Buch
In Jahrtausenden Schicht um Schicht erbaut, ist die Stadt ein gewaltiges Gebilde. Im Laufe der Zeit hat sie ihren Einflussbereich immer mehr vergrößert und führt nie endende Kriege mit benachbarten Völkern und Königreichen. Dabei ist eine riesige Ödnis entstanden, wo sich einst grünes und fruchtbares Land erstreckte. Und im Herzen der Stadt residiert der Imperator. Nur wenige haben ihn je zu Gesicht bekommen. Sie berichten von einem Mann in der Blüte seiner Jahre, obwohl er bereits sehr alt sein muss. Einige wundern sich, ob er wohl noch immer menschlich ist, andere fragen sich, ob er das jemals wirklich war. Und so mancher glaubt, dass das sinnlose Schlachten und Morden nur dann endlich enden kann, wenn das unnatürlich lange Leben das Imperators endet. Von den modernden, durch Fluten ruinierten Katakomben unter der Stadt bis zu den blutgetränkten Schlachtfeldern, auf denen nur noch wenige Helden überlebt haben, richtet sich alle Hoffnung auf einen einzelnen Mann. Einen Mann, der einst der erste General des Imperators war. Ein von allen verehrter Soldat, der den Aufstand anführen und die Menschen der Stadt hinter sich vereinigen könnte. Ein Mann, der verraten, inhaftiert und gefoltert wurde und der einem hartnäckigen Gerücht zufolge nicht mehr am Leben sein soll …
Autor
Stella Gemmell hält Abschlüsse in Politikwissenschaften und Journalismus. Sie ist die Witwe des international sehr erfolgreichen Fantasyautors David Gemmell. Sie arbeiteten gemeinsam an der Troja-Trilogie, deren letzten Band sie nach David Gemmells Tod im Jahre 2006 zu Ende schrieb. Stella Gemmell lebt und arbeitet in einem alten Pfarrhaus in East Sussex. Der Moloch ist ihr erstes eigenes Romanprojekt.
Weitere Bände in Vorbereitung
STELLA GEMMELL
Roman
Aus dem Englischen
von Wolfgang Thon
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The City«
bei Bantam Press, London.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe März 2014 bei Blanvalet, einem Unternehmen
der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © 2013 by Stella Gemmell
Published in agreement with the author, c/o Baror
International Inc., Armonk, New York, USA
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014
by Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft, München
Umschlagillustration: © Isabelle Hirtz unter
Verwendung einer Fotografie von Olga Kessler
Redaktion: Sigrun Zühlke
UH · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-10171-8
www.blanvalet.de
Für David –
selbstverständlich.
Teil eins – DAS TIEFSTE DUNKEL
1
Am Anfang war die Dunkelheit … schwer und erdrückend, blauschwarz und fühlbar erfüllte sie Mund, Ohren und Verstand. Dann kam der Geruch … gewaltig und so massiv wie harter Stein unter nackten Füßen oder ein Kissen über dem Gesicht, das jeden Gedanken erstickt. Schließlich das Geräusch der Kanäle … das niemals endende Seufzen des Stroms, das Tropfen, das Platschen und das Rauschen.
Und das Klicken scharfer Krallen auf nassen Ziegeln.
Die Ratte war groß, alt und gerissen. Sie brauchte kein Licht, um den Konturen des Labyrinths zu folgen, in denen sie ihre Tage verbrachte. Ihre Krallen registrierten selbst die kleinsten Unterschiede in der Beschaffenheit der Ziegelsteine, über die sie lief, hoch über dem nie endenden Strom des Lebens. Die erstaunliche Wahrnehmungsfähigkeit ihrer zuckenden Nase sagte ihr, wie hoch das Wasser floss, erzählte ihr etwas über die Qualität seines Inhaltes, die obere, dünne Brühe, in der Pflanzen, kleine tote Dinge und manchmal auch größere schwammen, und darunter die dickere Flüssigkeit, die ihre eigenen Herausforderungen für einen kritischen Nager barg. Außerdem sagte ihre Nase ihr auch etwas über die Luftqualität, die manchmal so schlecht war, dass selbst eine Ratte krank davon wurde. Sie spürte am Druck auf ihren empfindlichen Ohren, ob sie durch einen kleinen, engen Gang lief oder ob sich die Decke hoch über ihr zu einem gewaltigen Gewölbe erhob, das von einem schon lange vergessenen meisterhaften Architekten ersonnen und von einer Gruppe von Stadtbaumeistern errichtet worden war. Ein Wunder der Statik, das seit Jahrhunderten niemand mehr zu Gesicht bekommen hatte und das inzwischen vollkommen vergessen war.
Die Ratte hörte das Trippeln ihrer Freunde auf der anderen Seite der Ziegelmauer, der sie folgte und die durch den nächsten, feuchten Tunnel über ihm führte. Aber für eine Weile hatte sie alle abgehängt, während sie der gnadenlosen Forderung ihrer Nase folgte.
Der Leichnam war kaum aufgebläht, gerade erst tot. Selbst die Totenstarre war erst vor kurzem gewichen. Er war nackt bis auf einen Tuchfetzen, der um seinen Hals im Wasser trieb. Die Haut war so blass und so kalt wie ein Sonnenaufgang im Winter. Er hatte sich in den zerkratzten Stäben eines zerbrochenen Metallgitters verhakt, das für eine kurze Zeit erneut die schon lange aufgegebene Aufgabe wieder übernommen hatte, größere Objekte daran zu hindern, weiter flussabwärts in die unergründlichen Tiefen des Abwasserkanals zu treiben.
Später am Tag würde die Strömung stärker werden, und der Tote würde allein weiterreisen – jetzt aber leistete die Ratte ihm eine Weile Gesellschaft.
Der Junge fuhr hoch, dort auf dem winzigen Vorsprung, wo er schlief. Er trat aus. Dieser Tritt musste entweder eine unwillkürliche Muskelaktivität oder aber das Ende eines schlechten Traums gewesen sein, denn es war nur eine sehr kleine Bewegung. Er schlief jetzt lange genug auf diesem Vorsprung, um selbst im Schlaf zu wissen, dass er sich keine plötzlichen Bewegungen leisten konnte, ganz zu schweigen davon, sich schläfrig auf die andere Seite zu drehen, denn damit wäre er in den Kanal gestürzt, in dem das Abwasser unaufhörlich unter ihm entlangfloss. Aber wenn er sich nachts zur Ruhe legte, war er immer hundemüde, so gut wie tot, jedenfalls für die Welt über ihm, und er lag da, ohne sich zu rühren, bewusstlos, bis es Zeit wurde aufzuwachen.
Elija lebte seit vier Jahren in der Kanalisation und war zehn Jahre alt.
Er wusste, wie privilegiert seine Lage war. Als er mit seiner Schwester dort Zuflucht gesucht hatte, hatte ihr Beschützer, ein älterer Junge, ein Rotschopf namens Rubin, für ihr Recht kämpfen müssen, an diesem warmen und sicheren Ort bleiben zu dürfen. Auch danach hatte einer von ihnen zahllose Nächte lang Wache halten müssen, damit sie nicht von denen in die Kanalisation gestoßen wurden, die ihnen ihr Territorium neideten. Aber das war schon sehr lange her. Seine kleine Schwester Emly konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern. Jetzt lebten sie schon weit länger in den Abwasserkanälen als die meisten anderen Kloaker, und zurzeit waren sie in Sicherheit.
Elija bewegte sich vorsichtig und ertastete mit dem nackten Fuß die unterschiedliche Beschaffenheit der Ziegelsteine, bis er auf ein Stück bröckelnden Zement stieß, dessen Umrisse er besser kannte als seine Handfläche. Er setzte sich vorsichtig auf. Fahles Licht fiel durch die zerbrochenen Mauern hoch oben in der Decke. Es erhellte den Raum zwar nicht genug, um etwas erkennen zu können, aber es ließ die Staubflocken schimmern, als könne Elija sie mit der Hand fangen und ihr Licht festhalten für später, weiter unten in der Kanalisation, wo er sie vielleicht brauchen konnte.
Seine Erinnerungen bestanden hauptsächlich aus Bildern einer weinenden Frau und eines brutalen Mannes, der ständig die Fäuste hob und dessen Gesicht rot angelaufen war. Dann war da die Zeit, in der er mit Emly allein war, ständig auf der Flucht von einem Versteck zum anderen und immer voller Angst. In seinen Träumen tauchte oft Blut auf, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte. Die Furcht lauerte am Rand seines Bewusstseins, aber er hatte keine Bilder davon; er war einfach nur froh, in Sicherheit zu sein.
Rubin hatte ihnen den Strom erklärt. Es war ein kleiner Fluss, der hoch über der Stadt im Süden entsprang, in blauen Hügeln zwischen silbernen Bäumen unter einer ständig scheinenden Sonne. Dort nannte man ihn den Schaffluss. Viele Wegstunden vor der Stadt verschwand er unter der Erde und legte seine neue Verkleidung als Abwasserkanal an. Ziegen tauchten als Letzte ihre Füße hinein, bevor er für immer das Tageslicht hinter sich ließ.
Es wurde jetzt heller. Elija hatte seine Schwester wahrgenommen, seit er wach geworden war, jetzt jedoch drehte er sich behutsam herum und sah ihren dunkelhaarigen Kopf über dem zusammengekauerten Leib.
»Wach auf, Schlafmütze«, sagte er leise, ohne sie eigentlich wecken zu wollen. Sie brauchte mehr Schlaf als er. Sie rührte sich nicht, obwohl er die Geräusche der Kloaker hörte, die sich um sie herum für einen weiteren Tag in der Dunkelheit fertig machten. Sie wachten auf, tauschten gelegentlich Worte aus, und ab und zu schrie jemand oder verfluchte die Götter der Hallen.
Elija stand auf und pinkelte in den Strom, der jetzt etwa mannshoch unter seinem Vorsprung vorbeifloss. Trittsicher ging er über den schmalen Vorsprung und hob den kleinen Beutel mit Habseligkeiten auf, der nachts zwischen ihm und Emly lag. Er setzte sich, machte ihn auf und nahm das kostbare Stück Saphirmoos heraus, das sie auf der anderen Seite des Gierwehrs gefunden hatten. Es roch immer noch frisch, und er riss ein Stück ab. Dann rieb er sich damit über das Gesicht und die Hände und genoss die flüchtige Süße. Rubin hatte ihm gesagt, dass man diesen Geruch Zitrone nannte. Er sollte es eigentlich auch an seinen Füßen verwenden, gegen die Fußfäule, die so viele Kloaker befiel. Aber sie hatten nur noch so wenig übrig, und er wollte es nicht für seine Füße verschwenden. Aber er würde dafür sorgen, dass Emly es benutzte.
Nachdem er sich die Hände gesäubert hatte, wühlte er erneut in dem Beutel herum und fand schließlich die Streifen Trockenfleisch, die er vom Alten Hal gekauft hatte. Er kaute langsam und gründlich und ertrug dabei stoisch die vertrauten Bauchkrämpfe, bis sie allmählich nachließen.
»Wach auf, Emly«, rief er erneut. »Zeit fürs Essen.«
Er stieß sie sanft mit dem Fuß an und wusste, dass sie wach war, obwohl sie sich nicht rührte. Dann nahm er aus dem Sack, den er als Kissen benutzte, die Lumpen für seine Füße. Er wickelte sie sorgfältig um Knöchel und Absatz, wiederholte es, bis er zufrieden war, er achtete besonders auf die Knöchel, den Spann und die Zehen. In seiner Zeit in den Hallen hatte er viele Leute kennengelernt, die bereits tot waren. Und viele waren an Krankheiten gestorben, die an ihren Füßen begonnen hatten.
Endlich rührte Emly sich, stand auf und absolvierte schlaftrunken ihre eigenen morgendlichen Rituale. Ihr Bruder sprach sie nicht an und richtete seinen Blick auf die fernen Wände und konzentrierte sich dabei auf die Bewegungen der anderen Kloaker, um ihre Privatsphäre zu achten.
Es war jetzt so hell geworden, wie es überhaupt werden konnte. In der gewölbten Kuppel über ihm schwebte ein silberner Nebel, der niemals ganz verschwand, sich aber manchmal ausdünnte und in Wolkenfetzen durch die Luft trieb. Hunderte von Vorsprüngen säumten die gewölbten Wände. Die meisten befanden sich über dem Vorsprung von Elija, waren unerreichbar und nicht bewohnt. Die Kloaker nannten diesen Ort die Halle des Blauen Lichts. Elija und Emly nannten sie ihr Heim.
Am Fuß dieser Kuppel strömten Flüsse durch drei Ziegelbogen und trafen sich in der Mitte in einem Mahlstrom aus Wasser. Sie flossen durch einen pechschwarzen Schlund zum gefährlichen Gierwehr, dem kleinen Hellespont, dem Düsteren Wasser und schließlich in den unzählige Wegstunden entfernten Ozean.
Beim Klang der barschen Stimme hinter ihm sprang Elija rasch auf.
»Lija, Emly. Wir gehen.«
Der neue Tag begann.
Der Anführer des heutigen Suchtrupps hieß Malvenny. Er war groß, was in den Hallen von Nachteil war, hatte ein langes, dünnes Gesicht und eine schiefe Hakennase. Emly behauptete, er hätte grüne Augen. Er besaß die unangenehme Gewohnheit, den Leuten direkt ins Gesicht zu sehen, während Elija Malvenny stets auf die Brust blickte, wenn er mit ihm sprach.
Er folgte dem Mann unmittelbar auf dem Fuß, Emly rechts an seiner Seite, und hielt sich im flackernden Licht von Malvennys Fackel. Sie waren zu siebt und nur der Heimleuchter am Schluss hatte ebenfalls eine Fackel. Natürlich hatten sie viele Fackeln dabei, aber in den belebten Hallen machten sie nur sparsam davon Gebrauch.
Der Marsch zum Gierwehr dauerte mehr als eine Stunde, und von dort brauchten sie noch länger bis zu ihren Suchgründen. Malvenny hatte ihnen nicht gesagt, wohin sie gehen würden, das war sein Vorrecht. Er war der Anführer, und er hatte die Lebensmittel. Aber Elija wusste, dass sie dichter am Wehr weniger finden würden. Er vertraute Malvenny. Elija ging zuversichtlich durch die Dunkelheit, während er Emlys kleine Füße betrachtete und ihre heiße Hand in seiner spürte.
Sie erreichten Missetäters Kreuz, eine feste Brücke aus geteerten Tauen und Planken, die zum Hauptkanal führte. Sie überquerten sie, wie Rubin immer gesagt hatte, mit Respekt.
Und wie immer blieb Elija einen Moment in der Mitte stehen, beugte sich über die dicken Taue und blickte hinab in den Wohinnergeht, einen Seitenarm des Hauptstroms, der, das wussten sie alle, kurz nach der Brücke tief in ein riesiges Loch in die Eingeweide der Erde hinabstürzte. Niemand wagte sich in den Wohinnergeht-Tunnel. Er führte nur in die Dunkelheit und in den Tod.
»Geh weiter, Junge!«, sagte jemand barsch hinter ihm. Es war der Letzte der Gruppe.
Elija sah beim Gehen auf seine Füße und dachte über Essen nach, was er immer tat, wenn ihn nicht gerade etwas anderes beschäftigte. Er überlegte, was Malvenny dabeihaben könnte. Maisfladen und Dörrfleisch, vielleicht sogar getrocknete Früchte, wenn sie Glück hatten. Einmal hatte der große Mann ihnen sogar Eier gegeben, steinhart und in würzigen Essig eingelegt. Sie waren alle darüber hergefallen, entzückt über diese Abwechslung beim Essen. Heute jedoch sah Malvennys Beutel traurig dünn aus.
Am letzten Redepunkt legten sie eine Pause ein. Dahinter machte das ohrenbetäubende Brausen des Gierwehres jedes Gespräch unmöglich. Sie setzten sich, und Malvenny nahm den Beutel von der Schulter. Er verteilte frisches Wasser und dünne Weizenfladen. Alle verschlangen die Fladen schweigend. Elija spürte, wie sein Magen das Essen aufnahm und rieb sanft Emlys Rücken, während sie ihren Weizenfladen aß.
Dann verstaute Malvenny seinen Becher wieder im Beutel, räusperte sich und spuckte in den Fluss. »Wir gehen zu den Westlichen Gestaden.« Die anderen akzeptierten diese Mitteilung kommentarlos, abgesehen von dem Mann mit der barschen Stimme. Er war ein Neuling, dessen Name Elija nicht kannte.
»Wo ist das, Mann? Wie weit ist es bis dahin?«
»Es ist ein weiter Weg. Aber dort gibt es gute Funde, manchmal sogar richtige Schätze.«
»Wie weit ist weit?«
»Wir überqueren das Gierwehr«, erklärte Malvenny, »dann gehen wir durch die nächste Halle hinauf zur anderen Seite. Es ist eine lange Steigung, aber dort ist es trocken.« Er wühlte erneut in seinem Beutel, als wolle er weitere Fragen unterbinden.
Er hatte die Wahrheit gesagt. Die Gestade stiegen tatsächlich lange an, dann fielen sie wieder ab. Aus diesem Grund war es dort häufig erheblich trockener als an anderen Orten, und man fand schneller Dinge. Sogar Schätze, genau wie Malvenny gesagt hatte. Emly hatte irgendwann dort eine Silbermünze und eine Scherbe gelbes Glas gefunden. Aber ebenso stimmte es, dass es dort gefährlicher war. Wenn eine Flut kam, ausgelöst durch einen starken Regensturm in der fernen Außenwelt, dann wurden die Westlichen Gestade zur Falle. Bevor irgendein Kloaker überhaupt bemerkte, dass das Wasser stieg, war es bereits zu spät.
Der barsche Mann, der sich jetzt Bartellus nannte, hatte in der Welt oben viele Namen gehabt. Die Welt hatte ihn Shuskara genannt. Sie hatte ihn Vater und Sohn genannt, Gemahl und General. Sie hatte ihn Verbrecher und Verräter geschimpft. Jetzt nannte man ihn verstorben.
Er war selbst der Meinung, dass die Welt damit vermutlich sogar Recht hatte, als er diesen beiden schmutzigen Kindern über einen schmalen, schlüpfrigen Vorsprung durch die Dunkelheit der Abwasserkanäle tief unter der Cité folgte. Der Junge hielt die Hand des Mädchens fest, aber sie ging auf der Seite des Vorsprungs, die zum Abwasserkanal lag, und Bartellus beobachtete besorgt, wie ihre Schritte sich immer wieder dem Rand zum Fluss näherten, bevor sie wieder sicheres Terrain betrat. Er wusste nicht genau, ob der schmächtige kleine Junge die Kraft hätte, sie zu halten, wenn sie abrutschten und stürzen würden. Er wusste nicht einmal, ob er selbst das vermocht hätte.
Der Verschleiß unter den Soldaten dieses Molochs von Cité durch ihren endlosen Krieg mit der Welt außerhalb der Mauern war so hoch, dass die Geburtenrate ins Bodenlose fiel. Kinder wurden ein immer seltenerer Anblick. Deshalb sollte eigentlich jedes Kind kostbar sein, dachte der alte Mann, wie ein Juwel beschützt, behütet und versorgt werden. Kein Kind sollte einfach achtlos weggeworfen, in die Kanalisation gespült oder der Willkür böser Menschen überlassen werden. Unwillkürlich legte er die Hand auf die Brust zu einem Gebet, in dem er die Götter von Eis und Feuer anflehte, auf zwei so kleine Kinder an diesem schrecklichen Ort aufzupassen.
Elija mochte das Gierwehr nicht; es war gefährlich, es zu überqueren, es war so laut, dass es einem das Hirn lähmte, und der Gestank war noch schlimmer als irgendwo sonst in den Hallen, falls das überhaupt möglich war. Aber es beruhigte ihn. Es war ein Fixpunkt in seiner Welt. Von diesem monströsen Bauwerk aus wurden die Entfernungen zu allen anderen Orten unterhalb des Molochs gemessen. Wo auch immer er in seiner Zeit als Kloaker gewesen war, hatte er die Kakophonie des Wehrs hören können und hatte stets genau gewusst, wie weit er sich von zu Hause entfernt hatte. Elija wusste, dass er sich in den Hallen niemals verirren würde, eben wegen dieses Wehrs. Er ging niemals irgendwohin, es sei denn als Mitglied eines Suchtrupps, also würde er sich ohnehin nicht verirren. Er konnte ertrinken, gewiss, von einer Flut überrascht werden, beim Einsturz einer Decke zerschmettert oder von einer Bande Plünderer wegen irgendwelcher Fundsachen ermordet werden, von den Patrouillen des Kaisers getötet werden, aber er würde sich nicht einfach so verirren. Expeditionen verirrten sich ebenfalls nie, schon gar nicht solche, die von Malvenny angeführt worden.
Das Gierwehr war ein riesiges Wehr aus Holz und Metall. Überall tropfte Wasser, und es war schlüpfrig von Algen. Es erhob sich höher als drei Männer über das Sims, über das sie gingen, und erstreckte sich quer über den ganzen Strom. Der maß an diesem Punkt mehr als dreißig Spannen. Elija konnte kaum die andere Seite erkennen. Heute herrschte Hochwasser, deshalb konnte er auch die zwanzig großen Walzen nicht sehen, die die Mechanik des Wehrs ausmachten. Aber sie befanden sich nicht weit unter der Wasseroberfläche; das Wasser rauschte, schäumte und toste. Die Walzen saugten den Strom auf der Südseite an und pulverisierten in ihrem Mahlwerk alles, was darin schwamm. Dann spien sie es weiter unten wieder aus. Hoch oben links und rechts neben dem Wehr saßen einfache Filter, die es dem Strom erlaubten, einfach weiterzufließen, falls die Flut zu hoch stieg.
Im Licht der Fackeln sah Elija, dass der Neue seine Hände auf die Ohren gelegt hatte. »Du gewöhnst dich daran«, sagte Elija. Er wusste, dass er ihn nicht hören konnte, aber trotzdem würde der Mann begreifen, was er gesagt hatte. Man hörte diese Worte täglich in den Hallen. Du gewöhnst dich daran.
Das Gierwehr zu überwinden war nicht gefährlicher als die meisten Erkundungsgänge in den Hallen. Ein Holzsteg überspannte das Gebilde etwa mannshoch unterhalb der Spitze. Man erreichte den Steg auf beiden Seiten über eine Wendeltreppe. Das Holz war schlüpfrig von Wasser, Rattenkot und den fahlen, unheimlichen Pflanzen, die rätselhafterweise in Finsternis und Feuchtigkeit gediehen. Man musste sehr vorsichtig gehen. Elija hatte einmal gesehen, wie eine Frau oben vom Gierwehr gestürzt war. Es war ein schrecklicher Tod, aber ein schneller. Man wurde innerhalb von wenigen Augenblicken zwischen den Walzen zerquetscht. Elija hatte nicht die Absicht zu stürzen.
Eine kleine Hand zupfte an seinem Ärmel. Als er sich umdrehte, sah er, wie Emly zum Wehr hochblickte. Sie hatte ein seltenes Lächeln auf ihrem herzförmigen Gesicht. Dann sah Elija, worauf sie blickte.
Es war ein Gulon, ein seltener Anblick so tief unten in den Hallen. Die Kreatur schlenderte gelassen über den oberen Rand des Wehrs, blieb stehen und blickte zu ihnen herunter, schnüffelte dann und ging weiter, den Schwanz hoch erhoben. Die kleine Gruppe beobachtete die Kreatur, als sie das Ende des Wehrs erreichte und dann geschmeidig die Stufen hinabging. Es war ein großes Tier, so groß wie ein Schwein und so dunkel wie die Hallen selbst. Es hatte eine spitze Schnauze mit einem Schnauzbart, faltige Ohren und gelbe Augen. Sein Gesicht war scharf wie das eines Fuchses, aber sein Körper war so anmutig wie der einer Katze. Dann setzte es sich hin, schlang seinen buschigen Schweif fein ordentlich um seine Pfoten und starrte sie an.
Emly lief zu ihm und hockte sich vor dem Tier hin, eine schmutzige Hand ausgestreckt. Der Gulon stand auf und trat zwei Schritte zurück; dann streckte er den Hals vor, zischte und zeigte kräftige, gelbe Zähne. Elija wollte gerade sagen, sie solle dem Tier nicht zu nahe kommen, denn man konnte hier unten schon an einem Kratzer sterben, aber in dem Moment trat der grauhaarige Neue vor, packte das kleine Mädchen und setzte es neben Elija wieder ab. Emly hatte sich erschreckt und schien in Tränen ausbrechen zu wollen, doch dann legte sich der schon vertraute Ausdruck müder Resignation auf ihr Gesicht. Sie hielt die Hand ihres Bruders fest, als die Gruppe einen weiten Bogen um die Kreatur schlug, die sie beobachtete und die Wendeltreppe hinaufstieg.
Der Gulon setzte sich in eine schlammige Pfütze und begann anmutig, seine Pfoten zu lecken.
Die kleine Gruppe war fast drei Meilen von dem Gierwehr entfernt, bevor der Lärm seiner Mechanik so weit gedämpft war, dass eine Unterhaltung möglich war. Der Weg führte bergauf und Malvenny gab den anderen das Zeichen anzuhalten, indem er seine Fackel hob. Dankbar blieben sie stehen und wollten sich gerade hinsetzen, als Emly zum Rand des Vorsprungs trat und über den Fluss starrte. Dann drehte sie sich zu ihrem Bruder herum und zupfte an seinem Ärmel, während sie auf die andere Seite zeigte.
Bartellus hob die Fackeln hoch und spähte durch die dunstige Luft. Er glaubte, stromaufwärts etwas Helles entdecken zu können. Er ließ die Fackel sinken und blinzelte, während er die Augen bewegte, um sie wieder zu fokussieren.
»Ein Leichnam«, bemerkte ein buckliger alter Kloaker. Er klang erleichtert. »Ja, das ist ein Leichnam.« Er nickte und sah sich nach Zustimmung heischend in der Gruppe um.
Bartellus kniff erneut die Augen zusammen, aber er konnte kaum erkennen, was Emlys junge Augen und die uralten Augen des Veteranen sofort erfasst hatten. Auf der anderen Seite des Stroms mündete aus einem pechschwarzen Tunnel ein weiterer, kleinerer Fluss in den Strom. An der Einmündung befand sich ein Gitter, das in zwei Hälften zerbrochen war, wovon eine nach außen gefallen war. Dazwischen klemmte eine Leiche. Bartellus konnte nichts Genaueres erkennen bis auf einen Arm, möglicherweise auch ein Bein, das ausgestreckt war und immer wieder aus dem Wasser auftauchte und verschwand.
»Gut«, erklärte Malvenny. »Da gibt es sicher was zu finden.« Er betrachtete die Mitglieder seiner Gruppe. »Du, Neuer, du kommst mit.« Er nickte. »Die anderen bleiben hier.« Er ging los, ohne sich auch nur umzusehen.
Bartellus wollte ihm folgen, drehte sich dann jedoch um, als er bemerkte, dass sie beide Fackeln mitnehmen würden, und drückte seine Fackel Anny-Mae in die Hand. Als er sich wieder umdrehte, war Malvenny bereits weit voraus, nur noch ein hüpfender Lichtpunkt in der Dunkelheit. Bartellus holte ihn ein, und sie gingen weiter, bis dem Neuen allmählich Zweifel kamen, ob der Anführer wusste, wohin er ging. Er zweifelte nicht an dem möglichen Wert einer Leiche in den Hallen. Wo bereits ein kupferner Fünfer zu einem Kampf auf Leben und Tod führen konnte, war die Chance, einen Goldzahn zu finden oder vielleicht sogar mehrere, ein beträchtliches Risiko wert.
Sie gelangten an eine Furt im Fluss, wo ein mächtiger Erdrutsch den Tunnel eingedrückt hatte. Deshalb hatten sich die beiden Seiten des Flusses angenähert. Man könnte leicht über den Spalt springen, dachte er. Mit Leichtigkeit, wenn es nicht so dunkel, so nass und so glitschig gewesen wäre. Denn wenn man ausrutschte bedeutete das einen grauenvollen Tod.
Malvenny gab ihm die Fackel, nahm drei Schritte Anlauf und sprang über den Spalt. Er landete auf festem Boden und hielt perfekt die Balance. Dann drehte er sich zu Bartellus herum und bedeutete ihm, ihm die Fackel zuzuwerfen. Bartellus warf sie vorsichtig hinüber und der Anführer fing sie geschickt auf. Dann trat er zurück.
Bartellus verdrängte das Bild des Abwasserflusses unter seinen Füßen und ersetzte es in seinem Verstand durch das eines saftig grünen Rasens. Er sprang geschickt hinüber, und als er landete, hatte sich Malvenny bereits umgedreht und ging stromaufwärts zurück.
Es war die Leiche eines Mannes. Der Kadaver war bereits aufgebläht, also konnte man schwer sagen, ob er fett oder dünn gewesen war. Sein Kopf war rasiert und die Haut mit blassblauen und grünen Tätowierungen geschmückt. Er war nackt. Ein armseliger Tuchfetzen hing noch um seinen Hals. Bartellus sah, dass sich schon Ratten über ihn hergemacht hatten.
Malvenny warf einen Blick durch das zerbrochene Gitter und ging neben dem Kopf des Toten in die Knie, sodass ihm das Wasser bis zur Hüfte reichte. Er öffnete den Mund der Leiche und warf einen kurzen Blick hinein. Dann richtete er sich wieder auf. »Die Zunge ist herausgeschnitten. Kein Gold.« Er spuckte angewidert in den Fluss. »Gehen wir.«
Bartellus betrachtete die Leiche. Es war ihr Arm, der, leichter als der Rest, in dem strömenden Wasser schwebte und in Richtung ihrer kleinen Gruppe winkte, die, wie Bartellus jetzt sehen konnte, sich auf der anderen Seite des Stroms versammelt hatte. Die Tätowierungen auf der Brust und dem Rücken waren verblasst, ebenso wie die Farbe der Haut bleicher geworden war, bis sie fast wie Zeichnungen auf einer Karte aussahen, einer Kriegskarte, wenn auch aus einem der älteren Feldzüge.
Gerade als sich Malvenny wieder durch das Gitter zwängen und herauskommen wollte, trat Bartellus vor und quetschte sich hindurch. Er zwang den Anführer, ihm Platz zu machen.
Tätowierungen waren nichts Ungewöhnliches, schon gar nicht unter Soldaten. Einige hatten sich Bilder von Spinnen oder Panther tätowieren lassen. Es war eine Art Stammeszeichen. Dieser Mann hier war ein wandelndes Bilderbuch. Sein Oberkörper war mit Vögeln und Tieren und geheimnisvollen Zeichen bedeckt. Sogar auf der Kopfhaut hatte er Tätowierungen. Bartellus sah, dass das Haar des Mannes begonnen hatte, in dichten Stoppeln nachzuwachsen.
»Gib mir die Fackel.« Er hob die Hand.
»Wir müssen weitergehen«, erwiderte Malvenny nur.
Bartellus hob den Blick. »Die Fackel!«
Malvenny zögerte. Er war schon länger Kloaker, als er zählen konnte, und er kannte die Bewegungen des Stroms und die Flutzeiten besser als jeder andere. Selbst ohne Uhr oder Kompass konnte er den Marsch zu den Westlichen Gestaden und zurück präzise kalkulieren. Wenn er sagte, es wurde Zeit weiterzugehen, dann war es das auch.
Aber ihm war ebenfalls klar, dass dieser wortkarge Neuling ihm das Genick brechen konnte, wenn er sich weigerte. Er war sehr erfahren und pragmatisch und reichte dem anderen die Fackel. Er sah zu, wie der ältere Mann sich erneut zu dem Leichnam hinabbeugte.
Hoch auf der rechten Schulter des Mannes saß eine alte, weiße, s-förmige Narbe. Etwas regte sich in Bartellus’ Gedächtnis. Er betrachtete sie stirnrunzelnd.
»Zeit weiterzugehen«, sagte die Stimme hinter ihm.
Ein Brandzeichen, begriff Bartellus. Die Erinnerung regte sich erneut und verschwand, ohne dass er sie hätte fassen können. Sein Gedächtnis war mittlerweile sehr lückenhaft. Es bereitete ihm Sorgen, dass ganze Episoden seiner Vergangenheit in diesen Lücken verschwunden waren. Der alte Soldat wühlte in dem Beutel an seiner Hüfte und nahm ein kleines, scharfes Messer heraus. Dann blickte er hoch. »Kommen wir auf diesem Weg zurück?«
»So Gott will.«
Bartellus zögerte einen Moment unsicher, verstaute dann das Messer wieder und richtete sich auf. Er warf noch einmal einen Blick auf die verblassenden Tätowierungen und versuchte sie sich in seinem unzuverlässigen Gedächtnis einzuprägen. Dann bückte er sich noch einmal kurz und riss das Stück Tuch ab, das im Wasser um den Hals des Leichnams trieb. Malvenny warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, aber Bartellus nickte dem Anführer nur zu. Sie kletterten beide durch das zerbrochene Gitter hinaus. Dann winkte Malvenny der wartenden Gruppe auf der anderen Seite des Flusses zu, und sie gingen weiter bergauf. Bartellus folgte ihm nachdenklich, den tropfenden Tuchfetzen fest in der Faust.