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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage April 2012
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München
Titelabbildung: © Messer: gettyimages/science photo library;
Biene: shutterstock, SimonG
Satz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN 978-3-8437-0285-0
Für Meike
»Jeder von uns ist sein eigener Teufel,
und wir machen uns diese Welt zur Hölle.«
oscar wilde
Westberlin – 13. Oktober, 23:09 Uhr
Gabriel stand an der Türschwelle und starrte hinab. Das Licht aus dem Hausflur fiel die Kellertreppe hinunter und wurde von den Ziegelwänden verschluckt.
Er hasste den Keller, besonders nachts. Nicht etwa, dass es einen Unterschied gemacht hätte, ob es draußen hell oder dunkel war. Im Keller war es immer Nacht. Doch tagsüber konnte man nach oben flüchten, raus in den Garten, raus ins Licht. Nachts dagegen war es überall finster, auch draußen, und in jeder Ecke hockten Gespenster. Gespenster, die kein Erwachsener sehen konnte. Gespenster, die nur darauf warteten, einem elfjährigen Jungen die Klauen in den Nacken zu schlagen.
Trotzdem konnte er nicht anders, als gebannt nach unten zu starren, in den hinteren Teil des Kellers, wo das Licht verebbte.
Die Tür!
Sie war offen!
Ein schwarzer Spalt klaffte zwischen der dunkelgrauen Wand und der Tür. Dahinter lag das Labor, dunkel wie Darth Vaders Todesstern.
Sein Herz schlug bis zum Hals. Fahrig wischte Gabriel sich die feuchten Hände am Schlafanzug ab, seinem Lieblingsschlafanzug, dem mit Luke Skywalker von Star Wars auf der Brust.
Der schwarze hohe Türspalt zog ihn magisch an. Langsam setzte er seinen nackten Fuß auf die erste Stufe. Das Holz der Kellertreppe fühlte sich rau an und knarrte verräterisch. Doch er wusste, dass sie ihn nicht hören würden. Nicht solange sie stritten, hinter der verschlossenen Küchentür. Es war ein schlimmer Streit. Schlimmer als sonst. Und es jagte ihm Angst ein. Gut, dass David nicht dabei war, dachte er. Gut, dass er ihn in Sicherheit gebracht hatte. Sein kleiner Bruder hätte geweint.
Und trotzdem wäre es jetzt gut, nicht allein zu sein, in diesem Keller, mit den Gespenstern. Gabriel schluckte. Der Spalt starrte ihn an wie ein Höllenschlund.
Sieh nach! Luke würde es auch tun.
Vater würde toben, wenn er ihn jetzt sehen könnte. Das Labor war Vaters Geheimnis, und es war gesichert wie eine Festung, mit einer Tür aus Metall und einem schwarz glänzenden Türspion. Niemand sonst hatte das Labor jemals gesehen. Selbst Mutter nicht.
Gabriels Fußsohlen berührten den nackten Betonboden des Kellers, und er schauderte. Erst die warmen Holzstufen und nun der kalte Stein.
Jetzt oder nie!
Plötzlich drang ein helles Knurren durch die Kellerdecke. Gabriel zuckte zusammen. Das Geräusch kam aus der Küche über ihm. Es klang, als wäre der Tisch über die Fliesen geschrammt. Für einen Moment überlegte er, ob er besser nach oben gehen sollte. Mutter war dort ganz alleine mit ihm, und Gabriel wusste, wie wütend er werden konnte.
Sein Blick flog zurück, zu der im Dunkeln schimmernden Tür. Eine solche Gelegenheit würde es vielleicht nie wieder geben.
Er hatte schon einmal hier gestanden, etwa zwei Jahre war das her. Damals hatte Vater vergessen, die obere Kellertür zu verriegeln. Gabriel war neun gewesen. Er hatte eine Weile im Hausflur gestanden und hinuntergespäht. Am Ende hatte die Neugier gesiegt. Auch damals war er die Treppe in den Keller hinuntergeschlichen, voller Angst wegen der Gespenster und trotzdem in völliger Dunkelheit, weil er es nicht wagte, das Licht einzuschalten.
Der Türspion hatte rot geglüht, wie das Auge eines Monsters.
Hals über Kopf war er wieder nach oben geflüchtet, zurück zu David ins Kinderzimmer, und in sein Bett gekrochen.
Jetzt war er elf. Jetzt stand er wieder hier unten, und das Monsterauge glühte nicht. Dennoch, der Türspion starrte ihn an, kalt und schwarz, wie ein totes Auge. Nur das bisschen Licht auf der Kellertreppe und er selbst spiegelten sich darin. Je näher er kam, desto größer wurde sein Gesicht.
Aber warum roch es hier eigentlich so widerlich?
Seine nackten Füße tasteten sich vor, und er trat in etwas Nasses, Breiiges. Kotze. Das war Kotze! Deshalb roch es hier so widerlich. Aber warum war ausgerechnet hier Kotze?
Er würgte den Ekel herunter und scheuerte sich den Fuß an einer trockenen Stelle des Betonbodens sauber. Trotzdem blieb etwas zwischen seinen Zehen kleben. Er hätte jetzt gerne ein Handtuch gehabt oder einen nassen Lappen, aber das Labor war wichtiger. Er streckte seine Hand vor, legte sie auf die Klinke, zog die schwere Metalltür ein wenig weiter auf und schob sich in die Dunkelheit. Eine unnatürliche Stille hüllte ihn ein.
Grabesstille.
In seine Nase stieg ein scharfer chemischer Geruch, wie im Filmkopierwerk, in das Vater ihn einmal nach einem seiner Drehtage mitgenommen hatte.
Sein Herz galoppierte. Viel zu schnell, viel zu laut. Er wünschte, er wäre woanders, bei David vielleicht, unter der Bettdecke.
Luke Skywalker würde sich niemals unter der Bettdecke verkriechen.
Die Finger seiner linken Hand suchten zitternd nach dem Lichtschalter, ständig darauf gefasst, etwas ganz anderes zu finden. Was, wenn sie hier waren, die Gespenster? Wenn sie seinen Arm packten? Wenn er ihnen aus Versehen ins Maul fasste und sie ihre Zähne zusammenschlugen?
Da! Kühles Plastik.
Er drückte den Schalter. Drei rote Lampen flammten auf und tauchten den Raum vor ihm in eine eigentümliche dunkelrote Glut.
Rot, wie im Bauch eines Monsters.
Ein Kribbeln stieg seinen Rücken empor, bis zu den Haarwurzeln. Er blieb an der Schwelle zum Labor stehen, irgendwie war da so etwas wie eine unsichtbare Grenze, die er nicht übertreten wollte. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, Einzelheiten zu erkennen.
Das Labor war größer, als er gedacht hatte, ein Schlauch, etwa drei Meter breit und sieben Meter tief. Direkt neben ihm hing ein schwerer Vorhang aus schwarzem Molton. Jemand hatte ihn hastig beiseitegerafft.
Unter der Betondecke waren Wäscheleinen gespannt, an denen Fotos hingen. Einige waren heruntergerissen worden und lagen auf dem Boden.
Auf der linken Seite stand ein Vergrößerer für Fotos. Rechts erstreckte sich ein Regal über die gesamte Wand, vollgepackt mit Geräten. Gabriels Augen weiteten sich. Die meisten der Geräte erkannte er sofort: Arri, Beaulieu, Leicina, und dazwischen noch andere, kleinere Kameras. Die Fachzeitschriften, die sich in Vaters Arbeitszimmer im ersten Geschoss stapelten, waren voll davon. Immer, wenn eine dieser Zeitschriften in den Müll gewandert war, hatte Gabriel sie herausgefischt, unter seinem Kopfkissen deponiert und abends unter der Decke im Taschenlampenschein gelesen, bis ihm die Augen zufielen.
Neben den Kameras lagen ein Dutzend Objektive, einige so lang wie Gewehrläufe; daneben kleinkalibrige Fotoapparate, Hüllen zum Dämpfen der Laufgeräusche der Kameras, 8- und 16-mm-Filmpatronen, ein Stapel aus drei VHS-Videorecordern mit vier Monitoren und zuletzt: zwei nagelneue Videocamcorder. Plastikbomber schimpfte Vater die Dinger immer. In einer der Zeitschriften hatte er gelesen, man könne mit der neuen Videotechnik fast zwei Stunden filmen, ohne die Kassette zu wechseln – einfach unglaublich! Dazu kam, dass die Plastikbomber nicht so ratterten wie Filmkameras, sondern geräuschlos liefen.
Gabriels Blick wanderte über die Schätze, seine Augen glänzten. Er wünschte, er könnte das alles hier David zeigen. Sofort bekam er ein schlechtes Gewissen. Schließlich war das hier gefährlich. Da durfte er David nicht mit hineinziehen. Außerdem hatte sein Bruder schon geschlafen. Es war richtig gewesen, die Tür vom Kinderzimmer abzuschließen.
Plötzlich polterte es laut. Erschrocken fuhr er herum. Doch da war niemand. Keine Eltern, kein Gespenst. Sie stritten wohl immer noch, oben in der Küche.
Er blickte zurück ins Labor, auf all die Schätze. Komm näher, schienen sie zu flüstern. Aber er stand immer noch an der Schwelle, neben dem Vorhang. Furcht kroch in ihm empor. Noch konnte er zurück. Er hatte das Labor ja jetzt gesehen, er musste es nicht auch noch betreten.
Elf! Du bist elf! Komm schon, sei kein Feigling.
Wie alt war eigentlich Luke?
Zögernd tat Gabriel zwei Schritte in den Raum.
Was waren das für Fotos? Er bückte sich, hob eins vom Boden auf und starrte auf das verwaschene grobkörnige Bild. Ein jähes Gefühl von Ekel und eine seltsame Erregung breiteten sich in seinem Unterleib aus. Er sah nach oben, auf die Fotos, die an der Wäscheleine hingen. Das Bild direkt über ihm zog seinen Blick an wie ein Magnet. Sein Kopf wurde heiß und rot, wie alles um ihn herum auch. Zugleich wurde ihm ein wenig übel. Es sah so echt aus, so … oder waren das Schauspieler? Es sah aus wie im Film! Diese Säulen, die Mauern, wie im Mittelalter, und die schwarzen Kleider …
Er riss sich los, und sein Blick sprang über die zerwühlte Ablage, das Regal und blieb schließlich an den modernen Videorecordern hängen, auf denen kleine JVC-Logos glitzerten. Der unterste davon war eingeschaltet. In seiner spiegelblanken Anzeige leuchteten Zahlen und Zeichen. Wie bei Star Wars, im Cockpit eines Raumschiffs, dachte er.
Gabriels Zeigefinger näherte sich wie von selbst den Tasten und drückte eine davon. Er zuckte zusammen, als es im Inneren des Gerätes laut klackte. Zweimal, dreimal, dann das Surren eines Motors. Eine Kassette! In dem Gerät steckte eine Kassette! Seine Stirn brannte. Fiebrig drückte er einen weiteren Knopf. Der JVC antwortete ratternd. Störstreifen zuckten über den Monitor neben den Videorecordern. Das Bild zappelte noch einen Moment, dann war es da. Diffus, mit flimmernden Farben, unwirklich, wie ein Fenster zu einer anderen Welt.
Unwillkürlich hatte Gabriel sich vorgebeugt – und zuckte jetzt zurück. Sein Mund wurde ganz trocken. Das gleiche Bild wie auf dem Foto! Der gleiche Ort, die gleichen Säulen, die gleichen Menschen, nur dass sie sich bewegten. Er wollte den Blick abwenden, aber es war unmöglich. Er sog die stickige Luft durch den offenstehenden Mund ein und hielt dann den Atem an, ohne es zu bemerken.
Wie ein Blitzlichtgewitter hämmerten die Bilder auf ihn ein, und er konnte nicht anders, als gebannt zuzusehen.
Der Schnitt durch den schwarzen Stoff des Kleides.
Das helle Dreieck auf der noch helleren Haut.
Die wirren langen blonden Haare.
Das Chaos.
Und dann noch ein Schnitt – eine wütende und scharfe Bewegung, die sich förmlich in Gabriels Eingeweide übertrug. Schlagartig war ihm übel, und alles drehte sich. Der Fernseher starrte ihn bösartig an. Zitternd fand er den Knopf.
Aus! Weg!
Mit einem dumpfen Fump stürzte das Bild in sich zusammen, als gäbe es im Monitor eins von diesen schwarzen Löchern, wie im Weltraum. Das Geräusch war schrecklich und zugleich beruhigend. Er starrte auf die dunkle Mattscheibe, in die Spiegelung seines eigenen, rot leuchtenden Gesichts. Ein Gespenst mit schreckgeweiteten Augen starrte zurück.
Nicht dran denken! Nur nicht dran denken … Er starrte auf die Fotos, auf das ganze Durcheinander, nur ja nicht auf den Monitor.
Was du nicht siehst, ist nicht da!
Aber es war da. Irgendwo im Monitor, tief drinnen im schwarzen Loch. Aus dem Videorecorder drang ein leises schleifendes Geräusch. Er wollte die Augen zukneifen und an einem anderen Ort wieder aufwachen. Egal wo. Nur nicht hier. Immer noch hockte er vor seinem gespenstischen Spiegelbild in den Monitoren.
Plötzlich überkam Gabriel der verzweifelte Wunsch, etwas Schönes zu sehen oder einfach nur etwas anderes. Als hätten sie einen eigenen Willen, steuerten seine Finger auf die anderen Monitore zu.
Fump. Fump. Die beiden oberen Monitore blitzten auf. Zwei flaue Videobilder kristallisierten sich und warfen einen stahlblauen Schimmer in das rote Laborlicht. Das eine Bild zeigte den Hausflur und die geöffnete Kellertür; die Treppe wurde von der Dunkelheit verschluckt. Das zweite Bild zeigte die Küche. Die Küche und – seine Eltern. Aus dem Lautsprecher schnarrte die Stimme seines Vaters.
Gabriel riss die Augen auf.
Nein! Bitte, nein!
Sein Vater stieß gegen den Küchentisch. Die Tischbeine schrammten hart über den Boden. Das Geräusch übertrug sich durch die Decke, und Gabriel zuckte zusammen. Sein Vater riss eine Schublade auf, griff hinein, und seine Hand kam wieder hervor.
Gabriel starrte entsetzt auf den Monitor. Er blinzelte und wünschte sich, er wäre blind! Blind und taub.
War er aber nicht.
Tränen schossen ihm in die Augen. Der chemische Geruch des Labors, vermischt mit dem Erbrochenen vor der Tür, ließ ihn würgen. Er wünschte sich, dass jemand kommt, ihn in den Arm nimmt, alles wegredet.
Aber niemand würde kommen. Er war alleine.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Keulenschlag. Jemand musste etwas tun. Und er war der Einzige, der jetzt noch etwas tun konnte.
Was würde Luke tun?
Leise, mit nackten Füßen, die den kalten Boden nicht mehr spürten, schlich er die Kellertreppe hinauf. Das rote Zimmer in seinem Rücken glühte wie die Hölle.
Hätte er nur ein Laserschwert! Und dann, ganz plötzlich, fiel ihm etwas viel, viel Besseres ein als ein Schwert.
Berlin – 1. September, 23:04 Uhr
Das Foto schwebt wie ein böses Versprechen in dem fensterlosen Keller. Draußen tobt der Regen. Das alte Dach der Villa ächzt unter den Wassermassen, und an der Fachwerkfassade, direkt über der Haustür, rotiert ein dunkelrotes Licht und lässt die Villa im Sekundentakt aufglühen.
Die Taschenlampe zuckt durch die Dunkelheit des Kellerflurs, wie ein Finger aus Licht, der das schwarz glitzernde Kleid streift, das an einem Bügel hängt wie eine aufgeschlitzte Puppe. Das Foto, das mit einer Nadel am Kleid festgesteckt ist, sieht aus der Entfernung aus wie ein Stück Tapete. Es ist blass, und die Tinte des Druckers hat sich in das einfache Papier gesaugt, so dass die Farben stumpf sind, wie abgestorben.
Das Kleid mit dem Foto daran schaukelt noch, der Bügel ist eben erst aufgehängt worden, und durch das Schaukeln wirkt es wie ein Windspiel. Lebendig und dennoch tot.
Das Foto zeigt eine junge, sehr dünne und herzzerreißend schöne Frau. Ihre Figur ist schmal und fast knabenhaft, ihre Brüste sind klein und flach, und ihr Gesicht ist in Ausdruckslosigkeit erstarrt.
Ihre sehr langen und sehr blonden Haare sind wie ein zerknittertes gelbes Laken unter ihrem Kopf. Das Kleid, das sie trägt, ist dasselbe, an dem nun dieses Foto mit einer Nadel befestigt ist. Es ist ihr wie auf den Leib geschneidert, es ist wie sie: fließend, extravagant, nutzlos und teuer. Und es ist auf der Vorderseite geöffnet, mit einem durchgehenden Schnitt, als hätte es einen offenen Reißverschluss.
Ihre Haut unter dem Kleid ist ebenfalls geöffnet, mit einem scharfen Schnitt, ausgehend vom Schoß, übers Schambein bis hin zur Brust. Die Bauchdecke klafft auseinander, das fleischige Rot der Innereien ist in gnädige Dunkelheit gehüllt. Das schwarze Kleid umfließt den Körper wie der Tod. Ein perfektes Sinnbild, so wie der Ort, an dem das schwarze Kleid jetzt hängt und darauf wartet, von ihm gefunden zu werden: im Kadettenweg 107.
Der Strahl der Taschenlampe richtet sich noch mal auf den klobigen grauen Kasten an der Wand und das angelaufene Schloss. Der Schlüssel hatte gepasst, ließ sich aber nur schwerfällig drehen, als müsste er sich erst erinnern, was seine Aufgabe ist. Eine unregelmäßige Reihe kleiner roter Birnen glimmt darin, drei sind kaputt. Zerfressene Wolframfädchen im Laufe der Jahre. Aber das macht nichts. Die Birne, auf die es ankommt, leuchtet.
Eilig tastet sich der Strahl der Taschenlampe zurück zur Kellertreppe und die Stufen empor. Im Lichtkegel sind Fußspuren, und das ist gut so. Sie werden ihn leiten, wenn er hierherkommt, ihn die Kellertreppe hinabführen bis zum schwarzen Kleid. Und bis zum Foto.
Er wird sich schlagartig erinnern. Seine Nackenhaare werden sich aufrichten, und er wird sich sagen: Das ist unmöglich.
Und dennoch: Es ist so. Er wird es wissen. Schon alleine wegen des Kellers, auch wenn es nicht dieser Keller war. Es war ja auch nicht diese Frau. Und natürlich wird es auch eine andere Frau werden. Seine Frau.
Und das an ihrem Geburtstag. Ein hübsches Detail!
Doch das Beste ist, wie sich der Kreis schließt. Denn in einem Keller hat alles angefangen, und in einem Keller wird alles enden.
Keller sind die Vorhöfe der Hölle. Und wer sollte das besser wissen als jemand, der seit einer Ewigkeit in der Hölle brennt.
Berlin – 1. September, 23:11 Uhr
Der Alarm ist inzwischen bereits neun Minuten alt. Jeder andere hätte auf dem Weg zum Wagen nach seiner Waffe gegriffen, wenigstens kurz, nur um zu fühlen, ob sie da steckt, wo sie für alle Fälle sein sollte: im Holster, direkt an der Hüfte.
Gabriel greift nicht danach; er trägt keine Waffe. Seit er denken kann, bereiten Pistolen ihm ein tiefsitzendes Unbehagen. Ganz abgesehen davon, dass ihm wohl keine deutsche Behörde einen Waffenschein ausstellen würde.
Das Wasser rinnt ihm bereits in den Kragen, als er den Wagen erreicht. Gabriel drückt den Fernauslöser für die Zentralverriegelung, und die Lichter flammen orange in der Dunkelheit auf. Er wirft sich in den Sitz und donnert die Fahrertür zu. Wasser spritzt von der nassen Gummifalz der Tür in sein Gesicht. Es gießt, als müsste der Himmel einen Flächenbrand löschen. Gabriel starrt in den Rückspiegel, wo seine Augenpartie wie ausgestanzt vor der Windschutzscheibe hängt.
Er weiß, dass er sofort den Motor starten sollte, aber ein innerer Widerstand hindert ihn daran; unter seiner Haut fließt ein warnendes Kribbeln, wie ein elektrischer Strom. Irgendetwas stimmt hier nicht. Und das ausgerechnet heute. Ausgerechnet jetzt.
Scheiß der Hund drauf, Luke. Was wartest du noch? Doch nicht etwa wegen ihr?, flüstert eine drängende Stimme in seinem Kopf.
Ich hab ihr versprochen, dass ich um kurz nach zwölf da bin, denkt Gabriel.
Das hast du ihr nicht versprochen. Sie hat es nur so verstanden. Nicht dein Problem, wenn sie so zickig reagiert.
Scheiße, murmelt er.
Scheiße? Warum? Siehst du nicht, was sie mit dir macht? Kaum lässt du dich auf jemanden ein, wirst du zum Schwächling. Als wüsstest du nicht, wie gefährlich das ist! Kümmere dich lieber um den Alarm.
Gabriel presst die Zähne aufeinander. Verdammter Alarm. Seit zwanzig Jahren ist er jetzt bei Python, und mit Abstand die meiste Zeit hat er mit Alarmanlagen zugebracht oder mit Personenschutz. Bis vor einigen Monaten hat er sogar auf dem umzäunten Gelände der Sicherheitsfirma gewohnt, in zwei spartanisch eingerichteten Zimmern, kurz vor dem Gittertor zur Straße. Yuri, sein Chef, hatte ihn unter seine Fittiche genommen und ihm Halt gegeben. Morgens Kampfsport-Training, ab 18:00 Uhr das Abendgymnasium und in jeder freien Minute dazwischen Python. Das Problem waren die Wochenenden. Wenn es zu wenig zu tun gab, war die Erinnerung über ihm zusammengeschlagen. Bis er den Unfallwagen in Yuris Garage entdeckte, einen alten Mercedes SL. Yuri überließ ihm das ramponierte Cabrio, und Gabriel, der noch nie etwas mit Autos zu tun gehabt hatte, stürzte sich in die Reparatur, als gelte es, seine Seele zu restaurieren.
Als der Mercedes fertig war, verschaffte Yuri ihm einen Jaguar E-Type und danach immer andere Klassiker aus den 70ern, so dass die Garage nie leer blieb.
Das Einzige, was Yuri dafür verlangte, war, dass er seinen Job machte. Und dafür brauchte Gabriel nun wirklich keine Aufforderung, denn wenn es für ihn überhaupt so etwas gibt wie ein Zuhause, dann ist es sein Job.
Regungslos starrt Gabriel in den Rückspiegel. Der Regen tobt auf der Motorhaube im Schein der Hofbeleuchtung. Seine Augen glänzen farblos in der Dunkelheit, und die drei kurzen, steil aufragenden Falten zwischen seinen Brauen gleichen tiefen Gräben.
Gabriel dreht den Zündschlüssel. Das Starten des Motors geht im Prasseln des Regens auf dem Wagendach unter. Er wirft den Scheibenwischer an, dann gibt er Gas, und der anthrazitfarbene VW Golf mit dem gelben Schriftzug Python Security prescht über den Hof, an den anderen Wagen des Fuhrparks vorbei, durch das offene Gittertor hinaus auf die Straße, wo der dunkelgraue Wagen in der dunkelgrauen Regennacht verschwimmt.
Kadettenweg 107.
Bis vor wenigen Minuten hatten sie noch nicht einmal gewusst, dass diese Adresse bei Python aufgeschaltet war. Der Alarm kam förmlich aus dem Nichts. Bert Cogan hatte mit seinen stets geröteten Augen auf den Monitor in der Zentrale gestiert, als hätte sich dort soeben ein Geisterhaus materialisiert. Cogan arbeitete seit über neun Jahren für Python, die Monitore waren sein persönliches Paralleluniversum, im Villenviertel Lichterfelde kannte er jeden Pixel und jedes Haus, das von Python gesichert wurde. »He, sieh dir das mal an«, hatte er konsterniert gemurmelt.
»Was denn?«, fragte Gabriel.
»Na, das hier!«, raunzte Cogan. Mit seinem bleichen, rissigen Zeigefinger deutete er auf einen rot blinkenden Punkt auf dem Screen. »Kannst du mir erklären, was das für ein Haus ist?«
Gabriel zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wenn du’s nicht weißt, ich weiß es erst recht nicht.«
»Ich dachte ja nur«, sagte Cogan und nestelte an den Bartstoppeln, die sein fliehendes Kinn überzogen.
»Was dachtest du?«
»Na ja«, murmelte er, »weil du doch schon ’ne halbe Ewigkeit dabei bist …«
»Dass ich schon ewig für Yuri arbeite, ist eins.« Gabriel deutete auf die Monitore. »Das da ist etwas ganz anderes. Hast du mal im Verzeichnis nachgesehen?«
Cogan grunzte. »Muss ich nicht. Ich kenn das Verzeichnis Lichterfelde. Da ist nichts. Überhaupt nichts.«
Gabriel runzelte die Stirn und sah auf den stumm pulsierenden roten Punkt mit der 107, direkt neben der dünnen weißen Linie mit der Aufschrift Kadettenweg. Ein seltsames Ziehen kroch von seinem Nacken die Wirbelsäule abwärts.
Was ist los, Luke?, flüsterte die Stimme in seinem Kopf. Das ist nur ein roter Punkt, wie alle anderen auch. Das hattest du schon tausendmal. Also stell dich nicht an!
»Schon gut. Schon gut«, murmelte er leise, ohne es zu merken.
»Was hast du gesagt?«, fragte Cogan.
»Hm? Ach, nichts«, sagte Gabriel rasch. Schweigend fischte er das Handy aus der Innentasche seiner schwarzen Lederjacke und wählte die Mobilnummer von Yuri Sarkov.
Es klingelte eine Weile, dann hob Yuri ab. »Hallo Gabriel«, schnarrte er. Seine Stimme klang hellwach, obwohl es in Moskau bereits deutlich nach ein Uhr war. »Was gibt’s?«
»Hallo«, murmelte Gabriel und fragte sich einmal mehr, ob Yuri jemals in seinem Leben schlief oder das Telefon abstellte. »Wir haben hier was Merkwürdiges. Ein stiller Alarm in Lichterfelde-West, mitten im Villenviertel. Aber das Haus gehört gar nicht zu unseren Kunden.«
»Hm. Wie ist denn die Adresse?«
»Kadettenweg 107«, sagte Gabriel und hielt das Handy so, dass Cogan mithören konnte.
Stille. Nur ein leises Rauschen in der Leitung.
»Yuri? Bist du noch dran?«
»107? Kadettenweg? Bist du sicher?«, fragte Yuri.
»Steht hier auf dem Monitor«, brummte Gabriel. »Sagt dir das was?«
»Bljad«, murmelte Yuri, so leise, dass Gabriel es kaum verstehen konnte. Yuri war Halbrusse, und immer wenn es etwas zu fluchen gab, wechselte er automatisch ins Russische.
»Ist das ein Kunde von uns?«
»Eigentlich schon.«
Eigentlich? Gabriel hob die Brauen. Entweder jemand war Kunde oder eben nicht. »Wer ist denn der Besitzer? Wenn du ’ne Telefonnummer hast, kümmere ich mich drum.«
»Das Haus ist nicht bewohnt«, entgegnete Yuri.
Gabriel schwieg einen langen Moment. »Und jetzt?«
Aus dem Telefon quoll Stille. Gabriel sah Yuri Sarkov förmlich vor sich, irgendwo in Moskau, bei einem lästigen Verwandtenbesuch, sah, wie er überlegte, das Telefon ans Ohr gepresst, die schmalen Lippen ausdruckslos und immer etwas blau, das schüttere Haar, die randlose Buchhalterbrille, dahinter die grauen Augen, die für einen Sechzigjährigen von derart wenig Falten umgeben waren, dass man vermuten musste, dass er weder lachte noch wütend wurde und die Haut in seinem Gesicht gar nicht wusste, in welche Richtung sie die Falten werfen sollte.
Schließlich seufzte Yuri. »Schick jemanden vorbei. Wer ist denn noch da?«
»Nur noch Cogan und ich. Sollen wir’s bei der Polizei melden?«
»Nein, nein. Ist unsere Sache. Hört sich nicht nach was Großem an. Schick Cogan, das reicht.«
Cogan schüttelte vehement den Kopf und deutete auf seine Beine. Gabriel signalisierte ihm, den Mund zu halten. »Warum Cogan? Der macht doch sonst keinen Außendienst.«
»Ich sagte: Schick Cogan«, knurrte Yuri gereizt. »Sonst klebt der noch an seinem Monitor fest. Der weiß schon gar nicht mehr, wie das draußen ist.«
»Okay. Cogan fährt«, sagte Gabriel. »Und wer ist der Besitzer? Muss ich da nicht anrufen, bevor jemand von uns aufkreuzt?«
»Lass das mal meine Sorge sein«, sagte Yuri. »Du übernimmst die Zentrale, solange Cogan weg ist.«
Cogan rollte mit den Augen, breitete in demonstrativer Verzweiflung die Arme aus und deutete wieder auf seine Beine.
»Und die Schlüssel?«, fragte Gabriel.
»Gib mir einfach Cogan, ja?«
Wortlos reichte Gabriel den Hörer an seinen Kollegen weiter. Cogan drückte das Telefon mit einem gequälten Gesichtsausdruck an sein Ohr. »Chef?«
»Hör zu«, schnarrte Sarkovs Stimme leise aus dem Hörer, »ich will, dass du da vorbeischaust. Aber mach nichts auf eigene Faust, klar? Nur die übliche Routine, mehr nicht! Ich will erst mal wissen, was da eigentlich los ist.«
»Chef, könnte nicht … Ich meine … eigentlich hab ich gar keinen Außendienst und –«
»Halt einfach die Klappe und mach, was ich sage«, bellte Sarkovs Stimme aus dem Hörer.
»Alles klar, Chef«, sagte Cogan rasch. Auf seinen Wangen traten rote Flecken hervor.
»Die Schlüssel sind im kleinen Schlüsselsafe bei mir im Büro. Es steht K107 drauf. Die Kombination ist auf 3722 eingestellt. Meld dich, wenn du weißt, was da los ist, klar?«
»Klar«, antwortete Cogan beklommen, aber Sarkov hatte bereits aufgelegt. Cogan ließ den Hörer sinken und sah Gabriel an. »Scheiße, Mann«, stöhnte er leise und rieb sich die Stirn. »Der ahnt was.«
Gabriel verzog den Mund. Cogan war Diabetiker, und sein Zucker war seit Jahren miserabel eingestellt. Inzwischen bekam er regelmäßig Wadenkrämpfe, hatte Schmerzen in den Beinen, und das Laufen fiel ihm zunehmend schwer. Dennoch gab er sich die größte Mühe, das vor Sarkov zu verbergen. Er wusste, dass seine Chancen, bei Python mit einer Behinderung arbeiten zu können, gleich null waren. Mit leerem Blick starrte er jetzt auf den rot pulsierenden Punkt auf seinem Monitor. »Ich pack das nicht. Nicht mit den Schmerzen.«
Gabriel biss sich auf die Lippen. Er wusste, dass Cogan nicht in der Lage war, nach Lichterfelde zu fahren. Andererseits wartete Liz auf ihn, und wenn er den Innendienst übernahm, dann konnte er um zwölf an Jegorow übergeben und würde pünktlich hier verschwinden.
»Verflucht«, stöhnte Cogan, »was mach ich denn, wenn da wirklich einer ist? Ich kann ja noch nicht mal wegrennen.«
»Du sollst ja auch nicht wegrennen. Immerhin hast du ’ne Waffe.«
Cogan zog eine Grimasse. Es sollte wütend aussehen, aber im Grunde war es die reine Verzweiflung.
»Ist schon gut«, sagte Gabriel. »Ich fahre. Ich hab ja schließlich Außendienst.«
Cogan seufzte erleichtert auf. »Sicher?«
Gabriel nickte halbherzig. Er dachte daran, dass er frühestens in zwei Stunden zurück sein würde, und fragte sich, wie er Liz das beibringen sollte, ohne dass sie bitter enttäuscht war.
»Und Sarkov?«, fragte Cogan. »Was sagen wir dem?«
»Yuri muss es ja nicht wissen. Ich ruf dich an und erzähl dir, was los ist. Dann kannst du mit ihm telefonieren.«
»Okay.« Cogans trübe Augen nahmen einen schwachen Glanz an. »Danke, Mann. Das rettet mir den Arsch.«
Gabriel lächelte schief. »Und du bist sicher, dass im Verzeichnis nichts über den Kunden steht?«
Cogan zuckte mit den Schultern. »Auch wenn ich lahme Beine hab, hier oben«, er tippte sich gegen die Stirn, »da läuft’s noch.«
Gabriel nickte und warf einen raschen Blick auf die Uhr. »Scheiße«, murmelte er. Nur eine halbe Stunde später, und seine Schicht wäre beendet gewesen. Er stand auf, wählte Liz’ Nummer und hastete die Treppe empor, zu Yuris Büro, um den Schlüssel zu holen.
Als sie abhob, hatte er Mühe, ihre Stimme aus dem Kneipenlärm herauszufiltern, der sie umgab.
»Liz? Ich bin’s.«
»Hey.« Ihre Stimme klang aufgekratzt. »Ich bin noch im Linus, hab bis eben mit Vanessa gequatscht, aber die ist jetzt nach Hause. Kommst du her? Wir stoßen noch an und machen einen Mitternachtsspaziergang im Park.«
Linus. Auch das noch. Plötzlich war er froh, eine Ausrede zu haben. Ins Linus würden ihn keine zehn Pferde bekommen. »Ehrlich gesagt«, brummte Gabriel und betrat Sarkovs Büro, »hab ich ein Problem hier. Ich muss noch mal raus.«
»O nein. Bitte nicht«, sagte Liz. »Nicht heute.«
Gabriel tippte die Kombination auf das Tastenfeld des Schlüsselsafes, und die Tür entriegelte sich. Vor ihm hingen drei Dutzend Schlüssel von Pythons VIP-Kunden.
»Liegt’s an der Kneipe?«, fragte Liz. »Wenn du keine Lust auf das ganze Medienvolk hast – du musst ja nicht reinkommen. Hol mich einfach nur ab.«
»Darum geht’s nicht.«
»Geht’s um David? Komm schon, du kannst nicht ewig vor ihm davonlaufen. Außerdem ist er sowieso nicht hier.«
»Liz, darum geht’s nicht. Wie gesagt, ich muss noch mal raus.«
Sie schwieg einen Moment. »Kann das nicht jemand anders machen?«
»Keine Chance«, sagte Gabriel, »leider.« Die Sache mit Cogan verschwieg er lieber. Sie hätte es ohnehin nur falsch aufgefasst.
»Du hast echt einen Scheißjob«, sagte Liz.
»Du doch auch«, schoss Gabriel zurück. Mit spitzen Fingern nahm er einen Bund mit zwei angelaufenen Sicherheitsschlüsseln vom Haken, an dem ein blassroter Plastikanhänger mit der Aufschrift K107 baumelte. »Und bisher hat’s dich nicht gestört.«
Sie seufzte, sagte aber nichts. Auf irgendetwas schien sie zu warten. Der Kneipenlärm hörte sich an wie eine Markthalle im Blecheimer.
»Okay«, seufzte sie erneut. »Dann wohl wie immer.«
»Liz, hör zu, ich –«
»Erspar es mir, ja? Außerdem muss ich auf Toilette.« Sie legte auf, und der Kneipenlärm verstummte abrupt.
Gabriel fluchte leise, schloss den Schlüsselsafe und hastete die Treppe hinunter. Dann wohl wie immer. Irgendwann heute Nacht würde er zu ihr ins Bett steigen, Liz würde sich ein- oder zweimal unruhig hin und her werfen, und es würde genau das passieren, was er immer noch nicht fassen konnte.
Er würde einschlafen.
Kein An-die-Decke-Starren, keine losen Erinnerungsfetzen, die ihn wie Blitzlichter wach hielten. Nur seine Träume waren nicht verschwunden, auch wenn sie öfter in ihrer dunklen Höhle blieben, wie in Lauerstellung, um ihn nur noch manchmal zu überfallen, mit toten Augen, mit Elektroschocks oder dem Gefühl, bei lebendigem Leib zu verbrennen. Doch anders als früher gab es jetzt etwas, das ihn beruhigte, wenn er mit rasendem Herz hochschreckte, aus einem wirren Traum, der so real war, dass die Realität ihm dagegen vorkam wie eine Sinnestäuschung.
Kaum zwei Minuten später steuerte Gabriel den Golf über den Hof von Python, an seiner alten Wohnung und der Garage mit seinen zwei Motorrädern vorbei, durch das offene Gittertor hinaus auf die Straße, wo er nach links abbog und dem Navi in Richtung Kadettenweg folgte.
Er vermisst seine alte Wohnung nicht, im Gegenteil. Er hat das Gefühl, etwas Lästiges abgestreift zu haben, wie einen alten verkrusteten Teil seiner Seele. Als er damals, vor einem Jahr, zu Yuri ging, hatten ihn Schuldgefühle gedrückt. Yuri hatte ihm ein neues Leben verschafft. Aber dennoch wusste Gabriel, dass er nicht länger auf dem Gelände von Python leben konnte. Zwanzig Jahre lang hatte er das getan, und erst durch Liz war ihm bewusst geworden, dass er etwas ändern musste, wenn er nicht endgültig zu einem Pflasterstein auf dem Hof von Python Security werden wollte.
Yuri hatte die dünnen Brauen gehoben und ihn lange angesehen. Seine grauen Augen suchten nach dem wirklichen Grund. »Was ist los mit dir? Ist dir die Wohnung nicht mehr groß genug?«
Gabriel schüttelte den Kopf. »Meine neue Wohnung ist auch nicht größer. Das ist es nicht. Aber … ich muss hier mal raus. Die andere Wohnung ist im Dachgeschoss und hat eine kleine Terrasse.«
»Terrasse«, schnaubte Yuri. »Der ganze Hof ist deine Terrasse. Und was machst du mit deiner Werkstatt?«
»Ich wäre froh, wenn ich die Garage erst mal weiter benutzen kann.«
Sarkov nickte bedächtig, aber ihm war anzusehen, dass es ihm nicht gefiel.
»Yuri«, sagte Gabriel. »Ich bin vierzig. Ich will auch mal vor die Tür gehen, in irgendeine Kneipe oder ein Café. Nichts Wildes, einfach nur einen kleinen Laden vor der Haustür, wo mich die Bedienung kennt und mir ’nen vernünftigen Kaffee bringt, ohne dass ich groß was sagen muss, oder wo ich ein paar frische Brötchen beim Bäcker holen kann. Das hier«, sein Finger malte einen weiten Kreis in die Luft, »ist ein Industriegebiet.«
»Ein Industriegebiet mit einem hübschen Puff um die Ecke«, ergänzte Sarkov. »Oder hast du jemanden kennengelernt?«
Gabriel schüttelte den Kopf. »Da, wo ich hinziehe, gibt es auch einen, und die Mädchen sind hübsch«, log Gabriel und sah Sarkov geradewegs in die Augen. Genau genommen lag Yuri richtig. Er hatte ja jemanden kennengelernt. Tatsächlich war Liz der wahre Grund für seinen Auszug, aber Yuri sollte unter keinen Umständen davon erfahren.
»Vögeln kann man, so oft man will. Nur nicht immer dieselbe«, hatte Yuri stets betont, »das macht dich schwach und abhängig.«
Gabriel hatte das umgesetzt, indem er so gut wie gar nicht vögelte, und wenn, dann in anderen Städten, wenn er dort mit einem Python-Team als Personenschutz gebucht war. Im Tross von Prominenten gab es immer Frauen, denen es ähnlich ging wie ihm. Sex ja. Nähe bloß nicht.
Bis der Anruf von Liz kam, etwa zwei Monate nach ihrem zufälligen Kennenlernen auf der Berlinale.
Seitdem ist alles anders.
Gabriels Blick wandert hinab auf das Navigationsgerät. Der kleine Pfeil zeigt nach rechts, in den Kadettenweg.
Gabriel schlägt das Lenkrad ein. Der Scheibenwischer schrammt stotternd über die Windschutzscheibe. Der Regen hat aufgehört, wie abgeschnitten. Er stellt den Scheibenwischer aus und beugt sich etwas nach vorne, um im Dunkeln die vorbeigleitenden Hausnummern besser zu erkennen. Links und rechts von der schmalen Straße stehen in unregelmäßigen Abständen Bäume, viele davon sogar älter als die Villen dahinter. Lichterfelde ist voll von altehrwürdigen und oft kauzigen Häusern: kleine Palazzi, Schweizerhäuschen, Jugendstilvillen und burgähnliche Ziegelbauten mit angeschmiegten Türmchen. Über einer bogenförmigen Toreinfahrt prangt eine schmiedeeiserne 31.
Als sein Handy schrillt, zuckt er zusammen, und der Wagen macht einen Schlenker.
Liz, schießt es ihm sofort in den Kopf.
Gottverdammt, kannst du noch an was anderes denken, Luke?
Schon im selben Moment weiß er, dass sie es nicht sein kann. Nicht nach dem Telefonat von vorhin. Wenn sie ihr Handy nicht sogar ausgemacht hat, dann ist es zumindest stumm geschaltet und in einer ihrer Manteltaschen verschwunden.
Er nimmt den Fuß vom Gas und drückt die grüne Taste.
»Hallo?«
»Ich bin’s, Cogan. Ich hab nachgesehen.«
»Nachgesehen? Was nachgesehen?«
»Na, die Adresse, Kadettenweg 107.«
»Also ist es doch im Verzeichnis?«
»Wie man’s nimmt. Nicht im aktuellen. Ich bin runter ins Archiv.«
Gabriel muss grinsen. Cogan hasst das Archiv ebenso wie den Außendienst. Aber noch mehr hasst er es, wenn ihm irgendetwas in seinem Universum unbekannt ist. »Und?«
»Na ja. Die Akte zu dem Haus ist nicht mehr da. Komisch eigentlich.«
»Also, was jetzt? Hast du was gefunden oder nicht?«, fragt Gabriel, kneift die Augen zusammen und überlegt, ob das eine 45 oder 49 ist, die da zwischen zwei Bäumen hervorlugt.
»Ashton«, sagt Cogan. »Der Besitzer hieß Ashton. Es gab noch ein altes tabellarisches Verzeichnis, da stand der Name drin.«
»Ashton. Aha. Mehr hast du nicht?«
»Na ja, da ist noch was. ’ne Kleinigkeit, aber ulkig.«
»Mensch, jetzt mach kein Quiz draus. Spuck’s einfach aus.«
»Der Name Ashton ist am 17. September 1975 eingetragen worden. Vermutlich die erste Scharfschaltung der Anlage. Aber direkt dahinter steht noch ein zweites, handschriftliches Datum. Und ein kleines Kreuz. Und der Name ist durchgestrichen.« Cogan legt eine bedeutungsschwangere Pause ein. »Sieht so aus, als ob der Besitzer genau zwei Tage nachdem er in die Hütte eingezogen ist gestorben wäre.«
»Seltsam«, murmelt Gabriel. Rechts von ihm gleitet ein Haus mit mehreren mächtigen Säulen vorbei. Hausnummer 67.
»Der Knaller kommt noch«, raunt Cogan. »Seitdem steht das Haus offenbar leer.«
»Was?«, entfährt es Gabriel. »Seit 1975? Das ist jetzt fast 35 Jahre her!«
»Du sagst es.«
»Welcher Irre lässt denn in diesem Viertel eine Villa 33 Jahre lang leer stehen? Gibt’s da keine Erben?«
»Keine Ahnung. Stand nichts davon da.«
»Und die Alarmanlage? Welche Alarmanlage funktioniert denn nach so vielen Jahren noch?«
»Keine Ahnung«, sagt Cogan, »ich kenn das Ding ja nicht. Weiß nicht mal, welches Fabrikat. Bis heute war die nie in meinem System aktiv.«
»Nur noch mal, damit ich das richtig verstehe«, sagt Gabriel gedehnt. »Die Alarmanlage war 33 Jahre lang tot, und ausgerechnet heute wird sie scharf geschaltet und gibt sofort einen Alarm von sich?«
»Ich weiß ja nicht genau, wann die Anlage damals abgeschaltet wurde. Nach Sarkovs Reaktion zu urteilen, sind die oder der Besitzer ja offenbar immer noch Kunde bei uns. Aber seit ich hier bin, und das sind immerhin neun Jahre, da gab’s definitiv keine einzige Scharfschaltung. Geschweige denn einen Alarm.«
»Und wer soll das jetzt gewesen sein? Ein Gespenst?«
»Vielleicht auch ein Defekt …«
»Hm«, brummt Gabriel und reckt den Hals. Rechts schält sich eine offene Toreinfahrt aus der Dunkelheit. An einem der Ziegelpfosten ist eine verwitterte 107 angebracht. »Ich bin da. Lass uns Schluss machen. Ich meld mich später.«
»Alles klar. Grüß mir den ollen Ashton, wenn du ihn beim Spuken triffst«, sagt Cogan und lacht meckernd.
Gabriel steckt das Handy weg und rollt zwischen den Ziegelpfosten des geöffneten Tors auf einen Kiesweg, aus dem kniehohes Unkraut sprießt.
Eine seit fast 35 Jahren unbewohnte Villa, und das Tor ist sperrangelweit geöffnet?
Der Kies knirscht unter den Reifen. Wildwuchernde Büsche wechseln sich mit dunklen Tannen ab. Hinter deren Wipfeln erhebt sich eine große Fachwerkvilla, mit verzierten Erkern und zwei Türmchen, die sich ans Haus drängen. Die Villa sieht aus wie ein zu groß geratenes Hexenhaus. Feuchte Luft steigt vom Boden auf, und es dampft. Über dem Eingang rotiert das rote Licht der Alarmanlage wie ein Feuermelder und lässt den Dunst glühen.
Verdammtes Geisterhaus, denkt Gabriel.
Wie immer, wenn er vor einem Gebäude steht, das er betreten will, muss er an den Keller denken und daran, wie wohl die Treppe aussieht, die dort hinabführt. Seine Nackenhaare richten sich auf, und er schielt empor zum Dach.
Dieses Haus ist alt, und in alten Häusern sind die Alarmanlagen meistens im Keller.