Boris Grundl
Die Zeit der Macher
ist vorbei
Warum wir neue Vorbilder brauchen
Econ
Boris Grundl
Die Zeit der Macher
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Econ ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN: 978-3-8437-0336-9
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012
Alle Rechte vorbehalten
Gesetzt aus der Caslon 540
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Druck und Bindearbeiten: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
Widmung
Vorwort
Teil 1: Flaschenhälse Rot – Der Pol der Macher
Ich nehme mir …
Starke Männer in fliegenden Kisten
An sich ziehen, gewinnen, kollabieren
Die Wüste unterm stärksten Baum
Mehr, mehr, mehr!
Teil 2: Führungslose Grün – Der Gegenpol der Macher
Wir wollen nicht …
Aggressive Opfer in kenternden Booten
Blockieren, retten, unterdrücken
Entmachtete Macher
Hauptsache dagegen!
Teil 3: Inspiratoren Gelb – Die neuen Vorbilder
Du kannst …
Dienende Führer in fruchtbaren Gärten
Geben, wachsen, geschehen lassen
Neue Sicherheit
Mehr Tiefe
Nachwort
Für alle Menschen, denen die Entwicklung anderer am Herzen liegt.
Ihre Zeit wird kommen.
»Und? Was machen Sie?«
»Ich? Ich verkaufe Produkte, die Menschen ein unabhängiges Leben ermöglichen.« Ich steckte mein Handy weg und nickte dem Mann zu.
Er staunte. Fast konnte ich seine Gedanken lesen. Unabhängiges Leben … überraschendes Tätigkeitsfeld für einen Rollstuhlfahrer … »Wie, Sie verkaufen … was?«
»Ok«, ich seufzte genervt. »Boris Grundl ist mein Name, ich bin Marketing- und Vertriebsdirektor eines Unternehmens, das Badewannenlifter, Pflegebetten, Rollstühle, Gehhilfen und so weiter produziert. Für Senioren oder körperlich Behinderte. Klar, oder?«
Jetzt nickte er.
»Außerdem bin ich Spieler der deutschen Nationalmannschaft im Rollstuhl-Rugby. Wir waren kürzlich in Sydney, bei den Paralympics. Haben leider die Finalrunde nicht geschafft.«
»Oh. Ich bin beeindruckt.« Der Mann hob die Augenbrauen, nickte und machte eine Bewegung, die wie eine halbe Verbeugung aussah.
Ein merkwürdiger Typ. Nach seinem Aufzug zu urteilen, musste er ein Angestellter sein. Aber er machte ja nichts, stand einfach nur im Garten der Hotelanlage rum und hatte mich freundlich angesprochen.
»Australien«, fuhr er fort in seinem undeutbaren Akzent, »wie schön, da haben Sie sich bestimmt das Land noch genauer angeschaut … Sydney, die Wüste im Landesinnern, Tauchen an diesem großen Riff … oh, ich meine, kann man denn Tauchen mit … ich meine …«
»… als Querschnittsgelähmter, meinen Sie? Ja, na klar, das geht. Aber nein«, ich schüttelte den Kopf, »ich musste gleich wieder nach Hause. Termine … einfach zu viel zu tun …«
»Mhm, das tut mir leid«, antwortete er und schaute in die Ferne.
Wieso tat ihm das leid? Ich sah ihn an. Er hatte einen asiatischen Einschlag, dunkle Haut, graues, fast weißes Haar, vielleicht ein Inder. Er lächelte unentwegt. »Und Sie?«, fragte ich, »was machen Sie?«
»Oh, ich mache gerade nichts. Im Moment genieße ich nur die Sonne.« Er lächelte mir zu und deutete mit der Hand zum Himmel, als müsste er mir zeigen, was er mit »Sonne« meinte.
»Nein, ich meine, was Sie hier machen, hier im Hotel. Ich muss am Abend einen Vortrag halten, deswegen bin ich hier. Und Sie?«
»Gefällt Ihnen der Garten?«
Jetzt war ich es, der verwirrt war. Ich war es gewohnt, auf eine klare Frage eine klare Antwort zu bekommen. Wäre dieser Mann mein Mitarbeiter, hätte ich jetzt nachgehakt. Aber er war ja ohnehin ein wenig komisch. »Der Garten? Ja, der ist tatsächlich sehr schön. Jetzt, wo Sie’s sagen …«
»Ja? Schön? Wunderbar! Nun, ich sorge für die Pflanzen. Das ist meine Aufgabe. Und ich freue mich über jeden Gast, der sich über den Garten freut. So wie Sie. Sie sitzen hier im Garten und kommen zur Ruhe.«
Also der Gärtner. Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte noch Zeit. Die Fahrt vom Flughafen hierher war furchtbar gewesen, aber es war immerhin schnell gegangen. Vor lauter Zeitdruck hatte ich die Leute vom Hotel nicht genau informiert, wie sie mich abholen sollten. Also hatten sie gleich einen ganzen Reisebus geschickt, nur für mich. Klar. Rollstuhl gleich großes Auto. Sie hatten wohl keine Ahnung, wie sie mich in einen PKW verfrachten sollten. Dass mein Rollstuhl leicht verstaubar ist, wussten sie nicht. Na ja, woher auch. Dann hatten sie mich zu zweit in den Bus gehievt. Ich war mir vorgekommen wie ein Stier in einem Viehtransporter auf dem Weg zur Kampfarena. Nicht schön.
Danach war es schnell gegangen. Nun war ich also hier, und mein Vortrag war erst am frühen Abend. Ich überlegte kurz, ob ich noch zu Hause anrufen sollte. Ob mit der Baustelle alles lief und so. Aber das musste jetzt eben auch mal ohne mich funktionieren.
»Darf ich fragen: Was werden Sie sein?«, fragte der Gärtner.
»Wie meinen Sie das?« Das wurde ja immer schräger. Was war denn das für eine Frage?
»Bitte entschuldigen Sie. Ich will Sie nicht stören. Sie wollen sich bestimmt ausruhen vor Ihrem Vortrag. Bitte entschuldigen Sie.« Er trat einen halben Schritt zurück.
»Nein, nein, kommen Sie, ist schon ok.« Ich hob eine Hand und schaute ihn freundlich an. Irgendwie war diese Begegnung ja auch interessant. »Fragen Sie nur. Ich habe einfach nur nicht verstanden, was Sie meinen – was ich sein werde … Meinen Sie, was ich machen will? Wann? In der Zukunft?«
Er deutete wieder eine Verbeugung an und lächelte mir zu. »Nein, nicht was Sie machen wollen. Was Sie sein werden. Also, Sie halten hier einen Vortrag. Ich habe gehört, es kommen sehr viele Menschen heute Abend, um Ihnen zuzuhören. Aber Sie sind Direktor in einem Unternehmen, und Sie sind Sportler.«
»Ja, und ich bin auch Präsident des deutschen Rollstuhl-Rugby-Verbands. Und ich überlege gerade, noch eine Tochterfirma mit ins Unternehmen zu integrieren.«
»Sehen Sie. Sie machen sehr viel in Ihrem Leben. Sie sind viel beschäftigt. Ich sehe Sie wie eine Gießkanne, die einen großen Garten mit Wasser versorgt. Aber was von all dem, was Sie machen, ist das Richtige?« Er spreizte die Unterarme vom Körper, hielt die Handflächen nach oben und imitierte eine Waage, die schwankte, welche Hand schwerer wog.
Ich schaute ihn durchdringend an. »Sie meinen, ich sollte eine Sache machen, die richtige, weil die anderen falsch sind? Was soll denn daran falsch sein?« Ich war beleidigt. »Wissen Sie … nein, das können Sie ja nicht wissen … ich war nach meinem Unfall Sozialhilfeempfänger. Ich hatte kein eigenes Einkommen, war ein Nichts. Ich habe mir das alles selbst aufgebaut. Ich habe es von ganz unten bis hier oben geschafft, verstehen Sie?«
Sein Lächeln wurde breiter. »Was ich meine, ist: Ich diene den Menschen durch die Pflege des Gartens. Ich sorge für die Pflanzen. Das ist das Beste, was ich den Menschen geben kann. Aber Sie sind ein starker Mann. Viel stärker als ich. Wodurch werden Sie den Menschen dienen? Was können Sie tun, um der Beste zu sein, der Sie sein können? Worin werden Sie zum Brennglas?«
Jetzt starrte ich ihn einfach nur an und war sprachlos.
Er fuhr fort: »Wenn Sie einen Vortrag halten und so viele Menschen kommen, dann können Sie wohl gut reden. Warum sagen Sie dann: ›Ich verkaufe Produkte‹ und: ›Ich bin Direktor‹? Warum sagen Sie nicht: ›Ich bin Redner, ich berühre Menschen mit meiner Sprache‹?«
»Weil …« Er hatte mich wirklich aus der Fassung gebracht. »Na, weil …« Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. So etwas hatte ich mich noch nie gefragt. »Ich denke … also ich habe da schon meine Vorstellung. Ich will Redner sein, ja, aber wenn ich Führungskräften wirklich etwas zu sagen haben will, muss ich zunächst mal Vorstandsvorsitzender eines großen Konzerns sein. Sonst habe ich doch gar keine Berechtigung, wichtige Reden zu halten.«
»Ach so.« Er schaute zu Boden und schwieg eine Weile.
Ich wollte gerade noch etwas hinzufügen, da sagte er: »Darf ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen? Gut? Also. Als ich noch jünger war, da wollte ich einmal auf einen hohen Berg im Himalaja-Gebirge steigen. Bis ganz nach oben. Ich übte ein wenig auf kleineren Bergtouren, lieh mir eine Ausrüstung und begann, mich im Tal nach einer geführten Bergsteigergruppe umzuschauen. Ich kam zu einem neu erbauten Haus, das war voller moderner Ausrüstung, Klettergurte, Steigeisen, Eispickel und so weiter. Dort traf ich einen diplomierten Schweizer Bergführer, der alle Ausbildungsstufen durchlaufen hatte, er zeigte mir stolz seine Zertifikate: Bergführer mit eidgenössischem Fachausweis, Mitglied im Schweizer Bergführerverband 4000 plus. Ich wusste, die Schweizer Bergführer waren die besten der Welt. Er hatte schon große Gruppen in den Alpen geführt und Bücher über das Bergsteigen geschrieben. Jetzt hatte er eine neue Trekking-Agentur am Fuße des Himalaja aufgemacht, bildete Bergsteiger aus, drehte Filme über das Bergsteigen und wollte der beste Bergführer weit und breit werden. Er hatte einen festen Plan für einen Aufstieg in den nächsten Tagen, ich könne mich gern der Gruppe anschließen.
Ich hatte schon fast eingeschlagen, da besann ich mich auf die Regel, niemals ohne Alternativen eine Wahl zu treffen. Darum nahm ich mir vor, mindestens eine weitere Bergführerstation anzuschauen. Ich kam zu einer kleinen, unscheinbaren Hütte. Innen hingen Seile zum Trocknen von der Decke. Ein kleiner Mann, ungefähr 50 Jahre alt, offenbar ein Nepalese, begrüßte mich höflich und bot mir Tee an. Wir kamen ins Gespräch, und er eröffnete mir, dass er zwar Sirdar sei, also Bergführer, aber keinerlei Diplome und Zertifikate besitze. Er habe noch nie eine Schule besucht oder an irgendeinem Kurs teilgenommen. Ab und zu führe er eine Gruppe von Bergsteigern auf die Berge der Umgebung. Aber nie größere Gruppen. Derzeit habe er keine Tour geplant, aber wenn ich wollte, würde er mich gerne führen. Dann würde er Träger zusammenstellen und die Tour vorbereiten.
Ich stand auf, dankte für den Tee und wollte gehen, um zum Schweizer Bergführer zurückzukehren und mich dessen Gruppe anzuschließen, da bemerkte ich im Nebenraum einen von Kerzen erleuchteten Schrein. Auf dem Boden davor lagen Hunderte von runden gravierten und bemalten Steinen. Als ich verwundert stehen blieb, forderte mich der Mann freundlich auf, den Raum zu betreten und mich genauer umzuschauen. Auf den Steinen waren Muster und Schriftzeichen herausgearbeitet und bunt bemalt worden. Ich sah ihn fragend an.
Alle Steine habe er selbst gestaltet – je einen Stein als Dank für eine erfolgreiche Bergbesteigung und die gesunde Rückkehr der ihm anvertrauten Bergsteiger, sagte er. Ich wunderte mich über die schiere Zahl von Steinen. Dann fragte ich ihn, ob er die Steine jeweils auf den Bergen sammle und mit herunterbringe. Da schaute er mich entsetzt an: Unter keinen Umständen habe er das jemals getan, das würde er nie wagen! Was auf dem Berg liege, gehöre dem Berg und müsse dort bleiben.
Ich dankte ihm, gab ihm die Hand und bat ihn, eine Bergtour für mich zu organisieren.«
Der Gärtner schwieg. Ich erwiderte nichts. Dann schaute er mich lächelnd an und verbeugte sich, drehte sich um und ging.
Er ließ mich reichlich durcheinander zurück. Die Sonne schien mir warm ins Gesicht, und ich dachte nach. Ich umrundete eine Blumenrabatte und stellte mich im Schatten einer hohen Hecke unter einen Baum. Mit einem Mal wurde ich sehr müde. Ich lehnte mich nach hinten an den Stamm, stützte den Kopf gegen die glatte Rinde und schaute in die leuchtend grüne Krone.
Als ich die Augen wieder öffnete, war der Schatten weitergewandert, und die nun tiefer stehende Sonne blinzelte mir ins Gesicht. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war höchste Zeit!
Ich wählte einen Seiteneingang, der mich direkt zu den Konferenzsälen bringen würde. Der Zugang war offensichtlich nur für das Personal geöffnet, jedenfalls versuchte mich ein Hotelangestellter aufzuhalten: »Hallo, wer sind denn Sie?«
Während ich mit Schwung an ihm vorbei steuerte, lächelte ich ihm über die Schulter zu: »Wer ich bin? Bislang war ich eine Gießkanne. Jetzt werde ich zu einem Brennglas.«
Ich konnte fast im Rücken spüren, wie er mir verdutzt hinterherblickte.
Des sin unsere Leut. Für die müsse mer sorge!
An diesem frühlingshaften Dienstag ist der Reiterhof fürs Publikum geschlossen. Ich lenke meinen Sportwagen an den Stallungen vorbei und fahre durch das alte Tor auf den kopfsteingepflasterten Hof des wunderschönen ausgedehnten Guts, das direkt am Rhein gelegen ist. Ich sehe keinen einzigen Menschen, bis auf einen: Ein älterer Mann mit abgeschabter brauner Hose, kariertem Hemd und brauner Jacke steht mitten auf dem Hof und schaut mir entgegen. Ist er das? Ein hochgewachsener alter Mann, schlank und aufrecht. Nicht nur seine Kleidung, auch seine Haut ist braun. Man kann sehen, dass er viel an der frischen Luft ist.
Ich parke neben dem alten Gutshaus und steige aus. Bei mir ist das eine längere Prozedur – bis der Rollstuhl aufgebaut ist, ich mich umgesetzt habe und richtig sitze. Der Mann steht ganz ruhig in einiger Entfernung und schaut. Und wartet. Bis ich fertig bin. Dann kommt er auf mich zu und gibt mir unaufgeregt die Hand.
Manche Menschen erinnern mich unwillkürlich an bestimmte Tiere. Das hilft mir bei einem ersten Erfassen und Einordnen. Bei ihm denke ich sofort: ein Pferdemensch. Die stolze Ruhe, die er ausstrahlt, die ehrwürdige Selbstsicherheit, der aufmerksame Blick, die trotz seines Alters kraftvollen und gleichzeitig lässigen Bewegungen. Ein eindrucksvoller Herr, dem man trotz seiner Arbeitskleidung sofort ansieht, dass er hier das Sagen hat.
Wir haben uns verabredet zu einem Gespräch über seine berühmten Vorfahren, die den gleichen Namen trugen wie er. Er führt mich über den rechteckigen historischen Hof. Unter einer prächtigen Kastanie erblicke ich einen alten, völlig verstaubten Holztisch und verstaubte Holzbänke. Und weil auch das Café des Reiterhofs geschlossen hat, steht auf dem Tisch einfach das, was der Hausherr selbst trinkt: Mineralwasser.
Ein idyllischer Ort ist das. Der blaue Himmel und das Vogelgezwitscher passen dazu wie bestellt. Mein Gastgeber kommt sofort ins Erzählen.
Sein Uropa wuchs in einer Schmiede auf. Dessen Vater, der Schlossermeister, arbeitete hart. Doch in der kleinen Gemeinde gab es nicht genügend Aufträge, und als er sich mit der Werkstatt nicht mehr über Wasser halten konnte, tingelte er übers Land auf der Suche nach Arbeit: hier eine Dachrinne, da ein Ofenrohr, ein Blitzableiter oder ein Fenstergitter. Die Werkstücke lieferte er selbst aus, bisweilen schleppte er sie einfach auf dem Rücken zu seinem Auftraggeber und ließ sich dann die Gulden, Kreuzer und Groschen auf die schwielige Hand zählen.
Aber er war glücklich, vor allem, weil er in seiner Ehe das Glück gefunden hatte. Seine Frau liebte er sehr. Umso größer war der Schmerz, als sie ihm kurz nach der Geburt ihres dritten Sohns, mitten im Revolutionsjahr 1848, wegstarb. Das überwand er nie. Er alterte früh und wurde einsilbig und verbittert. Zu seinem Trost wuchsen die drei Söhne kräftig und gesund heran.
Die Faszination der Buben für die Eisenbahn, für die nun überall Schienen gebaut wurden, teilte er nicht. Im Gegenteil. Die neue Technik machte ihm Angst. Darum war er auch nicht begeistert, als sein Ältester ihn bat, nach Paris gehen zu dürfen, um Mechaniker zu werden. »Schwinnel« nannte er all das Neue. Aber er konnte den Jungen nicht an sich ketten, und so gab er ihm, dem jungen Gesellen, 1857 das Wanderbuch und ließ ihn laufen.
Der Junge hatte Glück, denn auch vom Militärdienst konnte er sich freilosen, so dass seiner Reise nichts im Wege stand. Trotzdem bot ihm der Major bei der Musterung einen Posten an, denn der junge Handwerker war groß und kräftig, ein Pfundskerl.
»Beruf?«
»Schlosser, Herr Major.«
»Sie verstehen was vom Hufbeschlag?«
»Jawohl.«
»Prächtig. Dann werden Sie Fahnenschmied!«
Aber der junge Mann hatte etwas anders im Kopf: »Ich will nach Paris, Herr Major. Ich will Mechaniker werden.«
»Firlefanz!«, wetterte der Major, »Machen Sie keinen Unfug! Werden Sie Soldat! Als Fahnenschmied sind Sie für Ihr Leben versorgt. Mann, Sie wissen ja gar nicht, was für ein Glück Sie haben! Überlegen Sie doch mal: die Pension … Begreifen Sie nicht? Das hier ist der entscheidende Moment Ihres Lebens …«
Ja, es war ein entscheidender Moment. Und der junge Mann hatte sich bereits entschieden. »Bedaure. Ich gehe nach Paris.«
Auf dem Weg dorthin lernte er in Belgien die neuen mechanischen Webstühle kennen. Auf der Wanderschaft hatte er Zeit, sich Gedanken zu machen über all die Neuerungen der modernen Zeit und über das, was sie bedeuteten. Ihm wurde klar: Wenn die Menschen ihr Bedürfnis nach Nahrung gestillt haben, brauchen sie als nächstes Kleidung. Wie wichtig daher dampfgetriebene Webstühle und Spinnmaschinen waren, lag auf der Hand. Es nützte nichts, sich dagegen aufzulehnen, so wie es die Handweber taten. Die Maschinen würden am Ende immer den Sieg davontragen. Da war es besser, Maschinen zu bauen, als dagegen zu sein oder sie zu zerstören.
Noch bevor er nach Paris kam, hörte er von einer weiteren neuartigen Maschine, die nicht mehr nur die Spinner und Weber, sondern nun auch die Schneider bedrohe: die Nähmaschine. Aber müsste nicht eigentlich jeder Schneider so eine Maschine haben wollen? Sie könnte seine Arbeit doch enorm vereinfachen und beschleunigen. Wenn er nur einmal in Paris war, wollte er unbedingt eine solche Nähmaschine sehen. Er musste bloß zuerst Arbeit finden.
Doch in der Weltstadt hatte niemand auf ihn gewartet. Von Werkstatttor zu Werkstatttor zog er und zeigte pflichtschuldig sein Wanderbuch vor. Aber niemand wollte ihn einstellen. Schließlich ging ihm das Geld aus, und er musste unter den Brücken der Seine schlafen. Das hatte er nun davon. Er war ein Arbeitsloser geworden.
Aber er, der Urgroßvater meines Gastgebers, war kein Jammerlappen, sondern ein Sturschädel. Unermüdlich suchte er weiter nach einer Chance. Bei einem deutschen Bäckermeister durfte er hinter dem Ofen schlafen und revanchierte sich mit Handlangerdiensten und lieferte die Backwaren aus. Danach arbeitete er in einer Kassenschrankfabrik. Aber die ganze Zeit über hatte er nur eines im Kopf: die Nähmaschine. Und seine Hartnäckigkeit machte sich schließlich bezahlt. Er erhielt eine Anstellung in einer großen Nähmaschinenfabrik.
Zweieinhalb Jahre arbeitete er dort. Und in dieser Zeit studierte er die Funktionsweise des neuartigen Geräts bis ins kleinste Schräubchen. Sofort fielen ihm Verbesserungsmöglichkeiten ein. Kurz darauf bewarb er sich bei der zweiten großen Nähmaschinenfertigung von Paris, um auch deren Konstruktion zu analysieren. Weitere zweieinhalb Jahre arbeitet er hart, und in seinem Kopf und auf unzähligen Zeichnungen nahm der Konstruktionsplan seiner eigenen Nähmaschine Gestalt an. Sein Entschluss stand fest: Nach seiner Heimkehr würde er die Schmiede des Vaters in eine Nähmaschinen-Manufaktur verwandeln und seine eigene Nähmaschine bauen!
Nur: Davon wollte der alte Mann nichts wissen. Als der Sohn wieder zu Hause war, schmetterte er all dessen hochfliegende Pläne kategorisch ab: »In mei Werkstatt kimmste merr mit deim neumodische Schwinnel net erei!«
Sein Onkel hatte glücklicherweise mehr übrig für moderne Technik. Er stellte seinem Neffen seinen alten Kuhstall zur Verfügung und gab ihm sogar etwas Startkapital, sodass er eine Drehbank kaufen konnte. Über ein halbes Jahr lang arbeitete er an seiner ersten Nähmaschine, die er komplett von Hand anfertigte. Und er hatte sich nicht getäuscht: Es gab einen Markt für seine Maschine! Noch vor seiner Fertigstellung hatte er sie verkauft an einen ortsansässigen Schneidermeister.
Die Maschine tat vierzig Jahre lang ihren Dienst und steht heute in einem Museum – und sie funktioniert noch immer. Die erste deutsche Nähmaschine war damals eine Sensation, die sogar in der Presse ausgiebig besprochen wurde. Darum dauerte es nicht lange, bis die nächsten Bestellungen eingingen. Die zweite Maschine konnte der stolze Jungunternehmer bereits in einem Zehntel der Zeit bauen. Das Geschäft begann zu florieren, erste Arbeiter wurden eingestellt. Der junge Mann heiratete, baute eine Fabrik auf und bekam fünf Söhne. Außerdem kaufte er riesige Grundstücke zusammen. Warum? Um Nähmaschinen zu bauen!
Mein Gastgeber schenkt mir Mineralwasser nach. In der Entfernung sehe ich einen Hoflader, der Futter ablädt.
Sein Urgroßvater hatte sich gegen den Willen seines Vaters durchgesetzt und gemacht, was er für richtig hielt. Er lief hellwach durch die Welt und begriff, wohin die Strömung der Zeit trieb. Und er bewies Mut. Denn als Fabrikant lebte man damals gefährlich, es war die Zeit der Maschinenstürmer. Die Widerstandsbewegung gegen den industriellen Fortschritt zerstörte immer wieder neu errichtete Fabriken, verprügelte Arbeiter und »Fabrikanten« und schürte Widerstand in der Belegschaft. Außerdem war es ein großes Wagnis, Jahre seines Lebens und sein gesamtes Kapital in die Produktion einer völlig neuartigen Technologie zu stecken, von der niemand wusste, ob sie sich durchsetzen würde.
Der Herr, der mir gegenüber auf der staubigen Bank sitzt, erzählt die Geschichte seiner Familie mit großer Ruhe, ganz nüchtern und ohne Ausschmückungen. Sein Stolz ist kein lauter, protzender, sondern ein stiller, von hohem Selbstwertgefühl getragener. Mir wird klar, dass er aus seinem familiären Hintergrund ein ganz eigenes Selbstverständnis als Unternehmer schöpft. Die Zeit der Armut, das eingegrenzte Denken mit der nagenden Ungewissheit, die jeder, der klein anfängt, durchleben muss – so wie ich selbst ja auch –, die hat einfach schon sein Urgroßvater für ihn durchlitten, damals auf der Wanderschaft, unter den Brücken der Seine und hinterm Ofen des Bäckers.
Er nippt an seinem Mineralwasser, dann erzählt er weiter.
Fahrräder! Das war das nächste große Ding. Irgendwann um 1884 gab der Urgroßvater nach, nachdem ihm seine fünf Söhnen monatelang damit in den Ohren gelegen hatten. Zu Weihnachten standen fünf niegelnagelneue englische Hochräder neben dem Christbaum – das Neueste vom Neuen. Seine Frau aber hatte Bedenken. Man könne sich ja den Hals brechen mit diesen Dingern! Der Familienvater schnappte sich eins der fünf »Velocipede« und probierte es auf der Straße vor dem Haus aus. Es dauerte nicht lange, bis er in hohem Bogen in den Straßengraben fiel und sich ordentlich wehtat. Wütend gab er die Gefährte kurzerhand einem seiner Nähmaschinenvertreter mit, der sie für ihn verkaufen sollte. Doch als die Räder in kürzester Zeit und sogar mit Gewinn verkauft waren, wurde er nachdenklich. Gab es da etwa einen lukrativen Markt?
Seine Söhne waren ganz verrückt nach Fahrrädern. Bald hatten sie wieder welche und fuhren ständig damit herum. Die Firma begann, außer mit Nähmaschinen auch noch mit Fahrrädern aus England zu handeln, und das Geschäft lief gut an. Da lag es nahe, selber welche zu machen. Die fünf Söhne begeisterten sich für diese Idee, und sie schafften es, auch ihren zunächst skeptischen Vater davon zu überzeugen.
Der Einstieg in die Fahrradproduktion verlief reibungslos. Durch die Erfahrung mit der riesigen Nähmaschinenfabrik gelang es den Ingenieuren rasch, die englischen Fahrräder in der Konstruktion zu übertreffen und die Fertigung hocheffizient zu gestalten. Die Fahrräder warfen Gewinn ab. Und weil die Söhne ständig und überall mit den Fahrrädern herumfuhren, an Fahrradrennen teilnahmen und ständig gewannen – sie waren wirklich allesamt völlig fahrradverrückt –, sprach sich das neue Fortbewegungsgerät herum, und es verkaufte sich wie surrende Nähmaschinen … Nein, noch besser: Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Umsätze aus der Fahrradproduktion die aus der Nähmaschinenproduktion überholt, insgesamt 1200 Arbeiter stellten ungefähr 25 000 Nähmaschinen und 15 000 Fahrräder her.
Die fünf Brüder, die alle kurz nacheinander zur Welt kamen, waren in das Unternehmen hineingewachsen, ja, sie waren von den Arbeitern schon als Wickelkinder als ihre zukünftigen Chefs gesehen worden. Sie lernten an den Maschinen in der Werkhalle ihr Geschäft von der Pike auf, studierten Maschinenbau und Ingenieurwissenschaften und übernahmen Schritt für Schritt die Führungsaufgaben. Erfolgshungrig und voller Elan wollten sie das nächste Kapitel des Fortschritts aufschlagen. »Schau, Vater, da fährt ein Motorwagen«, sagte der Zweitälteste, als sie auf einer nostalgischen Reise nach Paris unterwegs waren. »So ein Wagen hat das internationale Rennen von Paris nach Rouen gewonnen, mit 20 Kilometern pro Stunde Durchschnittsgeschwindigkeit!«
Aber sein alternder Vater wollte davon nichts wissen. Er war ein wenig so geworden wie sein eigener Vater, der im Alter von dem »Schwinnel« nichts mehr wissen wollte.
Und so schlug er seinen Söhnen immer wieder die Bitte ab, eine Motorwagenproduktion aufzunehmen. »Diese Stinkkutschen! Aus denen wird nie mehr werden als ein Spielzeug für Millionäre, die nicht wissen, was sie mit ihrem Geld machen sollen!«
Er selbst hatte nie mit seinem Vater gerechtet, als er damals in der Schmiede eine Nähmaschinenwerkstatt einrichten wollte. Trotzdem hatte er seinen Kopf durchgesetzt. Genauso hielten es jetzt seine Söhne: Sie beugten sich seinem Verbot. Aber kaum war er 1895 allzu früh an Typhus gestorben, kauften sie kurzerhand eine Automobilfirma in Dessau und begannen, Autos zu bauen. Na, klar: Nähmaschinen bringen mehr als Dachrinnen. Fahrräder bringen mehr als Nähmaschinen. Und Autos bringen mehr als Fahrräder. Klar, dass man Autos machen muss …
In dieser Einschätzung waren sich die fünf Brüder einig. Sie drehten immer am gleichen Rad. Jedenfalls nach außen. Aber hinter geschlossenen Türen flogen bisweilen die Fetzen. Denn die fünf Brüder waren sehr unterschiedlich.
Carl, der Älteste, war gutmütig und großzügig. Er verschenkte gern – alles Mögliche. Als er auch noch anfangen wollte, Autos zu verschenken, verboten es ihm die anderen vier kurzerhand.
Wilhelm, der Zweitälteste, war ausgesprochen weltoffen und neugierig. Er verfolgte mit Begeisterung die Entwicklungen in der aufblühenden Automobilwirtschaft, reiste nach Amerika und kam voller Ideen für die industrielle Fertigung und moderne Produktionsprozesse wieder zurück.
Heinrich, der Drittälteste, war der Kaufmann unter den Brüdern. Er sorgte dafür, dass solide gewirtschaftet wurde und dass ausreichend Liquidität vorhanden war, um die unternehmerischen Flausen, die seine Brüder im Kopf hatten, umzusetzen.
Friedrich, der Zweitjüngste, war das Technikgenie und der Chefkonstrukteur. Auch er ließ sich in Amerika inspirieren und suchte nach immer neuen Optimierungsmöglichkeiten von Bauteilen, Funktionen und Konstruktionsdetails. Er war auch ein hervorragender Verkäufer, denn seiner Begeisterung für die Technik konnte sich kein Kunde entziehen. Da er außerdem geschickt verhandeln konnte, galt unter den Brüdern als der »Diplomat«. Es gab keinen offiziellen Chef unter den Brüdern, und nach außen traten sie stets mit größter Geschlossenheit auf, aber intern war Friedrich der Herr im Haus. Es war kein Zufall, dass derjenige mit dem größten Fachwissen auch die größte Autorität hatte.
Ludwig war das Nesthäkchen. Er war nicht nur mit einem Abstand von fünf Jahren deutlich der Jüngste, sondern er war auch als Einziger kein geborener Industrieller. Er studierte Jura und war ein richtiger Akademiker, inklusive Mitgliedschaft in einer Studentenverbindung und Schmiss im Gesicht. Zur Trauer aller verstarb er sehr früh – im Ersten Weltkrieg an der Ostfront.
Wenn sie sich auch stritten und zofften, sich anschrien und am Esstisch zu Hause wild über das Geschäft diskutierten, nach außen standen sie wie ein Mann. Sie hatten von Anfang an instinktiv dieses Grundgesetz der Führung verstanden. Und sie teilten allesamt auch als erwachsene Herren die Begeisterung fürs Radfahren. Karl gewann auf den eigenen Fahrrädern 60 Radrennen, Wilhelm 70, Heinrich 150, Friedrich 180 und Ludwig 100. Sie waren alle fünf wandelnde Werbeträger für ihre Produkte und bauten sich sogar zum Spaß ein »Quintuled«, eine Art Tandem für fünf Fahrer, mit dem sie zur Gaudi durch die Gegend fuhren. Sie wurden gewissermaßen selbst zum Produkt ihres Unternehmens. »Be the thing you sell«, heißt es in den USA.
Die fünf waren der Kopf und die Hände des Unternehmens, und sie waren unglaublich erfolgreich. Sie machten das Unternehmen zum größten Fahrradhersteller der Welt.
Aber die Seele des Unternehmens war ihrer aller Mutter: Sophie.
Mein Gastgeber macht eine Pause und blickt in die Ferne. Der älteste der Brüder, Carl, war sein Großvater. Aber er kennt ihn nur aus Erzählungen, denn Carl starb früh, lange vor der Geburt seines Enkels. An Wilhelm, den Zweitältesten, der seine Brüder um zehn Jahre überlebte, hat er noch Erinnerungen aus seiner Kindheit. Ich spüre, dass wir an eine Stelle der Geschichte kommen, die meinem Gesprächspartner nahegeht.
Ich frage mich, wie traurig der aufrechte Mann, mit dem ich mich unterhalte, darüber ist, dass das einstmals weltberühmte Unternehmen, das seine Vorfahren aufgebaut haben, heute nicht mehr der Familie gehört und auch nicht mehr erfolgreich ist, ja vielleicht gerade sogar seinem Verschwinden entgegentaumelt.
Wie es die Brüder geschafft haben, nach ihrem Welterfolg mit den Nähmaschinen und ihrem Welterfolg mit den Fahrrädern auch noch einen Welterfolg mit Autos hinzulegen, will ich von ihm wissen. Es scheint ja so, als ob alles, was sie anpackten, zu Gold wurde. Wie haben sie das nur gemacht?
Er überlegt. »Der Brand«, flüstert er dann. Und erzählt weiter.
Der große Brand von 1911 war die größte Katastrophe in der Geschichte des Unternehmens und gleichzeitig der Durchbruch zu seinen bedeutendsten Erfolgen.
Am 18. August jenes Jahres, einem Samstag, war Kirchweih in der Stadt. Die Fabrik stand still, und alle Leute, inklusive der Feuerwehrleute, saßen in den Bierzelten und feierten. Darum dauerte es auch viel zu lange, bis nach dem großen Feueralarm der Kirchturmglocken die von Pferden gezogenen Feuerwehrwagen bemannt waren und sich durch die Menschenmenge gekämpft hatten. Als sie mit dem Löschen begannen, waren schon die ersten Werksgebäude abgebrannt.
Die Brüder, die schon lange vor der Feuerwehr am Brandherd waren, versuchten zu retten, was zu retten war. Sie kämpften sich durch den beißenden Rauch zum Tresor vor und packten alles, was sie greifen konnten, in Eimer und Säcke, liefen auf den Hof, schütteten es auf einen Haufen und rannten zurück, um Eimer und Säcke wieder zu füllen. So konnten sie noch Bargeld retten, vor allem aber das Wichtigste und Heiligste: Konstruktionspläne.
Glücklicherweise kam niemand zu Schaden, aber die ältesten der Werksgebäude und die alte Vernickellei, in der der Brand offenbar ausgebrochen war, waren vernichtet. Dazu etliche Maschinen, 2000 Fahrräder, 3000 Nähmaschinen, Berge von halbfertigen Produkten, Teilen und Werkstoffen und viele wertvolle Unterlagen und Pläne.
Später wurde der Schaden auf 4,5 Millionen Mark geschätzt, eine gigantische Summe, wenn man bedenkt, dass der Stundenlohn eines Arbeiters damals ungefähr 50 Pfennig betrug. Die Nähmaschinenfertigung war fast komplett zerstört. In nur zwei Wochen sollte die millionste Nähmaschine hergestellt werden – und jetzt war alles vorbei. Als sich die Brüder gegen Ende der Löscharbeiten, die die ganze Nacht hindurch bis zum Sonntagmittag dauerten, bei ihrer alten Mutter versammelten, mussten sie ihr berichten, dass die Nähmaschinenproduktion nicht mehr zu retten war. Die Stadt hatte angeboten, die Ruinen von den Pionieren per Sprengung beseitigen zu lassen.
Sie erwiderte kurz und trocken: »Wie viele Arbeiter werden brotlos?«
»Mehr als die Hälfte, Mutter.«
»Dann lasst die Pioniere weg, gebt unseren Leuten Pickel und Äxte, damit sie die Mauern abtragen können!«
Mein Gesprächspartner unterbricht seine Erzählung und trinkt einen Schluck. Ich merke, dass er feuchte Augen bekommen hat.
Das war die Grundphilosophie der Familie. Bevor ein Arbeiter arbeitslos wurde, suchten sie lieber neue Arbeit für ihn. Sie wussten: Nur wenn die Arbeiter gut versorgt sind, können sie etwas Gutes produzieren. Und das stand im Mittelpunkt von allem: etwas Gutes produzieren!
Das Familienoberhaupt war nach dem Tod des Gründers seine Witwe geworden. Sie fühlte sich nicht nur als Mutter ihrer fünf Söhne, sondern sorgte mit großer Wärme, aber auch mit großer Strenge für das ganze Werk inklusive des kompletten Inventars – zu dem auch die Arbeiterschaft zählte.
Ich habe eine Anekdote gelesen, die typisch für sie gewesen sein muss: Wenn sie über den Hof ging und eine Schraube im Staub fand, befahl sie dem nächsten Arbeiter, der ihr über den Weg lief, die Schraube umgehend aufzuheben und ordentlich aufzuräumen. Als nach der Katastrophe ein Beamter vermutete, der Brand könne an herumliegender Putzwolle seinen Ausgang genommen haben, wurde er beinahe ausgelacht. In dieser Fabrik lag nichts herum.
Mit ihrem Mann, dem Unternehmensgründer, war sie sich einig gewesen: »Des sin unsere Leut. Für die müsse mer sorge!« Unter den damaligen Verhältnissen war diese patriarchale Fürsorge ein Segen. Aber »unsere Leut« – da zuckt mir das Wort »Leibeigenschaft« durch den Kopf.
Er hat sich wieder gefasst und setzt seine Erzählung fort.
Die Arbeiter suchten in den Trümmern die noch verwertbaren Bauteile zusammen und bauten daraus in den folgenden Tagen zwölf weitere Nähmaschinen, um auf die Gesamtzahl von einer Million zu kommen. Die Nummer 1 000 000 erhielt ein edles Gehäuse aus Mahagoni und wurde mit viel Wehmut ausgeliefert. Sophie konnte diesen Schlag nie verwinden. An den Nähmaschinen hatte ihr Herz gehangen.
Wie durch ein Wunder waren aber die neueren Gebäude, in denen die Motorwagenproduktion untergebracht war, vom Brand vollkommen verschont geblieben. War es ein Wunder oder Fügung? 600 fertige Autos standen in den Hallen, und außer einer schmierigen Rußschicht, die leicht abzuwischen war, hatten sie keinen Schaden erlitten.
Die geschäftstüchtigen Brüder hatten die Fabrik gut versichert, und so konnte der finanzielle Schaden aufgefangen werden. Die Fabrikhallen wurden wieder aufgebaut, und das Werk wurde dabei gleich noch vergrößert und modernisiert. Und weil die Nähmaschinenproduktion aufgegeben wurde, konzentrierte sich ab sofort alles auf die Automobilproduktion. Und diese engpasskonzentrierte Strategie brachte den Durchbruch.
Schon ein Jahr später arbeiteten 4500 Arbeiter im Werk und produzierten 50 000 Fahrräder und 3000 Autos im Jahr. Die Brüder stellten einen Werksrennfahrer an, der Autorennen gewinnen sollte, um den Ruhm des Unternehmens zu mehren. Und das tat er. Auch der junge Fritz, der Sohn des zweitältesten Bruders Wilhelm, hatte Benzin im Blut und tat sich als Rennfahrer hervor.
Die Brüder bauten nebenbei Flugzeugmotoren, Motorpflüge, Lastwagen, Feuerwehrautos, Motorräder, Raketenautos und Raketenflugzeuge. Und der verrückte junge Fritz testete alles, was sich bewegte; holte mit dem Raketenauto mit 238 Kilometern pro Stunde den Geschwindigkeitsweltrekord und war der erste Mensch, der einen Flugversuch mit einem Raketenflugzeug unternahm – und überlebte. Mit seinen Rekordfahrten führte er die Tradition seines Vaters und seiner vier Onkel fort, die mit ihren Radrennerfolgen stets selbst die besten Werbeträger ihres Unternehmens gewesen waren. Die tollkühnen Männer auf ihren Drahteseln, in ihren Rennkutschen und in ihren fliegenden Kisten war nicht zu trennen von ihren Produkten. Die Firma, das waren sie selbst. Und der fortan »Raketen-Fritz« genannte Spross der Familie gelangte sogar zu Weltruhm.
Und sie hörten nicht auf, die Produktionsabläufe stetig zu verbessern und die Konstruktion ihrer Produkte zu optimieren. Sie waren eben Pioniere. Und sie überlegten: Diese vielen Menschen, die aus dem Krieg heimgekommen sind und vor dem Nichts stehen – was können wir noch machen, um den Leuten Arbeit zu geben? Irgendwie müssen wir sie doch alle durchbringen!
Wilhelm brachte aus Amerika die Idee der Fließbandproduktion mit, die er bei Henry Ford gesehen hatte. In Windeseile wurde die Produktion 1924 umgestellt. Das Unternehmen wurde zum ersten Unternehmen in Deutschland, das Autos am Fließband produzierte.
Dadurch konnten die Kosten pro Stück verringert werden. Nicht nur wurde die Autoproduktion damit äußerst lukrativ, das Unternehmen wurde auch extrem wettbewerbsfähig. Das neue Modell konnte so günstig am Markt angeboten werden, dass die Käufer sich förmlich darum rissen. Es wurde das erste wirkliche Volksauto in Deutschland. Die Produktion wuchs und wuchs. 1928 stellten knapp 10 000 Arbeiter über 40 000 Wagen her. Das Unternehmen war zum größten Automobilhersteller Deutschlands geworden.
Und dann, am Ende der Goldenen Zwanzigerjahre, folgte der klügste Schachzug der Brüder, der gleichzeitig das Schicksal des Unternehmens besiegelte.
Mein Gastgeber holt tief Luft. Ich lasse meinen Blick über das Areal schweifen und entdecke einige parkende Autos. Es wundert mich nicht, dass sie alle von derselben Marke stammen. Aber warum ist vom einstigen Ruhm und der strahlenden Größe des Unternehmens heute kaum mehr etwas übrig?
Nachdem Ludwig im Krieg gefallen war und kurz nacheinander der großzügige Carl und der kaufmännische Heinrich gestorben waren, blieben nur noch Wilhelm und Friedrich in der Führungsverantwortung zurück. Sie mussten Vorsorge für die Zukunft ihrer Arbeiter treffen und den Fortbestand des Unternehmens sichern. Der junge Raketen-Fritz hätte gerne das Unternehmen geführt, aber er war ein Abenteurer, ihm fehlte die Bodenhaftung.
Friedrich, der Diplomat und große Verhandler, fädelte also kurz vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 den Verkauf des Unternehmens an einen großen amerikanischen Automobilkonzern ein. Die Amerikaner bezahlten für den größten deutschen Autobauer die damals unglaubliche Summe von 33,3 Millionen Dollar. Das waren über 150 Millionen Reichsmark. Direkt umgerechnet, mit Inflationsaufschlag, wären das heute knapp 500 Millionen Euro, aber wenn man die damalige Kaufkraft zugrunde legt, entspricht das einem heutigen Milliardendeal. Der Preis war so unverschämt hoch, dass die Amerikaner ihren Verhandlungsführer kurz nach Abschluss des Geschäfts feuerten.
Der amerikanische Konzern wurde damit zum größten Automobilhersteller der Welt – und die Familie war plötzlich nicht mehr Herr im eigenen Haus.
Wilhelm und Friedrich verblieben zwar im Aufsichtsrat des Unternehmens und setzten noch einige wichtige Entscheidungen durch, die den Fortbestand und die Erfolgswelle der Marke garantieren sollten. Aber operativ hatten sie nichts mehr zu sagen. 1936 verkaufte der Konzern die Fahrradproduktion. Viele altgediente Mitarbeiter wurden entlassen. Die Brüder mussten zusehen, wie zweitklassige Manager aus Amerika das Traditionsunternehmen nach und nach neu ausrichteten – weg von den Traditionen der Familie und weg von den eigentlichen Stärken des Unternehmens –, und sie waren dagegen machtlos.
Als Friedrich 1938 und Wilhelm 1948 starben, begann der Glanz des Unternehmens zu verblassen. Zuerst verlor man die Innovationsführerschaft, dann das gute Image und dann die Stückzahlen. Heute wird darüber verhandelt, die Produktion zum Teil nach Osteuropa zu verlagern und einen großen Teil der Stammbelegschaft zu entlassen. Ein Jammer.
Ich will von meinem Gastgeber wissen, woran der Konzern seiner Ansicht nach wirklich gescheitert ist. Er erinnert sich daran, dass sein Vater zu ihm immer gesagt hat: »Geld verdirbt den Charakter.«
Der Familie, so reich sie auch geworden ist, sei es nie nur ums Geld gegangen. Es sei immer darum gegangen, etwas zu leisten. Wenn man aber primär Geld verdienen wolle, dann produziere man nichts Gutes mehr, sondern etwas Billiges. Ein Produkt ohne Seele. Das habe es im Familienunternehmen nie gegeben.
Er sagt: »Der Antrieb war immer, etwas Gutes zu produzieren. Die Amerikaner sind letztlich daran gescheitert, dass sie nur noch Geld verdienen wollten. Sie verließen die ursprüngliche Grundphilosophie des Unternehmens, gute Produkte herzustellen.«
Die Vorfahren des stolzen Herrn, der da vor mir sitzt, hatten schon immer mutig weit voraus gedacht. Dabei hatten sie keineswegs den Anspruch, stets bei null anzufangen und das Rad neu zu erfinden. Ihnen kam es nie darauf an, eine Idee selbst zu haben, sie waren keine Erfinder. Die Idee zur Nähmaschine hatten andere, sie wurde genauso aufgegriffen wie die Idee zum Fahrrad, zum Automobil, zum Raketenantrieb oder zur Fließbandproduktion. Der Kern dessen, was die Familie ausmachte, war die Fähigkeit, aus den guten Ideen, die andere hatten, etwas zu machen. Sehr clever!
Dabei waren sie immer ausgesprochen pragmatisch. Zwar verfolgten sie das Prinzip »Wir können alles machen!«, doch sie verloren darüber nie die Bodenhaftung und übernahmen für alles, was sie taten, die volle Verantwortung. Und sie blieben pragmatisch und verantwortungsvoll bis zum Schluss – indem sie die Firma rechtzeitig verkauften.
Sie waren wahre Macher. Sie leisteten Unglaubliches. Dennoch: Ihre Zeit ist vorbei.
Als wir zu meinem Auto gehen, frage ich ihn noch, was ihm der große Name, den er trägt, bedeute. Auch hier bleibt er pragmatisch: »Was soll ich machen? Wenn ich den brauche, dann nutze ich ihn. Im Umgang mit Behörden zum Beispiel und als Türöffner ist der Name wirklich nützlich. Ansonsten ist es mir völlig egal, wie ich heiße.«
Ich gebe ihm die Hand und verabschiede mich. Von Karl Wilhelm Heinrich Fritz Adam von Opel, genannt »Carlo«.