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ISBN 978-3-8437-0217-1

2012 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat & Redaktion:
Heike Gronemeier, München
Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

Dieses Buch befasst sich mit dem Alltag in deutschen Gefängnissen, nicht mit individuellen Biographien. Es handelt vom Zustand des Strafvollzugs, nicht von Einzelschicksalen. Auch dort, wo über abstrakte und typisierte Beschreibungen des Gefängnislebens hinaus Beispiele geschildert werden, hat der ­Au­tor seine Erfahrungen so verfremdet, dass sie niemandem zuzuordnen sind. Die geschilderten Fälle beschreiben also keine lebenden oder toten Personen; sie haben sich nicht zugetragen, hätten sich aber so wie beschrieben zutragen können.

Von Greueln flüstert man –
und Taten unnatürlich
erzeugen unnatürliche Zerrüttung.
Die kranke Seele will ins taube
Kissen entladen ihr Geheimnis.

Arzt über Lady Macbeth

Prolog

Seit fünfundzwanzig Jahren bin ich Arzt im Knast. Rechne ich 220 Arbeitstage im Jahr und die Zeiten für Nacht-, Wochenend- und Bereitschaftsdienste zusammen, habe ich bis heute gut zwölf Jahre meines Lebens hinter Gittern verbracht. Hätte mir das jemand vor dreißig Jahren prophezeit, ich hätte ihn ausgelacht. Damals träumte ich davon, als Flying Doctor in Australien zu arbeiten. Die endlose Weite dieses Landes war für mich der Inbegriff von Freiheit und Selbstbestimmung. Von Enge hatte ich weiß Gott die Schnauze voll: das kleine Dorf im Westerwald, aus dem ich stamme, die starren Familienstrukturen, überhaupt das ganze System, in dem ich während der fünf­ziger und sechziger Jahre groß geworden bin – alles war irgendwie reaktionär. Mein Weg schien vorgezeichnet. Als ältester Sohn sollte ich den Bauernhof meines Vaters übernehmen oder wenigstens katholischer Priester werden. Der Großbauer, der Pfarrer, das waren die Respektspersonen auf dem Dorf. Meine Freiheit habe ich mir hart erkämpfen müssen. Das Aufwachsen auf einem Bauernhof kann im Rückblick etwas sehr Romantisches haben. Tatsächlich war das Leben hart, wir Kinder mussten früh mit anpacken. Der Besuch des Gymnasiums war keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Privileg, das ich mir sauer verdienen musste. Der Hof, die Kirche und die Schule bildeten die drei Eckpfeiler, zwischen denen ich mich bewegte. Mehr Spielraum war nicht. Heute weiß ich, dass mir das Aufwachsen in diesen starren Strukturen dabei geholfen hat, frei zu sein. Zwänge entwickeln einen unguten Sog; aber wer es schafft, sich dagegenzustemmen, aufzubegehren und auf sich selbst zu vertrauen, bekommt eine Menge Rüstzeug für das Leben mit. Deshalb ist es auch gar nicht so paradox, dass ich meine Freiheit in gewisser Weise wieder an den Nagel gehängt habe. Ich bin im Knast gelandet, eine größere Enge gibt es nicht. Aber ich habe mich aus freien Stücken dafür entschieden – meinem ­Lebensmotto folgend: »Es gibt einen Weg, den nur du gehen kannst. Frag nicht, wohin er dich führt. Geh ihn!« Es ist etwas anderes, wenn man einen Pfad beschreiten muss, den andere vorab markiert haben.

Heute bin ich der Hausarzt von Sicherungsverwahrten, von Mördern, Kinderschändern, Totschlägern, Vergewaltigern, Erpressern, Räubern, Drogendealern, Betrügern und Dieben. Ich bin RAF-Terroristen begegnet, ehemaligen KZ-Wärtern, hochkarätigen Wirtschaftskriminellen, Heiratsschwindlern, Brandstiftern und Frauen, die ihr Baby umgebracht haben. Aber auch vielen Eierdieben.

Etwas anderes als Arzt hätte ich im Knast niemals sein wollen. Auch nach fünfundzwanzig Jahren nicht. Der Beruf des Arztes ist ein freier Beruf, er gewährt ein hohes Maß an Selbstbestimmung – außerhalb der Mauern und auch dahinter. Ein Arzt im Knast genießt Ansehen und Respekt, wenn er seinen Job gut macht und mit den Abläufen vertraut ist. Wenn er ­be­reit ist, seinen Rücken auch schon mal für seine Patienten breitzumachen, sprich: wenn er sich gegebenenfalls auch mit Anstaltsleitern, Psychologen, Sozialarbeitern, den Mitarbeitern von Sicherheit und Ordnung und nicht zuletzt mit dem uniformierten Dienst argumentativ auseinandersetzt. Auch wenn es nicht immer leicht ist, seine Unabhängigkeit zu wahren und sich dennoch einzumischen.

Mir macht es Freude, mit schwierigen Patienten umzugehen, ihre brüchigen Lebensläufe zu studieren und mich – anders als im Film oder auf der Bühne – mit realen Figuren zu beschäftigen, die plötzlich in der schlimmsten Tragödie ihres Lebens angekommen sind. Da geht es nicht um Fiktion oder irgendwelche Bagatellen. Im Knast ist alles echt. Das Leben hinter Gittern mag sich zwar hin und wieder um etwas drehen, was ich bereits im Theater gesehen oder sogar selbst auf der Bühne dargestellt habe. Aber hier stehst du nicht mehr auf Brettern, die die Welt bedeuten. Hier stehst du knöcheltief in der Scheiße, bist konfrontiert mit einer Realität, die dir alles abverlangt. Als Arzt im Knast bin ich verpflichtet, einen Menschen, dessen Taten ich womöglich zutiefst verurteile, als »normalen Patienten« zu betrachten. Hier sitzt ein Mensch, der meiner Hilfe bedarf. Ein armes Schwein, das im Knast an einer Krebserkrankung sterben wird. Das sich vor Schmerzen windet, nur noch ein Häufchen Elend ist. Auf seiner Akte prangt »Lebenslang«; wenn ich sie durchblättere, weiß ich, dass er wegen eines grausamen Doppelmordes zu Recht einsitzt. Wenn ich genauer lese, ergibt sich ein Gesamtbild; wie in einem Puzzle fügt sich ein Teil zum anderen. In den Biographien der Scheiternden zeigen sich menschliche Abgründe am exemplarischsten. Als Arzt im Knast kommt man diesen Abgründen sehr nahe. Sich davon abzugrenzen und dennoch die Fähigkeit zur Empathie nicht zu verlieren, ist wohl die größte Schwierigkeit. Ich bin der Überzeugung, dass mir mein zweites Leben als Schauspieler dabei hilft.

Das Theater, der Film, bildet immer auch ein Stück weit die Gesellschaft ab. Zeigt Ausschnitte einer inszenierten Wirklichkeit. Der Knast ist die Realität, ein Spiegel der gesamten Gesellschaft. Was hier angeschwemmt wird, gehört keineswegs nur zum Bodensatz Deutschlands, zur Unterschicht einer glo­balisierten Gesellschaft. Hier kommt es zu einem Frontal­zusammenstoß von Welten, die in Freiheit keinerlei Berüh­rungspunkte hätten. Das Einzige, was die Häftlinge eint, ist die Tatsache, dass sie mehr oder minder schwer gegen das Gesetz verstoßen haben. Wenn so unterschiedliche Charaktere auf engstem Raum zusammentreffen, sind Konflikte vorprogrammiert. Und ich als Arzt hinter Gittern bin oft die letzte vermittelnde Instanz. Ich bin für viele Häftlinge eine Vertrauensperson. Ich unterliege der Schweigepflicht, und das wissen auch die Täter, die im Knast einsitzen. Wir reden nicht nur über die Erkrankung, wegen der sie in meine Sprechstunde gekommen sind. Wir reden über das Leben, über die Straftat oder über den Druck, der im Knast herrscht. Als Arzt komme ich meinen kriminellen Patienten viel näher als mancher Anwalt oder Seel­sorger. Als Arzt muss ich darüber entscheiden, wer wie lange in einer Beruhigungszelle eingesperrt bleiben soll, ich sehe die Auswirkungen schlimmster Misshandlungen, muss gegensteuern, wenn jemand an der Haftsituation zu zerbrechen droht. Manchmal habe ich das Gefühl, der Knast ist der Vorhof zur Hölle.

Dass ich an dieser Belastung noch nicht gescheitert bin, mag daran liegen, dass ich eine Art Doppelleben führe. Ich bin seit über zehn Jahren für das deutsche Fernsehen jener Mann im grünen Kittel, der sich im Kölner »Tatort« über Leichen beugt, nach dem ärztlichen Befund befragt wird und in knapper, zuweilen mürrischer Sprache Auskunft gibt. Nach der ­letzten Einstellung bei den Dreharbeiten ziehe ich den Kittel wieder aus und kehre in jene Strafvollzugsanstalt nach Südwestfalen zurück, wo ich mich seit fünfundzwanzig Jahren um knapp neunhundert Inhaftierte kümmere. Ich bin TV-­Pathologe und Gefängnisarzt in einer Person, und man könnte sagen, ich gebe im Fernsehen lediglich etwas von dem wieder, was ich hinter hohen Gefängnismauern tagtäglich praktiziere. Den TV-Gerichtsmediziner sehen sonntags bis zu zehn Mil­lionen Menschen über den Schirm flimmern. Den Gefäng­nisarzt, der seine Arbeit in einem uralten Knast verrichtet, sieht außerhalb der Mauern kein Schwein. Mir hat die Kom­bination mit der Schauspielerei geholfen, den Beruf des Gefängnisarztes so lange auszuhalten und dabei nicht zynisch zu werden.

Knast ist keine Autobiographie. Auch wenn mein eigener, auf den ersten Blick etwas unorthodoxer Lebenslauf sicher maßgeblich dazu beigetragen hat, dass ich heute als Arzt im Knast arbeite. Den Bausch im Knast gäbe es nicht ohne den Bausch auf der Bühne. Als junger Schauspieler am Theater war ich fasziniert von Regisseuren wie Zadek, habe alles aufgesogen, was irgendwie schräg war, authentisch, das pralle Leben. Im Knast schlägt es dir mit viel größerer Wucht entgegen. Du kannst dich nicht entziehen, hinter deiner Rolle verstecken. Ein Gefängnis ist eine hermetisch abgeriegelte Welt. Nur bei spektakulären Zwischenfällen hebt sich der Vorhang ein wenig, die »von draußen« können einen kurzen Blick erhaschen. Wie dieser Mikrokosmos tatsächlich funktioniert, erfährt man nicht. Wie schwer es ist, den Knast im Knast auszuhalten. Die Isolation, das System der Hackordnung unter den Häftlingen, die Spannungen, die beinahe körperlich spürbar sind, sobald das Haupttor hinter einem zufällt. Was macht das mit einem Menschen, der hier einsitzt oder auch nur hinter den Mauern einer JVA arbeitet? Als Schauspieler muss ich mich mit Haut und Haaren auf eine Rolle einlassen und meine eigene Persönlichkeit zurücknehmen. Als Arzt im Knast kann ich nur bestehen, wenn ich mich selbst akzeptiere – mit all meinen Stärken und Schwächen. Wenn ich mir meiner sicher bin und frei, wenn ich die Würde der Gefangenen respektiere.

Nirgendwo habe ich mehr über Moral, Menschlichkeit und Menschenwürde gelernt als in meinem Elternhaus und im Theater.

Und nirgendwo wurde ich schwerer geprüft als im Knast.

Arzt im Knast I

Der erste Gang

Im Februar 1987 machte ich mich zum ersten Mal auf den Weg von Bochum zur Justizvollzugsanstalt Werl, um meinen zukünftigen Arbeitsplatz in Augenschein zu nehmen. Der Weg zum Gefängnis war – wohl aus Rücksicht auf das Image der Stadt – damals noch nicht ausgeschildert. Alles, was ich wusste, war, dass der Knast irgendwo am Langenwiedenweg liegt. Schon nach kurzer Zeit hatte ich mich heillos verfahren, weshalb ich einen Passanten nach dem Weg fragte. Der grinste nur und meinte, da hätte ich wohl noch ein ganzes Stück vor mir: Er habe schon einige gesehen, die seien vor ein paar Jahren hier entlanggefahren und seien bis heute noch nicht zurückgekommen. Haha! Wirklich ein guter Witz. Am Ende hat er mir dann doch den richtigen Weg gewiesen, und kurze Zeit später tauchte vor mir das gewaltige Areal auf.

Die JVA befindet sich auf einem knapp fünfzehn Hektar großen Gelände, die ältesten Gebäude stammen aus dem Jahr 1906. Ein altehrwürdiger Kasten mit drei Hafthäusern, in denen rund 630 Einzel- und 240 Gemeinschaftszellen untergebracht sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente Werl den Alliierten als Knast für verurteilte Kriegs- und NS-Verbrecher; bis 1969 war es ein berüchtigtes Zuchthaus, spezialisiert auf harte Fälle. Ständig modernisiert und erweitert, ist Werl heute eine der größten Justizvollzugsanstalten in Deutschland.

Und hier sollte ich nun also arbeiten, als Hausarzt all derer, die man früher gerne als »Abschaum der Nation« bezeichnete. Ich hatte gemischte Gefühle und nur unter der Bedingung zugesagt, dass ich von einem Tag auf den anderen kündigen könne, denn ich war mir nicht sicher, ob ich diese Aufgabe packen würde. Klar, sie war spannend und interessant, eine große Herausforderung. Doch der Job erschien mir wie der ­berühmte Sprung ins kalte Wasser. Außer einem erfolgreich absolvierten Medizinstudium hatte ich kaum etwas vorzu­weisen, meine praktischen Erfahrungen – ich hatte bereits zwei Jahre als Assistenzarzt in einem Krankenhaus und einer Privatklinik gearbeitet – wirkten angesichts der Größe der neuen Aufgabe beinahe kläglich. Ich sollte zunächst zweimal in der Woche Sprechstunden für Strafgefangene abhalten, die mit allen ­Wassern gewaschen waren und jede Unsicherheit vermutlich gnadenlos ausnutzen würden. Wie ich zu ihnen ein Vertrauensverhältnis aufbauen sollte, war mir schleierhaft. Zumal ich zumindest in der Anfangszeit sicher von allen Seiten kritisch unter die Lupe genommen werden würde. Nicht nur von den Häftlingen, auch von den übrigen Ärzten, den Pflegern und den Bediensteten. Das liegt in der Natur der ­Sache, im Knast muss man einfach auf der Hut sein, bis man weiß, wie der andere tickt.

Angst vor der neuen Aufgabe hatte ich aber nicht. Es war eher eine gespannte Neugier, die mich erfasste, je näher ich dem Knast kam. Ob meine zukünftigen Patienten wirklich so waren, wie sie in der Zeitung beschrieben wurden? Wie benahmen sich all diese Mörder, Dealer und Halsabschneider im Alltag in der Haftanstalt? Wie war es, einem Mörder direkt gegenüberzusitzen? Gab es den geborenen Verbrecher, dem nicht mehr zu helfen war? Die Gedanken in meinem Kopf wirbelten wild durcheinander.

Nachdem ich meinen Wagen geparkt hatte, ging ich zur Personalpforte und schellte. Per Gegensprechanlage wurde mir mitgeteilt, dass mich der Sanitätsdienstleiter gleich ab­holen würde. Als sich die Tür geöffnet und ich die Schleuse zum Vorhof passiert hatte, fiel mein Blick zuerst auf die im­ponierende Fassade der Anstaltskirche mit dem in den Himmel ragenden Turm. »Beten und büßen«, das war das Konzept deutscher Zuchthäuser bis Ende der sechziger Jahre. Vor mir lag nun derselbe Weg, den jeder neue Gefangene zu gehen hat. Türen wurden auf- und hinter mir wieder zugeschlossen, dann betrat ich den Vorraum mit den sogenannten Transporter­zellen. In diesen Zellen werden Gefangene untergebracht, die weiterverlegt werden sollen oder eben erst im Knast angekommen sind und sich sozusagen noch in der Warteschleife be­finden.

Als Nächstes passierten wir die Kammer. Hier werden Neuankömmlinge ein- oder umgekleidet, hier werden ihre privaten Sachen gefilzt, hier wird darüber entschieden, was sie auf die Zelle mitnehmen dürfen und was nicht. Alles, was bei der Überprüfung durchfällt, wird in Säcke oder in Kartons gegeben, die anschließend vor den Augen des Delinquenten verplombt oder versiegelt werden, bevor sie bis zu dessen Entlassung in einem großen siloartigen Raum gelagert werden. Mit seiner kargen Erstausstattung unter dem Arm verlässt der Täter die Kammer und betritt einen schmalen Flur, der nach un­gefähr vierzig Metern ins Zentrum des alten Zuchthauses führt, eines beinah sakral anmutenden Kreuzbaus. Hier treffen die vier Seitenflügel aufeinander. Über mir die engmaschigen Sicher­heitsnetze, vor mir vier Etagen mit Treppen und Balustradengängen rechts und links, an denen entlang sich nach beiden Seiten die Zellen reihen. So sieht über hundert Jahre alte preußische Gefängnisarchitektur aus. Sie erschien mir wie ein abweisendes Labyrinth.

Mein Weg brachte mich weiter über den Zellentrakt des C-Flügels in den eingeschossigen Anbau, in dem sich das Lazarett befindet. Da meine Sicherheitsüberprüfung damals noch lief, war ich bei meinem ersten Gang natürlich nicht im Besitz eines eigenen Schlüssels. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich ein Gefangener fühlt, der zum ersten Mal diesen Weg gehen muss – in dem Bewusstsein, dass er die nächsten Jahre keine einzige Tür mehr selbst öffnen oder hinter sich schließen wird. Für mich war dieses Gefühl der Ohnmacht vierzehn Tage später beendet, als ich meinen eigenen Schlüssel erhielt. Jetzt war ich einer von denen, die an einem Bund große, blank abgewetzte Schlüssel tragen; deren schepperndes Geräusch hat mich lange verfolgt. Überhaupt gewöhnte ich mich nur allmählich an den Mikrokosmos Gefängnis mit seinen zahllosen Regeln. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich dieser Realität stets nach Dienstschluss entfliehen konnte. Ich war nur der Arzt, kein Gefangener, der am Abend in seiner Zelle eingeschlossen wurde.

Als ich meinen eigenen Schlüssel erhielt, empfand ich das wie die Aufnahme in einen Orden: Ich hatte jetzt Schlüsselgewalt. Die einen haben einen Schlüssel, die anderen nicht. Nicht nur für die Gefangenen hat der Schlüssel einen Symbolwert, auch wenn dieses kleine Ding letztendlich nur darüber entscheidet, ob man etwas so völlig Banales tun kann, wie eine Tür zu öffnen. Im Gefängnis trennen Türen Welten.

Der Inhaftierte gibt im Knast nicht nur seine Klamotten ab, sondern beinahe jede Form der Eigenständigkeit, fast alles ist fremdbestimmt. Was soll’s, mag man denken, hat sich der Kerl doch selbst zuzuschreiben. Dieses Gefühl der Ohnmacht wirkt noch lange nach, auch in Freiheit. Ich erinnere mich gut daran, dass mir ein ehemaliger Patient und Insasse der JVA einige Monate nach Ablauf seiner Haft ein Foto schickte. Das Bild zeigte ihn stolz wie Bolle mit einem Schlüssel in der Hand vor einer Wohnungstür. Auf der Rückseite des Fotos stand: »Hallo Doc, das ist die erste Tür, die ich nach 22 Jahren wieder selbst auf- und zugeschlossen habe.«

Jede Tür, die der Gefangene auf seinem langen Weg bis zu seiner Zelle passieren muss, bestätigt ihm aufs Neue seine Unfreiheit. Zwischen mir und der Freiheit liegt nicht nur eine verdammt hohe Mauer mit bewaffneten Turmposten, Über­wachungskameras und Stacheldraht. Zwischen mir und der Freiheit liegt Tür auf Tür auf Tür auf Tür …; es ist, als entferne man sich mit jeder Tür einen Schritt weiter von der Welt der anderen, bis man, in der Zelle angekommen, nur noch auf sich selbst reduziert ist. Das mag durchaus Sinn der Sache sein, schließlich ist Haft keine Butterfahrt. Der Gesetzgeber will ­abschrecken. Schmerzliche Eingriffe in persönliche Freiheiten sind ein Mittel, um Reue und Einsichtsfähigkeit zu fördern. Höflichkeit und Demut sind Haltungen, die jeder Gefangene schnell verinnerlichen sollte. So müssen Häftlinge im Abstand von anderthalb Metern vor der jeweiligen Tür warten, bis der Vollzugsbedienstete sie aufgeschlossen hat. Erst nach einer Aufforderung dürfen sie hindurchgehen und haben anschließend im gleichen Abstand zu warten, bis die Tür wieder verriegelt ist. Begleitet von einem Beamten marschieren sie den Gang entlang, bis ihnen die nächste Tür den Weg versperrt. Dieses Ritual wiederholt sich täglich unzählige Male. Es gibt keinen Insassen, der irgendeinen Weg außerhalb der Zelle alleine gehen darf. Der einzige Schlüssel, der sich während der Haft in seinem Besitz befindet, ist der für das Vorhängeschloss am Spind und hin und wieder der für die Zellentür. Das mag irritieren, hat aber einen konkreten Sinn. In Zeiten der »Freizügigkeit«, also den Stunden zwischen 18 und 20 Uhr, in denen sich die Gefangenen wochentags auf den Fluren und in den Tee­küchen frei bewegen können, tragen sie selbst dafür Sorge, ­ihren Haftraum hinter sich zuzuschließen, damit sie nicht beklaut werden. Das funktioniert aber nur in diese eine Richtung. Von innen haben sie keine Möglichkeit, die Zellentür aufzuschließen. Sie wird sich nur zu festgelegten Zeiten oder im Notfall öffnen.

Der dumpfe Klang, wenn die schweren Türen ins Schloss fallen, die scheppernden Schlüssel, die das Personal am Hosenbund trägt, waren auf meinem ersten Gang die lautesten Geräusche. Dafür, dass sich in diesem Knast knapp tausend Leute tummelten, war es erstaunlich ruhig. Hier und da ein Murmeln, mehr nicht. Die meisten Häftlinge waren bei der Arbeit, und die, die noch in den Zellen waren, hatten längst kapiert, dass alles, was über Zimmerlautstärke hinausgeht, zu einer Reaktion der Vollzugsbeamten führt. Wer schreit, tobt oder nicht bereit ist, die Musik leise zu stellen, der wird wegen Ruhestörung und Verstoß gegen die Anstaltsordnung diszipliniert. Und schon ist der Fernseher weg oder das Radio, oder der Störenfried wird schlimmstenfalls, wenn er sich weiter uneinsichtig zeigt, für kurze Zeit in den Bunker verbracht.

Mich hat diese Stille anfangs irritiert. Weil sie die Spannung verstärkt hat, die im Knast beinahe mit den Händen zu greifen ist. Bleiern, grau, wie die Türen, wie die Gänge.

Zeit

Ein drogenabhängiger Gefangener, den ich einmal gefragt habe, wie er Zeit im Gefängnis wahrnimmt, hat es auf den Punkt gebracht: »Wissen Sie, Doc, die Tage im Knast sind alle gleich lang, aber unterschiedlich breit.« Der eigentliche Zeit­geber im Knast ist nicht die Uhr, sondern der Schlüssel. Mit dem Aufschluss morgens beginnt der Tag, mit dem Nacht­verschluss endet er. Dazwischen wechseln sich Einschließen, Zuschließen, Aufschließen, Durchschließen, Umschließen und Vorschließen ab. Nirgendwo sonst habe ich so viele un­terschiedliche Formen des Schließens oder Begriffe für das Wort Schließen kennengelernt wie im Knast. Das Geräusch, wenn der schwere Schlüssel ins Schloss greift, das laute Klacken – zweimal –, bis es sich öffnet, zeigt wie das Ticken einer Uhr an, dass die Zeit verrinnt.

In Werl stehen knapp 900 Insassen ohne Schlüssel etwa 420 Bediensteten und Mitarbeitern mit Schlüsseln gegenüber. Ein Häftling braucht keine Uhr, sie ist allenfalls schmückendes Beiwerk, eine Reminiszenz an vergangene oder zukünftige Zeiten. Wer ohnehin keinen Termin selbständig wahrnehmen kann, sich nicht ohne jemanden, der Türen öffnet und wieder hinter einem zuschließt, zu einer Verabredung beim Pfarrer, beim Sozialarbeiter oder beim Arzt einfinden kann, entwickelt ein anderes Gefühl für Zeit. Sie wird im Knast in ganz anderen Dimensionen gemessen. Die Zeit von der Festnahme bis zur Verurteilung, vom Antritt der Haft bis zum Zeitpunkt der Entlassung, wenn denn überhaupt ein fester Entlassungszeitpunkt feststeht. Die Zeit von Brief zu Brief, von Besuch zu Besuch, von Paket zu Paket, wenn es denn jemanden gibt, der eines schickt. Die Zeit von einem Einkauf bis zum nächsten, vom ersten Aufschluss frühmorgens bis zum Nachtverschluss.

Die Monotonie der Abläufe bestimmt nicht nur den Alltag der Insassen, sondern auch den der »Schlüsselträger«. Bei Dienstantritt nehmen sie den Schlüssel an der Pforte aus ihrem Fach, und dann sperren sie Hunderte Male am Tag Zellen- und Durchgangstüren auf und wieder zu. So wie den Beamten das Schließen in Fleisch und Blut übergeht, so gewöhnen sich auch die Gefangenen daran, Tage, Monate oder Jahre vor oder hinter verschlossenen Türen zu stehen und zu warten.

Das Lazarett

Der Weg zu meinem neuen Arbeitsplatz kam mir vor wie eine Ewigkeit. Eine Reise durch ein Labyrinth, hinein in eine mir völlig unbekannte Welt. Mit dem Lazarett würde ich endlich wieder ein Terrain betreten, auf dem ich mich sicher fühlte, in dem ich mich auskannte. Doch als ich im Krankentrakt stand, empfing mich dort eine Tristesse, die mich wirklich umgehauen hat. Grau gestrichene hohe Decken und Wände, die mit einem mannshohen und graugrün abgesetzten Sockel ver­sehen waren. Düsteres, abgewetztes Mobiliar und eine medizinische Ausstattung, die an längst vergangene Zeiten erinnerte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn plötzlich Ferdinand ­Sauerbruch um die Ecke gebogen wäre.

Stattdessen nahm mich der Sanitätsdienstleiter – so nannte man den Pflegedienstleiter damals – unter seine Fittiche und zeigte mir mein neues Wirkungsfeld. Zuerst die vier »Warteräume« zur Linken: Zellen mit einfachen, fest verschraubten Holzbänken auf beiden Seiten. An den Wänden hatten sich frühere Patienten mit allerlei anzüglichen Sprüchen, Flüchen und Schmierereien verewigt. Gegenüber der Behandlungsraum des Zahnarztes, zehn Schritte weiter der Eingang zu meinem Sprechzimmer. Auch hier fühlte ich mich um Jahrzehnte zurückversetzt. Ein dunkler, wuchtiger Schreibtisch aus den Sechzigern, eine fast antik wirkende Untersuchungsliege, ebenso anmutende Blechschränke, in denen sich die verschreibungspflichtigen Medikamente sowie verschiedene kleinere Untersuchungsgeräte befanden. Im sogenannten Ordinationsraum nebenan standen ein großer Aktenschrank für die Untersuchungsbögen der Patienten, ein weiterer Schreibtisch, ein Behandlungsstuhl, ein Autoklav zur Sterilisation von chirur­gischen Instrumenten sowie weitere Schränke, in denen die Medikamente verwahrt wurden, die von den Krankenpflegern ausgegeben werden durften.

Eine Tür weiter betrat man den Raum für die physikalische Therapie: Hier waren ein Kurzwellengerät, eines für die Bestrahlung mit Rotlicht sowie ein altertümlich anmutendes Gerät für Strombehandlungen und für die Wärmetherapie untergebracht. Gegenüber lagen der Röntgenraum und ein kleines Zimmer, in dem Laboruntersuchungen durchgeführt und Röntgenbilder entwickelt wurden; außerdem wurde den Häftlingen hier Blut abgenommen.

Zu beiden Seiten des langen Flures befanden sich die Krankenzellen mit einem oder mehreren Betten, außerdem eine Toilette sowie ein großes Bad mit Duschen und einer Badewanne. Alles war sehr sauber und gepflegt – aber verdammt alt. Die medizinische Ausstattung wirkte größtenteils wie aus der Zeit gefallen, nur wenige Dinge genügten dem Standard im Jahr 1987. Auf meine Nachfrage hin zeigte mir der Leiter des Sanitätsdienstes ein mobiles EKG-Gerät, einen 1-Kanal-Schreiber, der offenkundig sehr selten zum Einsatz gekommen war, und einen Defibrillator, der in einem Schrank langsam vor sich hin rostete.

Dass ich nicht sofort schreiend davongelaufen bin, lag an meinen zukünftigen Mitarbeitern. Die meisten empfingen mich freundlich und respektvoll, sie wirkten engagiert und hofften, dass nach Jahren des häufigen Arztwechsels endlich jemand gefunden war, der dauerhaft als Anstaltsarzt arbeiten wollte. Abgesehen von dem Hintertürchen der sofortigen Kündigung hatte ich mir eigentlich vorgenommen, in diesen Job ein, vielleicht zwei Jahre zu investieren. Von dauerhaft konnte aus meiner damaligen Perspektive also keine Rede sein. Gleichzeitig ist es aber auch nicht so, dass ich einfach hängengeblieben wäre. Zu einem Job im Knast muss man jeden Tag aufs Neue »ja« sagen. Man muss sich seine Neugierde bewahren, seine Empathiefähigkeit, seinen Glauben daran, dass man ­etwas bewegen kann. Und man braucht ein Team, auf das man sich verlassen kann. Bricht einer dieser Pfeiler weg, ist man verratzt. Der Knast ist wie ein Fluss. Wird man als Nichtschwimmer, als Neuling, da hineingeworfen, egal ob als Häftling oder Angestellter, muss man ganz schnell schwimmen lernen – oder man wird todsicher ertrinken.

Knastsprechstunde

Kaum dreißig Minuten nach meinem Rundgang über die Krankenstation begann meine erste Sprechstunde. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommen würde. Das Einzige, was mir der Leiter des Sanitätsdienstes noch mit auf den Weg gegeben hatte, war folgende Faustregel: Zu jeder Sprechstunde melden sich zwischen sechzig und achtzig Patienten an. Achtzig Prozent davon seien Simulanten, zwanzig Prozent tatsächlich krank. Diese möglichst schnell und sicher herauszufiltern und zu behandeln, sei eine der wichtigsten Aufgaben, die ein Arzt im Knast zu lösen habe, ansonsten sei es fast wie draußen.

Sechzig bis achtzig Patienten auf einen Sitz, das konnte ja heiter werden. Alles Männer, alle in der gleichen Anstaltskleidung, jeder mit einer anderen Geschichte, keine Ahnung, wie ich das alles auseinanderkriegen sollte.

Von meiner ersten Sprechstunde ist mir denn auch nur ein Patient nachhaltig im Gedächtnis hängengeblieben, und zwar mein allererster. Es handelte sich um einen etwa vierzigjährigen Insassen mit geschminktem Gesicht, schlechtsitzendem Toupet und leicht tuntenhaft wirkendem Auftreten. Seiner Akte entnahm ich, dass er in seinem Haftraum nur in Frauenkleidern herumlief und davon überzeugt war, transsexuell zu sein. Außerhalb der Zelle musste er die übliche Anstaltskleidung tragen. Wegen eines Gallensteinleidens sollte er zur Operation in das Justizkrankenhaus verlegt werden.

Bevor ich überhaupt einen Ton sagen konnte, legte er los. Er scheiße auf die ganzen Psychologen und Gutachter, die hätten ja alle keine Ahnung. Er fühle wie eine Frau, er kleide sich wie eine und überhaupt sei er eine. Und weil er nun mal eine Frau sei, habe er auch das Recht, wie eine behandelt zu werden. Aus ebendiesem Grund bestehe er im Krankenhaus auf einer angemessenen Unterbringung – und zwar auf der Frauenstation! »Wenn Sie das nicht hinkriegen, Herr Doktor, dann …« Ohne die Drohung weiter auszusprechen, sprang der Patient auf und rauschte zur Tür hinaus. Ich blieb etwas ratlos sitzen. Nach ausführlicher Akteneinsicht war klar: Der Mann musste auf die Männerstation.*

Im Nachhinein konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mir die Krankenpfleger mit Absicht diesen Patienten zuerst ins Sprechzimmer geschickt hatten. Um mir einen kleinen Vorgeschmack auf die ganze Bandbreite unterschiedlicher Typen und Biographien zu geben, die mich in Zukunft erwartete.

Eine andere Episode aus meiner Anfangszeit ist mir ebenfalls noch bestens im Gedächtnis. In den ersten Wochen kamen erstaunlich viele Patienten mit Hämorrhoidalleiden, Analbeschwerden, Leisten- oder Hodenschmerzen zu mir. Natürlich habe ich jedes Mal eine gründliche körperliche Untersuchung durchgeführt, habe abgetastet und befühlt, Salben oder Medikamente verschrieben, doch anscheinend ohne nennenswerten Erfolg. Die Herren klagten nach wie vor über die gleichen Beschwerden, es hatte sogar den Anschein, als würden immer mehr Insassen an diesen Symptomen leiden. Bis mich einer der erfahrenen Krankenpfleger schmunzelnd über diese sonderbare Epidemie aufklärte: Ein Großteil der ihm bekannten schwulen Gefangenen sei inzwischen bei mir vorstellig geworden, um den neuen Doktor auf vergleichsweise intime Art kennenzulernen. Na, wenigstens konnten sie hinterher berichten, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes keine Berührungsängste habe …

Auch meine Frau wurde auf die Probe gestellt. Etwa sechs Wochen nach meinem Amtsantritt ergab sich für sie die Möglichkeit, sich meinen neuen Arbeitsplatz anzusehen. Sie arbeitete als Krankenschwester, hatte also ein berufliches Interesse, und da sie noch nie einen Knast von innen gesehen hatte, nahm sie das Angebot des Sanitätsdienstleiters an, sie herumzuführen. Bis ich mit der Sprechstunde fertig war, sollte sie im Aufenthaltsraum der Krankenpfleger Platz nehmen. Dort wurde sie von einem Gefangenen, der als Hausarbeiter beschäftigt war, fürsorglich empfangen. Er kochte der »Frau Doktor« einen Kaffee und fragte beiläufig, ob sie nicht ein paar Zeitschriften zum Lesen und Blättern haben wolle. »Ist doch unterhaltsamer. Ich bring Ihnen mal die besten, die wir hier haben!«, meinte er und verschwand mit einem breiten Grinsen. Als ich mit dem Pfleger aus dem Sprechzimmer kam, staunte ich nicht schlecht, meine Frau mit hochrotem Kopf und unsicher lächelnd vor einem Stapel Sexmagazine sitzen zu sehen.

Wenn ich heute an meine Anfangszeit zurückdenke, muss ich manchmal grinsen. Nicht nur wegen solcher Geschichten. Sondern weil ich wirklich angekommen bin. Ich kann mir ein Leben ohne meine Arbeit im Knast nicht mehr vorstellen. Bald wanderte ich so schlafwandlerisch durch die Anstalt, als wäre ich hier seit langem zu Hause. Die Gänge des weitläufigen Gebäudes, in denen ich mich zunächst immer wieder verlaufen hatte, das ewige Durchschließen, die ganzen Sicherheitsvorkehrungen – all das kommt mir inzwischen so selbstverständlich vor, dass es mir gar nicht mehr auffällt. Das Lazarett hat sich mittlerweile zu einer modernen Krankenstation und Polyklinik gewandelt. Die Ausstattung ist auf dem neuesten Stand, die Gänge sind hell, Türen aus Sicherheitsglas sorgen zusätzlich für etwas Transparenz. Nur die Fenster erinnern daran, wo man sich befindet. Auf die dicke Scheibe folgt ein Edelstahlgitter, dahinter eine Feinvergitterung; zusätzlich verhindert Stacheldraht an den Dachkanten einen Aufstieg auf das Flachdach. Durch die Fenster blickt man auf die beiden großen Freistundenhöfe, auf einen Wachturm und eine mit Gittern und Stacheldraht abgetrennte kleinere Grünfläche, auf der gefährliche Insassen, denen der Kontakt zu anderen Gefangenen untersagt wurde, ihre Freistunden verbringen. Die Aussicht endet an der fünfeinhalb Meter hohen Mauer mit den sieben Wachtürmen.

Die knastspezifischen Abläufe während der Sprechstunde sind inzwischen Routine für mich. Im Vorführbüro sitzen zwei oder drei Krankenpflegebeamte, die Namenslisten führen, die Gefangenen empfangen und mit einer Sonde – ähnlich wie auf dem Flughafen – auf gefährliche Gegenstände überprüfen. Gefangene, die unter ständiger Bewachung stehen, genießen eine besondere Behandlung. Sie werden, begleitet von zwei Justiz­beamten, unmittelbar dem Arzt oder den Krankenpflegern vorgestellt. Alle anderen werden nach dem Zufallsprinzip auf die einzelnen Wartezellen verteilt, um zu verhindern, dass sich Gefangene gezielt im Krankenrevier verabreden. Außerdem müssen die Vorführbeamten dafür sorgen, dass gewisse Sicherheitsmaßnahmen eingehalten werden: In den Akten ist vermerkt, wer beim Arzt nur in Begleitung vorstellig werden darf, wer sich mit wem eine tätliche Auseinandersetzung geliefert hat und wen man daher tunlichst nicht in ein und denselben Warteraum stecken sollte. Die Beamten sorgen dafür, dass kein Gefangener unbeobachtet bleibt, solange er sich in der Krankenabteilung aufhält, sie haben ein Auge darauf, dass dringende Fälle anderen vorgezogen werden und dass sich nie mehr als ein, maximal zwei Gefangene gleichzeitig in Sprechzimmer und Behandlungsraum aufhalten.

Wenn die Behandlung abgeschlossen ist, kümmern sie sich darum, dass der Patient zu seiner Arbeitsstelle oder seinem Haftraum zurückbegleitet wird. Zum Sicherheitskonzept eines Hochsicherheitsgefängnisses gehört nicht zuletzt, dafür zu sorgen, dass kein Gefangener sich »frei« – also unbegleitet oder außerhalb der Sichtweite von Beamten – im Knast bewegt. Der Aufenthaltsort eines Häftlings muss immer und zu jeder Zeit bekannt sein. Für den Gang zum Arzt bedeutet das, dass ein Insasse wie bei einer Stafette von einem Beamten zum nächsten übergeben werden muss, bis er die Praxis erreicht hat. Wird ein Gefangener dennoch einmal vermisst, muss sein Verbleib in Minutenschnelle geklärt werden können. Im Sprech­zimmer und in den Untersuchungsräumen darf man weder als Arzt noch als Pfleger allein mit einem Patienten sein. Mindestens eine weitere Person muss bei der Behandlung anwesend sein, auch für den Fall, dass es zu einem Übergriff kommt.

Inzwischen bin ich einer der Dienstältesten in Werl, seit fast fünfzehn Jahren schon wohne ich sogar im Schatten der Gefängnismauern in einem alten, von Efeu und wildem Wein umrankten Haus. Das ist zwar recht praktisch, führt aber immer wieder auch zu kuriosen Szenen. Wie weit das Maß an sozialer Kontrolle und an Überwachung in die Wohnungen und die Gärten der angrenzenden Häuser hineinreicht, wurde mir schon wenige Wochen nach unserem Einzug klar. Eines Abends schellte das Telefon, der Anruf kam aus dem Knast. Einer der Beamten hatte vom Wachturm aus gesehen, dass verdächtige Personen mit Taschenlampen durch unseren Garten schlichen. Er fragte an, ob er die Polizei informieren solle oder ob ich mich der Sache selbst annehmen wolle. In diesem Fall gehörte nicht allzu viel Mut dazu, die »Täter« zu stellen. Es handelte sich lediglich um meine Tochter, die mit einigen anderen Kindern zu später Stunde noch im Garten spielte.

Wenn man im Sommer mit Freunden auf der Terrasse sitzt, kann man sicher sein, dass man am nächsten Tag darauf angesprochen wird: »Na, am Wochenende ist es bei Ihnen ja ganz schön hoch hergegangen, ein feuchtfröhlicher Abend, was? Dauerte ja ziemlich lange. Hatten Sie Besuch aus München?« Spätestens nach einer solchen Bemerkung weiß man, dass man bei einem Krach mit den Kindern oder einem Ehestreit besser die Fenster schließen sollte.

Überrascht hat mich allerdings, wie schnell solche Informationen auch bei den Insassen die Runde machen. Ein Häftling verblüffte mich einmal mit folgender Bitte: »Ich habe gehört, dass Sie offenbar gute nachbarschaftliche Beziehungen zu unserem Anstaltsgeistlichen unterhalten. Beim nächsten Treffen könnten Sie doch einmal mit ihm über mich sprechen.« Andere Gefangene beglückwünschten mich während der Sprechstunde zu meinem neuen Auto.

Dem Blick vom Turmposten entgeht kaum etwas: an- und abreisende Gäste, Nachbarschaftsbesuche, Familienfeste und wer mit wem gelegentliche oder auch intensivere Kontakte unterhält. Das ist der Preis, den ich für einen kurzen Weg zu meinem Arbeitsplatz zu zahlen habe. Andererseits können wohl nur wenige Menschen von sich behaupten, ein so umfassend bewachtes Haus zu bewohnen … Außer mir können das noch der Anstaltsleiter, der Geistliche sowie einige Inspektoren und Beamte des uniformierten Dienstes behaupten, deren Häuser und Dienstwohnungen sich wie ein Gürtel um die Anstalt legen. Ähnlich wie bei alten Kliniken, die Personalbauten für Ärzte und Pflegekräfte auf dem Gelände errichtet hatten. Bei Knästen galt früher die sogenannte Residenzpflicht für den Anstaltsleiter und das leitende Personal. Inzwischen wurde dieses Wohnkonzept aufgegeben, was auch daran liegt, dass Gefängnisneubauten heute eher fernab der Ortszentren errichtet werden. Zweckbauten aus Beton, die längst nicht mehr den Charme ausstrahlen wie jene denkmalgeschützten preußischen Anstalten aus der Zeit der Jahrhundertwende.

Im Knast und in der Stadt nennen mich alle nur »Doc«, nach meiner Rolle als Doktor Roth im »Tatort«. Die Menschen im Norden des Sauerlands sind offen und geradlinig, sie bevor­zugen klare Kante. Scheint so, als würde ich da ganz gut reinpassen. Auch in den Knast. Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten jenes Maß an Vertrauen und Anerkennung gewonnen, ohne das ein Arzt in der Haftanstalt nicht praktizieren kann. Dass mir das schon nach relativ kurzer Zeit gelungen ist, liegt vermutlich auch daran, dass ich seit meiner Kindheit keine Berührungsängste gegenüber Straffälligen kenne.

* Hier wie bei allen folgenden Beschreibungen konkreter Fälle gilt, was in der Vorbemerkung angekündigt worden ist: Der Autor hat seine Erfahrungen so verfremdet, dass sie niemandem zuzuordnen sind. Eine ähnliche Situation mit einem Transsexuellen hat es also gegeben, den beschriebenen Patienten aber nicht.