cover

Das Buch

Mit fünf Jahren kommt Marya vom Ballettunterricht nach Hause, rollt sich auf ihrem Bett zusammen und beginnt zu weinen, weil sie sich zu dick fühlt. Kurz nach ihrem neunten Geburtstag zwingt sie sich, das erste Mal zu erbrechen, mit fünfzehn beschließt sie, soweit wie möglich aufs Essen zu verzichten. Es folgen fünf Krankenhausaufenthalte und immer wieder Rückfälle. Marya verliert ihre Familie, ihre Freunde, ihren Job und nicht zuletzt auch das Gespür dafür, was eigentlich normal ist. Erst als sie mit 19 Jahren nur noch 25 Kilo wiegt und an der Schwelle zum Tod steht, überwindet sie ihre Sucht und entscheidet sich für das Leben.

Die Autorin

Marya Hornbacher lebt und arbeitet als Schriftstellerin und freie Redakteurin in Minnesota. Für ihre Autobiographie Alice im Hungerland erhielt sie den White Award for Best Feature Story und eine Nominierung für den Pulitzer Preis.

Marya Hornbacher – Alice im Hungerland | Ein Leben mit Bulimie und Magersucht. Eine Autobiographie – Aus dem Amerikanischen von Nicole Hölsken – Ullstein

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,
wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,
Speicherung oder Übertragung
können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage März 2010
3. Auflage 2011
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2010
© 1999 für die deutsche Übersetzung Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main
© 1998 by HarperCollins Publishers, LLC
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Wasted
(HarperCollins Publishers, LLC)
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München
(unter Verwendung einer Vorlage von Christof Berndt & Simone Fischer, Berlin)
Titelabbildung: Mauritius

Für Brian

Inhalt

Einleitung
Anmerkungen aus der Unterwelt

Kapitel 1
Kindheit 1974 bis 1982

Kalifornien

Kapitel 2
Bulimie
Minnesota, 1982 bis 1989

Kapitel 3
Die Rolle der Schauspielerin
Michigan, 1989 bis 1990

Zwischenspiel – 22. September 1996

Kapitel 4
Methodist Hospital, Klappe, die erste
Sommer 1990

Kapitel 5
Persephone selbst ist nur eine Stimme
Kalifornien, 1990 bis 1991

Zwischenspiel – 5. November 1996

Kapitel 6
Gefängnis
Minneapolis, 1991

Kapitel 7
Warten auf Godot
Minneapolis, 1991 bis 1992

Zwischenspiel – Gegenwart

Kapitel 8
»Sterben ist eine Kunst wie alles«
Washington, D. C., 1992 bis 1993

Nachwort
Das Wrack

Heute

Danksagung

Bibliographie

Anmerkungen

Einleitung

Anmerkungen aus der Unterwelt

Wir waren an einem Wendepunkt angelangt: Wir aßen zusammen zu Mittag. Wir spielten Normalität. Nach Jahren in der Unterwelt waren wir an die Oberfläche getrieben und sahen uns jetzt verstohlen um, wagten kaum zu atmen. Jane, bleich, mit großen, scheuen Augen, war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Sie ließ das Haar über das Gesicht fallen, als wolle sie verhindern, daß man sie dabei ertappte, wie sie sündigte, wie sie aß, wie sie ihre Schwäche zur Schau stellte, wie sie zugab, einen Körper zu besitzen, der immer wieder seine unverschämten Forderungen geltend machte. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und dachte darüber nach, wie gut es war, gesund und lebendig zu sein, als sie den Kopf hob und flüsterte: »Mein Herz fühlt sich so komisch an.«

Ich richtete mich auf und fragte: »Was meinst du damit? Hast du Herzbeschwerden?« Sie nickte und sagte: »Es schlägt ganz unregelmäßig, und manchmal setzt es sogar ganz aus.«

Ich fühlte ihren Puls, dann griff ich mit einer Hand nach den Autoschlüsseln, mit der anderen packte ich ihren Arm und zerrte sie zur Tür hinaus ins Auto. Mir schwirrte der Kopf vor Erinnerungen und Statistiken, während wir auf dem schnellsten Weg in die Notaufnahme des Krankenhauses fuhren: Die ersten Monate der »Genesung« sind die gefährlichsten. Zum ersten Mal nach jahrelanger Auszehrung wird dem Körper wieder regelmäßig Nahrung zugeführt, und die physische Reaktion fällt entsprechend heftig aus: Oft kommt es zu Herzversagen, besonders dann, wenn man gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen wurde und die Wahrscheinlichkeit, daß das anorektische Verhalten erneut ausbricht, sehr hoch ist. Janes Augen sind geschlossen, sie atmet nur noch stoßweise. Jane ist erst einundzwanzig; ich darf nicht zulassen, daß sie stirbt. Ich weiß genau, was sie jetzt fühlt: die Beklemmung in der Brust, die Panik, der Gedanke Was-habe-ich-nur-getan und die Versicherung Aber-ichhabe-es-doch-nicht-ernst-gemeint. Eßstörungen bleiben oft lange unbemerkt. Heimlich und leise höhlen sie den Körper von innen her aus, und dann schlagen sie zu: Das Geheimnis kommt ans Licht. Man stirbt.

In der Notaufnahme überprüfte der Arzt erneut ihren Puls und ignorierte mich – zunächst nur geistesabwesend, dann verärgert – als ich ihn bat, doch bitte ein EKG vorzunehmen, ihren Blutdruck im Sitzen und im Stehen zu messen, ihre Elektrolyte zu überprüfen. Nachdem er Jane hier und dort abgetastet und befühlt hatte, drehte er sich schließlich zu mir um und sagte: »Entschuldigen Sie, Miss, aber der Arzt hier bin ich.« Ich sagte: »Ja, aber-.« Er machte nur eine Handbewegung, als wollte er mich verscheuchen wie eine lästige Fliege, und fragte Jane, wie sie sich fühlte. Sie sah mich an. Eine Magersüchtige zu fragen, wie sie sich fühlt, ist ein vergebliches Unterfangen. Ich sagte: »Hören Sie, sie leidet an einer Eßstörung. Führen Sie doch bitte einfach nur die Untersuchungen durch.« Der Arzt rief ungeduldig: »Was meinen Sie mit Eßstörung?«

Ich war am Boden zerstört. Ich sah nur noch eins: den Monitor, auf dem ich ihren schwachen und unregelmäßigen Puls beobachten konnte. Und dieser Mann stand einfach nur da, sah auf mich herab, sagte mir, daß er der Arzt hier sei und daß ich, eine junge Frau, die vierzehn Jahre lang durch die Hölle der Eßstörungen gegangen war, doch bitte den Mund halten sollte.

Ich hielt ihn nicht. Ich begann zu schreien.

Im folgenden Jahr gewannen wir beide an Stärke, Gewicht und Stimme. Jane begann, aufrechter auf ihrem Stuhl zu sitzen und – zunächst leise, dann immer lauter – diejenigen Worte zu sagen, die Millionen von Menschen nicht aussprechen können: Ich habe Hunger.

Ich erkrankte an Bulimie im Alter von neun, an Anorexie im Alter von fünfzehn Jahren. Ich konnte mich zwischen beiden Suchtformen nicht entscheiden und schwankte hin und her, bis ich zwanzig war. Jetzt bin ich dreiundzwanzig und ein recht interessantes Geschöpf mit einer nicht spezifizierten Eßstörung.a In den vergangenen dreizehn Jahren bewegte sich mein Gewicht zwischen 68 und 26 Kilo. Ich nahm rasant zu und wieder ab. Ich wurde »gesund«, dann »krank«, wieder »gesund«, schließlich noch »kränker« usw. – bis heute. Mittlerweile hält man meinen Zustand für »einigermaßen stabil«, wenn ich auch als verhaltensgestört und »extrem rückfallgefährdet« gelte. Ich war sechsmal im Krankenhaus, einmal in der Psychiatrie, habe unzählige Therapiestunden hinter mich gebracht; ich wurde so oft untersucht und beobachtet, klassifiziert, verhört, angespornt, gefüttert und gewogen, daß ich mir zuweilen vorkam wie eine Ratte in einem medizinischen Versuchslabor.

Die Geschichte meines Lebens – zumindest eine Version davon – lagert in riesigen Papierstapeln und Mikrofichekatalogen in diversen Krankenhausarchiven der Stadt, bewacht von mißtrauisch dreinblickenden Frauen, die mich fragten, warum ich sie einsehen wollte, was ich mit den Informationen in den Akten, auf denen mein Name und mein Geburtsdatum standen, anfangen würde. Ich Unterzeichnete Formulare, die bestätigten, daß ich ich selbst war und deshalb das Recht hatte, die Dokumentation meines Lebens einzusehen, und weitere Formulare, die bestätigten, daß ich keine Anwältin war und nicht beabsichtigte, das Krankenhaus Soundso verantwortlich zu machen für (Patientenname) (lebendig oder tot). Ich zeigte ihnen meinen Ausweis. Ich widersprach höflich, als man mich in einigen Krankenhäusern darüber informierte, daß es mich nicht gäbe, weil keine Akten vorlagen über – wie war doch gleich der Name? – nein nein, hier ist keine Akte über eine Person dieses Namens. Unvollständig, nicht funktionstüchtig, nicht existent, wie ich war, befeuchtete ich meinen Finger und blätterte mein Leben durch, etwa zweitausend Seiten unleserlicher Notizen.

Ich lernte unter anderem, daß ich »chronisch« krank bin, ein »hoffnungsloser Fall«. Ich saß auf meinem Klappstuhl und betrachtete das Bild, das diese Aufzeichnungen von mir entwarfen: das Bild einer Invalidin, eines Mädchens mit Wahnvorstellungen, das sein zukünftiges Leben, wenn überhaupt, dann in Krankenhaushemdchen und Krankenhausbetten verbringen würde.

Dieses Bild ist allerdings etwas ungenau. Ich bin weder geistesgestört noch invalide. Im Gegensatz zu jenen Akten, die mein baldiges Ableben prognostizierten, bin ich nicht gestorben. Heute pflege ich Muffins nicht mehr zu sezieren und bis in ihre Atome zu zerlegen, um dann an den Krümeln herumzuknabbern wie ein psychotisches Karnickel. Am Ende einer Mahlzeit springe ich nicht mehr wie von der Tarantel gestochen auf und hechte ins Badezimmer. Ich wohne in einem ganz normalen Haus, nicht im Krankenhaus. Ich lebe von einem Tag zum nächsten und denke nicht länger darüber nach, daß ich eines Morgens aufwachen und feststellen könnte, daß sich mein Hintern über Nacht auf magische Weise vergrößert hat. Das war keineswegs immer so. Es gab Zeiten, in denen ich morgens nicht aufstehen konnte, weil die Muskeln meines ausgezehrten und geschwächten Körpers sich weigerten, mir zu gehorchen. Es gab Zeiten, in denen mir die Lügen leicht über die Lippen kamen, weil es viel wichtiger war, mich selbst zu zerstören als zuzugeben, daß ich ein Problem hatte, geschweige denn, mir von jemandem helfen zu lassen. Jene Aktenstapel, die ich jetzt in diversen medizinischen Archiven der Stadt von Tisch zu Tisch trug, wogen häufig mehr als seinerzeit die Patientin, die sie beschrieben.

Heute ist das anders. Ich habe eine Eßstörung – keine Frage. Die Störung und ich befinden sich im Kriegszustand. Aber das ist mir erheblich lieber als jene Zeiten, in denen wir Bett, Tisch, Gehirn und Körper miteinander teilten, und mein Selbstwertgefühl vollkommen von der Fähigkeit zu hungern abhängig war. Eine seltsame Gleichung, und ein viel zu verbreiteter Irrglaube: Daß der eigene Wert in dem Maße steigt, in dem man körperlich verschwindet.

Ich habe an dieser Stelle keineswegs die Absicht, mich vor Ihnen zu entblößen und Ihnen zu berichten, wie schrecklich mein Leben, wie gemein mein Vater und meine Mutter waren, und daß irgendein Kind mich in der dritten Klasse »fette Kuh« genannt hat, denn nichts davon ist wahr. Ich werde mich auch nicht lang und breit darüber auslassen, daß es bei Eßstörungen darum geht, »Kontrolle« auszuüben, denn das wissen wir alle zur Genüge. »Kontrolle« ist ein Reizwort, das dazu dient, die Wahrheit zu vereinfachen, Menschen in Schubladen zu stecken und sie in mentale Quarantäne zu schicken und dann mit dem Finger auf sie zu zeigen: Da. So sieht jemand aus, der eine Eßstörung hat. Bei dieser Krankheit geht es um … ja, es geht um Kontrolle, aber genauso um die Biographie des einzelnen, um Philosophie, um die Gesellschaft, um das Gefühl der Entfremdung von sich selbst und der Umwelt, um Familienprobleme, um autoerotische Erlebnisse, um Mythen, Spiegel, Liebe, Tod, Sadismus, Masochismus, um Illustrierte und Religion, darum, wie das blinde Individuum durch eine Welt stolpert, die ihm immer fremder wird. Die Frage ist nicht, ob Eßstörungen tatsächlich »neurotisch« sind und auf eine Geistesstörung hindeuten – selbst mir würde es schwerfallen, rational zu begründen, warum man sich zu Tode hungert oder warum man sich der Völlerei hingibt, nur um sofort alles wieder zu erbrechen. Die Frage ist vielmehr, warum es eine solche psychosomatische Krankheit überhaupt gibt, was sie auslöst, und warum so viele junge Frauen davon betroffen sind. Warum fällt es uns so leicht, uns für diesen Weg zu entscheiden? Warum tritt die Erkrankung in unserem Jahrhundert häufiger auf denn je? Ist es die Schadstoffkonzentration in der Luft? Ist es eine Laune der Natur, die bewirkt, daß Frauen sich plötzlich und zahlreich mit beispielloser Gewalt der Vernichtung ihres eigenen Körpers widmen, ganz ohne erkennbaren Grund? Der Mensch lebt nicht außerhalb der Gesellschaft. Es gibt auf jeden Fall Gründe für eine solche Entwicklung, die sich kaum allein mit dem Hinweis auf individuelle psychische Störungen erklären läßt.

Dieses Buch ist weder ein Sensationsbericht über den Kampf mit einer geheimnisvollen Krankheit noch das Zeugnis einer wunderbaren Heilung. Aufgezeichnet wird die Geschichte einer Frau, die die dunkle Seite der Wirklichkeit bereist hat und den Entschluß faßte, zurückzukehren. Und zwar zu ihren Bedingungen.

Dabei grenzten meine Bedingungen beinahe schon an Ketzerei. Ich mußte sagen: Ich werde essen, was ich will, und aussehen, wie es mir paßt. Ich werde so laut lachen, wie es mir gefällt, werde die falsche Gabel benutzen und mein Messer ablecken. Die Lektionen, die ich lernen mußte und die zu viele Frauen niemals werden lernen können, waren merkwürdig und wunderbar zugleich: Ich mußte den Klang meiner Schritte lieben lernen, die Bedeutung von Gewicht und Präsenz, mußte lernen, Raum einzunehmen, den rebellischen Hunger meines Körpers ebenso zu spüren wie seine Reaktion auf Berührung. Ich mußte lernen, mich selbst zu verstehen, und zwar nicht nur intellektuell, sondern buchstäblich mit Leib und Seele. Ich mußte lernen, die Mißklänge unserer Kultur, die mich den lieben langen Tag berieseln, zu ignorieren. Zuviel, zuviel, zuviel. Wie Abra Fortune Chernik, eine Autorin, die selbst unter einer Eßstörung litt, schreibt: »Zuzunehmen und meinen Kopf aus der Toilette zu ziehen war der politischste Akt, den ich jemals vollzogen habe.«1

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich davon überzeugt bin, daß einige Leute sich darin wiedererkennen werden – ob sie nun unter einer Eßstörung leiden oder nicht – und weil ich, was vielleicht naiv ist, glaube, daß sie nach der Lektüre möglicherweise bereit sein werden, ihr Verhalten zu ändern und sich die Hilfe zu suchen, die sie brauchen. Daß sie endlich beginnen werden, ihren Körper zu akzeptieren und einzusehen, daß sie weder zu dick noch zu dünn sind. Ich habe es geschrieben, weil ich die gängigen Ansichten über Eßstörungen nicht teile und weil ich meinen eigenen Beitrag leisten wollte, was immer er wert sein mag. Ich habe es geschrieben, weil Eßstörungen häufig als Ausdruck von Eitelkeit, von Unreife, als Neurose abgetan werden. Diese Faktoren spielen mit Sicherheit eine Rolle. Aber viel eher noch handelt es sich um eine Sucht. Um eine Reaktion, wenn auch eine ziemlich verquere, auf unsere Kultur, unsere Familie, unsere Persönlichkeit. Ich habe es geschrieben, weil ich gegen zwei Mythen über Eßstörungen, mit denen ich trotz ihrer Widersprüchlichkeit häufig konfrontiert worden bin, angehen will: Zum einen sind viele Menschen der Ansicht, daß Eßstörungen ein unbedeutendes Problem darstellen, das sich durch ein paar Therapiestunden, Medikamente und ein paar Streicheleinheiten beheben läßt. Nur eine »Phase« eben, die »Mädchen einfach durchmachen« – ich kenne sogar eine junge Frau, deren Psychiater ihr erzählte, daß Bulimie einfach nur »Teil ihrer normalen Entwicklung sei«. Dann gibt es aber auch wiederum die weit verbreitete Ansicht, daß nur Geistesgestörte und Neurotiker unter Eßstörungen litten, also nur »solche Leute«, deren Gehirn unheilbar krank ist und die ohnehin als »hoffnungslose Fälle« gelten.

Eine Eßstörung ist aber in der Regel keine Phase, und auch nicht notwendigerweise ein Hinweis auf eine Geisteskrankheit. Sie macht einen verrückt, das stimmt, und zwar nicht nur die Angehörigen und die Umgebung der eßgestörten Person, sondern auch die Betroffene selbst. Die Erkrankung wird von einer Reihe grundlegender und tödlicher Widersprüche gespeist: Da ist der Wunsch nach Macht, der einen ohnmächtig werden läßt. Die Geste der Stärke, die schwach macht. Der Wunsch zu beweisen, daß man nichts braucht, daß menschlicher Hunger einem fremd ist, ein Wunsch, der sich gegen sich selbst richtet und sich in eben jenen Hunger verwandelt. Der Versuch, die eigene Identität zu finden, der letztlich jegliches Bewußtsein für das eigene Selbst vernichtet (abgesehen natürlich von der bemitleidenswerten Identität eines »Kranken«). Ein groteskes Hohnlied auf das gesellschaftlich geprägte Schönheitsideal, das niemanden mehr verspottet als die eßgestörte Person selbst. Ein Protest gegen das Stereotyp der schwachen, bedürftigen Frau, der sie letztlich zur schwächsten, bedürftigsten und neurotischsten aller Frauen macht. Sie glaubt, daß dieses Verhaltensmuster ihr Sicherheit bietet, daß es sie am Leben erhält und ihr Kontrolle über das eigene Sein verleiht – doch natürlich findet sie irgendwann heraus, daß es genau das Gegenteil tut. Diese Widersprüche führen allmählich zu einer Art Persönlichkeitsspaltung. Körper und Geist entfernen sich immer weiter voneinander, und in der daraus entstehenden Kluft kann eine Eßstörung sich zu voller Blüte entfalten – in der Stille und dem Schweigen, das die Verwirrung umgibt, wächst und gedeiht das Geschwür.

In vielerlei Hinsicht ist eine Eßstörung die logische Weiterentwicklung der in unserer Gesellschaft vertretenen Werte und Ideale. Zugegeben: Die Persönlichkeit der betroffenen jungen Frau spielt für die Entwicklung der Krankheit eine große Rolle – häufig sind wir sehr extreme Charaktere, sehr konkurrenzbewußt, unglaublich selbstkritisch, getrieben, perfektionistisch, zu Exzessen und Übertreibungen neigend. Ein weiterer, ebenso zentraler Faktor ist die Familie: Sie bildet den idealen Nährboden, auf dem die Eßstörung gedeihen kann wie eine Treibhauspflanze. Trotzdem glaube ich, daß unsere Gesellschaft ebensoviel, wenn nicht gar mehr Schuld trifft. Anders ist die große Verbreitung von Eßstörungen wohl kaum zu erklären. Auch mir standen schließlich andere Methoden zur Selbstzerstörung zur Verfügung, unzählige Ventile, die ich mir für meinen Perfektionismus, meinen Ehrgeiz, meine übertriebene Intensität hätte suchen können. Es hätte unzählige andere Möglichkeiten gegeben, mich mit der von mir als höchst problematisch empfundenen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Doch ich wählte die Eßstörung. Deshalb glaube ich, daß ich mir andere Mittel gesucht hätte, um von der Gesellschaft anerkannt zu werden, wenn ich in einer anderen Kultur aufgewachsen wäre, die »Schlankheit« nicht zu einem hohen Gut erklärt. Vielleicht hätte ich mir Wege gesucht, die meinem Körper keinen ernsthaften Schaden zugefügt und meine Identität nicht dermaßen radikal verzerrt hätten.

Ich habe nur sehr wenige Antworten, weil ich mich zuallererst darauf konzentriere, Fragen zu stellen. Ich habe nicht viel mehr zu bieten als meine Perspektive, meine Erfahrungen mit der Eßstörung. Und die sind nicht ungewöhnlich. Ich war kranker als manche, aber wiederum nicht so krank wie andere. Meine Eßstörung hatte keine exogenen Ursachen und führte auch nicht zu einer Veränderung meiner Grundüberzeugungen, wie etwa bei einer religiösen Konversion oder ähnlichem. Ich bin keine Kuriosität, mein Leben ist noch nicht einmal besonders ungewöhnlich verlaufen. Und das ist gerade das Beängstigende: daß mein Leben so normal war. Denn dann kann das, was mir zugestoßen ist, auch so vielen anderen passieren. Ich möchte meine Reise durch die Hölle eines Spiegelkabinetts niemandem wünschen. Und ich wünsche auch niemandem die schrecklichen Nachwirkungen – das Resultat, das wir während unserer Krankheit nicht voraussehen können: unseren geschädigten Körper, die beständige Versuchung, das Bewußtsein, daß wir gescheitert sind, daß wir nicht wir selbst geworden sind, die Angst, die wir hatten und haben, und die Erkenntnis, daß wir ganz von vom anfangen müssen, egal wie groß unsere Angst ist. Ich glaube, den meisten Menschen, die an einer Eßstörung leiden, ist zunächst nicht klar, daß man diese Erkrankung nicht einfach »überwindet«. Die Mehrheit der eßgestörten Menschen hat für den Rest ihres Lebens damit zu kämpfen. Man kann sein Verhalten ändern, seine Ansichten über sich selbst und den eigenen Körper, man kann diese spezielle Art und Weise, auf die Welt zu reagieren, aufgeben. Man kann lernen, so wie ich, daß man lieber ein Mensch als die dünne Hülle eines Menschen sein möchte. Vielleicht wird man sogar gesund. Aber man vergißt es nie.

Ich würde alles tun, um andere davon abzuhalten, den gleichen Weg zu gehen, den ich gegangen bin. Und dieses Buch zu schreiben ist für mich die einzige Möglichkeit, mein Ziel zu erreichen.

In gewisser Weise entspreche ich dem Stereotyp der weiblichen, jungen, weißen Frau aus der Mittelschicht. Dennoch ist mein Fall vielleicht exemplarisch, keinesfalls jedoch zu verallgemeinern. Im Gegenteil: Ich habe dieses Buch geschrieben, um dem Trend, von der individuellen Geschichte auf das Ganze zu schließen, der in der Fachliteratur zum Thema gestörtes Eßverhalten vorherrscht, entgegenzuwirken und ihm zu widersprechen. Ich bin weder Ärztin noch Forscherin, noch Expertin, noch Gelehrte. Ich bin Schriftstellerin. Ich habe keinen College- und keinen Universitätsabschluß. Aber ich lese viel, ich frage nach, ich gehe den Dingen auf den Grund. Ich spreche mit den Menschen. Ich schaue mich um. Ich denke nach. Vielleicht reicht das als Qualifikation nicht aus. Aber eines qualifiziert mich mit Sicherheit: Ich lebe es.

Wenn ich dich langweile, so kann ich es nicht ändern. Wenn ich mich unbeholfen ausdrücke, dann deutet das vielleicht darauf hin, wie kompliziert und schwierig das Thema ist, und wie ernsthaft ich versuche, es so gut es geht zu begreifen; ganz sicher ist es ein Zeichen meiner Jugend, aufgrund derer ich die sogenannte Kunst, das Handwerk, nicht beherrsche; vielleicht ist es ja auch Zeichen meines Mangels an Talent …

Ein Stück Körper, das mit den Wurzeln herausgerissen wurde, würde den Punkt vielleicht eher treffen.

James Agee

Kapitel 1

Kindheit

1974 bis 1982

»NUN, ES HAT KEINEN ZWECK, WENN DU VERSUCHST, IHN AUFZUWECKEN«, SAGTE TWEEDLEDUM, »WO DU DOCH NUR EINE GESTALT AUS SEINEM TRAUM BIST. DU WEISST GENAU, DASS DU NICHT WIRKLICH BIST.«

»ABER ICH BIN WIRKLICH«, RIEF ALICE UND FING AN ZU WEINEN.

»DU MACHST DICH UM KEINEN DEUT WIRKLICHER, WENN DU WEINST«, BEMERKTE TWEEDLEDEE. »ES GIBT NICHTS, WORUM DU WEINEN MÜSSTEST.«

»WENN ICH NICHT WIRKLICH WÄRE«, SAGTE ALICE – UND LACHTE BEINAHE UNTER IHREN TRÄNEN, DAS ALLES WAR SO LÄCHERLICH – »DANN KÖNNTE ICH DOCH AUCH NICHT WEINEN.«

»ICH HOFFE, DU DENKST NICHT ALLEN ERNSTES, DASS DEINE TRÄNEN WIRKLICH SIND?« UNTERBRACH SIE TWEEDLEDEE MIT VERÄCHTLICHER STIMME.

LEWIS CARROLL, »ALICE IM WUNDERLAND«

So einfach war das: Vor einer Minute war ich noch eine ganz normale Neunjährige in Shorts und T-Shirt, mit langen, braunen Zöpfen, die in der gelb gestrichenen Küche saß, sich eine Wiederholung von Bugs Bunny ansah, eine Tüte Chips in sich hineinstopfte und dabei den Hund mit dem Fuß kraulte. In der nächsten Minute ging ich, gefangen in einem unwirklichen Nebel, den ich später mit dem Gefühl vergleiche, das das Rauschen der Geschwindigkeit in mir auslöst, zur Küchentür hinaus, die Treppe hinunter, ins Badezimmer. Ich schloß die Tür, hob den Toilettensitz, hielt meine Zöpfe mit der einen Hand zurück, steckte mir die anderen zwei Finger tief in den Hals und übergab mich, bis ich Blut spuckte.

Ich betätigte die Toilettenspülung, wusch mir Hände und Gesicht, kämmte mir das Haar, ging die Treppe durch das sonnige, leere Haus wieder hinauf, setzte mich vor den Fernseher, nahm meine Chipstüte wieder zur Hand und kraulte weiter den Hund mit dem Fuß.

Wie hat Ihre Eßstörung begonnen? fragen mich die Therapeuten Jahre später, während sie mich dabei beobachten, wie ich an den Nägeln knibbele und mich in einen der unzähligen Ledersessel kauere. Ich zucke die Achseln. Verdammt, wenn ich das nur wüßte, sage ich.

Ich wollte einfach nur sehen, was geschehen würde. Neugier, die mir zum Verhängnis wurde.

Erst am nächsten Tag in der Schule wurde mir bewußt, was ich getan hatte. Ich saß im Speisesaal meiner Grundschule in Minnesota zwischen meinen präpubertären, schlaksigen Freundinnen, kauerte über meinen schmerzenden Brustwarzen und starrte auf meinen Teller. Ich hatte es einmal getan und würde damit weitermachen müssen. Panik. Mein Kopf pochte, mein Herz flatterte, und mein Adrenalinspiegel schoß in die Höhe. Die Wände schienen auf mich niederzustürzen, der Boden öffnete sich unter meinen kleinen Turnschuhen. Ich stieß den Teller beiseite. Keinen Hunger, sagte ich. Ich sagte nicht: Lieber verhungere ich, als noch einmal Blut zu spucken.

Und so ging ich durch den Spiegel, betrat die Unterwelt, wo oben und unten sich verkehren und Nahrung gleich Gier ist, wo sich konvexe Spiegel an den Wänden wölben, wo Tod Ehre bedeutet und das Fleisch Schwäche. Der Weg dorthin ist leicht – der Weg zurück um so schwerer.

Ich blicke auf mein Leben, wie man im Kino einen schlechten Actionfilm verfolgt: Ich hocke auf der Kante des Sitzes und schreie: »Nein, nein, nicht die Tür öffnen! Dahinter wartet der böse Mann, und er wird dich packen und dir die Hand über den Mund legen und dich fesseln. Und dann wirst du den Zug verpassen, und alles wird ein schlimmes Ende nehmen!« Nur daß es in dieser Geschichte keinen bösen Mann gibt. Der Mensch, der mir hinter der Tür auflauerte, mich packte und fesselte, war unglücklicherweise ich selbst. Mein Alter ego, ein böses, mageres Hühnchen, das mir zuzischte: Nicht essen. Ich lasse es nicht zu, daß du etwas ißt. Ich lasse dich frei, sobald du dünn bist, das schwöre ich. Wenn du erst einmal dünn bist, ist alles gut.

Lügnerin. Sie hat mich nie gehen lassen. Und ich konnte mich nie ganz losreißen.

Kalifornien

Fünf Jahre alt. Gina Lucarelli und ich stehen in der Küche meiner Eltern, unsere Köpfe auf gleicher Höhe wie die Arbeitsplatte. Wir suchen nach etwas Eßbarem. Ihr habt gar keine normalen Lebensmittel im Haus. Ich weiß, sage ich entschuldigend. Meine Eltern sind komisch, was Essen angeht. Habt Ihr keine Chips? fragt sie. Nein. Kekse? Nein. Wir stehen beisammen und starren in den Kühlschrank. Wir haben Erdnußbutter, verkünde ich. Sie zieht sie ’raus, steckt einen schmutzigen Finger hinein, leckt ihn ab. Schmeckt komisch, sagt sie. Ich weiß, sage ich. Ist nicht gesalzen. Sie zieht eine Grimasse, sagt igitt. Ich stimme zu. Wir starren in den Abgrund aus Nahrungsmitteln, die sich in zwei Kategorien aufteilen lassen: gesunde Sachen und Sachen, die wir nicht kochen können, weil wir zu klein dafür sind – Möhren, Eier, Brot, eklige Erdnußbutter, Alfalfa-Sprossen, Gurken, ein Sixpack mit Diäteistee von Lipton, in blauen Dosen mit einer kleinen gelben Zitrone über dem Wort Tee. Dose an der roten Lasche öffnen. Wir könnten eine Scheibe Toast essen, biete ich an. Sie wirft einen Blick auf das Brot und erklärt: »Es ist braun.« Wir packen das Brot wieder weg. Plötzlich habe ich eine Idee: Wir machen uns Cornflakes! Wir öffnen einen der Unterschränke. Wir starren die Cornflakes an. »Die sehen aber komisch aus«, sagt sie. »Ich weiß«, sage ich. Ich ziehe eine Schachtel heraus, betrachte die ernährungsphysiologischen Informationen, lasse meine Finger an der Kante entlanggleiten und verkünde mit autoritärer Stimme: »Sie enthalten nur fünf Gramm Zucker.« Ich recke das Kinn und gebe an: »Wir essen keine Cornflakes mit Zucker. Das macht nämlich dick.« Gina will mithalten und sagt: »Ich würde noch nicht einmal das da essen. Ich esse nichts, das mehr als zwei Gramm Zucker hat.« »Ich auch nicht«, sage ich und werfe die Cornflakes in den Schrank, als ob sie vergiftet wären. Ich springe vom Boden auf, strecke Gina die Zunge heraus. »Ich bin auf Diät«, sage ich. »Ich auch«, sagt sie, und ihr Gesicht verzieht sich zu einer finsteren Grimasse. »Nana-nah-na-nah-nah«, sage ich. »Ätschibätschie«, gibt sie zurück. Ich gehe zum Kühlschrank und hole mit viel Getöse den Diäteistee mit der kleinen gelben Zitrone heraus, öffne die Dose und schlürfe, ttthhhppppttt. Der Tee schmeckt wie Sägemehl und hinterläßt ein trockenes Gefühl im Mund. »Siehst du«, sage ich und deute auf das Wort Diät, »wenn ich groß bin, werde ich genauso dünn wie meine Mutter sein.«

Ich denke an Ginas Mutter, von der ich genau weiß, daß sie gezuckerte Cornflakes und Müsli kauft. Ich weiß es, weil wir, immer wenn ich bei Gina schlafen darf, Erdbeerflakes bekommen, deren künstliche Lebensmittelfarbe die Milch rot färbt. Gina und ich saugen sie dann mit Strohhalmen auf und wetteifern darum, wer es lauter kann.

»Deine Mama«, sage ich aus reiner Boshaftigkeit, »ist dick

Gina sagt: »Zumindest kann meine Mama kochen

»Meine Mama hat zumindest einen Job«, schreie ich.

»Meine Mama ist zumindest nett«, sagt sie höhnisch.

Ich haue ihr eine runter. Sie weint. »Baby«, sage ich. Ich stürme auf die Terrasse hinaus, klettere auf den Tisch, hole meine blaue Mickey-Mouse-Sonnenbrille aus Plastik hervor und stelle mir vor, daß ich die kultivierte Lady im Badeanzug aus dem Werbespot für Liptons Diäteistee bin, sonnengebräunt, langbeinig und dünn. Ich lehne mich lässig zurück und hebe die Dose an die Lippen. Ich trinke einen bitteren Schluck und verschütte den Rest auf meinem T-Shirt.

Am Abend kocht mein Vater das Abendessen. Ich schmiege mich an seine Knie und verkünde: »Ich habe keinen Hunger. Ich bin auf Diät.« Mein Vater lacht. Meine Füße baumeln vom Stuhl und stoßen an den Eßtisch, ich starre das Essen an, stochere darin herum, schaue mißtrauisch auf den Teller meiner Mutter, beobachte ihre nervösen, kleinen Bissen. Die Art, wie sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnt, wie sie die Gabel ablegt und hastig mit den Händen gestikuliert, während sie redet. Mein Vater beugt sich über seinen Teller, schlingt das Essen in großen Bissen hinunter. Meine Mutter schiebt ihren Teller von sich, er ist genau zur Hälfte leer gegessen. Mein Vater sagt zu ihr, daß es ihm nicht gefällt, wie verschwenderisch sie mit Nahrungsmitteln umgeht. Meine Mutter antwortet scharf: »Ich bin satt, Liebster.« Ich stoße meinen Teller weg und sage laut: »Ich bin satt.«

Alle Augen richten sich auf mich. »Komm schon, Schweinchen«, sagt meine Mutter. »Noch ein paar Bissen. Noch zwei Happen.«

»Drei«, sagt mein Vater. Wütend sehen sie einander an.

Ich esse eine Erbse.

Ich hatte niemals ein normales Verhältnis zum Essen, nicht einmal als Baby. Meine Mutter konnte mich nicht stillen, weil es ihr das Gefühl gab, verschlungen zu werden. Ich war gleichermaßen allergisch gegen Kuh- und Sojamilch. Meine Eltern mußten mich mit einer ekligen Mischung aus Schafs- und Ziegenmilch füttern, wovon beiden schlecht wurde. Ich aber trank sie offensichtlich immer bis zum letzten Tropfen leer. Später gaben sie mir Orangensaft in der Flasche, was jedoch meine Zähne ruinierte. Wahrscheinlich hatte ich schon im Mutterleib ein anormales Verhältnis zum Essen; auf jeden Fall waren die Ernährungsgewohnheiten meiner Mutter äußerst bizarr. Als Kind litt ich unter einer ganzen Reihe von Lebensmittelallergien. Zucker, Lebensmittelfarben und Konservierungsstoffe machten mich zu einem hyperaktiven Kind, das nächtelang nicht schlafen konnte und seine Umwelt in Atem hielt. Meine Eltern legten für gewöhnlich Wert darauf, daß wir zusammen zu Abend aßen, daß ich drei Mahlzeiten am Tag bekam, daß ich nicht zuviel Fast Food und genug Gemüse aß. Doch es gab auch sporadisch auftauchende, geradezu paranoid anmutende Phasen, in denen die Familie sich ausschließlich »gesund« ernähren sollte. Diese wechselten mit Zeiten, in denen es nur Fast Food gab oder wir oft spontan noch um 11 Uhr nachts ins Restaurant gingen (wo ich dann regelmäßig unter den Tisch rutschte und einschlief).

Ich erinnere mich an Augenblicke, in denen ich normal zu sein schien: Pizzas auf Mitternachtsparties mit meinen Freundinnen, mit neun Jahren einen Sahnewindbeutel, den ich zum Valentinstag bekam, mit vier ein überbackenes Käsesandwich, das ich aß, während ich mich auf dem großen schwarzen Sessel im Wohnzimmer herumfläzte. Erst heute, da ich sie im Zusammenhang betrachte, kommen mir diese Ereignisse irgendwie seltsam vor – beispielsweise die Tatsache, daß ich mich ganz genau an die Peperoni-Pizza erinnere, daran, wie wir alle betont sorgfältig das Fett mit unseren Papierservietten aufsaugten, und daran, wie viele Stücke ich aß (zwei) und wie viele Stücke alle anderen Mädchen aßen (zwei, außer Leah, die nur eines aß, und Joy, die sogar vier hinunterschlang), und an die unbezähmbare Angst, die dieser Aktion folgte, die Angst, daß mein Hintern gewachsen war und jetzt aus meinen kurzen Pyjamahosen hervorquoll. Ich erinnere mich daran, wie ich meine Mutter bat, mir Schokoladepudding zu machen. Ich erinnere mich, daß es vorher Steaks mit Erbsen gab. Und ich kann mich daran erinnern, daß meine Mutter am Samstagnachmittag, wenn alles ruhig war, überbackene Toasts oder Rühreier für mich zubereitete. Sie waren etwas Besonderes, weil sie sie für mich machte, weshalb ich überbackene Toasts und Rühreier immer mit Ruhe, meiner Mutter und friedlichen Samstagnachmittagen verbinde. Manche Menschen, die von Lebensmitteln besessen sind, werden Gourmetköche. Andere entwickeln Eßstörungen.

Ich hatte niemals ein normales Verhältnis zu meinem Körper. Er kam mir immer seltsam vor, wie ein fremdes Wesen. Soweit ich zurückdenken kann, war ich mir meiner Körperlichkeit bewußt, und zwar als einer Last.

Meine erste Erinnerung ist die, wie ich im Alter von drei Jahren aus keinem besonderen Grund von zu Hause weglief. Ich denke daran, wie ich den Walnut Boulevard in Walnut Creek, Kalifornien, entlanglief und Rosen in den Vorgärten fremder Leute pflückte. Mein Vater, wütend und besorgt, fing mich wieder ein. Ich erinnere mich, wie ich nach Hause geschafft wurde und dort, zum ersten und letzten Mal in meinem Leben, den Hintern versohlt bekam. Ich schrie wie verrückt, daß er gemein und böse sei, dann versteckte ich mich im Wäschekorb, der im Kleiderschrank meiner Mutter stand. Ich erinnere mich daran, wie vergnügt ich darüber war, daß ich genau die richtige Größe für den Wäschekorb hatte, so daß ich mein ganzes Leben darin bleiben konnte. Ich saß dort wie ein Maulwurf in der Höhle und kicherte vor mich hin. Ich erinnere mich an die ganze Begebenheit, als ob ich mich selbst beobachte: Von der gegenüberliegenden Seite des Zimmers aus sehe ich zu, wie mein Vater mir eine Tracht Prügel verpaßt. Und als ich mich im Wäschekorb verkrieche, ist es, als ob ich mich von oben betrachte. Als ob ein Teil meines Gehirns sich abgespalten hätte und mich im Auge behielte, um ständig zu beobachten, wie ich aussehe.

Ich habe das Gefühl, als ob eine kleine Kamera an meinem Körper angebracht worden wäre, die alles, was geschieht, für die Nachwelt festhält: ein Kind, das sich über sein aufgeschrammtes Knie beugt, ein Kind, das die Mahlzeit auf seinem Teller hin und her schiebt, ein Kind, das mit einem Fuß auf dem Boden steht, während sein Halbbruder ihm den Schuh zubindet, ein Kind, das sich über den Sessel der Mutter beugt, während die Mutter zauberhafte Dinge aus Baumwolle und Spitze näht. Kleider, wie für Engel gemacht, entstanden unter ihren Händen und hingen schließlich auf einem Bügel an der Tür. Ein Kind in der Badewanne, das auf seinen im Wasser liegenden Leib hinabblickt wie auf einen Fremdkörper, der auf unerklärliche Weise mit seinem Kopf verbunden ist.

Die Erinnerungen an meine ersten Lebensjahre schwanken hin und her zwischen sinnlichen und physischen Wahrnehmungen: von der deutlichen Erinnerung an das Parfüm meiner Oma bis hin zu den Ohrfeigen, die ich mir selbst versetze, weil ich mich für fett und häßlich halte – ich sehe den roten Fleck auf der Wange, aber ich spüre keinen Schmerz. Nur wenige Dinge erinnere ich so, als ob ich sie selbst erlebt hätte. Ich erinnere mich nicht daran, wie es war, Dinge zu berühren, oder wie sich das heiße Badewasser auf meiner Haut anfühlte. Ich mochte es nicht, berührt zu werden, aber diese Abneigung war in sich widersprüchlich. Ich ließ mich nicht gerne berühren, weil ich mich zu sehr danach sehnte. Ich wollte, daß man mich ganz fest hielt, damit ich nicht auseinanderbrach. Noch heute, wenn Menschen mich berühren, mich umarmen, mir eine Hand auf die Schulter legen, halte ich den Atem an, wende das Gesicht ab, will weinen.

Ich erinnere mich an meinen Körper wie eine Unbeteiligte, die ihn von außen betrachtet. Es macht mich traurig, wenn ich darüber nachdenke, daß ich ihn so sehr gehaßt habe. Schließlich war es der typische Körper eines kleinen Kindes, rundlich, gesund, ein Körper, der gerne kletterte, nackt war, ein Körper mit sinnlichen Bedürfnissen. Ich erinnere mich an meine Bedürfnisse. Und ich erinnere mich, daß ich mich ihrer schämte und mich gleichzeitig vor ihnen fürchtete. Ich hatte das Gefühl, daß meine Sehnsüchte mir ganz allein gehörten, ebenso wie die Schuldgefühle, die sie verursachten.

Noch bevor ich es aussprechen konnte, lernte ich, daß der Körper – mein Körper – gefährlich war. Er war ein dunkler, feuchter Sumpf, möglicherweise sogar schmutzig. Und verschwiegen. Der Körper schwieg, und man sprach nicht über ihn. Ich vertraute ihm nicht. Er kam mir vor wie ein Verräter. Ich beobachtete ihn mißtrauisch.

Später lernte ich, daß es sogar breitangelegte Studien gibt, die dieses spezifische Gefühl von Frauen mit Eßstörungen untersuchen, sich selbst von außen zu betrachten, als ob es einen Großen Wächter gäbe, der sie ständig im Auge behielte. Dabei richten sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihren Körper, an dem sie mit der Zeit immer mehr Fehler entdecken.

Mein ganzes Leben kommt mir vor wie eine Folge von Spiegeln. Meine kindliche Welt war bestimmt von Spiegeln, Schaufenstern, reflektierenden Motorhauben. Überall sah mich mein Gesicht an, ängstlich, suchte nach einem Härchen, das nicht an seinem Platz war, nach etwas, das anders war, prüfte, ob meine Shorts noch richtig saßen oder ob nicht vielleicht die Bluse rausgerutscht war, betrachtete meinen Hintern, der zu dick, oder meine Oberschenkel, die zu schwabbelig waren. Mit fünf Jahren begann ich, den Atem anzuhalten, damit mein Bauch sich nach innen wölbte. Und dabei ertappe ich mich manchmal auch heute noch. Ich hastete neben meiner Mutter her, eine kleine Nörglerin, die in jede spiegelnde Oberfläche blickte. Und meine Mutter rümpfte die Nase und sagte: »O Marya! Du bist so eitel.«

Heute glaube ich, daß sie mit dieser Einschätzung im Unrecht war. Es war keineswegs Eitelkeit, die mich veranlaßte, mein Gesicht in jedem Spiegel wieder aufs neue zu suchen. Im Gegenteil: Meine Wachsamkeit hatte einen anderen Ursprung: Ich wollte mich davon überzeugen, daß ich, zumindest oberflächlich betrachtet, akzeptabel aussah, ich hatte das Bedürfnis, mich davon zu überzeugen, daß ich immer noch da war.

Ich war etwa vier, als ich dem Spiegel zum ersten Mal völlig verfiel. Ich saß im Badezimmer meiner Mutter, sang vor mich hin und spielte Verkleiden. Ich wühlte mich durch ihre große magische Kiste mit Bühnenmakeup, die einen moschusartigen Duft verströmte, wenn man das Messingschloß öffnete. Ich schminkte mir das Gesicht: Sorgfältig trug ich Blau und Grün auf die Augenlider auf, leuchtend rote Streifen auf die Wangen, grellen orangefarbenen Lippenstift auf den Mund; dann betrachtete ich mich lange im Spiegel. Plötzlich fühlte ich, wie mein Gehirn sich spaltete: Dieses Mädchen dort war mir gänzlich unbekannt. Ich wurde zu zwei Personen: zu dem Menschen in meinem Kopf und dem Mädchen im Spiegel. Es war ein seltsames, aber keineswegs unangenehmes Gefühl der Desorientierung, der Dissoziation. Häufig kehrte ich zum Spiegel zurück, um zu schauen, ob ich dieses Gefühl wiederbeleben konnte. Wenn ich ganz still dasaß und dachte: Nicht ich – nicht ich – nicht ich, immer wieder, dann fühlte ich mich bald wieder wie zwei Mädchen, die einander durch das Glas des Spiegels hindurch ansahen.

Ich wußte damals nicht, daß dieses Gefühl meine Zukunft bestimmen würde. Ich und Abbild. Körper und Geist. Die Phase des »Spiegelstadiums« in der kindlichen Entwicklung bekam für mich eine neue Bedeutung. »Spiegelstadium« – dieser Begriff beschreibt das Wesen meiner Existenz.

Plötzlich tauchten überall Spiegel auf. Ich war vier, vielleicht fünf Jahre alt, in der Ballettstunde. Das Studio auf der Main Street war von Spiegeln gesäumt, die die Sonne des Samstagmorgens reflektierten, ebenso wie eine Gruppe niedlicher kleiner Mädchen in babyblauen Gymnastikanzügen – und mich. Ich hatte einen nagelneuen blauen Gymnastikanzug an, nicht babyblau, sondern strahlend blau. Ich stach wie ein stahlblauer Daumen aus der Gruppe hervor. Ständig löste sich mein Haarknoten. Ich stand an der Ballettstange, betrachtete meinen Körper – wieder und wieder – ich in meinem blauen Gymnastikanzug – und plötzlich packte mich blankes Entsetzen: Ich war in diesem Raum der vielen Spiegel gefangen.

Ich bin keineswegs schmächtig, sondern eher recht stabil gebaut. Eine mesomorphe Statur: wenig Fett, viel Muskeln. Ich kann einen Ball problemlos viele Meter weit schießen oder einem Typen die Nase blutig schlagen. Mit anderen Worten: Ich bin fürs Boxen und nicht fürs Ballett geschaffen.b So bin ich auf die Welt gekommen – selbst auf Babyphotos sieht man meine stämmige und muskulöse kleine Gestalt durch die Rosen stapfen. Mit vorgeschobenem Kopf renne ich auf das Gartentor zu. Aber mit vier Jahren stand ich, eine winzige Eva, im Ballettsaal und erstickte fast vor Scham über meinen Körper, über die Kurven und die ebene Fläche meines Bauches und meiner Schenkel. Mit vier Jahren wurde mir klar, daß ich den Ansprüchen nicht genügte. Mein stämmiger Körper war einfach zuviel. An diesem Tag kehrte ich vom Tanzkurs nach Hause zurück, zog einen Pullover meines Vaters an, rollte mich auf meinem Bett zusammen und weinte. Abends kroch ich in die Küche, wo meine Eltern gerade das Abendessen kochten. Mit dem Kopf reichte ich immer noch nicht ganz bis zum Küchentisch. Ich erinnere mich, wie ich es ihnen sagte, wobei ich das bittere Geständnis kaum über die Lippen brachte: Ich bin dick.

Da ich nichts dergleichen war, hatten meine Eltern keinen Grund, anzunehmen, daß ich tatsächlich daran glaubte. Beide zogen ein Gesicht, ein Gesicht, das ich später hassen lernte, ein Gesicht, das mir sagte: O bitte, Marya, mach dich doch nicht lächerlich. Und sie gaben einen verächtlichen Laut von sich, zzzzsh. Sie kochten weiter. Ich schlug mir kräftig auf den kleinen Bauch und brach in Tränen aus. Das Gesicht meiner Mutter verzog sich tadelnd, und sie warf mir diesen bestimmten Blick zu, den ich später das Fliegenklatschengesicht nannte. Es war, als ob sie mich allein dadurch, daß sie mich ansah, zum Verschwinden bringen konnte. Zzzsh-klatsch. Ich trat gegen den Schrank, und sie warnte mich: »Paß bloß auf.« Ich schlich mich auf mein Zimmer.

Und dann erinnere ich mich an das Fitneßstudio für Frauen, in das meine Mutter mich mitnahm. Ich erinnere mich vage, daß vor dem Trainingsraum die Plastikimitation der Venus von Milo stand, der eine Brust und beide Arme fehlen. Drinnen warf der Fitneßwahn der achtziger Jahre seine Schatten voraus: Frauen hüpften herum, schoben den Hintern rauf und runter und hoben die gewichtbeschwerten Beine wie Hunde am Baum. Sie alle hatten einen gequälten, verängstigten Gesichtsausdruck, der am besten von Galway Kinnell beschrieben wurde: »Als ob es eine Hölle gäbe und sie entschlossen wären, sie zu finden.« Außerdem gab es in diesem Fitneßstudio eine Art Krabbelstube. Das Ganze war als eine Art Käfig angelegt. Zumindest verliefen Stangen vom Boden zur Decke, und die kleinen Gören mit den klebrigen Fingern hängten sich daran und schluchzten nach ihrer Mami. Mami trug einen komischen Badeanzugverschnitt, kugelte sich mit ein paar anderen mageren Damen auf dem Boden herum, die immer knochiger wurden und hinterher gar nichts mehr hatten, worauf das Sitzen Spaß gemacht hätte. Die kleinen Kinder im Kinderkäfig weinten und stritten sich um den einen Ball, der zu unserer Unterhaltung bereitgestellt war. Es gelang mir, die Tür zum Käfig zu öffnen, eine Tür aus schmiedeeisernen Stangen. Ich stellte mich darauf und schaukelte vor und zurück, während ich meine Mutter und den Rest dieser Frauen dabei beobachtete, wie sie herumhüpften und sich auf der Erde rollten, um ihrem Körper etwas mehr Grazie zu verleihen.

Ich erinnere mich daran, wie ich sie in den Spiegeln, die die Wände säumten, beobachtete. Viele, viele verrückte Frauen. Im Kopf teilte ich sie ein, ordnete sie nach Schönheit, Haarfarbe, der Farbe ihrer Sportanzüge und – was mir das meiste Vergnügen bereitete – nach Schlankheitsgrad.

Etwa zehn Jahre später würde ich genau das gleiche tun, während ich in einer kleinen Klinik für eßgestörte Jugendliche – dem Methodist Hospital Eating Disorders Institute – meine Ferien verbrachte. Nur diesmal gehörte ich selbst ebenfalls zu den Gestalten, die ich im Kopf katalogisierte, und so mager, wie wir waren, war keiner von uns noch in der Lage, herumzuhüpfen. Wir verfertigten Stickarbeiten im Kreuzstich oder spielten auf dem Boden Solitaire, und aus den Augenwinkeln betrachteten wir aufmerksam die Körper der anderen, ganz ähnlich, wie Frauen in einem Fitneßstudio es zu tun pflegen: Immer stellen sie sich die Frage, ob die andere Frau vielleicht schlankere Hüften hat als sie selbst. Und immer finden sie sich zu dick. Immer haben sie das Gefühl, zuviel Raum in der Welt einzunehmen.

Ich wurde in Walnut Creek, Kalifornien, geboren. Meine Eltern sind außergewöhnlich intelligente, humorvolle und wunderbare Menschen, die vielleicht nur besser nie ein Kind bekommen hätten. Aber ich selbst besaß auch keine große Begabung zum Kindsein, das muß ich zugeben. Vielleicht wäre ich besser voll entwickelt zur Welt gekommen, wie das Kind von Mork und Mindy, die einen alten Mann aus einem Ei ausbrüteten, der mit der Zeit immer jünger wurde. Meine Zeugung war ein Unfall. Als meine Mutter erfuhr, daß sie schwanger war, schloß sie sich drei Wochen lang im Schlafzimmer ein und weinte, während mein Vater im Garten unter dem Kirschbaum stand und rauchte wie ein Schlot. Zum Zeitpunkt meiner Geburt hatten sie den Schock dann wohl verarbeitet, denn ich wurde mit erheblich mehr Freude begrüßt, als man es nach solch einem Beginn hätte erwarten können. Ich hatte eine glückliche Kindheit. Ich war zwar kein glückliches Kind, aber zumindest fand ich das Leben spannend. Ganz bestimmt sogar dramatisch.

Ich erinnere mich daran, daß es eine Zeit gab, in der alles vollkommen normal verlief. Ich kletterte auf die Hügel hinter dem Haus, rutschte auf Papiertüten die Abhänge hinunter, spielte im Bach, kletterte auf den Kirschbaum. Ich kann mich nicht erinnern, daß meine Kindheit besonders chaotisch verlief, obwohl ich sie im Rückblick so bezeichnen würde. Ich wußte nie, wie ich andere Menschen einschätzen sollte, was sie als nächstes tun würden, ob sie dasein oder fortgehen würden, ob sie verrückt oder gemein, glücklich oder warmherzig waren. Die Farben, die meine Erinnerung mit jener Zeit verbindet, sind Grün und Gold – die Bäume und die Hügel – und dann die Hitze, die unglaubliche Hitze. An Sommerabenden, wenn die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, wälzte ich mich auf dem Bett hin und her. Durch die geöffneten Fenster konnte ich das Klirren von Gläsern und den Klang der Stimmen auf der Terrasse hören. Ich nahm die betäubende Sommerluft wahr, den Staub, den Garten, die herrlichen Blumen, den starken Duft der Eukalyptusbäume, der sich in die Lungen ergoß. Die spätsommerliche Brise, die flimmernde Luft über der Straße hinter dem Bach, das grau gesprenkelte Pferd im Hof am Ende der Straße, die Kirschen, an denen ich mich verschluckte, weil sie so sauer waren, und die Zitronenbäume, die Walnußbäume, die Frauen in Weiß. Die rosa Steintreppenstufen und das rosa Stuckhaus, die Orangen, die wir mit einer fremden Frau aßen. Parfüm und Zigarettenrauch, späte Stunden auf Parties, wo ich unter den Mänteln der Gäste auf dem Bett einschlief, die flüchtigen Träume, die diese Phasen des Schlafes begleiteten und die mit Schatten und Worten durchsetzt waren. Der Blick eines Dreikäsehochs auf eine Welt, die er nur auf Hintern-Ebene erlebt, ständig auf der Suche nach dem Hintern der Mutter in der Menge, während er den Geruch und das Schimmern des Weins in den Gläsern wahrnimmt. Das Lachen von Männern mit Bärten und Hängebäuchen, die Smokings, ein Wirbel aus Kostümen und Masken. Ich betrachtete die Welt durch das Schlüsselloch meiner jungen Jahre und streckte meine kleine Hand aus, um sie zu berühren.