STRATEGIEN
FÜR MÄNNER
AB 40
Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
3. Auflage 2012
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Lektorat: Mag. Klaus Gasperi, Zwischenwasser
Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck
Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag, Innsbruck
Druck und Bindung: Formatisk, Slowenien
ISBN 978-3-7022-3145-3 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3240-5 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Eines Tages
1. Die innere Lebenskurve des Mannes
Der Aufstieg des Helden
Die zornigen jungen Männer
Die Quarterlife-Krise
Die ewigen Kinder
Zu sich selbst gefunden
Die Krise der Begrenztheit
Die Midlife-Krise
Der Mittagsdämon
Der Nachmittag des Lebens
Mein Pilgern – mein Scheitern
Der verweigerte Abstieg
Der alte Narr
Der Weg in die Verbitterung
Zur Besinnung kommen
Mit dem Engel ringen
Angst vor dem Tod
Von bunten Hunden
Zur eigenen Anwendung – Übungen
Der Abstieg zur Weisheit
Der heilige Narr
Vom Held zum Lebenskünstler
Die guten Seiten des Älterwerdens
2. Männerikone im Wandel: Clint Eastwood
Der coole Held: „Für eine Handvoll Dollar“
Der gebrochene Held: „Erbarmungslos“
Der Mann als Mentor: „Million Dollar Baby“
Vom Held zum Erlöser: „Gran Torino“
3. Die innere Lebenskurve der Frau
Der flache Beginn
Die eigene Identität
Die Mitte des Lebens
Die Krise
Der weibliche Aufstieg
Die weise Alte
4. Partnerschaft ab der Lebensmitte
Krise trifft auf Krise
Aufstieg trifft auf Abstieg
Veränderung als Chance
Altwerden als Paar
5. Wegmarkierungen im Gelände
Körper und Gesundheit
Sexualität im Alter
Altersgerechtes Arbeiten
Vom wohlverdienten Ruhestand
Das Beste kommt zum Schluss
Literatur
Nur Zwanzigjährige und Lügner sagen,
das Alter sei für sie kein Problem.
Martin Suter
Am Anfang merkt man es kaum, die ersten Anzeichen lassen sich noch leicht ignorieren. Eines Tages wird man aber wie mit der Nase darauf gestoßen, dass Mann auch älter wird. Kurz vor meinem 50. Geburtstag war ich nordisch walkend unterwegs in unseren Wäldern, als ein Stück vor mir eine junge Frau im rassigen Dress auf ihrem Mountainbike in einen steilen Forstweg einbog. Als ich um die Ecke kam, sah ich, dass sie noch gar nicht so weit oben war und mit ihrem Bike, es war ziemlich steil, auch nur langsam vorwärts kam.
Plötzlich sprang bei mir ein Schalter um. Ich gab alles, legte mich voll ins Zeug in der Hoffnung, die junge Frau vielleicht einholen zu können. Sie sah sich einmal um, verwundert darüber, dass das Klappern meiner Stöcke eher näher kam. Die „Maschine“ lief auf vollen Touren, aber natürlich nicht lange. Nach der ersten langen Steigung beendete ein stechender Wadenkrampf schlagartig meine Ambitionen. Die Strafe war verdient, ja sie folgte sprichwörtlich bei Fuß, wenn ein alter Esel glaubt, einer jungen Frau nachrennen zu müssen: Tief durchatmen, rasch ein paar Gänge herunterschalten, und bald genoss ich wieder die Bewegung in der Natur. Es kam aber noch schlimmer.
Eine Viertelstunde später ging es flotten Schrittes leicht abwärts, während mir von unten eine Schulklasse entgegenkam. Die Schüler waren alle so etwa zehn Jahre alt. In der ersten Reihe rief ein Schüler noch ganz witzig: „Achtung, Auto!“ Aber dann kam es knüppeldick. Als ich an der Klasse vorbeiwalkte, rief einer aus der hintersten Reihe prompt: „Achtung, Opa!“
Das sind tatsächlich die Pole, zwischen denen sich das Leben eines Mannes um die fünfzig abspielt. Auf der einen Seite glauben wir jungen Frauen nachrennen zu müssen, und auf der anderen Seite rangieren wir schon längst unter der Kategorie Opa. Zu meinem 50. Geburtstag beschloss ich dann, dem 5er vorne eine eigene Bedeutung zu geben. Er sollte für all das stehen, was ich nicht mehr muss. Der Gedanke ist wunderbar, es rieselt einem wohlig durch die Brust, wenn man darüber nachdenken darf, was man nun nicht mehr nötig hat. Plötzlich ist es, als ob man kiloweise Dinge aus dem Rucksack werfen kann.
Das Ganze gab mir zum runden Geburtstag regelrecht Auftrieb. Zudem war ich in tiefster Seele überzeugt, dass mir selber die Midlife-Krise selbstverständlich erspart bliebe, war ich doch selbst ein „Experte“, der anderen die Dinge erklärte. „Was ich jetzt nicht mehr muss!“ – dieses großartige Motto hatte ich schon mit 50 gefunden. Dennoch kam es völlig anders. Heute, einige Jahre später, ist das Motto immer noch gültig, aber es ist im Alltag so schnell vergessen, dass ich es mir manchmal erst mühsam wieder in Erinnerung rufen muss.
Die zweite Halbzeit entscheidet! Zunächst heißt es: Leistung, Erfolg und Anerkennung. Jung, stark und immer gut drauf. Doch dann kommt das „beste Mannesalter“ und entpuppt sich nicht selten als die schwierigste Lebensphase. Plötzlich stecken wir in Situationen, auf die wir gar nicht vorbereitet sind, spüren wir Grenzen, auf die wir nicht gefasst sind. Wir Männer haben zwar den Aufstieg gelernt, aber nicht den Abstieg.
Unerwartet kann das Leben Wunden schlagen. Viele versuchen das unter den Teppich zu kehren, manche werden depressiv und erstarren in ihrer Lebensfreude. Andere spielen weiter den jugendlichen Helden und spüren nicht, dass sie langsam zum alten Narren werden. Gerade die Lebensmitte ist für uns Männer eine große Herausforderung, eine Chance der Verwandlung. In dieser Phase entscheidet sich, wohin es in der zweiten Halbzeit geht. Einige sind von der ersten Halbzeit so ausgebrannt, dass sie erst wieder zu Kräften kommen müssen, ehe sie sich neu orientieren können. Andere stürmen unverdrossen weiter und merken erst allmählich, dass die alte Strategie nicht mehr wirklich funktioniert. Wieder andere werden durch schmerzhafte Brüche gezwungen, ihre Strategie gründlich zu überdenken. Auch wenn jüngere Männer noch glauben mögen, es ginge immer gleich weiter: Das Spiel des Lebens ändert sich, und nicht selten werden nun die Karten neu gemischt. Es ist eben wie im Fußball: Die zweite Halbzeit entscheidet.
Doch diese Verwandlung verlangt einiges an Geduld. Plötzlich geht es um Dinge, die wir nicht mehr wie früher durch Kraft und Einsatz verändern können. Die neuen Qualitäten müssen wir erst mühsam entdecken. Erfolg im herkömmlichen Sinn wird zunehmend schal und zählt immer weniger. Erfolg kann uns ab der Lebensmitte auch nichts mehr lehren. Wir haben aber die Möglichkeit, reifer und weiser zu werden.
Phasen des Umbruchs sind selten lustig, aber es ist die Chance, dass wir uns zu reiferen Männern wandeln. Wenn wir beginnen loszulassen, anstatt noch mehr Gas zu geben, langsam heimzukommen, statt davonzurennen, dann sind wir auch imstande, die Früchte des Lebens zu ernten. Dieses Buch möchte eine Art Wanderführer durch die zweite Lebenshälfte sein. Natürlich sind unsere Schicksale individuell, hat jeder seine eigene Geschichte und seinen eigenen Weg. Trotzdem ist die Landschaft, durch die wir uns bewegen, eine ähnliche, gibt es nützliche Wegmarkierungen, häufig begangene Routen sowie Klippen und Sackgassen, vor denen man ein Gefahrenzeichen aufstellen kann. Es gibt Pioniere, von denen man lernen kann, hilfreiche Erfahrungen anderer, vergleichbare Herausforderungen, nützliche Tipps und Hilfen – brauchbare Strategien für Männer ab 40. Je mehr ich mich in meiner Arbeit mit Männern in dieser Lebensphase beschäftigt habe, umso mehr begannen sich die Geschichten zu gleichen. Ein Stück des Weges bin ich selbst schon gegangen, und viele andere haben ihre Erfahrungen mit mir geteilt. Nicht zuletzt muss der Tierarzt selber ja auch kein Rindvieh sein, um zu sehen, ob es einem alternden Bullen gut geht.
Götzis, im Sommer 2011 Markus Hofer
Du wirst im Leben Dinge tun,
die am Ende überhaupt
nicht mehr wichtig sind,
aber für deinen
Weg wichtig gewesen sind.
Die täglich in allen Medien verbreiteten Anti-Aging-Tipps auch für Männer suggerieren uns ein gefährliches Bild. Es geht im Grunde ausschließlich um den Körper, und der wird gesehen wie ein Auto, das nun doch schon einige Kilometer auf dem Tacho hat. Da gibt es Tipps, wie man den Lack wieder aufhellen kann, wo möglicherweise ein Ölwechsel vorgenommen oder irgendeine Chemikalie neu aufgefüllt werden muss. Ersatzteile werden angepriesen, die man notfalls austauschen könnte, Antikorrosions-Programme, um den Rost oder sonstige Zersetzungen in den Griff zu kriegen, und natürlich Möglichkeiten, wie die äußere Schale neu zu tunen oder aufzupimpen (so heißt das jetzt) wäre. Wenn es hoch kommt, gibt es hie und da einen Hinweis auf eine möglicherweise etwas schonendere Fahrweise. Eigentlich typisch männlich, möchte man sagen, und die meisten der medizinischen Experten dahinter sind auch Männer. Der alte Spruch von der harten Schale mit dem weichen Kern legt es hingegen nahe, dass wir Männer nicht nur aus einer „Hardware“, sondern auch aus einer weniger sichtbaren „Software“ bestehen. Es verändert sich nicht nur die äußere Schale, auch der männliche Geist ist unterwegs, mal kraftvoll sich aufschwingend, in manchen Phasen vielleicht eher flügellahm. Ähnlich geht es unserer Männerseele, die manchmal ganz bei sich ist und dann zu Zeiten auch orientierungslos die Landschaften durchstreift nach dem rechten Weg, den sie ziehen will.
Anti-Aging allein gibt keinen würdigen Routenplaner ab, dazu braucht es tiefere Orientierungen, stimmigere Wegmarkierungen. Die innere Lebenskurve des Mannes ist ein solches Modell, das nicht nur den heldenhaften Aufstieg verlängern will, sondern genauso die Phasen des Umbruchs und des Abstiegs in sinnstiftende Zusammenhänge bringen kann. Sie ist eine Art innere Landkarte, die uns besser verstehen lässt, was im Älterwerden in uns vorgeht und vor welchen Weggabelungen wir stehen. Im Anschluss wird es auch um die innere Lebenskurve der Frau gehen. Erst wenn man beide wie Folien übereinanderlegt, wird klar, warum Partnerschaft in der Lebensmitte oft ein eher vermintes Gelände darstellt.
Die Einsicht in die Lebenskurven von Mann und Frau verdanke ich Richard Rohr, der sie früher in seinen Männerseminaren präsentiert hat. Leider liegt von ihm zumindest auf deutsch keine ausführliche Darstellung vor, und die kursierenden Seminarblätter (vgl. Rohr, 2006, 194) sind in ihrer knappen, hochspirituellen Sprache schwer verständlich. Deshalb habe ich versucht, die beiden Modelle in meiner Arbeit mit Männern und Paaren weiterzuentwickeln und sie in eine hoffentlich griffige Sprache zu bringen.
Geh deinen eigenen Weg,
dann kannst du
nicht überholt werden.
Einen ganzen Tag ritt der junge Parzival einem seichten Bach entlang, den er sich nicht zu überqueren traute. Einer der Ratschläge seiner besorgten Mutter hieß nämlich, er solle dunkle Furten meiden. Dass der Bach keine dunkle Furt war, sondern nur im Schatten lag, konnte der junge Möchtegern-Ritter noch nicht erkennen. Eigentlich sollte er überhaupt bei Mama bleiben und die höfische Gesellschaft nie kennenlernen. Deshalb zog die Mutter nach dem gewaltsamen Tod des Vaters mit dem kleinen Jungen in eine Einöde, um ihn nicht auch noch zu verlieren.
Doch kaum hatte er den ersten Ritter gesehen, war es aus mit ihm, musste er sich aufmachen, kannte er nur noch ein Ziel. Das Ziel steht zunächst noch in weiter Ferne. Irgendwann wird Parzival Gralskönig werden. Vorerst ist wichtig, dass er sich aufmacht. Seine ersten Taten oder besser Untaten sind geprägt von Ahnungslosigkeit, Unwissen und Unreife: Die vom vorangegangenen ehelichen Akt noch leicht schwitzende, im Halbschlummer kaum bedeckt im Zelt liegende Herzogin vergewaltigt er fast in wörtlich angewandter Erinnerung an Mamas Ratschlag: „Wenn du den Ring einer Frau erringen kannst, dann greife zu!“ Eigentlich wollte sie ihn ja nur unter der Haube haben. Den roten Ritter, von dessen Rüstung er geblendet ist, erschlägt er meuchlings, um endlich auch zu so einer tollen Rüstung zu kommen. Erst am Hof des weisen Gurnemanz erhält er seine männliche Aufklärung, erfährt er auch, was Anstand und Sitte sind und wie es einem Mann zu kämpfen gestattet ist. Unreif und unfertig macht er sich auf. Genau das ist vorerst aber wichtig, denn junge Männer sind keine Äpfel, die vom Lagern reif werden.
Die innere Lebenskurve des Mannes beginnt zuerst mit einem ziemlich steilen Aufstieg, dem, was in der Mythologie als der Heldenweg oder die Heldenreise geschildert wird. Unzählige Geschichten, Sagen und Legenden bis hin zu den Skripts moderner Hollywoodfilme kreisen um dieses Thema. Der erste Teil der Lebenskurve, der Aufstieg, ist nicht nur gut dokumentiert, dafür gibt es auch unzählige Vorbilder, gelungene und weniger gelungene, Muster, an denen junge Männer sich orientieren können, auch äußerst attraktive Geschichten, die Mut machen. Leider enden diese Mythen immer am Höhepunkt, wenn der Held alles erreicht hat. Die Parzival-Sage läuft darauf hinaus, dass der junge Held, nachdem er reifen und sich bewähren musste, einiges wiedergutzumachen hatte, Ritter der Tafelrunde wurde, heiratete, am Ende dann sogar Gralskönig wurde. Wir erfahren aber nie, wie es dem Herrn Gralskönig in der Lebensmitte geht, wie sich die Partnerschaft von Herrn und Frau König verändert, wenn die Kinder aus dem Haus sind, oder wie der ehemalige Held mit nachlassenden Kräften umgeht. Unzählige Geschichten beschreiben den Aufstieg, kaum eine den Abstieg. Später tauchen die Helden als alter König oder als milder Großvater wieder auf. Wie sie aber dorthin kamen, bleibt offensichtlich im Verborgenen. Darin liegt die Versuchung zu glauben, dass das alles kein Problem sei, sondern nur ein rein fließender Übergang. Viele glauben es auch, bis sie selber dort stehen.
Die Äpfel werden also nicht vom Lagern reif. Es ist wichtig, dass Jungs sich auf den Weg, auf die Socken machen. Wenn die jungen Männer erst mit über dreißig aus dem „Hotel Mama“ ausziehen, ist das eine bedenkliche Entwicklung. Sie müssen sich aufmachen, um ihr Potenzial zu entwickeln, die eigene Kraft zu erfahren, die eigenen Möglichkeiten zu entdecken. Das darf aber nicht nur narzisstische Selbstverwirklichung sein. Vielmehr geht es darum, dass sie ihre Verantwortung erkennen, dass sie, und das klingt jetzt sehr altmodisch, auch ihre Pflicht tun, ihrer Aufgabe und vielleicht sogar Berufung nachkommen. Vieles wird aus Versuch und Irrtum bestehen, Sackgassen werden mit dabei sein. Das Schöne an Sackgassen ist aber, dass der Weg hinein auch wieder heraus führt. Man kann darin umkehren, und das ist auf jeden Fall besser, als in den Startblöcken stecken zu bleiben!
Die Rede von Helden ist heute ziemlich madig geworden! In manchen Kreisen traut man sich solche Worte gar nicht mehr in den Mund zu nehmen. Trotzdem ist es immer noch so, dass große Ideen, seien sie fürs Erste noch so verstiegen, ein starker Antrieb für junge Männer sind. Es wäre verhängnisvoll, würde man ihnen alle ihre Träume nehmen, nur weil sie im Moment nicht politisch korrekt scheinen. Es wäre, als würde man ihnen den inneren Motor ausbauen. Allan Guggenbühl beschreibt es treffend an sich selber: „Als Knabe sah ich mich als Kapitän auf einem Kreuzer. In meiner Phantasie bekämpfte ich Piraten in der Karibik. Ich lernte dafür schwimmen. Als Jugendlicher stellte ich mir vor, wie ich als Rocksänger ein Stadion fülle: Tausende Fans würden kommen und meiner Gruppe zuklatschen. Ich lernte Gitarre spielen. Als junger Mann stellte ich mir vor, dass ich eine eigene Schule gründen und einen neuen Ansatz in der Pädagogik initiieren würde. Ich besuchte das Lehrerseminar. Solche großartigen, mythisch fundierten Phantasien eilten meinem Leben voraus, beseelten mich und gaben mir die Energie, neue Lebensziele anzustreben und die Herausforderungen des Alltags, der Bildung und des Berufs anzunehmen.“ (Guggenbühl, 145)
Der Aufstieg des jungen Mannes ist eine notwendige Zeit des Idealismus, und Ideale waren bekanntlich noch nie sehr realistisch, aber deshalb um nichts weniger notwendig. Es sind hohe Ziele, die sich vielleicht bald als zu hoch erweisen, aber Ziele, die einen Sog entwickeln und damit zum Antrieb werden, etwas zu tun. Genau dieser Motor ist für junge Männer wahrscheinlich essenziell. Selbstverständlich ist vorerst auch viel Unreife dabei, manchmal eine potenziell vielleicht sogar gefährliche Rechthaberei. Doch vieles wird erst wirklich wahr, wenn man es durchlebt hat, und Niederlagen können genauso entscheidend sein wie Siege. Der jugendliche Idealismus ist einseitig, das kann auch gar nicht anders sein. Die Helden denken nur in Schwarz-Weiß, in Gut-Böse, in einer vorerst noch sehr einfach gestrickten Weltsicht von Entweder-oder. Die gegenteilige Gefahr wäre, wenn sie sich gar nicht auf den Weg machten, weil alles so kompliziert ist, wenn sie mutlos werden, weil von ihnen zuviel erwartet wird, wenn sie nicht mehr kämpfen können, weil sie nicht wissen, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Die Einseitigkeit des jugendlichen Idealismus sei ihnen von Herzen zugestanden, wenn er ihnen die Kraft und den Mut gibt, ihr Leben in die Hand zu nehmen und für sich und andere etwas daraus zu machen.
Dieser Aufstieg ist heute nicht mehr selbstverständlich, einige Gefahrenzonen tun sich auf in der Landschaft. Drei kritische Felder sollen hier kurz beschrieben werden, über die wir in der Lebensmitte natürlich längst hinweg sind, die uns aber als verantwortungsbewusste Männer (oder Frauen) ein Anliegen sein sollten.
Frank ist ohne Vater aufgewachsen, die Mutter war oft überfordert mit der Berufstätigkeit und ihrem Buben. Sie leben in einer Stadtrandsiedlung, in der Frank verschiedensten Einflüssen ausgesetzt war. Schon in der Volksschule galt er als Problemkind. Je weniger er dem Unterricht folgen konnte, desto mehr rebellierte er nach dem Motto: „Streber sind doof.“ In der Hauptschule musste er eine Klasse wiederholen, sein Abschlusszeugnis schaut entsprechend aus. Für viele Bewerbungen um eine Lehrstelle bekam er eine Absage. Als er schließlich eine Lehrstelle fand, brach er sie bald ab, weil er sich nicht einordnen konnte.
Es ist eine Zielgruppe, die zunehmend zum Problemfall wird: „männlich, jung, Hauptschule“ – junge Männer mit schlechten Startbedingungen, häufig vaterlos, Jungs, die in der Schule meist Probleme machen und kaum eine qualifizierte Arbeitsstelle bekommen; zumal Lehrstellen in typischen Männerberufen zunehmend wegbrechen. Es sind frustrierte junge Männer, die wenig Perspektiven für ihre persönliche Zukunft haben. Sie hatten auch nie die positive Erfahrung, dass sie durch ihr eigenes Zutun etwas an ihrer Situation verbessern konnten. Schlecht ausgebildete junge Frauen finden vielleicht noch einen Mann, der sie existenziell absichert. Für Frank gibt es diese Möglichkeit kaum. Im Gegenteil: Junge Männer ohne Arbeit finden meist auch keine Frau.
Diese Zielgruppe ist besonders anfällig für Gewalt, Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit. Doch es hilft nichts, sie als Feindbilder aufzubauen oder sie den Rechtsparteien zu überlassen, statt einen Blick und vielleicht sogar ein Herz für sie zu entwickeln. Sie brauchen Förderung und Zuwendung, denn in unserer Erfolgsgesellschaft gibt es nicht nur Gewinner. Sie sind es, die das an der eigenen Haut erfahren. Sie erleben nicht, dass sie aus ihrem Potenzial etwas machen können, sondern erfahren nur Grenzen, Enttäuschungen und Ohnmacht, eine gefährliche Mischung, die explodieren kann. Es sind die zornigen jungen Männer, die, so ist es zumindest zu befürchten, uns in Zukunft noch mehr beschäftigen werden, als uns lieb ist.
Quasi den Gegenpol stellt eine Gruppe von durchgehend meist sehr hoch gebildeten jungen Menschen dar, Männern und mehr noch vielleicht jungen Frauen. In Anspielung an die Midlife-Krise hat sich in der Populärpsychologie der Begriff der Quarterlife-Krise etabliert, einer Krise nach dem ersten Lebensviertel. Im Gegensatz zu den zornigen jungen Männern sind es eher die früh Verbitterten, die Verunsicherten, die viel mitbekommen haben, sich aber fürchten vor den eigenen Schritten aus dem Behütetsein hinaus ins Ungewisse, ins Eigenverantwortliche. Sie kommen durchweg aus intakten Familien, haben studiert oder sonst eine qualifizierte Bildung genossen – und nun wartet draußen niemand auf sie. Intelligent, witzig und tough wirken viele nach außen, nach innen nagt an ihnen immer wieder Angst und Unsicherheit. War das Leben bisher weitgehend selbstbestimmt, sind sie nun im Beruf mit Spielregeln konfrontiert, in denen sie nicht mehr gefragt werden, wie es ihnen dabei geht. Das bunte Gefühlsleben, das während der Ausbildungszeit blühte, ergraut zunehmend in der Konfrontation mit dem beruflichen Alltag. Vieles war ihnen lange vorgegeben, jetzt müssen sie es selber wissen, selber gestalten, selber ihre Strukturen finden. Wenn die Ausbildungszeit lange gedauert hat, kann noch hinzukommen, dass sie sich zwar innerlich noch als Teenager fühlen mögen, gleichzeitig aber sehen, dass andere in ihrem Alter schon längst Familien gegründet haben und sie eigentlich gar nicht mehr jung sind, obwohl das Leben in ihrer eigenen Wahrnehmung noch nicht einmal so richtig begonnen hat.
Wenn sie dann keinen ihren Fähigkeiten entsprechenden Job finden, stellt sich das Gefühl ein, dass sie nicht gut genug seien. Typische Anzeichen sind Frust und Konflikte in Beziehungen sowie in der Arbeitswelt, Identitätskrisen und Unsicherheit in der eigenen Persönlichkeit, Zukunftsängste, Ungewissheit über die bisherigen Leistungen und Erfolge im Leben, das Gefühl, dass alle um einen herum besser und erfolgreicher sind als man selbst. In die Unzufriedenheit mit der beruflichen Stellung mischt sich Nostalgie und ein Zurückwünschen in die Zeit als Student. Hyperaktivität kann in diesem Zusammenhang durchaus zum Ausdruck einer tiefen inneren Einsamkeit werden.
In einer Arbeitswelt, die zunehmend keine langfristigen Verträge mehr bietet, die oft nur noch aus Projekten und Stellenprozenten besteht, können solche jungen Menschen schwer Wurzeln schlagen. Doch ohne Wurzeln trifft sie die Zukunftsangst umso mehr. Ältere Freunde würden ihnen vielleicht gut tun, und vor allem bräuchten sie in der Arbeitswelt gute, verantwortungsvolle Mentoren, denen sie nichts vorzuspielen brauchen und die ihnen helfen können, ihren Weg zu finden und sich in den Strukturen zu beheimaten. Menschen, die ihnen vermitteln, dass sie an sie glauben.
Neverland, das Nimmerland, ist eine sagenhafte Insel und ein Ort, an dem die Kinder nie erwachsen werden. In Neverland gibt es Elfen, Piraten, Indianer, Meerjungfrauen und vor allem Kinder. Man muss nur an etwas glauben, dann passiert es in Neverland, in diesem kindlichen Schlaraffenland. Hauptperson dieses Paradieses ewiger Kindheit ist Peter Pan, der in der Geschichte das einzige Kind bleibt, das niemals erwachsen wird. Die anderen Kinder, die er nach Neverland bringt, haben irgendwann genug und wollen wieder zurück. Auf Dauer produziert ein Schlaraffenland vermutlich nur Übelkeit und Sodbrennen. Dauerglück endet bald im Überdruss, zumal wenn wir nicht selber etwas dazu beitragen können. Neverland wird so zum Inbegriff persönlicher Unreife, einer Entwicklung, die in der Kindheit stecken geblieben ist bzw. nie oder nur marginal stattgefunden hat.
Zunehmend mehr Männer verweigern diesen ersten Aufstieg, den damit vielleicht verbundenen Kampf und die Verantwortung. Sie wollen nicht heraus aus dem „Hotel Mama“, aus einem System, in dem sich alles um sie dreht und sie zum Ganzen kaum etwas beitragen müssen. Wohlstand und Dauerkonsum machen aus ihnen junge Narren, lieb, nett, charmant vielleicht, aber immer unverbindlich, nicht festzumachen und eigentlich auch beziehungsunfähig; außer sie finden einfach eine neue Mama. Im Hintergrund steht die Suche nach der ewigen Jugend, Angst vor dem Älterwerden, Scheu vor Verantwortung und endgültigen Entscheidungen. Die individuelle Freiheit muss um jeden Preis erhalten werden. Die Peter Pans würden am liebsten immer Kinder bleiben. Nicht zufällig nannte Michael Jackson seine eigene Ranch „Neverland“.
Es ist der notwendige Weg der Reifung, dass junge Menschen das Revier ihrer Kindheit, ihr Neverland, verlassen, schrittweise vorerst, und dadurch erwachsen werden. Der ewige Knabe, der „puer aeternus“, wie ihn Ovid bezeichnet hat, verweigert genau diese Entwicklung und bleibt kindisch. Er verweigert den Aufstieg und will den Weg nicht gehen. Doch die Lebenskurve kann man nicht abkürzen. Es gibt keinen kurzen Schleichpfad vom ewigen Kind zum weisen Mann. Solche Männer bleiben kindisch und wirken auch zunehmend so, wenn der jungenhafte Charme erst einmal verflogen ist.
Eine Variation davon sind die ewigen Pubertierer, die zwar mit einem Bein in der Erwachsenenwelt stehen, aber den zweiten Schritt nicht machen, sondern im Protest gegen die bürgerliche Welt verharren, in der sie sich bewähren sollten. Sie bleiben in einer Art Dauerkrieg gegen alle Regeln, Normen und Erwartungen stecken und kämpfen letztlich auch mit sich selber. In der Regel sind es nicht die wirklichen Aussteiger und Verweigerer, sondern eher jene, die von der Wohlstandsgesellschaft ganz gut leben, gegen die sie aber gleichzeitig in jugendlichem Protest ankämpfen. Dieses Protestgehabe sei allen jungen Menschen von Herzen zugestanden. Es ist der Ausdruck von Aufbruch, Idealismus, Einsatz und Kampf, ein guter Weg hinaus aus dem kindlichen Neverland – doch 20 Jahre später wirkt dasselbe Gehabe nur noch lächerlich.
Der Löwenjäger erlebt kein Abenteuer
über den dritten Löwen hinaus.
Fernando Pessoa
Unsere persönlichen Lebensläufe sind so unterschiedlich, dass Zahlenangaben nur als Hinweis verstanden werden dürfen. Es macht einen großen Unterschied, ob jemand relativ früh seine Ausbildungsphase beendet, in den Beruf einsteigt und eine Familie gründet, oder ob einer erst um die 30 dabei ist, seinen beruflichen Weg zu finden. Trotzdem, in diesem Sinn als Richtzahl verstanden, erreichen junge Männer im Alter von 32 und 35 so etwas wie ihre eigene Selbstidentität. Dieser Punkt mag weniger spektakulär als eher innerlich von wohligen Gefühlen begleitet sein, dem Gefühl angekommen zu sein, „sich selbst“ gefunden zu haben. Sie werden jetzt ruhiger, glauben nicht mehr ständig, irgendwo etwas zu versäumen oder jemandem etwas beweisen zu müssen. Es ist der Eindruck, nun tatsächlich den eigenen Weg gefunden zu haben. Das ist für uns Männer ein gutes Gefühl, denn erst wenn wir unseren eigenen Weg gehen, können wir nicht mehr überholt werden. Damit entstehen eine tiefe innere Ruhe und Kraft.