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Kurz nach vier gab es einen Platzregen, der die Party an der Isar schlagartig beendete. Mika flüchtete mit Lukas unter die Reichenbachbrücke, während die anderen zur Trambahnhaltestelle in der Eduard-Schmid-Straße liefen. Die Isar rauschte. Der Regen prasselte. Das Licht der Laternen erhellte die Finsternis unter der Brücke nur dürftig. Im Augenwinkel bemerkte Mika eine Bewegung und fuhr herum. Ein Penner saß von Tüten und Bündeln umgeben auf einem Schlafsack. Struppige Haare wie ein Wolf. »Schleichts euch. Des is mei Platz.« Schnaufend stand er auf. Schützend stellte Lukas sich vor Mika und zog eine Flasche Tegernseer aus der Tasche seines bodenlangen schwarzen Mantels. »Ist ja gut. Fünf Minuten. Bis der Regen vorbei ist. In Ordnung?«

Abwägendes Kopfgewackel. »Guad. Des is a G’schäft.« Die Augen des Mannes bekamen einen gierigen Glanz, als er sich die Flasche schnappte. Der Kerl war ihr unheimlich, und er stank wie nie gewaschen. Mika atmete flach. Sie wollte hier weg. Egal, ob sie in ihrer dünnen Bluse und den sündteuren Peter-Jensen-Shorts nass bis auf die Haut wurde. Der Penner verzog sich auf seinen Platz.

»Komm, lass uns gehen.«

»In ein paar Minuten ist das Schlimmste vorbei. Besser, wir warten solange.« Lukas senkte den Kopf. Sie mochte seine hellen Augen, seine einfühlsame Art. Nur seinen Kleidungsstil fand sie ziemlich daneben. Gab es Gothic-Emos? Wenn ja, dann traf diese Bezeichnung bei ihm wortwörtlich ins Schwarze. »Der lässt uns in Ruhe. Jedenfalls solang er mit dem Bier beschäftigt ist.«

»Das kann ja nicht lange dauern.«

Nach einigen Minuten ebbte die Sintflut tatsächlich ab, wurde zu einem Vorhang feiner Regenfäden. Mika griff nach Lukas’ Hand. »Zeit, zu verschwinden.«

Sie liefen die Böschung hoch, über den Weg bis zur Trambahnhaltestelle und stellten sich atemlos unter. Die anderen waren schon weg. Vermutlich hatten sie ein Taxi angehalten; um diese Zeit fuhren weder Tram noch S-Bahn.

Mikas Monatsbudget war verbraucht. Eine Taxifahrt also nicht drin. Einen Moment überlegte sie, ihre Mam anzurufen, damit die sie hier abholte. Für Saskia wäre das kein Problem. In ihren Augen war Mika noch immer das kleine Mädchen, das man behüten und beschützen musste, und nicht die Tochter, die gerade Abi gemacht hatte und im Mai volljährig geworden war. Doch seit einigen Monaten setzte Mika ihrer Mutter Grenzen. Und die wollte sie jetzt nicht aus Bequemlichkeit aufgeben. Um Viertel nach fünf fuhr die erste S-Bahn. Bis dahin mussten sie die Zeit irgendwie rumkriegen.

Lukas unterbrach ihre Gedanken. »Wir könnten zu Fuß heimgehen.« Die schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und verdeckten eines der dunkel umrandeten Augen. »Erstes Vogelgezwitscher am Ostfriedhof. Sonnenaufgang am Giesinger Bahnhof. Frühstück bei mir?«

»Bei diesem Regen?«

»Der hört bald auf.«

Lukas behielt recht. Nach zehn Minuten war der Regenguss vorbei. Im Licht der Morgendämmerung schimmerte der nasse Asphalt. Ein paar Frühaufsteher waren schon unterwegs. Eine alte Frau trug Zeitungen aus. Ein Jogger bog Richtung Isar ein. Am Nockherberg kam ihnen ein Radler in hohem Tempo entgegen. Sie hinauf, er hinunter. Die Tore des Ostfriedhofs waren noch geschlossen. Das Zwitschern der erwachenden Vögel drang über die Mauern. Irgendwo klingelte ein Wecker. Kurz bevor sie den Giesinger Bahnhof erreichten, ging die Sonne auf. Ein milchigroter Ball. Der Morgen umfing sie wie ein warmes, dampfendes Tuch. Schon beinahe fünf. Bald fuhr die erste S-Bahn. Sie beschlossen, auf sie zu warten. Schweigend setzten sie sich auf eine Bank am Bahnsteig und beobachteten, wie die Sonne langsam höher stieg. Irgendwann sagte Lukas, er habe den Song für Isa fertig. Er würde ihn gerne aufnehmen, mit Mika als Sängerin, ob sie Lust habe.

Natürlich. Ein Lied für Isabelle. Ihre beste Freundin. Bald waren es schon fünf Monate.

Die S-Bahn war pünktlich. Drei Stationen bis Unterhaching. Mika fielen beinahe die Augen zu. Sie beschloss, nach Hause zu gehen. Erst schlafen. Dann frühstücken. Da auch Lukas eine Mütze Schlaf brauchen konnte, trennten sie sich vor dem Bahnhof. »Dann bis später.« Er stapfte davon. Eine hagere schwarze Gestalt mit hängenden Schultern. Einen Augenblick sah Mika ihm nach und bog in ihr Viertel ein, das wieder einmal unentschlossen auf sie wirkte. Einfamilienhäuser. Doppelhaushälften. Reihenhausketten. Dazwischen ab und zu ein mehrgeschossiger Wohnblock und kleine Gewerbebauten. Gartenzwerge und Pools. Doppelgaragen und Schrebergartenhütten. Satellitenschüsseln und Alarmanlagen. Gähnend blinzelte sie in die aufsteigende Sonne. Etwas war anders. Was? Es dauerte einen Moment, bis ihr auffiel, dass es in Unterhaching nicht geregnet hatte.

Weiter vorne, bei der Baustelle, standen Polizeifahrzeuge. Was da wohl los war? Kaffeeduft stieg ihr in die Nase. In der Kaffeerösterei arbeiteten sie also schon. Ein paar Minuten später kam die mediterrane Traumvilla in Sicht, der Stolz ihrer Eltern. Früher hatte sie das Haus auch toll gefunden. Ihr Zimmer mit eigenem Bad und begehbarem Kleiderschrank. Den Pool. Die Marmorbäder mit angeschlossenem Wellnessbereich. Die Designerküche mit amerikanischem Kühlschrank und allem möglichen Schnickschnack. Doch seit Isas Tod erschien ihr all dieser Luxus völlig übertrieben, eitel und unwichtig.

Auf dem Platz vor der Doppelgarage parkte neben Phillips schwarzem Cabrio der Range Rover ihrer Mutter. War sie wieder mal zu faul gewesen, ihn in die Garage zu stellen. Zu Papas Cayenne. Obwohl, der befand sich zurzeit am Flughafen im Parkhaus. Ihr Vater war für zehn Tage in China. Neuerdings interessierten sich die Chinesen für die Photovoltaikanlagen, die er herstellte.

Vier Personen. Drei Fahrzeuge. Das war doch krank. Ihren Eltern war die Kinnlade runtergeklappt, als Mika verkündet hatte, zum Abi kein Auto zu wollen, sondern eine Jahresnetzkarte für die Bahn. Paps hatte geschmunzelt und etwas von verspäteter Pubertät gemurmelt.

Mika tippte den Zugangscode in das Tastaturfeld der Türöffneranlage und betrat das Grundstück. Dieselbe Prozedur an der Haustür. In der Küche nahm sie eine Flasche Bionade aus dem Kühlschrank und ging nach oben. Die Schlafzimmertür ihrer Eltern öffnete sich. Ihre Mutter trat in den Flur. »Bist du endlich da. Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Völlig unnötig. Wie du siehst, wurde ich weder von einem Besoffenen überfahren noch von einem Perversen angegriffen. Alles ist gut. Du kannst ruhig weiterschlafen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Mika in ihr Zimmer und warf Schuhe und Tasche auf den Boden. Ein Berg Klamotten lag auf dem Bett. Sie schleppte ihn ins Ankleidezimmer auf den Hocker und blieb vor dem Spiegel stehen.

Sie war schön. Schon immer gewesen. Auch jetzt, nach der durchgemachten Nacht. Seidiges Haar. Gleichmäßiger Teint, gute Figur, lange Beine, gebräunte Haut. Doch es war ihr egal. Vor ein paar hundert Jahren hätte man sie vielleicht als hässlich verspottet. Schönheit, was war das? Wer bestimmte das? Schönheit war ein Richterspruch, ein Urteil, der alle abwertete, die nicht über dieses unverdiente Privileg verfügten. Isa zum Beispiel. Was an ihr schön gewesen war, hatte sie selbst nicht wahrhaben wollen. Ihre Wahnsinns-Porzellanhaut, die großen blauen Augen. Denn sie war dick gewesen. Nicht mollig oder pummelig, sondern dick. Und das allein schien für sie zu zählen. Eine Million Minuspunkte. Und doch war sie die netteste und lustigste Person gewesen, die Mika kannte. Ihre beste Freundin. Und nun war sie schon seit fünf Monaten tot, verrottete ihr Körper in diesem Sarg tief in der Erde, fraßen Würmer sich an all dem satt, was Isa zu viel gewesen war.

Mika schauderte. Fröstelnd zog sie die Arme um die Schultern und wandte sich von ihrem Spiegelbild ab.

Die Jalousien ließ sie nur zur Hälfte herunter. Dunkelheit machte ihr Angst. Sie nahm das Handy aus der Handtasche, um es auszuschalten, und entdeckte eine SMS. Von ihrer Mutter. Natürlich. Es ist schon nach zwei. Soll ich dich irgendwo abholen? Mika verzog das Gesicht.

Keine weitere Nachricht. Keine SMS von Daniel. Endlich gab er auf. Endlich hatte er verstanden, dass es vorbei war.