhin ein unbequemer Weg

KAPITEL 1

Das Höhlengleichnis

Oder: Die Grenzen der Wahrnehmung

KAPITEL 2

Die Menschenwachstumskurve

Oder: Wohin geht die Reise?

KAPITEL 3

Die Sättigungskurve

Oder: Die Notwendigkeit des Hungers

KAPITEL 4

Quorum Sensing

Oder: Das kontrollierte Wachstum

KAPITEL 5

Altruismus

Oder: Egoisten sterben aus

KAPITEL 6

Die Ribonukleinsäure

Oder: Die Substanz, die sich selbst reguliert

KAPITEL 7

Gene und Meme

Oder: Natur gegen Kultur

KAPITEL 8

Der freie Wille

Oder: Wie viel Freiheit haben wir?

KAPITEL 9

Die Evolution ist pragmatisch

Oder: Nicht alles, was erfolgreich ist, ist auch wünschenswert

KAPITEL 10

Qualität und Selektion

Oder: Das Ende der Three-Inch-Society

KAPITEL 11

Weiterdenken

Oder: Neue Meme braucht der Mensch

KAPITEL 12

Was wir (Frauen) wollen

Oder: Lilith, Eva, Maria und – Europa?

EPILOG

Die zwölf Gebote

Oder: Neue Werte für ein Leben mit Qualität

GLOSSAR

DANK

VORWORT

Sollten wir unsere Zukunft nicht besser gestalten?

Oder: Weiterhin ein unbequemer Weg

Wir Menschen befinden uns an einem Wendepunkt. Das können wir nicht leugnen. Unser Wachstum hat eine Grenze. Das ist eine einfache Milchmädchenrechnung. Wir tun aber so, als ob es immer so weitergehen müsste. Immer weiter, immer schneller! Wir wissen zwar nicht, wohin die Reise geht, aber Hauptsache, wir sind als Erste dort (frei nach → Helmut Qualtinger)!

Wir fühlen zwar, dass es nicht so weitergehen kann, jedoch sind wir Weltmeister im Leugnen und im Selbstbetrug. Wir leben so, als gäbe es ein Leben nach dem Tod, so, als müssten die Wirtschaft und die Bevölkerung des jeweils eigenen Landes (nicht die Weltbevölkerung!) ewig weiterwachsen, damit es genug Arbeitsplätze gibt und die Pensionen gesichert sind. Doch werden wir, die leidvoll nach Erkenntnis streben, ständig davon abgehalten, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass wir sterblich sind, dass das Wachstum eine Grenze hat. Und dass wir uns etwas Neues einfallen lassen müssen.

Im Bewusstsein, dass wir nur EIN Leben haben und dass wir nach dem Tod eben nicht mehr »sind«: Sollten wir dann nicht dafür sorgen, dass dieses eine wertvolle Leben erfolgreich ist? In unserem individuellen Sinn erfolgreich, versteht sich. Unsere Einstellung zur Zukunft und zum Leben ändert sich existenziell, wenn wir uns nicht auf ein Leben nach dem Tod einstellen (können).

Warum dieses Buch? Eine Fortsetzung von »Die Henne und das Ei«? Ja! Eine Weiterentwicklung und mit dem gleichen Konzept. Eine ähnliche Übung. Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens! Nicht mehr nach dem Ursprung des Lebens. Diesen haben wir ja bereits begriffen. Der Sinn des Lebens ist ein → Mem, eine idealisierte menschliche Erfindung. Wir haben zwar erkannt, dass wir dem Leben einen Sinn geben können. Aber was nun?

Zurück zu den drei dringendsten Fragen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Die ersten zwei Fragen können wir systematisch angehen und das Puzzle Stück für Stück zusammensetzen. Das erledigen tausende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen für uns. Aber die dritte? Was machen wir mit dieser dritten Frage? Wohin gehen wir? Sollen wir ein Orakel fragen? Aladins Lampe reiben? Oder suchen wir nach der weisen Fee, die uns diese dritte Frage beantworten könnte?

Wohin wollen wir gehen?

Diese Frage hat es in sich! Denn die Zukunft gibt es ja noch nicht! Sie steht noch nicht fest. Niemand kann sie kennen – manches lässt sich vielleicht erraten, aber da es das Kommende noch nicht gibt, macht es auch keinen Sinn, es vorab herausfinden zu wollen. Wäre ja totaler Humbug! Und wenn wir ehrlich sind, wollen wir es gar nicht kennen. Es wäre das Ende unserer → Kreativität, denn dann hätten wir ja keinen Einfluss mehr darauf, wir wären vollkommen ohnmächtig. Wenn alles vorbestimmt wäre, hätten wir keine Aufgabe mehr. Dann wäre wirklich alles sinnlos.

Und genau das ist der Punkt: dass es keinen Sinn macht, die Zukunft vorhersehen zu wollen, sondern dass es unsere einzigartige Chance ist, sie selbst zu gestalten. Ja! Selbst gestalten! Aber wie sollen wir sie gestalten? Haben wir überhaupt Einfluss darauf, wie die Zukunft aussehen wird? Genau darum geht es in diesem Buch. Ich möchte gerne animieren zu überlegen, was wir aus unserem Leben machen wollen und wie wir die Zukunft unseres Planeten Erde gestalten können. Haben wir die Wahl? Haben wir den → freien Willen zu erkennen, was sein sollte, um dann auch danach zu handeln? Ja, viel mehr noch: Wir sind zur Freiheit verurteilt, zu bestimmen, wie es mit der Spezies Mensch weitergeht.

Was wollen wir? Diese Frage wird uns bei wichtigen Entscheidungen nicht oft gestellt. Wissen wir genug, um guten Gewissens gestaltend auf die Zukunft einwirken zu können? Oder entsteht da wieder eine mörderische ideologische → Utopie? Können wir bei möglichst guter Kenntnis der Vergangenheit und wenn wir die Zusammenhänge der einzelnen Tatsachen verstanden haben, unsere Zukunft gestalten? Was haben wir denn bis jetzt gelernt? Was uns die → Evolution sehr wohl gezeigt hat, ist, dass sie kein Ziel hat. Unsere Entwicklung ist nicht vorherbestimmt und nicht zielgerichtet, sondern abhängig von den vielen Einzelereignissen, die den Weg ebnen für die nächsten Einzelereignisse. Ganz pragmatisch! Auf die Evolution der Menschen zurückblickend, erkennen wir den Weg, den sie gegangen ist – und gleichzeitig erkennen wir, dass dieser Weg von unzähligen unvorhersehbaren Ereignissen bestimmt wurde. Wenn wir den Weg noch einmal beschreiten würden, wäre das Ergebnis ziemlich sicher ein anderes.

Und jetzt auf einmal soll es ein Ziel geben?

Jetzt sollen wir ein Ziel formulieren, eine Vision entwickeln? Uns ein Ziel setzen, eine Straße dorthin bauen und dann dieser Straße blindlings folgen? Das kann es ja wohl nicht sein. Bis jetzt waren die populärsten Endzeitszenarien der Menschheit der »Jüngste Tag« oder das »Jenseits«. Aber was gibt es sonst? Wir wissen, dass wir nach unserem Tod zwar nicht mehr sein werden, dass unsere Handlungen aber Folgen haben werden. Und genau diese Eigenschaft wurde durch die Evolution selektiert: Jene Menschen, die an ihre Nachkommen gedacht haben, haben es möglich gemacht, dass eben diese Nachkommen heute noch leben. Ich möchte hier ganz trocken und ganz ohne Spiritualität dafür plädieren, dass wir → Verantwortung für die Jahrhunderte nach uns übernehmen, auch wenn es uns dann nicht mehr gibt. Also eine echte → altruistische Handlungsanleitung. Diese steckt bereits in unseren → Genen!

Ich mache den Vorschlag, dass wir uns anstrengen und unser → Wissen anwenden, weil wir erkannt haben, dass unsere Handlungen Folgen haben. Dass wir bestimmen (müssen), wie der Mensch sich weiterentwickelt.

Wir müssen weiterdenken, für die Zukunft. Das 20. Jahrhundert kann mit Sicherheit als jenes angesehen werden, welches das meiste Wissen hervorgebracht hat. Die gegenwärtige Wissensproduktion ist atemberaubend, und daraus resultiert eine neue Berufssparte: die der Wissenskommunikatoren! Bereits der österreichische Psychoanalytiker → Otto Rank empfand am Anfang des 20. Jahrhunderts, dass es eine Überproduktion an Wissen gebe, das anscheinend nicht konsumiert werden kann. Jetzt, fast ein Jahrhundert später, wächst unser Wissen exponentiell. Wie sollen wir dieses konsumieren? Was sollen wir mit dem vielen Wissen anfangen? Eben dies: Lösungen für die Zukunft finden!

In meinen Augen ist Wikipedia das wichtigste soziale Projekt, das die Menschheit je zustande gebracht hat in Richtung Aufklärung. Dieses Wissen des Menschen soll für immer jedem bereitstehen, der es sich aneignen will. Wozu ist dieses Wissen gut? Das ist ja wohl klar! Um mündige Bürger hervorzubringen, die in der Lage sind, ihr eigenes Leben so zu gestalten, dass es individuell erfolgreich ist und dass ihre Nachkommen auch wiederum diese einmaligen Chancen haben werden. Ohne sich von Missionaren oder Führern einreden lassen zu müssen, dass es ein Leben nach dem Tod gebe, sodass man beruhigt sein jetziges Leben einer Bewegung oder einer Massenhysterie opfern könne.

Was wir brauchen, sind Menschen, die genug wissen, um zu erkennen, was sie machen sollten. → Bildung im Sinne einer kreativen, eigenverantwortlichen Gestaltungsfähigkeit. Genau! Die Folge eines selbstverantwortlichen Lebens ist Verantwortung! Zu erkennen, dass unsere Taten Folgen haben.

Ist dies eine Illusion? Eine Utopie? Seit wir auf unsere Geschichte zurückblicken können, wollen Menschen die Zukunft vorhersagen. Und das ist sicherlich die treibende Kraft, die uns dazu animiert, Wissenschaft zu betreiben. Wir wollen verstehen, wie das Leben funktioniert, um vielleicht eine Handlungsanleitung für die Zukunft zu finden.

Wir sind an einem Wendepunkt angekommen. Václav Havel nannte unsere Zeit das Ende der Moderne. Eine Epoche geht zu Ende; die Epoche des exponentiellen Wachstums. Der Übergang in eine neue Epoche wird schmerzvoll sein, weil wir nicht wissen, wohin es gehen wird. Oder können wir es? Vorausgesetzt wir strengen uns an, um zu erkennen, was wichtig ist. Vorausgesetzt wir erkennen, dass wir diese Möglichkeit haben, dass es sich lohnt zu überlegen, wie es sein könnte. Weiterdenken! Wir haben eigentlich gar nicht die Wahl; wir müssen handeln! Auch eine Nicht-Handlung ist eine Entscheidung. Wir können aus der Natur und aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaften sehr wohl an einem Konzept für die Zukunft arbeiten. Aber es muss ein gutes, anpassungsfähiges, neues Konzept sein; die Voraussetzungen sind heute anders als gestern und werden morgen anders sein als heute. Weil sich in der Natur alles ständig ändert. Wir können von der Natur lernen, wie es gehen könnte. Wir sollten uns neu erfinden! Aber bitte, nicht schon wieder ein Ebenbild → Gottes!

Können wir uns selber neu erfinden? Wenn ja, wem überlassen wir diese Erfindung? Den Politikern? Den Bischöfen? Den Bankern? Den Wirtschaftsbossen? Den IT-Technologen? Den sich verselbstständigenden Rechnern? Wo sind sie, die Weisen, die Philosophen, die Kreativen, die nach Lösungen suchen und in der Lage sind, gute Konzepte zu erstellen, die flexibel genug sind, dass sie dem ständigen Wandel der Welt gewachsen sind?

Wir haben keine Wahl! Wir müssen uns selber neu erfinden! Es liegt an uns, die Zukunft zu gestalten.

Wir können es bewusst tun oder uns einfach treiben lassen, ohne Plan. Beides ist möglich. Es ist unsere Entscheidung, welchen Weg wir wählen werden.

Dieses Buch soll anregen, mit optimistischen Vorsätzen in die Zukunft zu blicken. Optimistisch, weil wir realistisch sind und uns nicht mehr so leicht täuschen lassen wollen. Dieses Buch enthält viele Denkübungen auf der Suche nach einer Anstiftung zur Rettung der Welt, vor allem zur Rettung der Menschen und zur Gestaltung unserer Zukunft. Diese Denkübungen folgen ganz typischen Mustern einer Naturwissenschaftlerin, und ich verwende biologische Begriffe, die zwar historisch belastet, aber dennoch wichtig sind, um die Folgen unserer Handlungen zu erkennen. Zum Beispiel der Begriff »Selektion«: Damit bezeichnet man einen Prozess der Evolution. Der Begriff ist jedoch in der Vergangenheit auch schwer missbraucht worden, und das hatte schreckliche Konsequenzen. Daher ist das Wort heute für viele tabu. Da Selektion aber trotzdem täglich stattfindet, müssen wir achtsam sein und erkennen, was um uns herum passiert.

Jedes Kapitel dieses Buches kann für sich allein in beliebiger Reihenfolge gelesen (oder vorgelesen!) werden. Sie brauchen keine Vorkenntnisse. Wo Sie ein markiertes Wort (→) sehen, können Sie im Glossar erklärende Informationen zum Begriff finden. Da werden Sie vielen meiner Helden begegnen, Menschen, die wichtige gedankliche Beiträge zu meinem Weltbild geliefert haben.

Wissen Sie, worauf ich mich am meisten freue? Aus diesem Buch vorzulesen! Aus meinem ersten Buch »Die Henne und das Ei« habe ich gelernt, wie bereichernd die vielen Lesungen in den kleinen Buchhandlungen sind. Mit ein paar Dutzend Leuten den Abend zu verbringen und ihnen aus dem Buch vorzulesen. Und dann ihre Sichtweise der Dinge zu hören. Zu hören, welche Visionen sie haben und wie wir die Zukunft, unsere Zukunft, die Zukunft von uns Menschen gestalten wollen.

Zu hören, wie wir die Welt retten werden.

KAPITEL 1

Das Höhlengleichnis

Oder: Die Grenzen der Wahrnehmung

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.

→ Immanuel Kant

Das Höhlengleichnis: Menschen sitzen gefangen in einer Höhle, mit dem Rücken zum Eingang. Sie haben das Licht hinter sich. Gegenstände und sich selbst sehen sie niemals direkt, sondern nur als Schatten, reflektiert an der Rückwand der Höhle. Das ist für sie die Realität, daran sind sie gewöhnt. Das ist ihr Horizont, daraus resultiert ihr Weltbild. Einer der Höhlenbewohner schafft es nun, diese Höhle zu verlassen und geht hinaus. Zu Beginn ist er stark vom Licht geblendet, weil es ja etwas ganz Neues für ihn ist. Auf einmal erblickt er Gegenstände. Und durch den Schatten, den diese Gegenstände werfen, erkennt er erst, was ein Schatten ist. Er erkennt zum ersten Mal, was der Gegenstand ist, der den Schatten wirft. Das ist eine existenzielle Erkenntnis, die alles, was er bisher gekannt hat, in Frage stellt. Der Höhlenmensch ist natürlich völlig aufgewühlt, aber auch begeistert von seiner Erkenntnis, und er geht damit zurück in die Höhle. Er will seinen Höhlenmitbewohnern erzählen, was er erlebt hat. Er hat das Bedürfnis, ihnen seine neuen Erkenntnisse mitzuteilen. Er erklärt ihnen, was diese Bilder an der Wand darstellen. Er will ihnen beibringen, was Gegenstände sind, was die Realität ist. Die Höhlenmenschen verstehen ihn nicht, sie halten ihn für verrückt. Sie wollten seine Realität nicht erfahren. Denn sie macht ihnen Angst. Als der Höhlenaussteiger dennoch darauf besteht, ihnen seine neuen Erkenntnisse zu vermitteln, bringen sie ihn um.

Platons → Höhlengleichnis steht für mich am Beginn des philosophischen Denkens. → Sokrates war so einer, der die Höhle verließ und am liebsten auf dem Marktplatz die Menschen mit Fragen nervte. Er lebte seine Philosophie und ist sicher einer der bedeutendsten Philosophen und Höhlenaussteiger. Und er wurde zum Tode verurteilt. → Platon war da schon geschickter: Er gründete seine Akademie, um unter Gleichgesinnten und fern von Höhlenmenschen philosophieren zu können.

Platons Höhlengleichnis ist ein Bild, das den Zustand vieler Menschen beschreibt. Jeder von uns sollte sich öfters und ernstlich die Frage stellen, ob er nicht in einer Höhle hockt. Wahrscheinlich stecken wir immer zeitweise in einer platonischen Höhle. Es geht darum, zu erkennen, wie leicht wir in die Höhlenfalle geraten können. Wie leicht wir getäuscht werden können. Von unseren Sinnen, von unseren Wunschvorstellungen, von dem, was wir allzu oft dogmatisch serviert bekommen, von Werbungen, die uns zu ferngesteuerten → Konsumenten machen können, von Fanatikern und Hasspredigern, die ihre Höhlen verteidigen. Wir haben oft Angst, unser Weltbild auf Höhlenschatten zu überprüfen. Das sollten wir aber unbedingt und regelmäßig tun. Wir mögen es halt nicht so gern, wenn an unserem Weltbild gerüttelt wird. Wir identifizieren uns auch stark damit, es ist eng mit unserer → Identität gekoppelt. Viele Menschen haben Angst vor der Realität und fühlen sich in einer sicheren Schattenwelt geborgen. Und dann gibt es auch noch die Höhlenwächter, die aufpassen, dass niemand die Höhle verlässt und vor allem, dass keine Höhlenaussteiger zurückkommen, um die Höhlenmenschen zu befreien.

In meiner Interpretation des Höhlengleichnisses sind die stärksten Schattenbilder die dogmatischen religiösen Lehren, die geschichtlich, politisch und familiär geschürten Feindbilder, die uns von Kind an begleiten und nicht mehr loslassen. Diese lassen unser Weltbild leicht zu einem Schattenbild werden.

Natürlich besteht immer das Risiko – und es ist sogar sehr wahrscheinlich –, dass das außerhalb der Höhle Gesehene ebenfalls eine Täuschung ist. Es ist ja verdammt schwer, Dinge wirklich zu erkennen, sie als das wahrzunehmen, was sie sind. Aber wer einmal die Freude am Lernen, am Nachdenken und an der Erkenntnis gekostet hat, kommt nur mehr schwer davon los. Obwohl dieses ständige Hinterfragen und Zweifeln ja echt anstrengend ist.

Das Streben nach Erkenntnis ist es, was uns Menschen zu Menschen werden lässt.

Die Erkenntnis der eigenen Existenz. Das Verständnis von Zusammenhängen in der Welt und davon, was sie alles zusammenhält. Dieser Wunsch nach Erkenntnis ist der eigentliche Motor der Wissenschaft. Es gilt stets zu hinterfragen, was man wahr- und annimmt. Da sind wir dann schon bei → Wittgenstein: Welche Aussagen und Annahmen können wir eindeutig machen? Nicht viele. Wir müssen uns immer bewusst sein, dass wir leicht getäuscht werden können. Unsere Sinne lassen sich leicht austricksen, und oft sehen wir nur, was wir sehen wollen. Außerdem müssen unsere Sinne ja erst geschult werden. Erst dann können wir Dinge wahrnehmen, weil wir eher dazu tendieren, das bereits Bekannte, das Gelernte wahrzunehmen. Aber diese Schulung der Sinne wird ja schon wieder die Wahrnehmung in eine Richtung lenken und die Objektivität vermindern! Wie sollen wir unterscheiden können, was Tatsache ist und was nur ein Konstrukt unserer Gedanken? Die Naturwissenschaften haben uns dazu verholfen, dass wir vieles erkannt haben, das auch ohne unsere Gedanken existiert. Dinge, die eben Tatsachen sind, ganz im Sinne Wittgensteins.

Etwas in Frage zu stellen, sollte eine Pflichtübung sein, um seine rationalen Fähigkeiten zu erproben und zu trainieren. So sind auch Gottesbilder zu hinterfragen. Ein dogmatisch eingeprägtes Gottesbild loszuwerden, ist in meinen Augen eine wichtige Voraussetzung, um den Ausstieg aus der Höhle zu schaffen. Man kann natürlich danach darauf zurückkommen, wenn man zur Einsicht gelangt, dass man einen Gott will. Warum ist diese wichtige geistige Übung, die Hinterfragung der Existenz Gottes, die Gotteslästerung, eine strafbare Handlung? Warum erwähne ich das hier? Weil diese jahrhundertelang ausgeübte Gewalt gegen Höhlenaussteiger sich sicherlich evolutionär auf das Verhalten der Menschen ausgewirkt haben muss. Hoffentlich ist diese Prägung nur → epigenetisch! Es ist meine grundsätzlich optimistische Einstellung, die mich dies hoffen lässt. Dann wäre eine solche Formung wahrscheinlich schneller reversibel. Dann wären Schattenbilder leichter wieder zu löschen, als wenn diese Prägung genetisch fixiert worden wäre. Aber das ist noch nicht erforscht.

Der US-amerikanische Genetiker → Dean Hamer hat vor ein paar Jahren die These veröffentlicht, dass es ein Gen gibt, welches einen Einfluss darauf haben könnte, ob ein Mensch religiös veranlagt ist oder nicht. Diese Arbeit ist aber noch nicht von den Spezialisten im Feld anerkannt. Ein über Jahrhunderte dauernder Höhlenaufenthalt führte sicherlich dazu, dass ein Höhlenverhalten als breites menschliches Verhalten evolutionär selektiert wurde, was zur Folge hat, dass Menschen schweigen, sich ducken und sich eher davor fürchten, laut nachzudenken und den herrschenden Dogmen zu widersprechen. Umso mehr schulden wir den Philosophen, die es trotz Gefahren immer und immer wieder gewagt haben, die Höhle zu verlassen, Respekt und Anerkennung.

Ist die Philosophie der letzten zwei Jahrtausende dann überhaupt noch brauchbar und relevant?

Denn die Philosophie war eigentlich (fast) nie frei! Philosophen durften viele Dinge nicht aussprechen, wenn es gegen die Lehren der Staatsreligionen oder der Staatsdogmen verstieß. Sie hatten bis zur Zeit der Aufklärung einen sehr engen gedanklichen Bewegungsraum. Sie mussten immer wieder Bezug zu Gott und zu Herrschern nehmen, um nicht der Häresie, der Ketzerei, verdächtigt zu werden. Auch heute hört man noch oft die Aussage, dass man nicht → Atheist sein könne, weil das auch ein Glaube sei. Eben der Glaube, dass es keinen Gott gibt. Man müsste → Agnostiker sein, also angeben, dass man eben nicht wissen kann, ob Gott existiert. Das lasse ich natürlich als Meinung und Haltung gelten. Aber Gott ist und bleibt ein Mem (siehe Kapitel 7), und es kann nicht Methode der Philosophie oder der Wissenschaft sein, elegante Behauptungen, die man nicht testen kann, in den Raum zu stellen, um dann so zu tun, als hätte man die Wahrheit gefunden, nur weil sie nicht analysierbar ist. Dieses Verhalten führt schnurstracks in eine Sackgasse, in eine Höhle. Und so ein Verhalten schafft nur Scheinprobleme, die es nicht gäbe, wenn sie eben nicht in die Welt gesetzt worden wären. Bleiben wir doch bei der Realität!

Aus diesem Grunde mache ich mir oft Gedanken darüber, inwieweit alte philosophische Konstrukte heute noch brauchbar sind, wenn sie immer im Korsett des Glaubens stattgefunden haben, weil das religiöse Weltbild so dominant war. Weil sie sich viel zu oft mit artifiziellen Scheinproblemen beschäftigt haben und noch immer beschäftigen. Schafft man es überhaupt, Schattenbilder wieder loszuwerden, wenn diese einmal im Gehirn eingeprägt sind und die Vorstellungen über die Welt dominieren? Die Vorstellung, dass man immer beobachtet wird, prägt das Grundverhalten der Menschen! Jeder, dem das christliche Gottesbild eingeprägt wird, lebt das virtuelle → »1984«. Auf einer Mauer in der Wiener Innenstadt habe ich gelesen: »Überwachung ist Unterdrückung«. In der Philosophie und in der Wissenschaft geht es um die Suche nach der Wahrheit und um das menschliche Grundbedürfnis, die Welt zu verstehen – nicht um Macht.

Erfreulicherweise kam im 18. Jahrhundert die Zeit der → Aufklärung. Nach vielen Jahrhunderten der Unterdrückung des Wissens (das Wissen war nur ganz wenigen zugänglich, Bildung war ein Gut für wenige Privilegierte) kam → David Hume und verhalf uns Europäern und vor allem Kant, aus unserem dogmatischen Schlummer zu erwachen. Das 19. Jahrhundert kann wenigstens in Europa als jene Zeit gesehen werden, in der viele Menschen die Höhle verließen. Und auf einmal war es möglich und immer leichter, die Höhle zu verlassen. Die Folgen dieses Höhlenausstiegs waren gewaltig (siehe Kapitel 2).

Es ist eine Tatsache, dass viele Menschen ein geschütztes Höhlendasein führen, darin glücklich sind und dort auch bleiben wollen. Aber warum sind sie so intolerant gegenüber Höhlenaussteigern? Für mich stellt sich auf jeden Fall die Frage, ob es nicht die Pflicht der Menschen ist, sich ein Basiswissen anzueignen – oder mit anderen Worten: Gibt es das Recht auf Nichtwissen? Was sollte jeder Staatsbürger wissen müssen? Demokratie funktioniert nur mit Bildung und mündigen Bürgern, die in der Lage sind, eigene Entscheidungen zu treffen.

Meiner Meinung nach befassen sich unsere modernen Philosophen viel zu wenig mit den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften, der Physik, der Biologie und der Neurowissenschaften. Es gibt viele kritische Stimmen gegenüber diesen Wissenschaften – und das ist gut und auch notwendig –, aber oft ist die → Kritik eine kategorische Ablehnung aufgrund von Bequemlichkeit oder politischem Kalkül. Oft ist die Kritik unberechtigt und basiert auf Unwissen und Ignoranz, auf mangelndem Verständnis der Materie. Angst vor dem Unbekannten spielt hier natürlich auch eine große Rolle. Eine gute Kritik muss aber die gleichen strengen Regeln befolgen wie die wissenschaftlichen Methoden selbst.

Kritik ist die wichtigste Methode der Wissenschaften auf der Suche nach Erkenntnis.

Daher ist es nicht zulässig, dass Glaubensgemeinschaften sich das Recht nehmen, Kritik an ihrer Lehre zu verbieten. Mich wundert es immer, warum manche Gläubige so sensibel sind, wenn man ihren Glauben kritisiert, während sie gar nicht zimperlich dabei sind, Andersgläubige und Ungläubige zu diskriminieren und zu ermorden. Erst durch das harte Training der Kritik gewinnt man Sicherheit. Man kann das eigene Weltbild besser formulieren und man lernt auch andere Weltbilder zu verstehen und zu akzeptieren. Genauso wird Kritik am Glauben diesen selbst stärken, wenn er inhaltlich standhält. Wenn nicht, geht die widerlegte Vorstellung wieder verloren. So funktioniert Evolution.

Natürlich könnte man Erkenntnisse für sich behalten und nicht mit anderen teilen, also mit seinem Wissen alleine bleiben. Dann bringt man sich auch nicht in Gefahr, verfolgt und getötet zu werden – wie einst Philosophen, Ketzer und Hexen. Höhlenaussteiger werden ja oft gesellschaftlich geächtet, weil sie nicht verstanden werden. Wenn man etwas erkannt hat, das die Gesellschaft nicht hören will, wird man schnell zum Außenseiter. Es ist ein sehr mutiger Schritt, die Höhle zu verlassen. Das sagen auch viele Philosophen der Aufklärung: Man braucht sehr viel Mut zur Wahrheit und zum Wissen, weil man sich nicht nur auf unbekanntes Terrain begibt, sondern auch Gefahr läuft, einen Irrweg einzuschlagen. Es ist wahrscheinlich sogar meistens der Fall, dass es ein Irrweg ist, wenn man einen neuen, unerprobten Weg beschreitet. Aber wenn man es nicht ausprobiert, wird man es nie erfahren. Daher muss es immer wagemutige Menschen geben, die auf Abenteuer gehen. Das ist es ja gerade, was den Wissenschaftler und Forscher ausmacht. Was die Evolution unseres Weltbildes möglich macht. Und was den Menschen schließlich zum Menschen gemacht hat.

Wie viele Höhlenaussteiger braucht (oder verträgt) eine Gesellschaft? In jeder Gesellschaft gibt es Regeln, die das Zusammenleben erst möglich machen. Das können Gesetze sein, die auf demokratische Weise entstehen und einen Konsens darstellen, oder eben dogmatische → Gebote, die von einigen wenigen – meist mit Gewalt – anderen aufgezwungen werden. Im Großen und Ganzen halten sich die Menschen daran, wenn diese Regeln als praktikabel, gerecht und fair anerkannt werden. Wenn Gesetze nicht gerecht sind, müssen sie mit der Androhung von Strafe und Gewalt eingefordert werden. Interessanterweise gibt es in jeder Gesellschaft Menschen, die sich nicht an diese normativen Verhaltensregeln halten und diese mehr oder weniger offen bekämpfen. Im Positiven wie im Negativen. Die Verantwortung für eigenständiges Handeln ist oft mit Ungehorsam verbunden. In vielerlei Hinsicht ist Ungehorsam eine Pflicht gegenüber dem Gerechtigkeitssinn. Und diesen gibt es ja in sehr unterschiedlichen Prägungen. Hier ein sehr trauriges Beispiel: der Kopftuchzwang für Frauen. Was soll diese unterdrückende Regel für einen Sinn haben, außer jenen, dass Frauen unsichtbar gemacht und unterdrückt werden? Und diese sinnleere Regel gibt es schon etliche tausend Jahre, man kann darüber bereits im → Gilgamesch-Epos nachlesen. Eine der allerältesten schriftlichen Überlieferungen menschlicher Kultur beinhaltet eine Szene, in der → Königin Ischtar klagt, dass man sie für die Sintflut verantwortlich macht, da sie ihren Schleier nicht getragen hat. Können Sie sich das vorstellen? Diesen Schwachsinn gibt es schon seit 4000 Jahren! An diesem Beispiel erkennen wir, wie weit die Menschheit noch in der Höhle steckt. In einer sehr tiefen und finsteren Höhle. Der Schleier ist eine mit Gewalt aufgezwungene Höhle, welche die Wahrnehmungsfähigkeit stark beeinträchtigt.

Ich kann mir schon denken, warum es bei Männern dieses Bedürfnis gibt, ihre Frauen zu verstecken: damit kein fremder Mann sie befruchtet. Denn dann würde er ja fremde Gene aufziehen und seine Ressourcen zum Erfolg eines anderen Mannes vergeuden. Das macht evolutionär eindeutig Sinn. Aber: Im 21. Jahrhundert gibt es die → Gentechnik, und jeder Vater könnte eindeutig wissen, ob er der genetische Vater seines Kindes ist. Wenn es ihm wichtig ist. Frauen müssen sich also in Zukunft einfach offen dazu bekennen, wenn sie Kinder von verschiedenen Vätern haben wollen. Und in unserer aufgeklärten Gesellschaft ist das ja auch möglich.

Spannend ist nämlich die Tatsache, dass es sowohl im Tierreich als auch bei Menschen doch viele gibt, die ungehorsam sind. Laut einigen Untersuchungen sind 10 bis 20 Prozent aller Kinder nicht vom angegebenen Vater. Hier gibt es einen weiblichen Ungehorsam, der Frauen und Tierweibchen dazu veranlasst, von mehr als nur einem Männchen Nachwuchs zu bekommen. Und das ist in evolutionärer Hinsicht durchaus sinnvoll! Denn es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ein »Superkind« mit guten Genen entsteht. Blaumeisen-Weibchen etwa suchen sich einen soliden Nestbauer zur Aufzucht ihrer Nachkommen – und zur Befruchtung besonders fitte Männchen. Die Nachkommen, die nicht vom Nestbauer sind (der das Meisenweibchen nach dem Fremdgehen mit Flügelschlägen bestraft), sind fitter und haben eine höhere Chance, den ersten Winter zu überleben. Ist das eine Erklärung, warum heute, wo die Partnerwahl liberaler geworden ist, Patchwork-Familien entstehen? Vielleicht sind diese fitter! Wer weiß, was wir eines Tages noch alles entdecken werden.

Die Frage ist nun: Ist dieses Verhalten gegen die Regeln der Gesellschaft eine freie rationale Entscheidung, oder ist es in unseren Genen eingeprägt, weil es sich evolutionär bewährt hat? Es könnte leicht sein, dass ein gewisses Maß an Ungehorsam, eine bestimmte Anzahl an Höhlenaussteigern, für die Entwicklung und den Erfolg einer Gesellschaft notwendig war und weiterhin ist. Und daher hat sich dieses Verhalten entwickelt und trotz vieler Risiken evolutionär angereichert.

Was können wir als gesichertes Wissen betrachten?

Wenn wir unsere Zukunft gestalten wollen (und müssen), dann sollten wir uns auf möglichst gut gesichertes Wissen verlassen können.

Die wissenschaftliche Methode ist, möglichst sinnesunabhängig und wiederholbar Fakten zu bestimmen. → Experimente zu machen, sie zu wiederholen. Dann wiederholt sie jemand anderer mit einer anderen Methode. So lange, bis man sagen kann, dass eine Aussage unter definierten Bedingungen korrekt ist. Sodass man Voraussagen machen kann, die dann auch zutreffen. So wird zum Beispiel die Wettervorhersage immer besser, je besser wir verstehen, wie Wetter entsteht. Diese Erkenntnisse sollen dann möglichst unabhängig von einer potenziellen Sinnestäuschung sein. Wir versuchen, objektiv zu messen, um den irrationalen Faktor möglichst gering zu halten.