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Dühnfort schlüpfte unter der Absperrung hindurch und hielt sie für Kirsten hoch. Dabei betrachtete er das Gebäude. Ein Rohbau für ein Wohn- und Geschäftshaus mit vier Etagen. Noch herrschte hier Ruhe. Und würde auch weiter herrschen. Denn gearbeitet wurde hier heute ganz sicher nicht. Jedenfalls nicht von den Mitarbeitern des Bauunternehmens.

Er sah sich nach Pia Cypris um, einer drahtigen Frau von Anfang fünfzig, und entdeckte sie auf der betonierten Zufahrtsrampe zur Tiefgarage. Sie befand sich im Gespräch mit zwei Männern, denen sie offenbar genau das klarzumachen versuchte. »Vor allem ist das ein Tatort, und der ist gesperrt, beschlagnahmt, nennen Sie es, wie Sie wollen, und Sie können gern Ihren Anwalt bemühen. Er wird Ihnen nichts anderes sagen als ich.« Pia verschränkte die Arme vor der Brust. Zu diesem Thema war aus ihrer Sicht alles gesagt. Das sollte der Mann, der Bauarbeiterhelm zum Anzug trug, langsam mal akzeptieren.

Bauherr oder Architekt?, fragte Dühnfort sich. Der andere, ein stämmiger Kerl mit Bierbauch und muskulösen Waden, steckte in kurzen Twillhosen, Arbeitsschuhen und T-Shirt. Unterm Arm klemmte der Helm. »Was machen wir jetzt, Herr Senftleben? Soll ich die Männer etwa heimschicken?«

»Es sieht nicht so aus, als hätten wir die Wahl. Die Leute bekommen einen Tag frei. Das geht vom Urlaub ab. Damit das klar ist, Herr Schaller.« Senftleben zog sein BlackBerry aus der Sakkotasche und bekam den verärgerten Blick nicht mit, den ihm sein Vorarbeiter zuwarf. Schaller verließ den abgesperrten Bereich und ging zu einem VW-Bus, der jenseits der Absperrung parkte. Hinter den Scheiben erkannte Dühnfort ein halbes Dutzend Köpfe.

»Wie lange wird das dauern?«, fragte Senftleben Pia.

Ein Schulterzucken war ihre Antwort.

»Haben Sie eine Ahnung, was mich das kostet?«

Bauherr also. Dühnfort begrüßte Pia. Sie sah übernächtigt aus und stellte ihn vor. »Wenden Sie sich an den zuständigen Ermittler. Kriminalhauptkommissar Dühnfort.«

Er nickte Senftleben zu. »Geben Sie mir Ihre Karte. Ich rufe Sie an, sobald wir hier fertig sind. Das kann allerdings zwei Tage dauern.«

»Zwei Tage?« Senftleben zog eine Visitenkarte hervor und reichte sie ihm. Er war nicht Bauherr, sondern Bauleiter. »Wer bezahlt den Schaden? Papa Staat etwa?«

»Haben Sie keine Versicherung dafür?«, fragte Alois, der hinzugetreten war.

Der Bauleiter warf ihm einen verärgerten Blick zu.

Dühnfort steckte die Karte ein. »Wir werden nicht unnötig Zeit verlieren. Aber wir machen unsere Arbeit gründlich. Und die hat jetzt Vorrang.«

Resigniert nahm Senftleben das zur Kenntnis und verabschiedete sich. Pia reckte sich. Man sah ihr die Nachtschicht an. Die Fältchen um Augen und Mund wirkten tiefer. Mit einer Hand fuhr sie sich durchs Haar und gähnte. »Schön, euch zu sehen. Machen wir die Übergabe, und dann tue ich es meinen Leuten gleich und fahr heim. Hier ist unser Trampelpfad.« Sie wies auf einen Seiteneingang, den Buchholz mit einem orangefarbenen Band markiert hatte. Diesem folgten sie bis zu einem Vorplatz im Gebäude, an dem die Markierung endete. »Besser, wir bleiben hier stehen, sonst flippt Buchholz aus. Seine Laune ist eh unter dem Gefrierpunkt.« Sie zuckte die Achseln. »Dann wollen wir mal: Kurz nach vier ging der Notruf von Ricarda Nowotny bei uns ein. Sie wohnt im Haus gegenüber und dachte, sie hätte einen Schuss gehört. Die Kollegen von der Streife haben das nicht so ganz ernst genommen und wohl nicht damit gerechnet, eine Leiche zu finden, denn sie sind überall rumgelatscht und haben jede Menge Schuhabdrücke hinterlassen und tatrelevante Spuren vernichtet. Buchholz ist echt sauer.«

Alois schnaubte. »Unbestritten: die Nacht der Profis.«

»Weshalb haben sie das nicht ernst genommen?«, fragte Kirsten.

»Lag wohl an einem Kommentar aus der Notrufzentrale, dass die Anruferin nicht ganz nüchtern klang oder vielleicht einfach nur schlecht geträumt hat. Denn den Schuss will sie bereits Stunden zuvor gehört haben. Das war wohl alles etwas wirr.«

Dühnfort schüttelte den Kopf. »Stunden zuvor? Weshalb hat sie uns nicht sofort gerufen?«

»Sie war unsicher, ob das wirklich ein Schuss war. Und sie hatte guten Grund, ihrer Wahrnehmung nicht so ganz zu trauen. Jedenfalls hatte sie noch eine ordentliche Fahne, als ich vorhin mit ihr gesprochen habe.«

Alois zog sein Notizbuch hervor und notierte Name und Adresse der Zeugin, während Dühnfort sich umsah. In der Ostseite der Fassade befanden sich große Öffnungen. Vermutlich für Schaufenster. Dahinter verlief eine Parallelstraße zum Anemonenweg. Hier einzusteigen und wieder abzuhauen war kein großes Problem. Fluchtmöglichkeiten nach zwei Seiten. Man musste nur die Absperrgitter beiseiteschieben, mit denen die Baustelle nachts vor Diebstahl geschützt wurde. Vor Dühnfort lag blanker Betonboden, stellenweise bedeckt von einer Schicht aus Zementstaub, Sand und Sägemehl. Rechts eine Treppe aus roh betonierten Stufen. Linker Hand ragten Sanitäranschlüsse aus der Wand. Es roch nach Mörtel und Dichtmasse. Gipskartonplatten waren vor einer Wand gestapelt. Im großen Raum mit den Fensteröffnungen arbeitete Frank Buchholz mit einem seiner Kollegen. Er kniete auf dem Boden und beleuchtete mit dem Polilight eine Ansammlung von Zementstaub. Als habe er Dühnforts Blick gespürt, sah er hoch.

Dühnfort hob die Hand. »Guten Morgen, Frank.«

»Hier kommt keiner von euch rein, bevor ich fertig bin. Und dann auch nur in Schutzanzügen und in meiner Begleitung. Wollte ich nur gesagt haben. Nicht, dass es da Missverständnisse gibt.« Grummelnd wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.

Die Markierung für die Position der Leiche entdeckte Dühnfort gleich hinter der Treppe. Sie war mit der Spurennummer 1 gekennzeichnet. Pia hielt sich gähnend die Hand vor den Mund. »Also, der Reihe nach: Frau Nowotny saß den ganzen Abend auf dem Balkon. Gegen elf Uhr hat sie bemerkt, dass jemand in der Baustelle an einem Fenster im ersten Stock stand und rauchte. Kurz vor halb eins betrat dann ein junger Mann den Rohbau. Wenig später gab es ein lautes Geräusch, von dem Frau Nowotny dachte, es sei ein Schuss. Doch alles blieb still. Niemand rief nach der Polizei. Frau Nowotny ging schließlich ins Bett, in dem sie sich schlaflos wälzte, bis sie sich dann doch sicher war, einen Schuss gehört zu haben, und endlich den Notruf wählte. Die Kollegen von der PI 28 haben dann den Toten gefunden. Daniel Ohlsberg, zweiundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in der Geranienstraße, fünfhundert Meter von hier. Kopfschuss, sagen die Kollegen. Bei den schlechten Lichtverhältnissen, die nachts hier herrschen, war das kein Zufallstreffer. Ich nehme an, der Schütze kann mit einer Waffe umgehen. Ohlsberg hat die Baustelle am Eingang Anemonenweg betreten, der Täter kam aus der Parallelstraße, dem Petunienweg. Es gibt verwischte Schuhspuren, die darauf hindeuten. Vermutlich hat der Täter hier gewartet.« Pia wies in den Raum, in dem Buchholz arbeitete.

»Was wollte Ohlsberg nachts um halb eins auf dieser Baustelle?«, fragte Dühnfort.

»Anscheinend war er verabredet. Die Kollegen haben nach seinen Papieren gesehen und in der Hosentasche dabei drei Tütchen mit Ecstasy gefunden. Außerdem zweihundert Euro Bargeld. Seine Daten habe ich schon durch den Computer sausen lassen. Der Junge hat vor drei Jahren eine Jugendstrafe kassiert, weil er mit Ecstasy erwischt wurde. Sieht ganz nach einem Mord im Drogenmilieu aus.«

Kirsten, die sich bisher aufmerksam umgesehen hatte, wandte sich an Pia. »Das ist nicht logisch. Wenn es um Drogen und Geld ging, hätte der Täter beides mitgenommen.«

Pia zog die Schultern hoch. »Weiß man doch, wie die im Drogenrausch drauf sind. Ziemlich verquer. Jedenfalls nicht logisch denkend.«