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Das Buch

Louise Jacobs ist immer wieder erstaunt, wie wenig bei ihr daheim über frühere Generationen ihrer Familie gesprochen wird – obwohl sie als eine Jacobs unabwendbar Teil einer Familienlegende geworden ist. So macht sie sich auf die Suche nach den Spuren zweier unterschiedlicher Männer. Da ist zum einen ihr Großvater Walther Jacobs, bremischer Kaffeepatriarch, der neben der Weltmarke Jacobs eine erfolgreiche Vollblüterzucht aufbaute; zum anderen Fritz Moritz Jessurun, ihr Urgroßvater aus Hamburg, der mit seiner jungen Familie vor den Nazis aus Deutschland fliehen musste. Aus fesselnd erzählten Szenen und berührenden Begegnungen zeichnet Louise Jacobs ein einmaliges Familienpanorama.

Die Autorin

Louise Jacobs, geboren 1982, wuchs in der Schweiz und den USA auf. Die Suche nach ihren Wurzeln führte sie unter anderem nach Lissabon, Rio de Janeiro und New York. Louise Jacobs lebt heute in der Schweiz und in Berlin. Café Heimat, ihr erstes Buch, entwickelte sich zu einem Bestseller.

Louise Jacobs

C A F É  H E I M A T

Die Geschichte meiner Familie

List

Für Fritz Moritz und Walther Johann

I N H A L T

Prolog

1. TEIL Borgfeld – Bremen – New York

2. TEIL Die Jessuruns – eine Familie sephardischer Juden

3. TEIL Der Siegeslauf von Jacobs Kaffee

4. TEIL Auf der Durchreise in Lissabon

5. TEIL Der Krieg und das Leben in der Enklave

6. TEIL Staatenlos in der Fremde

7. TEIL Jacobs Kaffee … wunderbar

8. TEIL Austern im Dutzend – Hochzeit im Doppelpack

9. TEIL Mit Niveau ins Wirtschaftswunder

10. TEIL Abschied und was bleibt

11. TEIL Die Vollblüter vom Fährhof

12. TEIL Schicksalswege

13. TEIL Vier Trümpfe und ein Ass

14. TEIL G-377 oder Endstation Copacabana

Epilog

P R O L O G

Ich bin 22. Diese Reise war ich meinen Vorfahren und mir selbst längst schuldig. Ich folge verschütteten und vergessenen Spuren nach Hamburg und Arizona, zu den Gräbern meiner Vorfahren in Rio de Janeiro und in New York.

Wer war Walther Jacobs? Diese Frage führt mich zurück an den Anfang meiner Erinnerung an Familie.

Die jüdischen Spuren mütterlicherseits führen mich nach Hamburg, wo ich mit dem Archivar, Herrn Sielemann, die Geburtsurkunden und Gemeindebücher im Keller des Staatsarchivs durchblättere. Die blauen Akten meines Urgroßvaters sehe ich mehrere Male im Lesesaal ein sowie ein Biographisches Lexikon der Sepharden in Hamburg, in welchem ich unter den Familiennamen Cohen, Luria, Ferro und zahlreichen anderen auch die Jessuruns finde. Die Wege führen mich nach New York an das Grab meines Urgroßvaters Fritz Moritz alias Fred Milton, auf einen Friedhof in Queens. Die Reise bringt mich erstmals nach Arizona zu seiner Tochter Eva, zu seinem Humidor, zu seiner Briefmarkensammlung. Eva erzählt mir Geschichten von ihm, manche lassen mich schmunzeln und manche bestürzen mich. War ich sonst nur alle drei Jahre in Bremen bei meiner Großmutter Ann, besuche ich sie jetzt häufiger, sitze auf ihrem Sofa und blättere in einem alten Kochbuch meiner Urgroßmutter Else. Ann erzählt nur ungern von der schweren Zeit der Familie in Amerika. An Elses Grab in Rio de Janeiro wird mir klar, wie weit eine Diaspora sein kann, nicht mehr messbar in Raum und Zeit.

Ich begegne in Bremen, Zürich und München den Hinterbliebenen meines Großvaters väterlicherseits und jenen, die Walther Jacobs kannten und sich gerne an ihn erinnern. Ich höre seine Sekretärin mit leuchtenden Augen von dem freundlichen und verbindlichen Herrn sprechen. Ich sitze meiner Tante gegenüber, die mit verlorenem Blick Halt sucht, während sie von ihrem Vater spricht, der sie nie in den Arm genommen hat und der auf ihre Ausbildung keinen Wert legte.

Ich sollte dieses Buch nicht schreiben. Nie war die Geschichte unserer Familie bei uns ein Thema. Ich wuchs als Deutsche in einem viersprachigen Binnenland auf, mit fünf Geschwistern und liebevollen Eltern. Ohne Alpen und die Leidenschaft fürs Skifahren, ohne Pfadfinder, ohne Gletscherwanderungen und schlaflose Nächte in Berghütten wäre ich nicht die Deutsche, die ich heute so schweizerisch bin. Eines aber fehlte mir in dieser Heimat – es waren die Vorfahren. In Zürich hatte die Familie keine Wurzeln, keine Geschichte – mir fehlten familiäre Traditionen, um mich dort heimisch zu fühlen.

Um zu leben musste ich wissen, wer wo, wann und woran gestorben war. Die Vergangenheit begann in meine Gegenwart einzudringen.

»Sag mal, hast du eigentlich spanische Vorfahren?«, fragte mich ein Freund eines Abends.

»Was?«, rief ich aus. »Spanien? Wir sind ein norddeutsches Bauerngeschlecht.«

»Du hast mit Sicherheit spanische Vorfahren.«

Wie konnte es sein, dass ich mit 22 Jahren nicht wusste, woher ich kam? Ich fühlte mich nicht zum ersten Mal in meinem Leben verloren, doch diesmal wusste ich endlich warum.

Seine Beharrlichkeit und meine unbehagliche Ahnung von fremden Ursprüngen veranlassten mich zum ersten Mal in meinem Leben, meine Mutter danach zu fragen:

»Könnte es sein, dass wir spanische Vorfahren haben?« Mit ihrer Antwort tat sich der dünne Boden eigener Vergangenheit unter meinen Füßen auf. Die Reise ins Ungewisse, ins Unbekannte hatte begonnen.

Da tauchten plötzlich Rabbiner aus Venedig auf, Pilger aus Lissabon. Erstmals sah ich ein Bild meiner Urgroßmutter Else und erfuhr den Namen meines Urgroßvaters. Für jedes dieser Details wagte ich mich auf das Minenfeld der Erinnerung. Ich war wie im Rausch: Das ist das Blut, das in mir fließt, das sind meine Gene! Es sind also die Sepharden, die spanischen Juden. Es sind die Bauern aus Borgfeld mit Sau, Kuh und Hof.

Meine Mutter musste vierzig werden, bis die ersten Bücher über das Judentum ihren Weg in unsere Bibliothek fanden. Erst heute spricht mein Vater über das »Bremer Brot mit Würfelschinken«, das sich mein Großvater ins Büro mitnahm und bei einer Tasse Kaffee um zehn Uhr aß, das Butterbrotpapier hob er immer auf. Ich weiß heute, was mir als Kind und Jugendliche fehlte: dass ich nie auch nur ein Wort mit Walther Jacobs, meinem Großvater, gewechselt hatte, an das ich mich erinnern könnte, dass ich nie verstand, warum meine Mutter in Nicaragua geboren war, ihre Mutter aber in Bremen lebte – und wir in der Schweiz.

Ich fragte nicht danach, weil niemand fragte. Der Normalzustand war, dass meine Großmutter vielleicht zweimal im Jahr bei uns war. Von meinem Opa Jacobs erreichte mich jährlich zum Geburtstag ein Brief mit einem Geldschein und einem Foto von seinem Haus. Der Normalzustand war das Nicht-Sprechen, war die Unantastbarkeit der Vergangenheit.

Zu erfahren und zu erzählen ist für mich seit Beginn der Recherche zu einer Orgie des Schwelgens geworden. Einen Bissen nach dem anderen kaue ich, schmecke ich, anschließend kommt das Schlucken und das Verdauen. Diese Art der Nahrungsaufnahme kann niemals zur Völlerei werden, denn Wissbegierde soll nie im Leben gesättigt sein – je mehr ich erzähle, desto unerträglicher wird mein Hunger. So erfahre ich, dass meine Großmutter mütterlicherseits, Ann Grobien, geborene Jessurun, 1938 mit ihrer Familie aus Hamburg nach Lissabon geflüchtet ist und von dort aus 1941 weiter nach New York getrieben wurde. Ann kehrte erst in den sechziger Jahren über Nicaragua, wo meine Mutter geboren ist, zurück nach Bremen. Ihre Schwester Eva sowie Anns Eltern kamen nie wieder nach Deutschland zurück.

Ich erfahre, dass die verschwiegene Seite meines Großvaters, Walther Jacobs, ursprünglich von einem bremischen Bauerngeschlecht aus Borgfeld abstammt, dessen Wurzeln bis 1550 zurückzuverfolgen sind.

Würde man mich fragen, ob ich mich als Jacobs fühle oder als Jessurun, ich würde antworten: als Jessurun. Würde man mich aber fragen, ob ich mich als Jacobs oder Grobien – so hieß die Familie meines Großvaters mütterlicherseits – fühle, so würde ich antworten: als Jacobs.

Als Jessurun fühle ich mich, weil ich spüre, gewisse Dinge vererben sich, nicht nur in Charakter oder Aussehen, sondern auch in der Weise, wie ich fühle und empfinde. Der Einfluss der Jessurun’schen Wurzeln ist einfach da, in meinem Blut.

Stelle ich mir heute die Frage: »Wie hältst du’s eigentlich mit dem Jüdisch-Sein?«, antworte ich: »Früher fühlte ich mich jüdisch, jetzt bin ich es.«

Und ich bin eine Jacobs, weil mich die Leidenschaft für das Bäuerliche, das Ländliche prägt, für Pferde und nicht zuletzt für Kaffee.

Auf der Stammtafel der Familie Jacobs steht an der Spitze einer breiten Pyramide von Namen und Daten Claus Jacobs, geboren in Borgfeld um 1550, und dahinter in Klammern: Baumann in Borgfeld. Nachweislich hat die Familie Jacobs also seit dem 16. Jahrhundert in Borgfeld ein eigenes Gehöft.

Von Generation zu Generation erbte immer der älteste Sohn den Hof, und der jüngere – sofern es einen gab – zog in die Stadt, um zu arbeiten.

So erging es auch den beiden Brüdern Walther und Daniel Jacobs rund 400 Jahre später. Daniel, der Erstgeborene, übernahm von seinem Vater Jacob den Hof und Walther zog nach Bremen, um dort bei seinem Onkel Johann, ebenfalls ein Zweitgeborener, im Spezialgeschäft für »Caffee, Thee, Cacao, Chocoladen und Biscuits« zu arbeiten. Walther war 21 Jahre alt, als Onkel Johann seinen Neffen nach New York in die Lehre schickte. Zwei Jahre später kam er zurück und trat 1930 in die Firma Johann Jacobs & Company ein. Er würde erstmals ein Corporate Design, ein für den Kunden wieder erkennbares Logo und einen Werbeslogan für die Marke Jacobs Kaffee entwickeln. Seither stiegen die Verkaufszahlen der Firma Jacobs und sie war auf dem Weg zum Erfolg.

1. T E I L

                    

B O R G F E L D –  B R E M E N –  N E W  Y O R K

1

Es scheint ein Tag wie jeder andere zu sein … Es ist der 15. November 2004, elf Uhr vormittags. Ich sitze in Bremen an einem Ort, wo die Welt noch in Ordnung zu sein scheint – ich sitze am hintersten Tisch im Nichtraucherteil der Konditorei Knigge.

Hier kann man alles um sich herum vergessen, es könnte im Jahr 1920, aber auch 2004 sein. Es ist eine Welt, in der sich die Sahne in allerlei kunstvollen Variationen in Weiß oder Sattbraun, gespritzt, geschichtet, oder in Biskuit gefüllt, in der Auslage präsentiert. Hier servieren noch die blonden Töchter des Servierpersonals und die Männer mit Schnauz in schwarzer Weste und Fliege. Und wenn das Kännchen kommt und die Kapuzinertorte, dann wächst unweigerlich das behagliche Gefühl, dass die Zeit an diesem Ort in gewissem Sinne stehen geblieben ist. Hier, wo der »Budderkuchen« noch richtig schmeckt, treffe ich heute die langjährige Sekretärin von Walther Jacobs.

Frau Sörös hat rote Wangen und pechschwarzes Haar, ihre Stimme ist fest. Sie eröffnet unser Gespräch mit der Frage: »Was wollen Sie trinken, haben Sie eigentlich schon gefrühstückt?«, und es endet erst, als der Stundenzeiger meiner Uhr auf der Zwei steht.

Unsere Bestellung – Scholle mit Kartoffelsalat – ist auf dem Wege in die Küche, als Frau Sörös sagt: »Ich habe auch einige Dinge mitgebracht.« Ich spüre, sie erinnert sich gerne. Und nach den ersten Minuten sind wir beide eingetaucht in die Geschichte eines charmanten, humorvollen, geheimnisvollen Mannes.

Er faszinierte, er verängstigte, er war Großvater, Vater und Phantom zugleich. Er war nicht der Mann großer, ausladender Worte oder Reden. Doch das Wenige, was er sprach, blieb in Erinnerung und wird noch heute gelegentlich von seinen Weggefährten zitiert.

Frau Sörös erzählt mir, wie er in den Monaten vor seinem Tod so manchen Tag in Strickjacke und Krawatte im Rollstuhl saß und mit der Hand in den Garten mit den alten Eichen zeigte. Hier war es ihm gelungen, in sich zu kehren, nach Hause zu kommen in eine lang vergessene Seele. Sie erzählt mir auch, wie er manchmal seinen Kopf wandte und spitzbübisch flüsterte: »Hörst du den bunten Vogel. Siehst du das Eichhörnchen?«, obwohl weit und breit keins zu sehen war.

»Da hat er mich manchmal geduzt«, sagt Frau Sörös.

Im Alter ist so viel Leid vergessen, so mancher Schmerz durchlitten. Es schien so, als hätte Walther Jacobs nach all der Anstrengung in seinem Leben nun den Wert der Ruhe erkannt, und als hätte er zu dem kindlichen Selbstverständnis zurückgefunden, ein Junge zu sein, dessen Schicksal es war, als Zweitgeborener vom Hof in die Stadt zu ziehen, um Arbeit zu suchen. Vielleicht war es gerade seine Unnahbarkeit, die ihm inneren Reichtum geschenkt hatte und ihn gelassen altern ließ.

Am 4. Juni 1998 blieb von Walther Johann Jacobs nur noch die Erinnerung an ihn. An Alzheimer erkrankt verlebte er die letzten Jahre in Bremen, wo die alten Eichen stehen und die bunten Vögel vielleicht noch immer singen. Hier endete ein Leben, getrieben von einem unermüdlichen Überlebenswillen und Stolz, einem nicht enden wollenden Tatendrang.

Alles nahm seinen Anfang an der Borgfelder Heerstraße im Jahr 1907. Selbst ein Mann seiner Größe wurde dort am 17. März als schreiender Säugling in die Arme einer guten Amme hineingeboren.

Ich begebe mich also dorthin, wo bis heute meine Seele wohnt. Es ist der Ursprung einer Liebe. Einer Liebe zu dem Duft von gemähter Wiese, zu dem Geräusch flatternder Nüstern von schnaubenden Pferden, zu dem Gefühl rauer Hände und dem Dreck unter den Fingernägeln. Es ist Borgfeld bei Bremen.

Was muss das für ein idyllischer Anblick gewesen sein, im Jahr von Walthers Geburt, wenn Heuwagen über die Landstraße fuhren, Wanderer am Wegesrand gingen oder Reiter hoch zu Ross Richtung Borgfeld ritten. Einerlei, auf welche Weise man den Schlagbaum erreicht hatte, war das Entree beglichen, konnte man das letzte Stück des Breitenweges zurücklegen. Nach halbstündiger Fahrt über Furten und Schlaglöcher, vorbei an fetten Äckern und weiten Wiesen, zog man nun ein ins »schönet Borgfeld«.

Mit erhobener Hand grüßte man hier und da die Lachmunds, die Tietjens oder die Jacobs, sobald sich der Holzwagen über den Platz schleppte. Ein Lärm war das. Die eisernen Räder knallten und knirschten auf dem Sandboden. Hier schrie eine Kuh, dort gackerte eine Henne, die zum Schlachten eingefangen werden musste. Langsam zog man vorbei an den niedrigen Häusern. Die Lehmwände waren vom Ruß geschwärzt, manche geweißt oder gar rot gebrannt. Dicht an dicht standen die strohgedeckten Hütten, deren Dächer, bewachsen mit dichtem Moos oder Gräsern, den Bewohnern nur dürftig Schutz vor Wind und Wetter boten.

Vor der Ratspieke standen schon die Pferdewagen, beladen mit Eisblöcken, in deren Mitte sich zehn braune Fässer türmten. Bei dem Gedanken an ’nen Lütt um’ Lütt – ein Glas Bier vom Fass und einen Kornschnaps – klebte einem die Zunge am Gaumen. Doch es war noch ein ordentliches Stück Weg bis zur schattigen Laube, wo man die trockenen Kehlen benässen konnte.

Welch ein Glück, wenn es Frühling wurde und die Sonne wieder höher stand, die Natur erste Triebe zeigte oder schon blühte, dann schien es, als würden auch die Menschen aufblühen. So fern war der Winter, wenn man unter den dicken Eichen dahinzog, der Wind einem den Duft von geschnittenem Heu in die Nase wehte.

Und sieh! Dort kam der Behrens mit der Dauerware auf den Schultern. Er ging, wie viele Borgfelder, am Deich entlang zum »Roschenhus«, um sein Fleisch für den Sommer zu räuchern. Da konnte die Keule gute fünf Monate reifen. Das Haus der Roschens war damals, im Frühjahr 1907, das einzige, das noch keinen Schornstein besaß und daher vielen Borgfeldern als Räucherkammer diente.

Blendete einen das harte Gegenlicht der Frühlingssonne so, dass man den niedrigen Kirchturm, der kaum höher war als die umstehenden Häuser, fast übersehen hätte und am bescheidenen Gotteshaus vorbeigefahren wäre, musste man sich mit voller Kraft in die Zügel lehnen, um das Gespann mit den zwei schnaufenden Gäulen noch rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Die Kirche duckte sich zwischen den windschiefen Denksteinen, mitten in den Wogen der aufgeschütteten Grabhügel. Die Kronen der Eichen überragten den Wetterhahn um einige Foot. Mit der rechten Hand die Augen beschirmend, bot sich einem der Anblick einer Stätte des Todes und zugleich des Lebens der erwachenden Natur. Der Winter war vorbei, doch all die Halme, Nesseln, Kletten und Dornen zwischen den Steinen ruhten noch verdorrt im schmelzenden Schnee. Die Gedanken rissen ab, als der Schimmel mit einem Ruck die Zügel herumriss, um eine Fliege vom schaumverklebten Gebiss zu verjagen.

Wenden wir uns also dem Glück des Lebens zu, und das war in diesem Moment das Gittertor zur schattigen Gartenlaube der Ratspieke, die in unmittelbarer Nähe, am Ufer der gemütlich dahin fließenden Wümme, lag. Hier ließ sich ausruhen, hier konnte man dem Rücken und anderen müden Gelenken mit Blick über den Fluss auf die jenseitigen Felder eine Pause gönnen.

Zur gleichen Zeit lag Betina Jacobs, geborene Wagt, halb betäubt von Schmerzen auf ihrem Lager im Haus an der nahe gelegenen Heerstraße 60. Sie lauschte dem Geschrei des Säuglings. Neben ihr saß die Hebamme, die ihr die salzigen Schweißtropfen von der Stirn wischte. Betina kannte das Gefühl der großen Erschöpfung und der schweren Seele und doch erschien es ihr erneut ganz fremd.

Vor drei Jahren hatte sie ihre Tochter Meta Adelheid zur Welt gebracht, ein Jahr darauf ihren ersten Sohn Daniel, der gerade in der Diele schrie, weil die Mittagszeit vorüber war und Vater Jacob noch immer in der Dorfgemeinde bei den Herren saß.

Walther Johann kam an diesem Tag als zweiter Sohn der Familie Jacobs auf die Welt. In jeder Generation hatte es bisher einen Johann gegeben. Um Verwechslungen mit dem Onkel auszuschließen tauften sie den Kleinen auf den Rufnamen Walther und gaben ihm den Zweitnamen Johann, dem Onkel in Bremen zu Ehren.

Noch hatte Walther seinen Onkel Johann, der in der Stadt lebte, nicht näher kennen lernen können, war er doch vollauf mit Wachsen beschäftigt, mit der schulischen Ausbildung und mit der Hilfe bei der Heuernte, so wie jedes Kind in Borgfeld. In späteren Jahren, wenn es darum gehen würde, sein eigenes Brot zu verdienen und auf eigenen Füßen stehen zu müssen, würde er mit seinem Onkel ein gemeinsames Schicksal teilen, es war das Schicksal der Zweitgeborenen.

2

Johann, oder Onkel Jan, wie ihn Walther später nennen würde, war der jüngere Bruder von Jacob Jacobs, Walthers Vater. Und wie es die uralte Tradition verlangte, stand schon bei seiner Geburt fest, dass er in die Stadt gehen musste, um sich Arbeit zu suchen, während es seinem älteren Bruder zukam, Hof und Land der Familie zu erben. So sollte denn für Johann, als er 1884 das 15. Lebensjahr erreicht hatte, das Leben auf dem Lande ein endgültiges Ende nehmen.

»Du bist der Zweitgeborene, mein Junge. Du solltest Kaufmann werden!«, schlug die Mutter vor.

Ihren Rat befolgend schrieb Johann nach Amerika, er wollte dort lernen und arbeiten. Er erfuhr, dass die Zeiten schlecht waren und die Aussicht auf eine Arbeit in Bremen weitaus größer und viel versprechender. Und so machte sich Johann an der Seite seiner Mutter auf den Weg, einen Lehrmeister zu suchen.

Der beliebteste Weg nach Bremen war der mit der Postkutsche. Die gelbe Kalesche, mit zwei Pferden bespannt, hielt frühmorgens von Lilienthal kommend am Lehesterdeich, um dann weiter zum Herdentorsteinweg bei Jagels zu fahren, an dem das Postamt und die Telegrafenstation lagen.

Die Suche nach einer Arbeitsstelle, wo der 15-jährige Johann lernen und arbeiten konnte, begann genau hier, wo die nassen Pferde ausgespannt wurden und ihren Hafer bekamen. Das Dorf Borgfeld zählte 1869, im Jahr seiner Geburt, achthundert bäuerliche Seelen. In der Stadt Bremen hingegen überstieg die Einwohnerzahl die Tausend bei weitem. Für Johann immer noch eine unüberschaubare Menge.

Er wurde Lehrling bei Carl Levin, dem Besitzer des Colonialwarenladens im Ostertorviertel. Seine Ausbildung nahm drei Jahre in Anspruch. Vier weitere Jahre verbrachte der Junge in kleineren Geschäften und fand schließlich eine Anstellung im Büro einer Großhandlung, wo er als 23-Jähriger schon Prokura erhalten sollte.

Doch welchen Nutzen zogen der Hafen, die Reederei, die Stadt schon aus einem gelehrten Kolonialwarenhändler? Als solchen würde sie ihn, unbarmherzig, wie sie war, wieder auf die Äcker und in die Viehställe verbannen. Ein innerer Drang nach Selbstständigkeit ließ ihm keine Ruhe. Er erkannte, dass Menschen, die es zu etwas bringen wollten, sich ein Ziel stecken müssen, wonach sie streben. Es durfte aber kein Ziel sein, das in greifbarer Nähe liegt, sondern es musste so weit gesteckt sein, dass es fast unerreichbar erschien, damit sich die Kräfte auf dem Weg dorthin mehren konnten.

Johann wusste selbst im Schlaf um sein Schicksal: Zurück auf den Hof konnte er nicht, die Tradition verwehrte ihm das Erbe. Dort hatte er kein Zuhause mehr.

Schon wenige Monate nach Abschluss der Lehre stand seine Entscheidung fest. Im Jahr 1898 konnte jedermann in den Bremer Nachrichten folgende Annonce lesen: »Im Hause Domshof 18 eröffne ich ein Spezialgeschäft in Caffee, Thee, Cacao, Chocoladen, Biscuits – Inhaber und Gründer Johann Jacobs«. Bremen war schon seit 1844 eine Stadt, die mit Zielstrebigkeit den Verkauf und Genuss von Kaffee vorantrieb. Anlässlich der damaligen Eröffnung des ersten Bremer Kaffeehauses schrieb die Zeitung Der Bürgerfreund die verheißungsvollen Worte: »Ein Ereignis, das eine neue Bildung, eine bessere Cultur, Gewandtheit, Tornüre und Geschmack über unsere philiströse Bevölkerung bringen wird.«

Mit 26 Jahren war der Geschäftsführer des Ladens am Domshof somit kein Kaffeepionier, doch er gründete sein kleines Unternehmen in der richtigen Stunde. Johann befand sich mit seinem Kaffee- und Teeladen in guter Nachbarschaft: Ein Delikatessengeschäft, zwei Tapisserien – Geschäfte für Gobelins, Tapeten und Teppiche – und eine Konditorei mit Café, ein Geschäft für »Beleuchtungs- und Broncewaren« und eine Zigarrenhandlung, die auch Theaterkarten verkaufte, versprachen eine gutbürgerliche, kaufkräftige Kundschaft.

Zwei mäßige Geschäftsjahre vergingen, dann gab Johann Jacobs wegen zu geringer Laufkundschaft den Laden am Domshof auf und zog an die Sögestraße, Bremens wichtigste und teuerste Einkaufsstraße. 1902 schließlich eröffnete er ein weiteres Geschäft in der Obernstraße, das fünf Jahre später um einen eigenen Röstbetrieb erweitert wurde.

»Von diesem Zeitpunkte an gewährte mir der Geschäftsbetrieb erst seinen vollen Reiz«, schrieb Johann vierzig Jahre später rückblickend nieder. »Waren in der Lohnrösterei meine Kaffees schablonenhaft, eine Sorte wie die andere, geröstet worden, so konnte ich jetzt jede Sorte nach ihrer Eigenart und Struktur der Bohne behandeln und somit meinen Kaffees eine ganz besondere Geschmacksrichtung geben.«

Der Umsatz begann zu steigen.

Im März jenes Jahres erblickte Johanns zweiter Neffe Walther auf dem Hof seines Bruders in Borgfeld das Licht der Welt.

3

Während der Onkel in der Stadt den Umsatz seines Kaffee-Geschäftes stetig steigerte, wuchs zwischen den weiten Wiesen der Wümme, inmitten der Kuhherden, ein kleiner Bauernjunge heran, der, umgeben von Schweinen, Schafen und Pferden, die Natur lieben und schätzen lernte.

In das Jahr 1914, als eine ganze Nation jubelnd in den Krieg gezogen war, um vier Jahre später geschlagen zurückzukehren, fiel Walther Johann Jacobs’ erster Schultag. Das Kind wurde in seinem siebten Lebensjahr hinter Schulbank und Schiefertafel vom Ernst des Lebens begrüßt.

Aber in Borgfeld gehörte man, auch ohne das Einmaleins zu beherrschen, zu den Eingeweihten, wenn es einem erlaubt war, den Vater auf die Tierschau zu begleiten. Der Ostermontag war ein ganz besonderer Tag. Einmal im Jahr fand dann auf den Wiesen Lilienthals ein Volksfest statt, das vom Landwirtschaftlichen Verein ausgerichtet wurde. Es diente nicht nur der Förderung der Rinderviehzucht, die noch sehr rückständig war, auch den Ackerbau versuchte man durch das Präsentieren von Düngern zu modernisieren, was bei öffentlichen Versuchen bis dahin nur unbefriedigenden Erfolg gezeitigt hatte. Die Bauern blieben am Ende doch bei ihren althergebrachten Methoden, ganz ohne Chemie.

Jenseits der Wümme trafen sich allerlei Hofeigentümer, die weniger geschäftlichen Interessen nachgingen als vielmehr über schwarz-weißes Vieh, was sich reichlich in minderer Qualität präsentierte, fachsimpelten und voll und ganz die ausgelassene Stimmung des Festes genossen.

Von weitem schon hörte Walther die marschmusikalischen Klänge des Blasorchesters an der Borgfelder Heerstraße und der Duft von Dung und zertretener feuchter Wiese mischte sich in die frische Brise, die über das Land wehte.

Würde der Vater heute eine Kuh oder ein Rind kaufen? Brauchten sie vielleicht doch noch einen Bock? Ach, und würde er endlich einmal Zeit finden, die Maschinen anzusehen, die dort ausgestellt wurden? Der Achtjährige wünschte sich nichts sehnlicher, als einen dieser Traktoren übers Feld fahren zu können, wenn er einmal groß genug war. Natürlich würde er auch viele Kinder aus der Schule treffen und all die Männer, die er sonst nur auf dem Feld mit dem Vater sah; heute war schließlich jeder hier. So hing Walther seinen Gedanken nach, während er versuchte, dem schnellen Schritt des Vaters zu folgen. Wie aufgeregt er war.

Als sich Jacob, mit seinen Söhnen Daniel und Walther, unter die Bauern, die Mitglieder der Vorstände und die freiwilligen Helfer gemischt hatte, begann er auch schon, alle bekannten Gesichter, den Lüder Behrens, den Cord Hilken, den Rainer Lachmund und die vielen anderen, mit und ohne Schnauzbart, zu grüßen. Jacob Jacobs hatte als angehender Gemeindevorsteher kein Auge für Verlosungen oder ähnliche Vergnügungen – zur Enttäuschung seiner Söhne, versteht sich. Die Mitglieder und Freunde des Gesangsvereins versammelten sich in heiterer Runde auf einer Anhöhe, von der man eine gute Sicht auf die bunte Gesellschaft hatte.

Am Nachmittag, wenn das Fest zu Ende gegangen war, sprangen die Jungen über die Weiden, spielten Verstecken oder jagten einander auf die hohen Obstbäume am Feldrand. Daniel konnte schon besser klettern als Walther, doch der ließ sich von seinem älteren Bruder nicht abhalten, selbst die höchsten Kirsch- und Apfelbäume zu erklimmen.

»Walther, komm da runter, wenn das der Vater sieht!« Mit gespreizten Beinen hing Daniel auf einem der unteren Äste und schaute sorgenvoll zu seinem Bruder hoch, der schon fast in der Krone war. »Walther!«, rief Daniel noch einmal verzweifelt.

»Lass es mich doch mal probieren. Ich komm gleich wieder runter«, beruhigte Walther seinen Bruder. »Der Blick von hier oben ist so toll, ich kann sogar die Stadt sehen und den Hof!« Er lachte ausgelassen. Angst war ein Gefühl, das Walther nicht kannte. Er fürchtete kein Risiko.

Nachdem die beiden Brüder noch versucht hatten, im Fluss Aale zu fangen, rannten sie bei Dämmerung zurück zur Heerstraße, weil sie pünktlich zum Abendbrot daheim sein mussten.

Bei Tisch wurde geschwiegen. Der Vater sprach vor dem Essen ein Gebet und anschließend dachte jeder im Stillen über den Tag nach. Wenn der Großvater manchmal zum Essen kam, sprach der den Dank für das Essen aus und blieb während der gesamten Mahlzeit stehen.

4

Deutschland befand sich 1916 entgegen allen Erwartungen noch immer im erbitterten Krieg. Vor Verdun fielen in diesem Jahr 700 000 deutsche und französische Soldaten. An der Somme verloren eine Million Deutsche, Franzosen und Briten ihr Leben.

Der Staat beschlagnahmte alle deutschen Kaffeebestände, woraufhin der Preis der Bohnen in unerschwingliche Höhen stieg. Auch meine Bestände haben sie konfisziert, schrieb der Onkel aus der Stadt seinem Bruder, wem habe ich es zu verdanken, dass ich rechtzeitig diesem Engpass entkommen bin und schon früh genug anfing, Lebensmittel an die Krankenhäuser zu verteilen? Denn dieses Geschäft mit Zucker, Reis und Getreide läuft gut und lässt mich das neue Haus an der Obernstraße voraussichtlich behalten.

Doch eine vom Reichskriegsausschuss gegründete GmbH diktiert uns die Preise für Tee und Kaffee und alle Ersatzmittel, die wir rösten, und ich muss ansehen, wie mein Betriebskapital langsam aber sicher sinkt.

Lieber Bruder, die Umstände sind unvorstellbar. Aus den Nachrichten hört man Schreckliches von den Fronten, unsere Truppen sind vollends überfordert und bezahlen mit hohen Verlusten.

So fremd war Jacob die Welt da draußen. Auf dem Land herrschte eine beängstigende Ruhe. Bald stand die Heuernte an, dann wurde Stroh gebunden und auf die Hille, eine Zwischendecke über den Viehständen, gesteckt. Ihr Getreide lagerten die Bauern über den Dielen, damit es portionsweise ausgedroschen werden konnte. Ende September galt es, langsam für den Winter vorzusorgen, man musste die Schafe scheren, deren Wolle säubern und verarbeiten, damit Socken und Pullover gestrickt werden konnten. Im Herbst begann man mit dem Schlachten. Eingebunden in den Rhythmus ihrer jahreszeitlich bedingten Arbeiten hatten die Bauern in Borgfeld kaum Zeit, sich Gedanken über das Geschehen jenseits der großen Kuhweide zu machen. »So lange die Erden stehet, sol nicht aufhören Samen und Ernd, Frost und Hitz, Sommer und Winter, Tag und Nacht.«

Manche Dinge waren knapper geworden, doch viele Familien waren Selbstversorger, sie überlebten dank ihrer ländlichen Bescheidenheit, die die Natur sie fortwährend lehrte.

Es wurde Sommer und die Heuernte kam.

Seit Sonnenaufgang gingen die Männer mit ihren Sensen über die fetten Wiesen – für Maschinen hatten die Borgfelder Bauern kein Geld.

In den Ställen hing der Morgendunst der schwitzenden Kühe, die Luft war schwer vom Mist, die kühle Nachtluft erwärmte sich nach und nach.

Die Kinder Meta, Daniel, Walther und nun auch Hinrich mussten nicht ganz so früh aus dem Haus wie der Vater. Gemeinsam mit der Mutter saßen sie am Tisch in der großen Diele. Betina reichte ihrem Sohn Daniel eine dicke Scheibe von dem frischen Brot. An der dunklen Kruste klebten noch Aschereste, die Rinde stach und kratzte an den Kinderhändchen. Dazu gab es selbst geschlagene Butter und Wurst. Hinrich löffelte hungrig seine Hafergrütze. Immer wieder lief das von seinem Löffel gestochene Loch mit dem gelben Grützbrei voll, als sei es nie da gewesen. In das schmatzende Geräusch mischten sich die hastigen Kaugeräusche der anderen Kinder. Sie mussten sich für den langen, arbeitsreichen Tag stärken. Wer nicht genug aß, durfte nicht mitgehen.

Schließlich machten sich alle auf den Weg. Walther und Daniel liefen voraus, die Mutter ging mit Meta und dem kleinen Hinrich langsamer hinter ihnen durchs Feld.

Die beiden Älteren waren aufgeregt und konnten es kaum abwarten. Und wenn es nur eine Minute war, die sie an Zeit gewinnen konnten, um schneller bei den Bauern zu sein, sie rannten mit ihren kurzen Beinen, so schnell sie konnten. Die Männer schwangen ihre Sensen durchs dichte Gras. Die Halme neigten sich zu Boden, wo sie liegen blieben, bis sie von den Frauen, die hinter ihren Männern hergingen, mit Harken und Forken gewendet wurden. Das Heu konnte erst trocken zusammengebunden werden. Meta sah schon von ferne das Heben und Senken der Arme und die gebeugten Rücken der Frauen, die sich deutlich vor dem weißen Horizont abzeichneten.

»Sieh mal, Walther, der Vater ist ganz vorne. Er hat bestimmt schon am meisten von allen geschnitten.« Daniel zeigte gegen die Sonne und Walther nickte und verfolgte mit seinem Blick die rhythmischen Hiebe ins Gras.

»Daniel!«, rief jemand hinter ihm.

»Hallo Hans!«, begrüßten Daniel und Walther den Freund wie aus einem Mund.

»Habt … ihr denn noch … gar nicht … angefangen?«, fragte der Junge ganz außer Atem.

»Nee, wir sind gerade erst angekommen. Ist deine Mutter noch nicht da? Unsere ist da drüben mit Meta und Hinrich.«

»Sie hat gesagt, sie muss noch die Milch in die Setten stellen, sonst haben wir für die Tage kein Warmbeer.«

Das war bei den Jacobs nicht anders. Wenn für drei bis vier Wochen genug Brot gebacken war, kochte Betina die Buttermilch – einen Teil der geronnenen Milch, der übrig blieb, wenn sie den Rahm für die Butter abgeschöpft hatte – mit Brotstücken zu einer Abendmahlzeit.

»Dann bist du ganz alleine gekommen?«, fragte einer der Brüder.

»Was soll ich mit Beta zum Vater gehen. Die kann doch noch nicht einmal ›Heuernte‹ sagen.«

Nach und nach kamen auch andere Jungen angerannt. Georg Klatte von der Borgfelder Landstraße ging mit Daniel zur Schule. Johann Behrens von der Butendieker Landstraße war ein eher schwächlicher Junge, aber überall mit dabei. Die anderen Kinder kannten Walther und Daniel aus der Schule oder vom Spielen. Sie warteten unter oder auf den Bäumen, bis die Väter ihre erste Pause machten, dann erst durften sie nämlich anfangen, die Schneisen sauber zu harken.

Hernach gingen die Mütter über die Wiesen und wendeten die Halme zum Trocknen. An den folgenden Tagen wurden sie mit Heustricken zusammengebunden und auf Heuwagen gehievt oder auf Schiffe getragen, wenn die Parzellen direkt an der Wümme keine Zuwege hatten.

Gegen elf Uhr lief auch den Jungen der Schweiß vom Nacken den Rücken herunter. Wenn keiner der Bauern hinsah, wurde rasch eine kurze Pause beim Harken eingelegt, um einen flüchtigen Blick in die schmerzenden Handflächen zu wagen.

»Ah!« Walther zog die Luft zwischen den zusammengepressten Zähnen ein. »Sieh mal, ich hab schon Schwielen bekommen.«

»Guck mal hier«, sagte Johann Behrens, der neben ihm ging, und hielt ihm einen Finger entgegen, »der blutet sogar.« Rasch steckte er den geschwollenen Zeigefinger in den Mund. Für so kleine Männer konnte die Arbeit eine Strapaze sein, und wäre da nicht die gute Luft, all die Kameraden, die sich von Streifen zu Streifen aneinanderreihten, die wachsamen Väter und der Heuwagen gewesen, hätte vielleicht so mancher Junge schon früh seine Forke ermattet abgelegt.

»Gleich geht’s auf den Wagen!«, ermunterte Johanns Vater, Daniel Behrens, die Jungen. Er nahm die Sense von der Schulter, zog ein Schweißtuch aus der Hosentasche und fuhr damit die messerscharfe Kante seines Sensenblattes entlang. »Walther, sieh mal hinter dich, da liegen noch einige Halme, das muss schön sauber sein!«, ermahnte er den kleinen Erntehelfer. Walther ging noch einmal zurück und harkte, bis der Streifen sauber war.

Zum lang ersehnten Mittagessen brachten die Frauen und Mütter Wurst und Käse, jeder brach sich Brot ab und trank Wasser dazu.

»Das ist eine gute Ernte. Was haben wir für ein Glück. Doch lasst uns an all jene denken, die in den Gräben für unser Land sterben müssen.« Hinrich Wischhusen hob seine Wassergamelle und zog sich den Hut vom Kopf und alle taten es ihm nach. Nur das leise Glucksen des Wassers, das Zirpen der Grillen und der ferne Gesang der Vögel waren zu hören. Die Bauern schwiegen im Gedenken an die vielen Soldaten, die im Kugelhagel auf dem Schlachtfeld ihr Leben für sie ließen.

Am Nachmittag, als die Hitze über dem trockenen Gras flirrte, fuhr der erste Heuwagen zu den Scheunen ins Dorf. Jetzt ging der Spaß erst richtig los.

»Ich will mitfahren!«, schrieen die Jungen, die plötzlich alle ihre tauben Hände und die schmerzenden Arme vergessen hatten.

»Komm, Walther, gib mir deine Hand!«, rief Hans von oben herab.

»Lass mich zuerst, Hans! Vater! Ich will auch mit«, quengelte die jüngere Schwester. Doch Mädchen hatten bei der Eroberung dieses Platzes, der die höchsten Glücksgefühle verhieß, keine Chance.

Zu fünft hatten die Jungen, die jetzt Könige waren, nach nur wenigen Minuten ihren Thron oben auf dem duftenden Heu eingenommen. Walther schaute über seine Schuhspitzen hinweg auf die weiten Felder. Was für ein Blick! Auf der schwankenden Fahrt über Land war man den Vögeln in der Luft das Stück näher, was man an Heu eingetragen hatte.

Diese Sommer würde er nicht vergessen, und noch im Alter suchte der erfolgreiche Unternehmer nach den Schwielen in seinen Handflächen.

5

Onkel Johann gründete am 7. Dezember des Jahres 1926 seine neue Firma Johann Jacobs & Co. als eine offene Handelsgesellschaft. Ihr neues Domizil war in der Bonspforte 2. Von hier aus sollten vorerst alle Kunden von Jacobs Kaffee außerhalb des Stadtkreises von Bremen beliefert werden. Hier hatte Johann auch eine Packerei und ein weiteres Kontor eingerichtet. Er behielt sein Geschäft an der Obernstraße als Verkaufsstelle für den ganzen Kreis Bremen.

Der Einstieg war erneut geschafft, und das, so schien es, erfolgreicher als je zuvor. Johanns Lieferungen gingen nicht mehr nur in wohlhabende Familienhaushalte und Konditoreien, er hatte es überdies geschafft, den Norddeutschen Lloyd als Kunden zu gewinnen und mit Rohkaffee, der zwar nicht eigens geröstet, aber eigens eingekauft wurde, zu beliefern.

Walther hatte die ersten Lehrjahre absolviert, als das Ansehen seines Onkels, Johann Jacobs, auf einem Höhepunkt angelangt war.

»Du solltest nach Amerika, Walther«, sagte Johann bei nächster Gelegenheit zu ihm. »Damals war es für mich keine gute Zeit, heute aber ist das anders. Das Land hat sich erholt, ich bin sicher, du kannst dort sehr viel Wichtiges lernen, nicht nur für den vor dir liegenden Berufsweg, es wird auch eine Lebenserfahrung für dich sein. Doch übe dich vorerst weiter in Geduld und Fleiß und geh ein Jahr nach Braunschweig.«

Walther setzte seine Ausbildung also fort. Er lernte bei einem Bekannten von Onkel Johann in Braunschweig, bis er schließlich, nach einem letzten Aufenthalt in Borgfeld, die Reise nach New York antrat.

6

»Auf Wiedersehen!«, verabschiedete sich die Mutter von ihm.

»Bleib gesund. Du hast das Borgfelder Blut, Walther, es wird dir an nichts fehlen.«

»Dat böberste End denn is Sandweg. Dor hest du no en beten Tied, also lat di nich overn Disch trekken, un bliev dapper, wennt uk hard is«, gab ihm der Vater mit auf den Weg und fasste Walther zum Abschied stolz bei den Schultern, ohne ihn jedoch in den Arm zu nehmen.

Hinrich klapste seinem Bruder auf den Rücken und Daniel umfasste Walthers Gesicht zärtlich mit seinen rauen Handflächen und sagte: »Mach keine dummen Sachen dort in New York!«

Walther nickte. Es war dieser Moment des Abschieds, der ihm sagte: Und jetzt pack es an und mach was aus deinem Leben! Das tat er, am Ende mehr, als je irgendwer von ihm erwartet oder verlangt hätte. Es schien dem 21-jährigen Walther Jacobs geradezu Vergnügen zu bereiten, diesen Herausforderungen entgegenzutreten.

7

Was bot das Amerika der Zwanzigerjahre?

Es bot unbegrenzt erscheinende Möglichkeiten. Es bot die Freiheit des Glaubens, Leben und Sterben, Menschen aus aller Welt, aus allen Kulturen. Es bot Mode und Glamour, Greta Garbo mit ihrem Lidstrich und den roten Lippen. New York – ein winziges Stück Erde, wo all dies aufeinander traf.

Walther betrat diesen angelsächsischen Fleck des Globus an einem Donnerstagmittag im Frühjahr 1928.

Am Horizont verzog sich in der Morgendämmerung die Bewölkung und es sah nach gutem Wetter aus. Walther drängte, die Hand an seiner Hutkrempe, inmitten Tausender Mitreisender an die Reling, um in den Dunst zu starren. Eine Frau rief unverständliche Worte auf Italienisch. Ab und an hörte er ein Lachen, ein Murmeln. Vom oberen Deck sprach jemand Verse eines Gebets in den Wind. Die Röcke rauschten, der Bug des Dampfers spaltete krachend das schäumende Wasser, es herrschte erwartungsvolle und gleichsam angstvolle Stimmung. Und dann plötzlich reckte sich der dicke Oberkörper einer Russin oder Ungarin über das feuchte Geländer, sie rief etwas in den Wind, das vom Flattern ihres weißen Schürzenbandes übertönt wurde. Walthers Augen folgten ihrem ausgestreckten Arm und konnten eine im Nebel spitz zulaufende Säule ausmachen. Bald erkannten die Reisenden eine Säule, bestehend aus zwei Teilen, einem mächtigen Sockel und einer Figur. Und schon bald war die Figur, eine Fackel im lang ausgestreckten Arm haltend, deutlich zu erkennen und Walther erspähte ein Buch in der anderen Hand. Walthers Brust weitete sich und er kniff seine Augen zusammen, um die riesige Frau in Toga und mit einer Krone auf dem Haupt genauer sehen zu können. Sein Blut pochte in den Adern, er musste vor Aufregung schlucken und es jubelte in ihm: Amerika! Amerika!

»You have a penny for a poor old fella? Where you from? China?« Das Lachen des Bettlers begleitete Walther noch als Echo durch die riesigen Korridore der Bahnstation. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich der Lumpenberg hob und wieder senkte und schließlich regungslos auf dem Steinboden liegen blieb.

In der Wartehalle der Pennsylvania Station ging Walther vorbei an rauchenden Männern mit Melone und Stock, eingehüllt in schwarze Capes, vorbei an Frauen, deren kurzes lockiges Haar unter engen Topfhüten hervorquoll. Manche saßen, die Beine übereinander geschlagen, auf eisernen Bänken und zogen, in einen kleinen, runden Handspiegel schauend, ihren Lippenstift nach.

Menschen, überall Menschen, die scheinbar ziellos hin und her hasteten durch die Halle der Penn Station, alleine oder in Gruppen. Das Husten der schweren Loks und die Pfiffe der Bahnwärter drangen über die Menschenmenge hinweg an Walthers Ohr. Die Züge fuhren von hier direkt nach New Jersey, Long Island und New England. Alles sprach englisch, alles ging englisch, alles schaute englisch. Himmel, ich bin in Amerika!, dachte Walther voller Begeisterung und konnte nicht aufhören, seinen Kopf von links nach rechts zu drehen und von oben nach unten zu schauen. Gleich mehrere Male stieß er gegen Ampelmasten oder musste im letzten Moment entgegenkommenden Passanten ausweichen. Seine Koffer im Schließfach zurücklassend stürzte er sich ins Abenteuer. Von seinem am selben Morgen so schweren Körper spürte er nur noch sein Herz und die Füße, die ihn, getrieben von einer ungeahnten Euphorie, die Fifth Avenue hinabzogen.

Long Island: In der untergehenden Sonne leuchtete das weiße Holz des allein stehenden Hauses. Walther Jacobs richtete ein letztes Mal seine Mütze, den Anorak und seinen Hemdkragen und verglich nochmals die Hausnummer mit jener von Feuchtigkeit verwischten Zahl auf seinem Zettel. Das Gepäck hatte er links und rechts zu seinen Füßen abgestellt. Der Anblick des abgewetzten Lederballs auf der frisch gemähten grünen Wiese amüsierte ihn, obwohl er für jede Regung eigentlich zu erschöpft war. Schließlich drückte er den Messingknopf und hörte das Schellen der Klingel in den Räumen.

»Walther?«, fragte ein kleiner Mann, der die Tür geöffnet hatte.

Walther nahm seine Mütze vom Kopf und reichte ihm seine Hand.

»Sei willkommen, was musst du für einen Tag hinter dir haben, nun komm schon rein«, sagte der Herr in akzentfreiem Deutsch sehr freundlich. Reverend Wischebrink trat zur Seite und bat den Ankömmling, in sein neues Zuhause einzutreten.

»Darling? Wer ist denn da?«, hörte Walther eine sich nähernde Frauenstimme. Madeline erschien hinter ihrem Mann im Türrahmen und beantwortete ihre Frage selbst, als sie Walther erblickte: »Bei Gott, es ist tatsächlich Walther aus Borgfeld! Junge, wie du aussiehst … blendend!«

Hier war er nun! Aus Borgfeld, tatsächlich, er wollte es selbst nicht glauben. Er lächelte bemüht und bedankte sich als erstes mit den wenigen englischen Worten, die er beherrschte, bei dem Pfarrer und seiner Frau für die Gastfreundschaft. In wenigen Monaten schon würde er über die Kenntnisse des Schulenglisch hinaus sein und sich in den Straßen im New Yorker Slang unterhalten können.

»Nun komm erst einmal an und stell deine Taschen ab. Madeline hat gut gekocht. Das Essen auf dem Schiff kann ja nicht ausgereicht haben, einen Burschen wie dich vernünftig zu stärken, also …«, und der rundliche Pastor, Mr. Wischebrink, streckte hinter Walthers Rücken seinen Arm aus, als wolle er ihn schieben. Madeline tätschelte ihm zärtlich die Wangen und hieß ihn noch einmal willkommen. Walther wiederholte immer nur »thank you« und fühlte in diesem Moment nur allzu deutlich, wie fern er Bremen tatsächlich war. Er ertappte sich bei dem Gedanken an den heimatlichen Hof und vertrieb ihn schnell wieder. Doch Edward, wie sich ihm der Pastor vorgestellt hatte, sah ihn mitfühlend an, als könnte er Walthers Gedanken lesen.

Die Nacht legte sich schwer über seine Sinne. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal richtig satt gewesen war, und schlief darüber ein.

Er träumte von der Mutter, die Hühner schlachtete – was sie nie getan hatte –, von Hinrich, der plötzlich in den Setten schwamm, und von sich, wie er stumm daneben stand und wortlos gestikulierte. Vom Vater träumte er, der bei der Heuernte alles schnitt, sogar den Wald, die dicken Eichen, die Birken, die Zäune, den Baum in dessen Krone er so oft saß, um jenseits der Wümme den Hof zu erspähen. Er träumte, wie er durch das Haus ging und verzweifelt die Tiere suchte. Er träumte das Gefühl der Verlassenheit, er träumte die Melancholie, die ihn im Schlaf ergriff.

Gejagt von unverständlichen Traumbildern schlief er neun Stunden und erwachte durch Edwards Stimme, die draußen den Postboten begrüßte. Ein neuer Tag, Walther streckte seine Arme, ein neues Leben! Er atmete tief ein und aus.

Pastor Wischebrink setzte sich mit an den Frühstückstisch. Er hatte im Dorf schon den Morgengottesdienst gehalten und sah daher sehr munter aus.

»Schmeckt es denn?«, fragte Madeline, das restliche Mehl an ihren Fingern an der Schürze abstreichend.

»Sehr gut«, gab Walther zur Antwort, den Blick nach wie vor auf den Teller gerichtet, »ich esse das zum ersten Mal.« Die Köchin hatte ihm eine Art Maiskuchen serviert. Langsam zerfloss die Butter über dem goldgelben Pancake und suchte sich ihren Weg durch die vielen kleinen Löcher auf den Teller hinab, wo sie Walther schließlich mit einem Stück des Kuchens wieder aufnahm. Selbst gemachtes Jam stand auf dem Tisch, und Madeline schenkte scheinbar ohne Unterlass Kaffee nach. Ein solcher Überfluss überwältigte den Jungen und seine Faszination für dieses Land wuchs von Stunde zu Stunde.

»Du willst also arbeiten«, wollte Edward schließlich wissen.

»Das ist gut. Nun, es ist ja nicht nur die Predigt, die mich im Dienste des Herrn mit der Gemeinde verbindet, sondern auch das kurze Gespräch mit Einzelnen danach, wenn sich alle zum Glockengeläut auf dem Yard zusammenfinden. Ich brauche das Eine für das Andere und umgekehrt – es ist eine Symbiose.« Edward hielt nachdenklich inne, dann besann er sich auf das, was er Walther damit sagen wollte, und fuhr fort: »Meine Aufgabe ist es daher auch, mich in der Gemeinde ein bisschen umzuhören. Um meinetwillen und, wenn sich die Möglichkeit bietet, auch für meinen guten Freund Johann oder für andere. Und siehe da, ich treffe nicht nur auf jegliche Form der Beschwerde, jede Art von Zuwachs und Neuigkeit aus der Stadt, sondern auch auf Arbeit für meinen Walther.« Edward hatte die Hände auf seinem Bauch gefaltet, schwieg einen Moment, und da er von dem Jungen nichts vernahm, sprach er weiter: »Es besteht die Möglichkeit, dass du für einen Kurzwarenhändler in die Stadt fährst und dort Artikel und Stoffe an die Großhändler verteilst.

«Walther schaute in das rosige Gesicht des guten Mannes und nickte nun zustimmend, um ihn nicht zu verunsichern.

»Ich bringe dich heute Mittag zu dem Geschäft, da wirst du erst einmal eingeführt und morgen früh geht’s dann in die Stadt.«

Madeline neigte ihren Kopf mit dem schwarzgrauen Haar etwas zur Seite und wischte mit ruhigen Bewegungen nicht vorhandene Krümel vom Tisch, wobei sie den Jungen im Blick behielt.

So kam Walther dazu, in den kommenden Wochen durch die Straßen New Yorks einen Wagen hinter sich herzuziehen, bepackt mit Knöpfen, Stoffen, Reißverschlüssen, Federn und allerlei anderen wundervollen Dingen.

Die Stadt öffnete sich ihm in ihrer ganzen Größe, zeigte ihm all ihre Gesichter, mit jedem Schritt, den er ging, mit jedem Laden, den er betrat, und mit jedem Eigentümer, der mit ihm um Preise feilschte. Er begegnete den vielen Elenden, den unter den Füßen der Stadt zermalmten Gestalten, die sein Ansporn zur Arbeit waren. Sie verscheuchten die Gedanken an Bremen.

Eines Abends zog er mit seinem leichter gewordenen Karren den Broadway hoch. An der Ecke 51. Straße blieb er stehen und sah hinüber zu einer Menschenmenge vor einem hell erleuchteten Gebäude. »Warner’s Theatre« blinkte dort in großen Lettern und über dem Eingang: »Supreme Triumph! The Jazz Singer«. Einzelne Menschen waren kaum auszumachen, er sah nur Hüte, weiße Frauenbeine, manchmal hier oder da ein neugieriges Gesicht mit Brille. Einige Minuten verweilte Walther auf der anderen Straßenseite und beobachtete den Menschenauflauf, schließlich zog er weiter.

»Einsam?«, fragte ihn wiederholt eine Stimme in seinem Kopf, Walther aber wehrte sie ab und verneinte brüsk. Er wollte weiterlernen, wollte mit all diesen Menschen, die dort vor dem Theater standen, Bekanntschaft schließen, wollte ihre Bedürfnisse ergründen, ihre Begeisterung nachempfinden.

Bald kam er an einem Schlachthof vorbei, bald am Türgitter einer Apotheke, bald am hell erleuchteten Schaufenster eines Lebensmittelmarktes. Er blieb erneut stehen. Der Laden gefiel ihm. Walther setzte den Karren ab und strich seine Jacke glatt. Obwohl es schon spät am Abend war, stand die Tür des Delikatessengeschäfts noch immer offen. Walther betrat neugierig das Labyrinth von Regalen voller Konserven, Lebensmittel – allein die vielen Brotsorten reichten von weißem Toast bis zu schwarzem Pumpernickel –, Fleisch, Eiscreme (!), Äpfel, Kartoffeln, Mais. Walther war fasziniert.

Als er eine Dose ganz genau musterte und belustigt auf dem Etikett »Sauerkraut« las, trat plötzlich ein Herr in sein Blickfeld.

»Good evening, you find everything?« Walther sah sich etwas verunsichert um. Einerseits, weil er den unzweifelhaft deutschen Akzent erkannte, und andererseits, weil er plötzlich bemerkte, dass er der einzige Kunde war, der durch die Regalreihen strich.

Er lächelte und nickte.

»Take your time«»«ö