Dühnfort stand neben seinem Wagen und betrachtete den Inhalt von Daniel Ohlsbergs Hosentaschen, den die Kollegen Pia übergeben hatten. Handy, Schlüsselbund und Autoschlüssel. Die Geldbörse enthielt Führerschein, Ausweis, EC-Karte und die Mitarbeiterkarte eines VW-Autohauses in Unterhaching. Drei Euro Kleingeld befanden sich im dafür vorgesehenen Fach. Keine Scheine, nur ein Kassenbon von Aldi. Vier zerknüllte Fünfziger hatte Ohlsberg lose in der Tasche bei sich getragen, sowie drei kleine durchsichtige Plastiktüten mit Druckverschluss, darin je vier weiße Tabletten mit einem eingeprägten Logo, das Dühnfort kannte, im Moment aber nicht zuordnen konnte.
Kirsten trat neben ihn. »Weiße Mitsubishi. Dürften so um die fünfzehn Euro kosten. Das Stück. Je nachdem, wie viel MDA drin ist. Die Menge sieht nicht unbedingt nach Eigenbedarf aus.«
»Scheint so.« Mitsubishi. Genau. Das Logo des Autoherstellers zierte die Tabletten. Manchmal waren es Drachen oder Sterne, Schmetterlinge, Vögel, Herzen oder das Peace-Zeichen. Nun eben das Mitsubishi-Logo. Von null auf hundert in zehn Sekunden.
Alois kam aus dem Rohbau und klopfte sich Zementstaub von der Hose. »Warum hat Daniel sich nachts um halb eins ausgerechnet in dieser Baustelle für einen Deal verabredet? Das hätte er einfacher haben können. Um diese Zeit ist niemand unterwegs.«
Kirsten musterte das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Es war heiß, da schlafen die Leute bei offenen Fenstern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass außer Frau Nowotny niemand etwas gehört hat.«
Die Einschätzung, weitere Zeugen zu finden, teilte Dühnfort. »Übernimmst du die Nachbarschaftsbefragung? Und rede mit der Zeugin, vielleicht fällt ihr ja noch etwas ein.«
Alois, der inzwischen den Inhalt des Spurenbeutels eingehend betrachtet hatte, legte ihn zurück auf die Motorhaube. »Sind die Angehörigen schon informiert?«
Dühnfort verneinte. Alois erklärte sich bereit, das zu übernehmen.
»Wo war Daniel gestern Abend? Welche Kontakte hat er in die Drogenszene? Von wo bezog er das Zeug? All das sollten wir schnell klären.« Dühnfort teilte sein Team ein. Alois würde Daniels Arbeitsplatz aufsuchen, nachdem er die Angehörigen informiert hatte, und mit Chef und Kollegen reden. Kirsten sollte weitere Zeugen finden, und er selbst würde sich in Daniels Wohnung umsehen.
Dühnfort schaute Kirsten und Alois nach. Noch hatte er kein Gefühl für den Tatort und keine Vorstellung von der Tat. Kurzentschlossen verschob er den Besuch in Daniels Wohnung, schlüpfte in einen weißen Einwegoverall, zog Überschuhe an und kehrte entlang des markierten Pfads durch den Seiteneingang zurück an den Tatort.
Buchholz arbeitete noch immer in dem großen Raum, der sich zur Parallelstraße öffnete. Gebeugt stand er vor einer Säule, an der ein Schildchen mit der Spurennummer 15 haftete. Einer seiner Mitarbeiter fotografierte dort. Buchholz griff zur Pinzette, entfernte das Objekt seines Interesses und schob es in eine kleine Plastikschachtel. Dabei entdeckte er Dühnfort, der am Ende der Markierung stehen geblieben war. »Hast du ein paar Minuten für mich?«
»Gleich.« Trotz seiner Körperfülle folgte Buchholz erstaunlich flink einem für Dühnfort nicht sichtbaren Pfad zu einer Alubox, verstaute dort den Beutel und kam dann zum Vorplatz. »So, jetzt kannst du rein. Achte auf die markierten Wege. Dort darfst du rumlatschen. Daneben nicht. Hier gibt es jede Menge Schuhspuren, die noch nicht alle erfasst sind. Und etliche, die wir nicht dokumentieren können, weil die Kollegen und der Notarzt zum Haupteingang rein sind und sich erst einmal gründlich umgesehen haben. Das sollte man denen langsam mal einbläuen, wie man sich an einem Tatort verhält.«
Dühnfort folgte ihm zwischen blauen Kreidestrichen zur Positionsmarkierung der Leiche. »Freihand nach den Angaben der Kollegen gemacht«, meinte Buchholz. »Schaffen die einfach den Toten weg. Ich habe ja schon viel erlebt, aber das noch nicht.«
Ein getrockneter tellergroßer Blutfleck befand sich auf dem Boden vor der Säule, Blut und Hirnmasse waren trichterförmig ausgetreten und hatten sich auf Wand und Boden verteilt. »Bauch- oder Rückenlage?«
»Rückenlage.« Mit der Hand fuhr Buchholz sich über den graumelierten, stoppeligen Schädel. »Der Junge hat die Baustelle am Eingang Anemonenweg betreten. Dort habe ich einen Abdruck von Turnschuhen entdeckt, die sich auch hier finden.« Er deutete auf die Lageposition. »Ich gehe davon aus, dass es die des Opfers sind. Sobald ich die Schuhe habe, wissen wir das sicher. Auf dem Vorplatz hat der Junge gezögert und ist dann weiter. Der Schuss hat ihn von vorne getroffen. Eintritt über dem rechten Auge. Derjenige, der auf ihn gewartet hat, hat das zunächst oben im ersten Stock getan. Dort lagen zwei frische Kippen im Flur, kurz hinter der Treppe, direkt am Fenster, genau wie es die Zeugin gesagt hat.«
»Als Daniel hier ankam, war der Täter also bereits unten und wartete?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat der Junge auf dem Vorplatz gezögert, weil der andere von oben kam. Vielleicht war der aber auch schon hier und lehnte dort an der Säule.« Buchholz wies auf den Pfeiler, an dem er gerade noch gearbeitet hatte. »Ein paar graue Fasern sind dort hängengeblieben.«
Dühnfort sah sich um, zog eine gedachte Linie von der Säule zur Lage der Leiche und verlängerte sie. Weiter hinten standen ein Dutzend Rollen Isoliermaterial. An einer haftete eine Spurennummer. Buchholz folgte Dühnforts Blick. »Das Projektil steckt noch drin. Das holen wir später raus. Eines nach dem anderen.«
»Eine Patronenhülse …«
»Bis jetzt haben wir keine gefunden. Entweder hat der Täter sie mitgenommen, oder die Tatwaffe ist ein Revolver. Ich nehme an, dass der Täter an der Säule stand, als er den Jungen erschossen hat. Entfernung keine drei Meter.«
»Kann ich rauf?«
»Kein Problem. Oben sind wir fertig.«
»Die Kippen … Was für eine Marke?«
»Marlboro. DNA bekommst du schnellstmöglich.«
»Danke.«
Dühnfort folgte den Kreidelinien bis zur Treppe und ging nach oben. Ein breiter Flur. Linker Hand eine noch unverputzte Ziegelmauer, davor eine Wand aus Dämmstoffrollen. Rechts Fensteröffnungen zum Anemonenweg. Hier hatte der Täter gestanden. Dühnfort beugte sich vor und konnte die Straße etwa hundertfünfzig Meter in beide Richtungen einsehen. Rechter Hand mündete sie in einen Kreisverkehr. Er versuchte, sich vorzustellen, was geschehen war.
Es ist dunkel, nur die Straßenlaternen spenden trübes Licht. Schon nach Mitternacht, der Anemonenweg liegt ruhig dort unten. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. Hier oben steht jemand und wartet. Als er Schritte hört, beugt er sich vor, sieht hinaus. Daniel kommt. Hastig tritt er die Kippe aus, geht nach unten. Und dann? Gab es Streit um Weiße Mitsubishi? Ein Wortgefecht? Eine Rangelei? Der Täter greift zur Waffe und schießt. Oder war es ganz anders?
Dühnfort trat zum Treppenabsatz und rief zu Buchholz hinunter: »Sag mal, Frank, weißt du, ob der Junge bewaffnet war?«
»Nee. War er nicht.«
»Danke.« Dühnfort kehrte ans Fenster zurück. Der Täter geht hinunter, nachdem er Daniel entdeckt hat. Sind die beiden wirklich verabredet? Oder lockt er ihn in die Falle? Daniel betritt die Baustelle, zögert vor dem Treppenaufgang. Warum? Dann nimmt er den anderen wahr, geht auf ihn zu. Der zieht die Waffe und schießt. Ohne Vorankündigung. Ist es so abgelaufen?