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Dühnfort ging als Erster ins Bad. Frisch geduscht trat er kurz vor sechs auf den kleinen Küchenbalkon. Die Luft war nach dem Regenguss in der Nacht satt von Feuchtigkeit, der Himmel jedoch wieder von so verheißungsvollem Blau wie beinahe an jedem Tag in den letzten sechs Wochen dieses Jahrhundertsommers. Das Thermometer stand bereits bei zweiundzwanzig Grad. Aus den Lichtinseln, die sich zwischen den Schatten der Bäume auf dem Alten Südfriedhof mit der aufsteigenden Sonne stetig Platz eroberten, stieg die Nässe als feiner Dunst. Die mit Gräsern und Farnen bedeckten Flächen rund um die Gräber dampften. Tropfen funkelten darin, ebenso wie im Efeu, der die verwitterten Grabsteine überwucherte.

Unter Dühnforts Balkon stand seit über hundert Jahren ein Marmorengel am Grab eines Musikers und belächelte gleichmütig die Endlichkeit allen Seins. Daneben, in der Ulme, raschelte es. Eine Krähe landete auf einem Ast, legte den Kopf schief und beäugte Dühnfort. In Nächten wie diesen wird zu viel gefeiert, getrunken und gestritten. In solchen Nächten fallen die Hemmungen, brodeln das Blut und die Gewalt. Und du musst die Scherben wegräumen. Was wird dich heute erwarten?, schien der Vogel ihn zu fragen.

Schritte erklangen. Gina schaltete die Espressomaschine an und kam auf den Balkon. Ihre dunklen Haare waren verstrubbelt, ihr Gesicht verknautscht, die Augen noch klein. »Morgen, Tino.« Erst reckte sie sich, dann ließ sie sich gegen ihn fallen. Er legte seine Arme um sie. Ihr Körper war vom Schlaf noch ganz warm.

»Wir sollten einen Ventilator kaufen. Vorausgesetzt, es gibt irgendwo noch einen.«

»So schlimm?« Aus ihrer Halsbeuge stieg der Duft nach Schlaf, durchtränkt mit Müdigkeit.

»Ich fühle mich, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen. Was nicht stimmen kann, denn ich bin ja ständig aufgewacht.«

»Du hast geschlafen. Dafür gibt es einen Zeugen.«

Sie beugte den Kopf zurück. »Du beobachtest mich beim Schlafen?«

»Ich meinte, einen Ohrenzeugen.« Das aufsteigende Schmunzeln unterdrückte er.

Überrascht stiegen ihre Brauen in die Höhe. Ihre Schokoladenaugen wirkten plötzlich wach. »Ich schnarche? Das glaube ich ja nicht.«

»Ziemlich leise. Es war eher ein Pühen.«

»Ein Pühen?«

»Beim Ausatmen spitzt du die Lippen und machst dabei püh.«

Zwei Sommersprossen verschwanden in der Falte an der Nasenwurzel. Das schelmische Grinsen, das er so liebte, erschien auf ihrem Gesicht. »Püh! Äh … puh! Tut mir leid. Habe ich dich geweckt?«

»Ich war ohnehin wach. Bei dieser Hitze kann ich nicht schlafen. Wir sollten vielleicht einen Ventilator kaufen?«

»Gute Idee. Warum bin ich nicht längst darauf gekommen?« Sie gab ihm einen Kuss. »Ich gehe jetzt duschen. Eiskalt. Sonst werde ich heute nicht mehr munter.«

Während sie im Bad war, bereitete Dühnfort das Frühstück. Milchkaffee für Gina, Cappuccino für sich.

Ab morgen würde sich die Frage, wer als Erster ins Bad ging, nicht mehr stellen. Ab morgen hatten sie zwei Bäder, zwei Küchen, zwei Wohnungen. Die Nachbarwohnung war frei geworden. Genauso geschnitten wie seine, nur spiegelverkehrt. Gina hatte sie gemietet und der Hausverwalterin die Genehmigung für einen Umbau abgerungen. In einer halben Stunde kamen zwei Polen, die den Durchbruch im Flur machen und die Tür einbauen sollten. Und damit war das Problem des Zusammenziehens endlich gelöst.

Das Frühstück war gerade fertig, als Gina sich zu ihm setzte. Er fragte, ob er morgen nicht doch freinehmen und ihr beim Umzug helfen sollte. Doch sie wiegelte ab. Da sie nur ein Zimmer in ihrer WG bewohnte, gab es nicht viel zu transportieren. Ihre Mutter war arbeitslos. Ferdinand hatte Urlaub. Beide wollten ihr helfen. »Das erledigen wir mit einer Fuhre. Außerdem wirst du eh keinen freien Tag bekommen, jetzt, wo die halbe Mordkommission in Urlaub ist.«

Seit sie offiziell ein Paar waren, arbeiteten sie nicht mehr zusammen, denn Dühnfort war Ginas Chef gewesen. Inzwischen widmete sie sich in der Abteilung von Thomas Wilzoch den ungeklärten Altfällen. Während des Frühstücks erzählte sie ihm von ihrer aktuellen Aufgabe, einem über zwanzig Jahre alten Tankstellenmord, den sie seit gestern wieder aufrollten.

Damals war Alicia Ehlers, Verkäuferin in einer Tankstelle in Milbertshofen, spätabends überfallen, ausgeraubt und bestialisch getötet worden. Der Täter hatte sie gefesselt, ihr eine Plastiktüte über den Kopf gezogen, diese mit Klebeband verschlossen und die Frau hilflos liegen lassen. Bis heute war ihr Mörder nicht gefasst.

»Sie hatte keine Chance. Der nächste Kunde kam erst dreiundzwanzig Minuten später. Da war sie schon jämmerlich erstickt.«

»Es gibt also ein Überwachungsvideo?«

»Hm.« Gina nickte kauend. »Schwarzweißes Gekrissel. Der Täter war maskiert. Man sieht, wie er sie mit der Waffe bedroht. Sie sagt etwas, das ihn aus dem Konzept zu bringen scheint, denn er tritt einen Schritt zurück, zögert und lässt sogar die Waffe sinken. Doch dann rastet er aus, reißt eine Rolle Klebeband vom Verkaufsständer für Autobastelkram, schnappt sich die Plastiktüte, in der er die Waffe mitgebracht hat, und stürzt sich auf die Frau. Mehr sieht man leider nicht, denn der Rest hat auf dem Boden hinter der Verkaufstheke stattgefunden. Über drei Minuten bleibt er verschwunden. Erst dann taucht er auf, leert die Kasse und geht seelenruhig hinaus.«

»Das ist eine ungewöhnliche Tötungsart. Seid ihr sicher, dass es ein Raubüberfall war, der sich anders entwickelte als geplant? Mich erinnert das Vorgehen an Atemkontrolle und BDSM-Praktiken. War die Kleidung derangiert? Gab es ein Luftloch in der Tüte?«

»Nee, nichts dergleichen. Da ging es nicht ums Ausleben perverser Phantasien. Der Überfall ist aus dem Ruder gelaufen. Alicia muss den Täter erkannt haben.«

»Er war bewaffnet. Weshalb hat er nicht auf sie geschossen?«

»Vermutlich hätte das zu viel Krach gemacht. Die Videothek nebenan hatte noch geöffnet. Ich werde heute die Asservate raussuchen und in die KTU bringen und versuchen, die Zeugen von damals aufzutreiben. Und was steht bei dir an?«

»Papierkram. Der Abschlussbericht im Fall Eigner muss geschrieben werden.« Plötzlich fühlte er sich unwohl. Er saß hier beim Frühstück und unterhielt sich über den qualvollen Tod einer jungen Frau, als wäre er das Selbstverständlichste auf der Welt. Das Klingeln an der Wohnungstür holte ihn aus diesen Gedanken.

»Hoffentlich die Handwerker. Wäre schön, wenn die Tür bis heute Abend drin ist.« Gina ging in den Flur. Dühnfort folgte ihr. Bereits gestern hatten sie Teppich, Kommode und den Garderobenschrank ins Wohnzimmer geräumt. Die Wand war frei und mit einer Markierung versehen, wo der Durchbruch zu Ginas Wohnung gemacht werden sollte.

Der Hausmeister stand auf dem Vorplatz, Seite an Seite mit einem rotgesichtigen Mann mit Halbglatze. Blaue Latzhose, Goldkette mit Kreuz an nackter Brust, die Muskeln eines Bodybuilders und in einer Hand einen 15-Kilo-Vorschlaghammer. »Bin ich Stanislaw. Schickt mir Frau Stock von Hausverwaltung. Komme ich machen Loch in Wand.«

»Und wo ist die Tür?« Gina spähte ins Treppenhaus.

Das Gesicht des Hausmeisters war vom Rauchen gegerbt. Er zog ein Päckchen Gauloises Blondes aus der Tasche seines grauen Arbeitskittels und fingerte nach einer Zigarette. »Die bringt sein Kollege gleich rauf. Die Jungs sind in Ordnung. Keine Sorge.«

Gina schien nicht ganz überzeugt. »Und wo wollen sie den Schutt hintun? In die Hosentasche stecken?«

»Kollege bringt Wanne, Sturz, Mörtel. Alles. Machen wir Ordnung. Nix Sorge. Du beide Polizei. Will nix Ärger mit Polizei. Ist sich alles picobello heute Abend.«

Hoffentlich, dachte Dühnfort. Hinter ihm erklang die Melodie seines Handys, das gleichzeitig einen sirrenden Tanz auf der Ablage aufzuführen begann. Er erwischte es gerade noch, bevor es auf den Boden fallen konnte.