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Elisabeth Markstein

Moskau ist viel schöner als Paris

Leben zwischen zwei Welten

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Meinen Enkelkindern
Ruth, Daniel, Simon, Lea und Dana

Ich schreibe Erinnerungen, ich schreibe nicht Geschichte und auch keine Autobiografie. Ich schreibe von Ereignissen, die mich bewegt haben, und von Menschen, die ich mochte.

Inhalt

I. Kindheit, Schuljahre, Studienzeit

Lisalein

Hilde und Hans müssen weg

Die gute Namensfee an meiner Wiege

Endlich Sowjetunion

Meine kleine Freiheit

Die nächste Wende

Der prosaische Anfang einer großen Freundschaft

Moskau ist viel schöner als Paris

Abschiede, Abschiede, Abschiede

Die erste politische Entscheidung

Adria im Winter

Wie geht’s weiter? – Normal

Kunzewo

Ernsti ist da

Fünf vor zwölf

Neunzehn Monate auf dem Lande

Neuerungen in Moskau

Erkundungen und Erkenntnisse

Schicksale zeichnen sich ab

Statt eines Titels: Ernst Jandl, ein Gedicht

Das Ende vom Wir

Fremd in Wien

Jadersdorf oder Die Suche nach Heimat

Mein erster Job

Moskauer Studentenleben

II. Menschen, Erlebnisse, Entscheidungen

Hilde, meine Mutter

Mein Bruder Ernst

Splitter

Berühmtheiten

Rund um die Metrostation »Aeroport«

Kommunisten …

… und Revisionisten

Mein Vater Johann Koplenig

Als Betta an Solschenizyns Seite

Solschenizyn in Zürich, mit bitterem Ende

Georges Haupt, ein Freund, ein Komplize

Heinrich Böll, Freund und Berater

Drei außergewöhnliche Frauen

Lew Kopelew in Briefen

Studenten

Sie sind immer bei mir

Topografie einer Ehe

Glossar

I.
Kindheit, Schuljahre, Studienzeit

Lisalein

»Mein liebes Lisalein, ich kann dich ja gar nicht verstehen!« Oma schlägt verzweifelt die Hände zusammen. Das Lisalein versteht nicht, warum Oma sie nicht versteht. Aber Lisalein ist glücklich. Um zu begreifen, dass die Worte »auf Besuch« immer einen Abschied in sich tragen, bleibt ihr noch eine kurze Weile Zeit. Jetzt ist die liebe, liebe Oma bei ihr. Nicht in der gewohnten Wohnung zwar, bei Oma und den echten Eltern, in der schönen Wohnung in Währing mit der Schaukel am Türstock und Lisas geliebtem Jumbo auf dem roten Schaukelstuhl, aber doch bei ihr. In Zürich, wo man eben Zürcherdeutsch spricht wie ihre Pflegeeltern, ihr Ziehbruder Bruno und nun auch sie, das Lisalein. Das Lisalein wird noch eine Menge Erfahrungen durchleben müssen, um das Warum und Wieso der Wohnungsvielfalt samt den fremden Eltern zu begreifen. Und manches versteht die inzwischen alt gewordene Lisa bis heute nicht. Auch Oma musste aus Wien fort, später und aus anderem Grund. Sie war Jüdin.

»Das Lisalein tut Nägelbeißen.« Mit buchstäblicher Verbissenheit knabbert sie an ihren Fingern. Heutige Eltern wissen längst, dass es ein Signal ist von ihrem Kind: Mir geht es nicht gut! Meine verschiedenen Pflegeeltern hielten es noch mit den altväterischen Regeln: »Hör auf, Nägel zu beißen!« Oder witzig: »Iss dich nicht auf!« Und obendrein: »Sitz gerade!« Und das Schlimmste: »Was auf dem Teller ist, muss aufgegessen werden!« Und so sitzt das Lisalein am Tisch, allein und verlassen, vor dem längst erkalteten Essen. Hilde, wie das Lisalein ihre Mutter nach der neuen Mode beim Vornamen nennt, zwingt sie nie zum Aufessen und nie zum Kakao mit Haut, und die Oma, die kocht immer ihre Leibspeise: faschierte Laibchen mit Erdäpfelpüree. Jetzt kommt Lisalein nur mehr ganz selten zur Oma auf Besuch. Und so muss sie sich an neue Gerichte gewöhnen: schweizerische, (sudeten-)deutsche, tschechische, russische. Das geht ganz gut, nur eines bleibt ungeliebt: der tägliche Borschtsch im Moskauer Kindergarten. Den drückt sie hinunter, weil sie Angst hat, die Letzte am Tisch zu sein. Doch Moskau, das kommt etwas später.

Nein, das Lisalein war nicht glücklich. Vor etlichen Jahren bekam ich, die erwachsene Lisa, einen Brief meines Ziehbruders aus Zürich, dazu die Zeitschrift Kindergarten, September 1991. Das Titelblatt zeigt kleine Kinder an kleinen Tischen, einige auf dem Boden sitzend, die sich brav fotografieren lassen. Abseits, ganz hinten, steht ein dünnes Mädchen, das einzige Brillenkind, schaut nicht zur Kamera, denkt sich anderswohin. Das Lisalein. Vier Jahre alt. Ich schrieb die damalige Erzieherin Hilde Steinemann an, eine Montessori-Pionierin, der in der Zeitschrift ein würdigender Aufsatz gewidmet war. Wir saßen in einem gemütlichen Café am Züricher Limat und sprachen – fast 60 Jahre, nachdem die Aufnahme gemacht worden war – über das Lisalein. Es tue ihr so leid, nicht gewusst zu haben, dass Lisa bei Pflegeeltern lebte. Sie konnte es sich damals nicht erklären, warum Lisa immer so still war und scheu. Man hatte es ihr verschwiegen, wohl aus »Gründen der Konspiration«. Revolutionärer Alltag macht hart.

Einige Jahre vor ihrem Tod sagte mir meine Mutter, sie habe sich damals – der Erschaffung der besseren Welt eingedenk – zwischen Mann und Kind entscheiden müssen. Sie versuchte es immer noch zu rechtfertigen, aber sie wusste: Nach dem, was sie in der Folge alles erlebte, war die gewählte Alternative zu nicht mehr als einer der vielen (Ent-)Täuschungen jenes Jahrhunderts geschrumpft. Ich versuchte sie zu trösten, schob alles auf eben jene schlimmen Zeiten.

Aus Lisalein wird Lisa, Lisa wurde krank. Ein schwerer Keuchhusten, der sie marterte und nicht heilen wollte. Erst aus den Erinnerungen meiner Mutter erfuhr ich, dass es dieser Keuchhusten war, der Lisa eine glückliche Atempause bescherte. Hilde wurde herbeigerufen, fuhr mit Lisa in die Berge, der Husten verging und Hilde beschloss, das Kind zu sich nach Prag zu nehmen. Zunächst in ein Kinderheim in Stadtnähe, von wo sie die Eltern an den Wochenenden zu sich holten. Allerdings erwies sich das allwöchentliche Abschiednehmen als noch schlimmer als die seltenen Abschiede. Eine neue Unterkunft wurde gesucht und gefunden.

Wieder eine neue Umwelt, von Omas Wiener Professorenwohnung über die moderne Züricher Genossenschaftswohnung der Margadants, wo Bruno und Lisa Woche für Woche auf dem Balkon Schuhe putzten, zum ebenerdigen Arbeiterhaus in einem Vorort von Reichenberg. Ein großer, zweigeteilter Raum, Herd und Wasser in einer Ecke, Gemeinschaftsklo am Ende des Ganges. Lisa lernt Sudetendeutsch und besucht eine kurze Zeit lang ihre einzige deutsche Schule. Wieder müssen die Nägel herhalten – sie wurden zur lebenslangen Unsitte. Und dass Besuch nun öfter kam, weil Reichenberg in der Nähe von Prag war, machte es nicht viel leichter. Lisa lernte, dass jeder Besuch Freude und Trauer bringt. Und weil sie ihren Eltern so sehr gefallen wollte, bat sie niemals darum, bei ihnen bleiben zu dürfen. Sie wusste nicht, was »Revolution« bedeutet, aber sie fühlte, ohne das Wort »Opfer« wirklich zu verstehen, dass man von ihr erwartete, Zweiteres für Erstere zu erbringen.

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Lisa mit Jumbo, 1931

Hilde und Hans müssen weg

Höchste Zeit, in die erste Person zu wechseln. Eigentlich war ich bereits groß genug, vieles zu verstehen, auch solches, was ich lieber nicht zu verstehen gelernt hätte. Ich bemühte mich, das erwünschte tapfere Kind zu sein. Eine Erinnerung, als wäre es gestern: Ich sperre mich im Klo ein und weine. Ich traute mich nicht, vor den Pflegeeltern zu weinen, weil ich Angst hatte, sie könnten böse sein. Ich habe ja auch früh gelernt, dass man bei Abschieden nicht weinen darf. Der erste Leitsatz: »Du bist schon groß«, wurde allmählich erweitert um: »Hilde und Hans müssen weg, um … zu tun. Nicht traurig sein!« Womit genau sie beschäftigt waren, begriff ich nicht, doch ich glaubte meinen Eltern. Trotzdem hätte ich gern geweint.

Ich begriff auch schon – in etwa – warum wir aus Wien weg mussten. Die Kommunistische Partei Österreichs wurde 1933 unter dem austrofaschistischen Regime verboten, im Juni 1934 wurde meinem Vater Hans die Staatsbürgerschaft aberkannt. Man lebte von nun an mit falschen Pässen. Ich aber hatte nichts als eine Geburtsurkunde auf Elisabeth Anna Koplenig. Und für die amtliche Bescheinigung der Person, als die man auf die Welt gekommen war, gab es keine falschen Papiere.

Natürlich brachte die Reichenberger Zeit auch Schönes. Das Spielen mit den Nachbarskindern im großen Obstgarten, ein kurzer Ausflug mit Hans und Hilde ins Riesengebirge, da zeigte ich stolz, wie schnell ich mich über die Schneehügel herunterrodeln traute. Und dann der 1. Mai. Hilde war zu Besuch gekommen, wir saßen im ersten Stock eines Kaffeehauses am Reichenberger Hauptplatz, blickten auf die sich tummelnde Menschenmenge mit den roten Fahnen, und die leidenschaftlich laut gesungenen Arbeiterlieder stiegen zu uns hoch. Es muss 1935 gewesen sein. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis sich die Spur meiner Pflegeeltern verlor. Sie waren Kommunisten und Sudetendeutsche. Es hieß, sie hätten die Nazis überlebt. Und die Vertreibungen von 1945, die Beneš-Dekrete? Die Geschichte rollte auf immer schnelleren Rädern in die Katastrophe. Der 1. Mai jedoch blieb lange mein liebster Feiertag. Heute ist er mir ein Tag der Erinnerungen geworden – an die vielen, mit denen ich all die 1. Mai-Feiertage verbrachte.

Und dann zeigte mir die Illegalität ihr freundliches Gesicht. Ich konnte mangels erforderlicher Papiere nicht mehr in die Reichenberger Schule, und Hilde holte mich – diesmal wirklich – zu sich. An meinem siebenten Geburtstag erwachte ich in einer Prager Wohnung, in der Hans und Hilde bei der Zahnärztin Frau Doktor Robitscher zwei Zimmer gemietet hatten.

Auf dem Geburtstagstisch die schönsten Geschenke. Hans und Hilde neben mir – wie gerne würde ich sie in meinen Erinnerungen nachträglich Papa und Mama nennen. Es war das vollkommene Glück. Und als ich diesmal krank wurde, saß Hilde an meinem Bett, und weil sie mir, genau wie ich später meinen Kindern und Enkeln, nicht gern vorlas, strickte sie an einem kunstvollen blauen Kleid, für das sie sogar einen Preis gewann. Lesen konnte ich ohnehin schon selbst. Und außerdem bastelte mir Hilde ein wunderschönes Bilderdomino. Bloß zum Spielen damit hatte ich niemanden. Und das ist – wissen moderne Eltern – für Kinder nicht gut. Das Kind (Lisa) brauchte ein soziales Milieu. Ich weiß nicht, ob Hans und Hilde es so nannten, damals waren ja schillerndere Reizwörter en vogue. Und außerdem meldete sich wieder einmal die Illegalität, diesmal zu meinen Ungunsten. Es fehlten – niemand mehr kann erklären, warum – auch zur Einschulung in Prag die Dokumente.

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Hans und Hilde auf dem Weg nach Jadersdorf, ca. 1930

Die gute Namensfee an meiner Wiege

Mein russisches Dasein begann mit meinem Namen. Elisabeth – zu Ehren meiner Koplenig-Großmutter, die gerade noch erlebte, dass ihr Lieblingssohn Johann seine Tochter so nannte. Sie muss eine großartige Frau gewesen sein. In großer Armut hatte sie vier uneheliche Kinder geboren und großgezogen. Nicht dass sie ohne Mann gewesen wäre, ihr Leben lang lebten sie zusammen in der Keusche am Rande von Jadersdorf: eine Stube für alle, eine Rauchkuchl dazu. Im Kärntner Gitschtal, wo Jadersdorf liegt, ist die Mehrheit evangelisch, die Vorväter, protestantische Flüchtlinge vor der Gegenreformation, verdingten sich ab dem 17. Jahrhundert in den Gruben und Hammerwerken am Ende des Tales. Doch Christoph Peturnig war katholisch und meine Großmutter evangelisch. Und sie hatte ihre Grundsätze, und die besagten, dass die Kinder evangelisch bleiben mussten. Es kostete die beiden das Peturnig’sche Erbe. Ihre »Prinzipientreue« – man könnte es gewiss auch Sturheit nennen – vermachte meine Großmutter meinem Vater und er danach mir. Mein Rufname freilich war nicht Liesl, nicht Sissi, nicht Ella, sondern Lisa. Russische Namen standen Ende der Zwanziger nicht allein bei Kommunisten hoch in Mode. In den späteren russischen Jahren kam es mir zupass: Lisa, Liska, Lísotschka, Lísanjka, Lisók, Lisúscha, Lisuschenjka, die absolute Steigerung aus der Vielfalt an russischer Zärtlichkeit; und ich weiß noch heute, wer mich wie anredete, viele davon sind nicht mehr. Da ich bald akzentfrei Russisch sprach, galt ich einzig im Hotel Lux als Ausländerin, ansonsten war ich »wie alle« – und dies war ja mein oberster Wunsch. Doch stopp! Es kommt noch einiges dazwischen.

Endlich Sowjetunion

Das einzige Land, in dem ich als Elisabeth Koplenig meine Schulpflicht ableisten durfte, war die Sowjetunion. Dort fuhren wir denn auch hin, irgendwann im Sommer 1936. Ich stand am Fenster, um nichts zu verpassen. Da! Negoreloje, die alte Grenzstation an der alten sowjetischen Grenze. Ein Bahnhof, nicht viel anders als die, die ich schon gesehen hatte, aber daneben, auf dem abschüssigen Bahndamm, prangte ein riesengroßer Sowjetstern, mit farbigen Steinchen ausgelegt. Ich war überwältigt. Das Tor zum Paradies, insbesondere für Proletarier und glückliche Kinder.

Ich habe noch ein Stück altes Moskau gesehen, mir leider wenige Bilder eingeprägt: In der alten Twerskaja etwa wurden zur Freude der Schaulustigen ganze Häuserzeilen nach hinten verrückt, um davor Stalin’sche Herzeigekästen zu errichten. Deutlich ist das Bild des schäbigen Miets- oder Bürohauses am Ende der Maneschnaja, in dem die Komintern untergebracht war und in das mein Vater, wenn er in Moskau war, zur Arbeit ging. Das war ja etwas – ein Vater, der morgens wegging und abends nach Hause kam. Heute steht das Haus, total renoviert, über einer Metrostation. Der Metrobau in Moskau gehörte wie die Fliegerei und die Arktisexpeditionen zu den Bausteinen des sowjetischen Mythos. Andauernd wurden neue Linien eröffnet und Hans dazu eingeladen. Immer nahm er mich mit. Wir waren beide enorm stolz auf die marmorne Pracht.

Jedoch auch Moskau bot Schwierigkeiten, nämlich die Schulpflicht ab acht Jahren. Ich war erst sieben und musste notgedrungen in den Kindergarten zurück. Abgesehen vom Borschtsch, den ich nicht mochte – noch heute bleibt mein Teller leer, wenn ich ihn für Gäste koche –, sprach ich, ein zwar kommunistisches, aber normales Kind, noch kein Wort Russisch. Bleib tapfer, Lisa! Nun gut, ich überstand den Kindergarten, zumindest kam ich abends zu den Eltern. Aber nicht für lange, Hilde und Hans mussten wieder los. Bei aller Bitterkeit habe ich ihnen diesmal auch zu danken: Sie gaben mich nicht ins Komintern-Kinderheim in Iwanowo, 318 km nordöstlich von Moskau. Die Entfernung wird nicht der Grund dafür gewesen sein, eher meine schlimme Prager Kinderheim-Erfahrung. Also Pflegeeltern, am besten gleich hier im Hotel Lux: Sina und Fritz Glaubauf, die mit Tochter und Schwester beziehungsweise Schwägerin zwei Zimmer mit Küche im vierten Stock bewohnten. Das Gemeinschaftsklo war am Gang, was uns Kinder überhaupt nicht störte. Es ging mir gut dort, außer dass sich die beiden Frauen, weil ich so mager war, verpflichtet fühlten, mich auf das Maß eines idealen pausbäckigen russischen Kindes zu bringen. Die arme Ira, meine Ziehschwester, hatte als Folge bereits viel früher als ich mit Übergewicht zu kämpfen. Obendrein musste sie täglich Geige üben und war damals überhaupt »oberg’scheit« und eingebildet.

Ich will über Ira schreiben: Auf grausame Weise wurde sie vom Leben zu derjenigen gemacht, die sie heute ist: stark, tapfer und vor allem dobraja. Der russische Begriff kann ins Deutsche nur mit mehreren Wörtern übersetzt werden: gut, gütig, gutherzig. Dobraja ist nie sentimental gemeint. Ira begann eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere in Lateinamerikanistik, heiratete, brachte einen Sohn, Igor, zur Welt. Das Kind war geistig schwerst behindert. Ihr Mann suchte das Weite. »Männer halten das nicht aus«, sagte ihr ein Professor in Wien. Jahre vergingen mit Arztbesuchen. Eines Tages gab sie die Hoffnung auf. Mutter und Tante halfen ihr, so konnte sie noch zu einem internationalen Kongress nach Mexiko fahren. Die Mutter starb, die Tante wurde selbst ein Pflegefall. Die Unterbringung in einem Heim kam bei den dort herrschenden russischen Verhältnissen nicht in Frage. Und Ira, längst selbst nicht mehr gesund, zog den Karren weiter. Sie ist nicht verbittert, klagt nicht, ist ohne Aufhebens dankbar für Hilfe und freut sich an den Enkelkindern ihrer einstigen Ziehschwester Lisa.

Im Sommer lebten wir auf der Datscha, ein Zimmer, gemietet, primitiv, nicht wie bei den vorrevolutionären Datschniki in Gorkis Drama, dessen deutscher Titel nobel »Sommergäste« lautet. Aber uns Kindern war’s recht. In der Nähe hatten wir sogar einen kleinen See, am Baum eine Schaukel, an der Wettkämpfe um den weitesten Absprung vom höchsten Schwungpunkt abgehalten wurden; ohne Blessuren ging es nicht ab, man konnte sie stolz herzeigen. Freilich – die größte Sensation, die Sensation für das gesamte Datschenvolk war die Ankunft meiner Oma. Wahrhaftig der Besuch der alten Dame. Einer Ausländerin! Professorenwitwe! Und so elegant! Mutterseelenallein im wilden Land! Ohne Russisch zu können! Bei unseren Plumpsklos! Man bewunderte ihre Tapferkeit über alle Maßen. Oma war damals um fünfzehn Jahre jünger als ich heute. Sie wurde in Prag geboren, verlebte dort Kindheit und Jugend und konnte sich, obwohl in ihrer Familie deutsch gesprochen wurde, über das Tschechische durchaus mit Russen verständigen. Unternehmungslustig war sie immer, eine Bergwanderin, der Plumpsklos nicht fremd waren. Und Russland war für sie kein wildes Land, auch die Sowjetunion nicht. Noch bevor sie zu ihrem kommunistischen Schwiegersohn kam, war sie in Wien Mitglied im Verein der Freunde der Sowjetunion. Sie war nicht »politisch«, wie das so schön heißt, sondern schlicht an allem Neuen in der Welt interessiert. Und eine gute Oma für das Lisalein. Das war 1937: für mich eine schöne Erinnerung an Oma auf der Datscha, für Russland aber, samt Hotel Lux, ein schwarzes Jahr.

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Lisa, 1936

Meine kleine Freiheit

Als die Eltern wieder einmal kurz nach Moskau kamen, wurde ich zum ersten Mal in die Entscheidung über mein weiteres Dasein einbezogen. Für mich war klar – alles, nur keine Pflegeeltern mehr. Ich benahm mich wie ein trotziges Kleinkind: Ich allein! Großer Dank an Hilde und Hans: Sie stimmten zu. Ich übersiedelte auf demselben Stockwerk ein paar Türen weiter, wurde, was den »Haushalt« betraf, von der Frau eines Wiener Schutzbündlers betreut, von der österreichischen Kolonie im Lux verwöhnt und war ansonsten vollkommen frei. Nach gemachten Schulaufgaben zog ich durch die Gänge des Hauses und tat, was bei erwachsenen Lux-Bewohnern Usus war: klopfte an Türen, suchte mir Gesellschaft. Mein erwählter Onkel wurde Robert, Hans Täubl, wie er richtig hieß. Er muss mich gern gehabt haben, so viel Zeit, wie er mit mir verbrachte, war immer lustig und liebevoll. Abends war meistens er es, der mich zu Bett brachte. Dann blieb ich allein. Im Finstern hatte ich niemals Angst, und das Lux war ja rundherum voll von Menschen. Man muss sich das vorstellen: ein eigenes Zimmer! Und ich konnte darin tun und lassen, was ich wollte! Ich bastelte mir eine Wandzeitung. Genauer gesagt waren es Bilder aus Zeitungen und eine Karte der Fronten im Spanischen Bürgerkrieg. Als ich ein Lebensalter später zum ersten Mal in Spanien war, fuhr ich durch meine Wandzeitung: Madrid und No pasarán!, die Parole meiner Generation, Guadalajara, Teruel, Almeria, Valencia, Tarragona, Barcelona …

Am Morgen machte ich mich auf den Weg zur Schule, endlich, fuhr mit der heute längst nicht mehr existierenden Tramway A, im Volksmund zärtlich Annuschka genannt, den Boulevard entlang, zur damaligen Kropotkinstraße, wo sich die deutsche Karl-Liebknecht-Schule befand. Die Tramway rumpelte und ruckelte auf den ausgewerkelten Schienen, und ich, die ich trotz Verbots alles den Buben nachmachen wollte, hing auf dem Trittbrett und fiel in einer Kurve sogar einmal unvermutet herunter. Der Schaffner musste jäh anhalten, alle schimpften, ich stand mitten auf dem Nikitski-Platz und schämte mich in Grund und Boden.

Nun, auch dieser Schulantritt endete abrupt, diesmal aus tragischem Grund. Noch in meinem ersten Schuljahr wurde von einem Tag auf den anderen der Unterricht eingestellt. Jahre später erfuhr ich die Ursache: Etliche Lehrer, Schüler und junge deutsche Arbeiter waren vom NKWD verhaftet worden. Sie hätten sich bemüht, so warf man ihnen vor, in der Sowjetunion einen Ableger der Hitlerjugend aus deutschen Emigrantenkindern aufzuziehen. Siebzig Menschen verschwanden in Gefängnissen und Lagern, vierzig wurden hingerichtet. Ich erinnere mich nicht, wie und ob man es den Schülern überhaupt erklärte. Und gar uns Erstklässlern. Mein Gefühl, in einem paradiesischen Land zu leben, konnte der Vorfall nicht trüben. Ich wechselte in eine russische Schule, und damit hatte sich’s.

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Oma Helene Oppenheim nach ihrer Rückkehr nach Österreich, 1950

Die nächste Wende

In Sachen Schule hatte ich also wiederum Pech, ansonsten abermals Glück – wenn auch in Form einer schweren Krankheit. Die Sache begann als sowjetische Bilderbuchgeschichte schlechthin: Mitte Mai 1938 wurde Hans, gerade in Moskau, zu einer exklusiven Dampferfahrt über den im Jahr zuvor eröffneten Moskau-Wolga-Kanal eingeladen. Mit Tochter, versteht sich. Hilde war damals in Paris. Wir schifften uns ein, bezogen eine prächtige Kabine, das Schiff legte ab. In der Nacht begann ich zu fiebern. In der Früh wurde der Schiffsarzt geholt. Man wollte noch abwarten. Hans las mir aus dem eben ins Deutsche übersetzten Buch von Michail Iljin »Berge und Menschen« vor; es erzählte – kindgerecht – von den Plänen zur »Bezwingung der Natur«, wie der Slogan der sowjetischen Fünfjahrespläne lautete. Es war trotzdem ein gutes, spannendes Buch, bloß dass ich im Fieber kaum etwas davon mitbekam. Denn das Fieber stieg. Der Schiffsarzt bemerkte die Nackensteife, schloss auf Meningitis und verständigte den Kapitän. Und das Schiff, mit all seinen illustren Passagieren an Bord, machte kehrt und fuhr zum Moskauer Hafen zurück. Wenn ich mich nicht erinnern würde, wie elend mir war, könnte ich unsere Ankunft als Triumphzug bezeichnen. Der Rettungswagen wartete und ich wurde auf einer Tragbahre durch ein Spalier von Gaffern ans Ufer transportiert. Ein Triumphzug für ein knapp neunjähriges Kind! Wie ich später hörte, nahm das Schiff die Rundfahrt nicht mehr auf. Und viel, viel später erfuhr ich, dass eben dieser gefeierte Kanal von Lagerhäftlingen gebaut worden war.

Als ich im Spital erwachte, sah ich hinter dem Fenster meinen Vater, er weinte. Ich lag da und konnte mich kaum bewegen. Nicht nur aus Schwäche. Alle paar Tage kam ich in den Operationssaal und die Ärzte holten Flüssigkeit aus meinem Rückenmark. Lumbalpunktion hieß das. Mir war der Name egal, der Stich tat weh, aber er war auszuhalten. Jedes Kind im Zimmer begann in aller Früh zu zittern, wenn es an diesem Tag punktiert werden sollte. Erst als ich die Arme noch immer nicht heben konnte, tauchte das Wort Kinderlähmung auf. In Russland gab es kaum Erfahrung damit. Es war dort die erste Epidemie. Hilde wurde geholt. Und nach der Entlassung ging’s direkt nach Kunzewo, in die Ferienanlage der Komintern, genauso wichtig für das soziale Leben der Komintern-Leute und -Kinder wie das berühmtere Hotel Lux. Ich hatte wieder Glück: Gelähmt blieb zu guter Letzt nur der linke Arm, nie ein sonderliches Problem für mich. Und ich blieb von da an bei den Eltern.

Der prosaische Anfang einer großen Freundschaft

Über Kunzewo müsste ich lange erzählen: von unseren Raubzügen in den Himbeergarten bis zu den ersten Verliebtheiten. Doch das kommt später. Hilde und ich hatten ein schönes Zimmer im »großen Haus«, Hans kam an den Samstagen zu uns, und ich bekam sogar eine Katze: Minka. Minka liebte mich heiß, schlief bei mir im Bett und legte uns als Liebesgabe täglich tote Mäuse vor die Tür. Und eines Tages saß ich am (Gang-)Klo, und da ich die Türe lieber nicht absperrte, ging sie plötzlich auf und ein junges Mädchen stand vor mir. »Soll ich dir helfen?«, fragte sie. Ach, wie sehr ich es damals hasste, wenn man mir, dem »gelähmten Kind«, helfen wollte. (Noch heute hasse ich es, wenn man mir alter Frau aus Hilfsbereitschaft die kindischsten Sachen erklärt. Nur wenn mir jemand im Bus Platz macht, bin ich dankbar.) »Njet«, sage ich brüsk. Aber Edja, so hieß das Mädchen, ließ sich nicht abschrecken. »Wenn du willst, mach ich dich mit meiner kleinen Schwester Naja bekannt, ihr könnt miteinander spielen.« Naja kommt von Nadeschda, zu Deutsch »Hoffnung«. Doch benannt wurde sie von ihren Eltern nach Nadeschda Krupskaja, der Witwe Lenins.

Nun begann eine lange Freundschaft mit Naja und fürs Erste ein wunderschöner Sommer mit täglichen Wanderungen und – oh, Schreck! – Kriegsspielen. Zur Beruhigung der Leserschaft: Es waren Kämpfe zum Schutz der sowjetischen Grenzen vor kapitalistischen Bösewichten. Wir waren nicht viele und ich musste wegen meines lahmen Arms, der in eine Armbinde geschoben wurde, ohnedies dauernd den verletzten Rotarmisten spielen. In gewisser Hinsicht spielte ich die Hauptrolle, denn erlittene Wunden wiesen mich ohne sonstige Verdienste als Heldin aus.

Bei den Expeditionen waren wir zu zweit. Naja und ich. Morgen für Morgen packten wir in unseren einzigen Rucksack etwas Brot, eventuell zwei Äpfel, Wasser in der Flasche, vielleicht noch eine Decke zum Sitzen und marschierten los. Wir ließen das Eingangstor der umzäunten Siedlung hinter uns und wanderten über einen Feldweg zu einem kleinen, mitten in die weiten flachen Felder hineingeratenen Hügel, eine grüne, geheimnisvolle Insel. Dort breiteten wir unser Proviant aus, schauten nach, ob seit dem vorigen Tag jemand auf unserer Insel gehaust hatte, und Naja, die Ältere, erzählte mir Dinge aus Büchern, die sie schon und ich noch nicht gelesen hatte. Ihr Gedächtnis war phänomenal, es reichte bis zum kleinsten Detail und sie verstand es zu erzählen. Streit gab es nie, höchstens Auseinandersetzungen. Wer schrieb »Eugen Onegin«? Naja sagte: Puschkin. Ich: Tschaikovski. Was Literatur anlangt, war sie meine erste Lehrerin. Sie unterrichtete bis ins hohe Alter russische Literatur, ihre Schüler verehrten sie.

Gemeinsam trauerten wir um Minka. Sie verschwand, wurde angeblich, so erklärte der Direktor, von einem Auto überfahren und danach von ihm »entsorgt«. Wir Kinder glaubten dem Direktor kein Wort, er wollte keine Katzen in Kunzewo und muss Minka irgendwie weggeschafft haben. Gerne hätten wir sie selbst begraben.

Im Dezember 2008 flog ich nach Moskau. Naja hatte Krebs. Sie war sehr schwach, konnte nur mehr flüstern, bei vollkommen klarem Bewusstsein. Umso schwerer der Abschied. Wir wussten beide – für immer. Ich beugte mich tief zu ihr: »Najuschenka, ich danke dir für alles, was wir miteinander erlebt haben.« Sie verstand. Einige Tage nach meiner Rückkehr kam das Skype-Mail von ihrer Enkelin: »Tante Lísanjka, Najenka ist gestorben.«

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Naja, Anfang der 50er Jahre

Moskau ist viel schöner als Paris

Man hoffte noch, meinen Arm zu revitalisieren. Georgi Dimitrow, der Held des Leipziger Reichstagsbrandprozesses und Generalsekretär der Komintern, sammelte Geld, damit ich zur Behandlung ins Ausland geschickt werden konnte. Die Reise begann toll. Da wir mit dem Zug nicht mehr durch Deutschland fahren konnten, ging es per Flugzeug über Stockholm nach Paris. In den damaligen kleinen Maschinen flog man wie auf einer Achterbahn: Luftloch – runter, dann wieder rauf, runter, rauf. Die Erwachsenen zitterten. Ich genoss es. Das zweite unvergessliche Erlebnis war der sogenannte Schwedische Tisch im Stockholmer Hotel. Nicht nur, dass man sich nehmen durfte, so viel man mochte – die bunte Fülle faszinierte. Es war Herbst 1938. Die Kriegsnot lauerte schon auf Europa.

In Paris erwartete uns Hans, wir fuhren mit dem Taxi durch die nächtliche Stadt zum Hotel. Was für eine Enttäuschung für mich! Das sollte ein Hotel sein, so klein und schäbig, wie es war? Mein erster, »seitenverkehrter« Kulturschock? Auch als wir am nächsten Tag über die Champs-Élysées spazierten, blieb ich skeptisch. Und als wir nach einigen Tagen mit Hildes Prager Cousin in einem Café saßen und er mich nach Erwachsenenart fragte, wie mir Paris gefiele, antwortete ich dezidiert: »Moskau ist viel schöner als Paris!« Der Onkel war nicht böse, er lachte bloß. Unmöglich für mich damals, die Hauptstadt der Sowjetunion minder zu schätzen. (Ähnliches verkündete unsere Enkelin Dana, als sie in meinem damaligen Alter war, in Chile: »Wien ist viel schöner als Santiago!«)

Ich gewöhnte mich an Paris, lernte Französisch und ging zur Schule. Wieder eine Episode, die ich mir gemerkt habe: Es gab einen Rechentest, den ich, da es ja um Zahlen, nicht um französische Wörter ging, offensichtlich fehlerlos ablieferte. Die Lehrerin sah ihn durch, rief eine Kollegin herbei, und ich, nicht wissend, wie mir geschah, wurde stante pede in die nächsthöhere Klasse geführt.