Ulrich Kienzle und die Siebzehn Schwaben
Eine Reise zu
eigenwilligen Deutschen
Mit Fotos von
Stefan Nimmesgern
Quellenangaben Vitae und Fußnoten
www.erhard-eppler.de / www.felixhuby.de
www.filmportal.de / www.fredi-bobic.de
www.heiner-geissler.de / www.mathias-richling.de
www.natalia-woerner.de / www.nimmesgern.de
www.oezdemir.de / www.rezzoschlauch.de
www.speedheads.de / www.theosommer.de
www.wall.de / www.wikipedia.de
www.wolfgang-schaeuble.de
Erstauflage 2012
© 2012 sagas.edition, Stuttgart
Redaktion: Lena Stadelmann
Lektorat: Martin Mühleis
Korrektorat: Dr. Birgit Gläser
Gestaltung: b3K-design Max Bartholl, Andrea Schneider
Fotos (Cover und Innenteil): Stefan Nimmesgern
Satz: Anja Pfennig-Mische
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
ISBN: 978-3-9812510-4-3
eISBN 978-3-9812510-3-6
Ulrich Kienzle, Politischer Urknall am Sackbahnhof
Theo Sommer, Die Hamburg-Connection
Erhard Eppler, »Pietcong« und Blumenkohl
Harald Wohlfahrt, Kresse und Kaviar
Rezzo Schlauch, Der »Bud Spencer aus Hohenlohe«
Sibylle Lewitscharoff, Die Sprachtüftlerin
Fredi Bobic, Der Multikulti-Schwabe
Mathias Richling, Vom Bruddler zum Wutbürger
Heiner Geißler, Vom »Hetzer« zum Schlichter
Herbert Knaup, Der Schwabe als Charmeur
Ulrich Bez, Ein Schwabe für James Bond
Herta Däubler-Gmelin, Stoßlüften. Und schwäbische Solidität
Theo Waigel, Wissen, wo man hingehört
Hans Wall, Der Klobalisierer
Natalia Wörner, Die Blitzschwäbin
Felix Huby, Der Serien-Täter
Cem Özdemir, Der Öko-Ritter
Wolfgang Schäuble, Der Schwabe als Badener
Übrigens …
Biografien
Eigentlich war es nur vordergründig um den Bahnhof gegangen, dieses hässliche, leicht vergammelte Muschelkalkmonster aus den Zwanzigerjahren, das eher an eine Feldherrnhalle erinnert als an einen Bahnhof. Groß und martialisch wirkt das verwitterte Gemäuer und widerspricht damit allen schwäbischen Bescheidenheitsvorstellungen. Der Sackbahnhof ist ein Stück Angeber- und Protzarchitektur. Ein imperialer Klotz mitten in die Stadt geknallt. Ein Monument, das immer mehr sein wollte als ein profaner Bahnhof. Sein Schöpfer, Paul Bonatz, hat ihn nicht ganz zufällig »umbilicus sueviae« genannt – den »Nabel Schwabens«. Nun hätte man erwarten können, dass die Stuttgarter Bürger nichts sehnlichster wünschten, als von dieser monströsen Architektur befreit zu werden, einem städtebaulichen Fossil der ganz besonders hässlichen Art. Aber weit gefehlt. Eigensinnig, wie sie nun mal sind, wollten viele Stuttgarter das Monster behalten. Vielleicht war es Trotz. Vielleicht war es auch der Stolz auf die ungewöhnliche Leistungsfähigkeit des alten Sackbahnhofs. Vielleicht wollten sie aber einfach nicht, dass Stuttgart das Herz Europas wird, wie dies eine durchgeknallte Werbung und die regierende Polit-Elite des Landes versprochen hatten. Und weil viele Stuttgarter so trotzig reagierten, wurde der riesige, vergammelte Muschelkalkkoloss doch noch zum Nabel Schwabens.
Der Streit um Stuttgart 21 endete nämlich in einem politischen Urknall am Sackbahnhof. Natürlich ging es auch ums »Obenbleiben« oder »Tieferlegen«, um die Zahl der Gleise und Verkehrstakte und um Milliarden Euro. Aber im politischen Untergrund hatte schon länger eine politische Veränderung Platz gegriffen, die nicht nur ich für unmöglich gehalten hatte. Der politisierte Bahnhof wurde zu einer Art Geburtshelfer, der die ganze Region in ein neues Zeitalter katapultieren und den Rest der Republik in Erstaunen versetzen sollte.
Dies ist verwunderlich, weil die Demonstrationslust sich im reichen »Musterländle« immer in Grenzen gehalten hat. Der Schwabe demonstrierte lange am liebsten in Festumzügen – und aus gegebenem Anlass. Als Narr der schwäbisch-alemannischen Fasnachtszünfte zum Beispiel. Da ist alles geregelt.
Lange muss man in den Geschichtsbüchern blättern, bis man auf die letzte Rebellion in der Region stößt. 1514 hatte der »Geißpeter« aus Beutelsbach, ein pfiffiger und aufmüpfiger Tagelöhner, die Bauern zum Aufstand gegen Herzog Ulrich aufgestachelt. Schorndorf war damals wochenlang »befreites« Gebiet und wurde vom »Armen Konrad«1 beherrscht. Die Rache des Herzogs war fürchterlich. Er ließ alle seine Gegner gnadenlos köpfen. Das hat bleibenden Eindruck gemacht. Danach herrschte Ruhe im Land.
Selbst die 68er-Revolte war im Schwäbischen schnell verpufft. 2000 Aufgeregte, die meisten Studenten aus Heidelberg und Tübingen, hatten zwar an Ostern 1968 gegen den Bechtle-Verlag in Esslingen demonstriert, weil der die »Bildzeitung« druckte. Aber schon ihr Slogan hatte nicht unbedingt revolutionäre Wallungen entfacht: »Bechtle! Bechtle, Springer-Knechtle!« Die Verkleinerungsform hatte etwas Verniedlichendes, Verharmlosendes. Wie häufig, wenn Schwaben rebellieren.
In schöner Erinnerung ist auch die Aussage des schwäbischen Revolutionärs und Spartakisten Seebacher, der dem zurückgetretenen, eher leutseligen König Wilhelm II. einst am 4. November 1918 bestätigte, dass er sich korrekt verhalten habe. Der König müsse aber trotzdem zurücktreten: »S’ischt wega dem Sischtem!«2
Lange demonstrierte nur einer. Sozusagen im Alleingang. Der sattsam bekannte Remstal-Rebell Helmut Palmer. Er sägte Bäume um und schüttete Bürokraten, die zu lange Mittag machten, Mist in die Dienstzimmer. Dafür landete er immer wieder im Knast. Aber man erlaubte sich, den Mann nicht ganz ernst zu nehmen. Einer, der dauernd demonstrierte und 250-mal als Bürgermeister kandidierte, musste einen an der Waffel haben. Erst sein Sohn Boris Palmer hat es schließlich zum »Schultes« gebracht – in Tübingen. Opposition wurde damals auf dem flachen Land noch als etwas Subversives, im besten Fall als eine Art gefährliche Krankheit, betrachtet. Alles ging, trotz Palmer, seinen gewohnten Gang. Alles ging gut. Die Regierung in Stuttgart regierte und die Regierten waren mehrheitlich zufrieden. »Dia Herra en d’r Regierong werdet’s scho recht macha.«3 Hieß es. Eine Art Urvertrauen in die Obrigkeit. Die Opposition war harmlos. Und die CDU-Regenten machten alles recht. 58 Jahre lang.
Dann, wegen eines Tiefbahnhofs, platzte vielen eingefleischten Schwaben auf einmal der Kragen. Der reine Wahnsinn! Im Volksmund klang das so: »Fenfhondert Johr lang hend se d’Gosch ghalda ond jedzd kriaget se da Rappel – wega ma Sackbahof.«4
Mit Stuttgart 21 hatte es die Obrigkeit wohl übertrieben. Jetzt rumorte es plötzlich. Das Projekt fanden viele größenwahnsinnig, zu abgehoben, zu teuer. Und doch dauerte es lange, bis der Widerstand Wirkung zeigte. Die Entscheidung für Stuttgart 21 war demokratisch zustande gekommen, zweifellos. Aber irgendwie an den Stuttgartern vorbei. Sicher – der Plan hatte jahrelang alle Gremien, Instanzen und Hinterzimmer durchlaufen. Der Grundverdacht ist aber nie ausgeräumt worden, dass sich die Begehrlichkeiten auf etwas ganz anderes richteten als den Bahnhof: die frei werdende Baufläche. Oettinger5 und Schuster,6 die politischen Protagonisten, hatten es jedenfalls nicht verstanden, die Bürger von den Vorzügen ihres Wunderbahnhofs zu überzeugen. Jetzt bekamen sie die Quittung.
Das war umso verwunderlicher – weil Schwaben lieber bruddeln als auf die Straße gehen. Das Bruddeln ist eine Leidenschaft, die Nicht-Schwaben nur schwer zu erklären ist. Der Bruddler ist jemand, dem alles gegen den Strich geht. Er bruddelt aber am liebsten allein, er braucht keinen Beifall vom Stammtisch wie der Bayer. Der eigene reicht. Der Bruddler hat nämlich immer recht. Der Bruddler ist selbstgerecht und Individualist. Deshalb lähmt das Bruddeln und macht einsam. Auf diese verquere Weise hat der Schwabe über Jahrhunderte gelernt allein zu sein. Einsamen Wölfen gleich, bruddeln Hunderttausende einfach so vor sich hin und spülen ihren Ärger mit Trollinger weg. Der kürzeste Weg in die innere Emigration. Statt sich mit anderen zusammenzutun, um ein Übel abzuschaffen, schimpfen sie lieber allein. Niemand kommt dabei gut weg. Gott nicht und die Regierenden nicht. Aber das Bruddeln ist halt ein ziemlich einsames und folgenloses Geschäft. Alles bleibt beim Alten.
Umso erstaunlicher waren deshalb die plötzlichen Riesendemos in Stuttgart. Mit der gleichen Inbrunst, mit der sie bisher bruddelnd Ruhe und Ordnung gehalten hatten, gingen die Stuttgarter jetzt auf die Straße. Etwas im angeblich schwäbischen Wesen musste sich verändert haben. Es brodelte tatsächlich und überraschend waren viele Bruddler plötzlich gemeinsam auf der Straße. Am Ende wurde es eine Art kollektives Massenbruddeln in Bahnhofsnähe. Mit atemberaubendem Fleiß und typisch schwäbischer Zähigkeit versuchten sie, die Obrigkeitshörigkeit aus ihren Köpfen zu demonstrieren. Woche für Woche. Aus dem Bruddler wurde der Wutbürger. Ein ganz neuer Schwabentyp. Aufmüpfig und politisch.
Die Politstrategen in der Villa Reitzenstein7 hatten die Veränderungen der letzten Jahrzehnte verschlafen, sie glaubten lieber an ein altes Klischee von der schwäbischen Politik. Und das lautete: Die Schwaben sind konservativ, die reden viel, wenn der Tag lang ist, aber am Ende wählen sie doch wieder CDU. Für sie war das »Ländle« ein »g’mähtes Wiesle«, also eine todsichere Sache. Aber das stimmte nur noch bedingt. Die Schwaben waren zwar noch konservativ, aber immer mehr fanden Teufel, den frömmelnden Erzkatholiken, und seinen Zögling Mappus einfach außerirdisch. Besonders die Jüngeren, die neuen Konservativen, suchten nach einem Ersatz und fanden ihn schließlich bei den Grünen. Deren Erfolge in der Stuttgarter Kommunalpolitik hätten die CDU-Strategen eigentlich nachdenklich machen müssen. Rezzo Schlauch wäre um ein Haar OB geworden, wenn, ja wenn die SPD im entscheidenden Augenblick über ihren Schatten gesprungen wäre.8 Und Mappus hätte sich in einer Koalition mit den Grünen die Macht sichern können – aber Mappus hatte mit den Grünen nichts am Hut. Er spielte lieber den Grünenfresser und Polit-Rambo und glaubte mit dieser Strategie wieder eine Mehrheit gewinnen zu können. Mappus und seine Berater merkten gar nicht, wie sehr der Kandidat zum Auslaufmodell geworden war. Ein Mann der 60er-Jahre. Kommt noch hinzu, dass er aus Hessen den Medienberater von Roland Koch holte, einen wilden Haudrauf: Dirk Metz. Was der bei Roland Koch nicht ganz geschafft hatte, den Machtverlust – bei Mappus sollte es ihm gelingen. Unter seiner tätigen Mithilfe beging Mappus medialen Selbstmord.
Mal verkaufte Metz seinen neuen Herrn als politischen Bullterrier, mal als weichgespülten Stuttgart 21-Versteher. Kopflosigkeit war Programm. Höhepunkt nach dem Gau von Fukushima: Der rabiate Atomfan Mappus wurde über Nacht zum härtesten Atomgegner und damit zur Unglaubwürdigkeit in Person. Dem war wohl eine geistige Kernschmelze vorausgegangen.
Das Land hatte sich längst verändert. Auch Neig’schmeckte – ein nicht zu vernachlässigender Faktor – hatten die politische Szene aufgemischt, wie etwa der Schauspieler Walter Sittler, der als bekanntes TV-Gesicht eine wichtige Rolle am Bahnhof spielte. Es war ein langsames politisches Aufwachen in Stuttgart, das noch Folgen haben würde. Es ging zwar auch um die schönen alten Bäume im Schlossgarten oder den Juchtenkäfer – zuallererst ging es aber gegen die Obrigkeit. Dieser Obrigkeit hatte man jahrzehntelang still vertraut, jetzt hatte man ihr das Vertrauen aufgekündigt.
Die Rebellion gegen Stuttgart 21 sollte das traditionelle Bild vom spießigen Schwaben gründlich verändern. Viel Schwachsinn ist über die Stuttgarter in der Vergangenheit geschrieben worden. Das lag nicht zuletzt an den blöden Schwaben-Klischees, die im Umlauf waren. Jetzt war der »bhäbe«, trollingerselige, Maultaschen mampfende Biedermann plötzlich zur Demonstrationsfurie mutiert. Unvorstellbar! Auf dem Höhepunkt der Protestwelle waren es gar Zehntausende. Den staunenden Journalisten fiel angesichts der rätselhaften, dauerdemonstrierenden Schwaben nur der Begriff »Wutbürger« ein. Das Wort machte schnell Medienkarriere. Die Wutbürger wurden weltweit zu einem Thema, der Schwabe zu einem schwierig zu deutenden Phänomen. Selbst die »New York Times« war irritiert. Ganze Heerscharen von Politologen und Soziologen fielen über diese renitenten Stuttgarter her und waren verwundert über diese ganz anderen Schwaben, die nichts mit den alten Klischees zu tun hatten. Im Ideengestöber dieser Schnell-Analytiker verschwammen bald die Motive. Die einen sahen bloß einen Aufstand verwöhnter Wohlstandsbürger, die mit dem Porsche »Cayenne« zur Demo fuhren, um den drohenden Umbaustress des Bahnhofs zu vermeiden. Andere sahen linke Untergrundaktivisten am Werk, für die der Bahnhof angeblich ein willkommener Vorwand war, die schwäbische Welt aus den Angeln zu heben. Und da waren noch die Naturschützer, die die schönen alten Bäume und vor allem ein seltenes Insekt retten wollten, das eigentlich »Eremit« heißt, aber Juchtenkäfer genannt wird – wegen seines Sexuallockstoffs, der angeblich nach Juchtenleder riecht.
Die Schwaben – für den Rest Deutschlands sowieso ein Rätsel – wurden zu fast unheimlichen Demo-Monstern. Es ging ihnen wirtschaftlich gut, aber warum – um Gottes Willen – wollten sie um keinen Preis diesen Tiefbahnhof? Es war im wahrsten Sinne des Wortes unterirdisch.
Das Berliner Szenemagazin »Tip« giftete damals: »Der Schwabe ist bekanntlich schlau, hinterhältig und kleinkariert und hat auch noch im Protest zu einem modernen Bahnhof die neue Spießer-Apo gegründet. Demnächst kriegen sie in Böblingen oder Karlsruhe die angesagtesten Elendsviertel. Dann bleibt uns in Berlin gar nichts mehr, worauf wir uns was einbilden können.«
Die Schwaben – laut »Tip« der langweiligste Volksstamm der Welt – drohten den Berlinern mit diesem hinterlistigen Demonstrieren den Rang abzulaufen und die neuen »Hipster« zu werden.
Immerhin: Die Berliner Szene-Journalisten haben mehr von den Veränderungen in Stuttgart mitbekommen als die angeblichen Schwabenkenner im Staatsministerium. Neidvoller Respekt spricht aus diesen Zeilen des Berliner Szenemagazins, aber auch ein bisschen Unkenntnis der südwestdeutschen Politfolklore. Die Karlsruher wurden ganz nebenbei zu Schwaben erklärt, was die Badener nachdenklich machen sollte.
Womit wir bei einem Phänomen angekommen sind, das schwer zu deuten ist: dem schwäbischen Wesen, der schwäbischen Seele oder besser gesagt: der schwäbischen »Säle«.
Das gängige Bild vom geizigen, konservativen und unpolitischen Schwaben hat jedenfalls gewaltige Schrammen bekommen. In der Villa Reitzenstein regiert jetzt ein Grüner und die CDU leidet, wegen des Machtverlusts, an Phantomschmerzen und betreibt aus Ratlosigkeit Fundamentalopposition. Die Wähler hatten sich als erstaunlich pfiffig erwiesen: Sie wählten mit knappem Vorsprung die Grünen, lassen die aber, zur Strafe für so viel eigene politische Frivolität, den Tiefbahnhof bauen. Viele Unionspolitiker halten das Ganze noch immer für einen vorübergehenden Spuk, allenfalls einen Betriebsunfall der Landespolitik, der bei der nächsten Wahl wieder korrigiert wird. Und sie verkennen dabei, dass das Wahlergebnis aus dem Jahr 2011 das sichtbarste Zeichen dafür ist, dass die Schwaben anders geworden sind, anders jedenfalls als dies jahrzehntelang Schwabenbücher und selbsternannte Schwabologen weismachen wollten. So kann man sich täuschen!
Es ist kaum zu glauben und man muss sich die Augen reiben: Der Schwabe ist auf dem Weg zur demokratischen Normalisierung. Der schwäbische Sonderweg, der mit der Reformation begonnen hatte, scheint langsam zu Ende zu gehen. Die pietistisch-protestantische Leitkultur bestimmt nicht mehr das Leben. Jahrhundertelang hatte man in Württemberg in einer recht ärmlichen und freudlosen Welt gelebt. Von den Herrschern mal abgesehen, die sich gerne laszive Feste am Hofe gönnten. Für die Untertanen waren Sex und Genuss reine Sünden. Für sie gab es keine Ausschweifungen, keine Exzesse, keine Vergnügungen und keine feuchtfröhlichen Festivitäten. Nur die Erotik der Arbeit. Selbst die Fasnet war verboten. Es ging sittsam und schwäbisch bescheiden zu. Württemberg gehörte damals zu den ärmsten Regionen in Europa.
Die evangelische Kirche hatte mit ihren Kirchenkonventen, die 1642 in allen Amtsstädten und später landesweit eingeführt worden waren, eine Art Sittengericht installiert. Gnadenlos wurden Abweichler verfolgt, die die frommen Regeln nicht einhielten. Ziel war die »Verbesserung« des Menschen. Die erhoffte man sich durch die Kirchenkonvente, die sonntags tagten. Sie vollstreckten den Willen der frommen Vordenker und wurden zu einem Ort der Umerziehung. In nicht einmal 200 Jahren entstand so ein neuer Mensch: Der Schwabe, so wie wir ihn heute kennen. Fleißig, fromm und sparsam. Was die russischen Kommunisten nicht geschafft haben – den neuen Menschen zu schaffen –, den Pietisten ist es gelungen. Die evangelische »Kirchenzucht«, ja so hieß sie offiziell, schreckte vor fast nichts zurück. Überwachen, spionieren und denunzieren war gesetzliche Pflicht und machte auch vor Familien nicht halt. Alles was Spaß machte, wurde verboten. Die schwäbischen »Taliban« brachten niemanden um, hatten mit dieser Methode das Land aber bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Zur Ehrenrettung muss man sagen: Es gab nicht nur diese verklemmte schwäbische Kirchen-Stasi. Revolutionär war die Einführung der ersten Schulen. Die Württemberger sollten selber die Bibel lesen können. Das war wichtig für ihr Seelenheil.
Übrigens hatten sich die schwäbischen Kirchenväter das calvinistische Genf als Vorbild auserkoren. Anders jedoch als in Genf, wo die Kirchengemeinderäte vom Kirchenvolk gewählt wurden, ernannten in Württemberg die Kirchenoberen die Mitglieder der Konvente. Statt christlicher Selbstbestimmung wie in Genf gab es frömmlerische Disziplinierung von oben. Der Beginn eines langen autoritären württembergischen Sonderwegs. Mit einer ganz besonderen politischen Bedeutung der Obrigkeit. Die wurde nicht gewählt, sie war auserwählt. Von oben versteht sich. Diese ominöse Obrigkeit bestimmte das Leben und die Untertanen hatten sich klaglos in ihr Schicksal zu fügen. Es war angeblich Gottes Wille. Ein bisschen hat die CDU als scheinbar ewige Regierungspartei auch noch im demokratischen Baden-Württemberg von diesem Obrigkeitserbe gelebt.
Das ist vorbei. Das katholische Oberschwaben tut sich zwar noch etwas schwer. Dort hat die CDU noch satte Mehrheiten. Aber auch sie schrumpfen. Von 70 Prozent in die Gegend von 50. Deshalb zog nach 20997 Tagen schwarzer Herrschaft 2011 zum ersten Mal ein grüner Ministerpräsident in die Villa Reitzenstein ein. Eine bittere Ironie der Geschichte. Schließlich hatte Mappus ja die Grünen als Koalitionspartner verschmäht. Zur Strafe musste er abdanken.
Sein Nachfolger wurde Winfried Kretschmann, der »Moses von Sigmaringen«, wie ihn die »Zeit« genannt hat. Er mimt mehr den schwäbelnden Theodor Heuss als den Moses. Mit seiner bedächtigen Art und seinem sonoren Schwäbisch füllt er die Rolle des Landesvaters aus, als habe er nie etwas anderes gemacht. Er predigt als Katholik schon mal in einer evangelischen Kirche. So was kommt an. Seine Zustimmungsrate in der Bevölkerung ist erstaunlich. Gegen ihn wirkt sein Vize Schmid von der SPD wie ein aufgeregter Seminarist, der es eigentlich gut meint, aber im entscheidenden Augenblick schon mal politisch daneben langt.
Die Opposition sieht der Entwicklung ziemlich hilflos zu. Lange war sie damit beschäftigt, sich von ihrem Ex-Kandidaten Mappus zu distanzieren. Für die Neuen in der CDU ist er längst zur Nicht-Person geworden. Ein Ausgestoßener, ein Geächteter. Erst recht, seit durch die Veröffentlichung der E-Mails zwischen ihm und seinem Banker klar geworden ist, dass das Land während des EnBW-Deals9 zumindest eine Zeit lang direkt von Morgan Stanley10 regiert wurde. In einer Deutlichkeit, wie es selbst »Occupy Wall Street«-Anhänger in ihren kühnsten Träumen nicht vermutet hätten. Dirk Notheis, Deutschlandchef der US-Bank, zeigte seinem Kumpel Mappus mit flotten Regieanweisungen, wie das Milliardengeschäft medial gehandelt werden sollte. Er soufflierte seinem Duzfreund, wie man Parlament und Öffentlichkeit ganz leicht hinters Licht führen kann. Selbst die »schwäbische Hausfrau« Merkel hätte den Deal gut gefunden – musste Mappus auf Geheiß von Notheis in einer Pressekonferenz nachplappern. Mappus, der vermeintliche Brachialpolitiker, ließ sich wie eine hilflose Marionette am Nasenring durch die politische Arena dirigieren. Ein ferngesteuerter Polit-Zombie seines Freundes Notheis. Er wollte den großen Wahlcoup – aber der endete für ihn in einer politischen Katastrophe. Sein Verhalten zeigt, dass er letztlich unsicher und wohl auch unfähig war, das Amt auszufüllen. Die CDU hatte den falschen Mann präsentiert.
Die Partei, die auf eine stolze Galerie von baden-württembergischen Ministerpräsidenten zurückblicken kann, war personell ausgeblutet. Den Anfang hatte der grundsolide und sparsame Gebhard Müller gemacht, der einst die halbe Brezel für Empfänge erfand. Dann gab es den umstrittenen Hans Filbinger, das erfolgreiche »Cleverle« Lothar Späth, den frommen Erwin Teufel, den irrlichternden Günther Oettinger und schließlich Stefan Mappus und seinen furiosen Absturz. Oettinger, so mutmaßen manche in der CDU, hätte es wahrscheinlich noch einmal geschafft.
Die Wähler scheinen diese Schwäche gespürt zu haben. Nicht zuletzt deshalb haben sie am Wahltag dem Kandidaten Mappus mit ihrer Stimme die »Maultasche« gestopft und bewiesen, dass sie ganz anders sind als die Klischees, die von ihnen im Umlauf sind.
Nach dem ersten folgte ein Jahr später ein zweiter politischer Paukenschlag. Der eher biedere grüne Oberrealo Fritz Kuhn wurde zum neuen Stuttgarter Oberbürgermeister gewählt. Nach 38 Jahren CDU-Herrschaft. Trotz der Unterstützung der Kanzlerin für Kuhns Gegenkandidaten Turner. Die linke Stuttgarter Mehrheit ist zum ersten Mal seit Langem nicht an sich selbst gescheitert. Zudem trauten die aufgeweckten Stuttgarter dem weltläufigen Werbestar und Millionär Sebastian Turner nicht über den Weg. Der Werbeprofi hatte eine wilde Materialschlacht entfesselt, aber seine irritierenden Botschaften verfehlten ganz offensichtlich ihre Wirkung. Das meiste war ranschmeißerisches Gesülze. Turner hatte die Brezel als Symbol schwäbischen Gemeinsinns plakatieren lassen. Die Brezel als Symbol des schwäbischen Gemeinsinns? In der Autostadt Stuttgart blieben die Wähler cool und wählten einen grünen »Schultes«. Trotz Turners Beschwörung des »bürgerlichen Lagers«. Dieses politische Gespenst aus dem 19. Jahrhundert erwies sich ebenfalls als Flop. Es waren vor allem sogenannte bürgerliche Wähler, die Grün wählten.
Deutschland, deine Schwaben. Die sind eben ganz anders. Die Klischees stimmen schon lange nicht mehr. Es gibt einen neuen Bürgertyp in Stuttgart. Der ist wohlhabend, fleißig, aufgeschlossen und grün – wie etwa der Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Filbinger. Das muss der Rest der Deutschen erst langsam lernen. Aber auch manch irritierter Schwabe. So weit ist es nämlich schon gekommen: Baden-Württemberg ist zum politischen Labor der Bundesrepublik geworden? Und das alles wegen einem alten Sackbahnhof.
1 Als »Armer Konrad« bezeichneten sich die geheimen Bauernbünde, die sich 1514 gegen ihren Feudalherren Herzog Ulrich von Württemberg erhoben.
2 »Es ist wegen des Systems!«
3 »Die Herren von der Regierung werden es schon recht machen.«
4 »Fünfhundert Jahre lang sind sie still geblieben. Und auf einmal werden sie aufrührerisch – wegen eines Sackbahnhofs.«
5 Damaliger baden-württembergischer Ministerpräsident
6 Damaliger Stuttgarter Oberbürgermeister
7 Sitz des Ministerpräsidenten in Stuttgart
8 Bei der OB-Wahl in Stuttgart im Jahr 1996 erhielt Grünen-Kandidat Rezzo Schlauch im ersten Wahlgang 30,6 Prozent. Der SPD-Kandidat kam auf 22,6 Prozent. Dennoch zog SPD-Landeschef Maurer seinen Kandidaten im Wahlgang nicht zurück. Schlauch verlor deshalb im 2. Wahlgang gegen CDU-Kandidat Schuster.
9 Im Dezember 2010 kaufte Baden-Württemberg, beraten von Morgan Stanley, für 4,67 Milliarden Euro einen Aktienanteil von 45,01 Prozent am baden-württembergischen Energiekonzern EnBW.
10 Eine der größten US-Banken. Eine der 29 Großbanken, die vom US-Financial Stability Board (FSB) als systemisch bedeutsames Finanzinstitut eingestuft wurden
Das Pressehaus in Hamburg ist von außen ein repräsentativer Bau. Innen gibt es sich hanseatisch bescheiden. In metallenen Lettern ziert der Kopf der »Zeit« die beige Natursteinwand – mit dem Schlüssel aus dem Bremer Stadtwappen im Schriftzug. Der einzige Schmuck im menschenleeren Foyer. Man sagt: Hamburg ist das Tor zu Welt, Bremen aber hat den Schlüssel. Als ich mit dem Aufzug im Empfangsraum ankomme, eine Überraschung: Mutterseelenallein sitzt da Peer Steinbrück, der SPD-Kanzlerkandidat, und telefoniert. Er wartet »auf Helmut«, sagt er.
Eigentlich bin ich mit Theo Sommer verabredet, der hier jahrzehntelang als Chefredakteur residierte, dann Herausgeber war und jetzt den ominösen Titel »Editor-at-Large« trägt. Theo Sommer, inzwischen 82, schreibt noch immer gern über Weltpolitik. Sein letztes Buch heißt provozierend: »Diese NATO hat ausgedient«. Und er ist wieder einmal auf dem Sprung – nach Asien. Kurz vor der Abreise nimmt er sich aber Zeit für ein eher unwichtiges Thema: die Schwaben. Er ist in Schwäbisch Gmünd groß geworden, hat also schwäbische Wurzeln. Bei der »Rems-Zeitung« hat er seine journalistische Karriere begonnen – ein »schwäbischer Hanseat«. Schnell stellt sich heraus: Das Thema treibt ihn noch um.
Jeden Tag um 17 Uhr pflegt er ein liebgewonnenes Ritual – er genehmigt sich einen schottischen Whiskey. Sichtbares Zeichen, dass er sich im Lauf der Jahrzehnte geschmacklich von seiner einstigen Heimat entfernt hat?
Hamburg zeigt sich an diesem Tag von seiner stürmischen Seite – Schmuddelwetter, Bäume stürzen um, Züge fallen aus. Hier beginnt meine Reise zu eigenwilligen Deutschen. Auf der Suche nach der schwäbischen Seele.
HERR SOMMER, was macht denn Peer Steinbrück hier?
Die Bucerius Law School hat vorhin in der Handelskammer den Start in das neue akademische Jahr gefeiert. Da war er Festredner. Ein brillanter Vortrag! Muss ich sagen! »Europa braucht Überzeugung.«
Steinbrück hat hier einen Vortrag gehalten?
Na ja. Er ist Kuratoriumsmitglied der »Zeit«-Stiftung. Sein Auftritt ist schon vor Monaten vereinbart worden.
Hat aber jetzt eine gewisse Brisanz!
Ich kenne ihn schon länger und ich mag ihn. Jetzt wollte er nur bei Helmut Schmidt vorbeischauen. Die halten, glaube ich, engen Kontakt. Wobei Steinbrück sein eigener Mann ist. Aber Helmut Schmidt in der Hinterhand zu wissen, ist natürlich kein Fehler. (Zu seiner Sekretärin, die gerade zur Tür hereinkommt): Ist es schon fünf?
Seine Sekretärin: Noch nicht ganz. 16.30 Uhr.
Theo Sommer: Ach, machen wir doch eine Ausnahme! Wenn Herr Kienzle schon mal zu Besuch ist!
Seine Sekretärin: Gern. (Die Sekretärin holt eine Flasche Johnnie Walker und Gläser.)
Die Sekretärin: Möchten Sie?
Ulrich Kienzle: A Schlückle.
Die Sekretärin: A Schlückle? (Sie lacht und schenkt ein.)
Ulrich Kienzle: Die schwäbische Gurgel ist ja eher den Trollinger gewohnt.
Aus dem Henkelglas.
Dann trinken wir auf Ihr Wohl, Herr Sommer!
Warten Sie – ich nehme ihn immer etwas blondiert. (Theo Sommer verdünnt seinen Whiskey mit etwas Wasser.)
Das ist ja eigentlich ein Verbrechen, oder?
Nicht bei diesem »Dienstgetränk«.(Beide lachen. Sie stoßen an.)
Müssen Sie sparen, seit die »Zeit« eine schwäbische Zeitung ist?
Wieso das jetzt?
Ihr Verleger Holtzbrinck ist doch ein Schwabe?
Der aus Westfalen stammt! (Er lacht.)
Er ist in Stuttgart geboren!
Ja. Das ist schon richtig, und da muss ich auch als »Zeit«-Mann sagen, dass wir sehr glücklich sein dürfen, diesen schwäbischen Verleger gefunden zu haben. Er mischt sich nicht ein. Aber er würde sich sicher einmischen, wenn das zu Bewahrende gefährdet würde – durch ungenügende Bilanzen. (Beide lachen.)
Entspricht der »Dienstwhiskey« hanseatischer oder schwäbischer Sparsamkeit?
Das ist hanseatische Sparsamkeit. Zu Hause trinke ich natürlich etwas Besseres. (Er lacht.)
Unterscheidet sich hanseatische Sparsamkeit von der schwäbischen?
Der Pietismus steckt hier nicht dahinter. Eher kaufmännisches Denken.
Da wird man nicht so gequält …
Na ja, die Pfeffersäcke hier … Aber komischerweise: Die Veranstaltung gerade fand in der Handelskammer statt. Da gibt’s ein Restaurant, das heißt »Pfeffersack«.
Gesunde Selbstironie?
Genau das.
Das soll es ja sogar im Schwäbischen geben. Sie sind ja in Schwäbisch Gmünd aufgewachsen.
Ja.
Sind Sie ein Hanseat oder sind Sie noch Schwabe?
Mein Vater war Berliner, meine Mutter war Thüringerin. Mein Urgroßvater war von 1911 bis 1937 Burgverwalter auf der Burg Hohenzollern. Und der Onkel meiner Mutter hatte dort die Burgschenke.
Oh Heidenei!
Meinen Vater haben sie im Ersten Weltkrieg zum Opa auf die Burg geschickt – da gab es genug zu essen. Später ist er Reichswehrsoldat in Konstanz geworden. Und eines Tages, als mein Onkel krank wurde, wurde meine Mutter, die Krankenschwester an der Charité war, gebeten, den Onkel im Sommer gesund zu pflegen. Sie hatte dort ein Turmzimmer. Und warf eines Tages den Deckel einer Zahnpastatube aus dem Fenster. Da schrie unten einer: »Autsch!«. Der wurde dann mein Vater. (Beide lachen.) Deswegen bin ich in Konstanz geboren. Später wurde er nach Heilbronn versetzt, dann nach Schwäbisch Gmünd, und dort ist er hängen geblieben. 1937.
Also kamen Sie als Siebenjähriger nach Schwäbisch Gmünd?
In die Horst-Wessel-Schule.
Und dann ans Parler-Gymnasium?
Die hieß damals noch Hindenburg-Oberschule. »Parler« dann nach dem Krieg. Da wurde auch die Horst-Wessel-Schule umbenannt. Ich habe in Schwäbisch Gmünd gelebt bis ich 19 war. Also zwölf Jahre. Ich habe dort auf einem kleinen Hügel Skifahren gelernt. Später dann auf dem »Kalten Feld«. Und wenn ich an Heimat denke, denke ich an Gmünd. An das Münster, an die Drei Kaiserberge Rechberg, Hohenstaufen und Stuifen. Oder an den Rosenstein. Dann habe ich drei Jahre im Ausland studiert. Teils in Schweden, teils in Amerika. Und dann kam ich zurück und war zwei Jahre Lokalredakteur bei der »Rems-Zeitung«. Bei der Verlegerin Rosa Sigg.
Es ist ja heute absolut nicht mehr vorstellbar, dass ein »Rems-Zeitung«-Journalist innerhalb kürzester Zeit bei der »Zeit« landet. Das waren natürlich die 1950er-Jahre. Über was haben Sie bei der »Rems-Zeitung« geschrieben?
Ich habe über alles geschrieben. Ich ging zur Hauptversammlung des Kaninchenzüchter-Vereins. Ich berichtete über die Jahrestagung der Dachdeckerinnung. Und wehe, es war ein Fehler in meinem Bericht. Dann stand der Herr Böhnlein mit noch zwei Leuten und Dachlatten im Vorzimmer. Der Innungsmeister.
Also die wirklich großen Themen?
Ich habe auch Gemeinderatsberichte geschrieben. Da habe ich gelernt, einen Haushalt zu lesen. Der Bundeshaushalt ist genauso gegliedert wie ein Gemeindehaushalt. Die Systematik ist dieselbe. Ich hab da viel gelernt. Und ich habe als Lokalredakteur einen Oberbürgermeister gestürzt. Der hieß Hermann Kah. In einer Lokalspitze bin ich auf seine Behauptung eingegangen, er müsse wiedergewählt werden, weil er sonst am Hungertuch nagen würde. Ich habe schlicht veröffentlicht, was er an Pension zu erwarten hatte. Und so wurde er abgewählt.
Sie waren danach aber nie mehr Enthüllungsjournalist – sondern Meinungsjournalist. Das gilt als Königsklasse, wenn man so will. Aber ist es nicht viel schwieriger, im Sumpf eines Skandals herumzuwühlen und die Wahrheit herauszufinden?
Ich kann da nur sagen, dass die eigene Meinung herauszufinden auch ein gewisses Maß an Investigation voraussetzt. Meinung sondert man ja nicht einfach so ab. Das ist ja kein Körpersekret. Sondern dahinter steckt ja auch intellektuelle Anstrengung. Wir haben bei der »Zeit« immer versucht, die Fakten, auf die wir unsere Meinungen gründeten, sehr penibel heranzuschaffen. Ich habe auch immer gesagt: Ein Meinungsartikel muss die Fakten überzeugend darlegen, die den Leser am Schluss dazu bringen, zu sagen: »Aha, dem kann ich zustimmen« oder: »Nein, der ist ja völlig daneben.« Die Gräfin Dönhoff1 hat immer gesagt: »Wenn ich einen Leitartikel schreibe, dann beschäftige ich mich ja nicht mit der Differenz zwischen null und hundert. Sondern mit dem feinen Unterschied zwischen 49 und 51 …«
»Waagscheißerle« heißt das auf Schwäbisch. Ist die »Zeit« das journalistische »Waagscheißerle« in Deutschland?
Ich weiß nicht, ob irgendeine Zeitung mit bloßer Meinungs»Scheißerei« noch das Zünglein an der Waage darstellen kann. Wir sind sicherlich ein Blatt mit vielen Wechselwählern. Ich habe auch in meinem Leben alles schon gewählt – bis auf die Linke. Man guckt sich die Sachprobleme an und entscheidet jedes Mal aufs Neue. Und sagt sich im Zweifelsfall: »Was goht mi mai saudomms G’schwätz von geschtern o?«2 (Beide lachen.)
Sie haben in Tübingen studiert. Ich auch. Ich erinnere mich an denkwürdige Vorlesungen von Professor Eschenburg. Er war Ihr Türöffner bei der »Zeit«?
Dass ich zur »Zeit« kam, verdanke ich Eschenburg. Ich war bei ihm im Seminar, saß an meiner Doktorarbeit und dann kam die Gräfin Dönhoff, die ihn angeheuert hatte als Kolumnisten. Ob er nicht einen jungen Mann wüsste, dessen Nase gut bei der »Zeit« reinpassen könnte. Da hat er mich genannt. Am 19. Juli 1957 habe ich sie dann in Stuttgart getroffen. Sie war auf dem Weg nach Lautlingen.
Im Dienst-Porsche?
Nein, sie kam mit der Bahn. Sie war auf dem Weg nach Lautlingen zu den Stauffenbergs3, am Vorabend des 20. Juli. Wir haben uns in der Königstraße getroffen, in einem Café in der Nähe des Hauptbahnhofs. Da sagte sie plötzlich: »Meine Sekretärin hat mir keine Fahrkarte von Stuttgart nach Lautlingen besorgt. Und ich habe kein Kleingeld dabei.« Da habe ich ihr 4,65 DM für die Fahrkarte ausgelegt. Wir haben bis an ihr Lebensende freundschaftlich darüber gestritten, ob sie je zurückbezahlt hat. Oder nicht. Aber es war eine gute Investition!
Ich habe bei Eschenburg eine Vorlesung über schwäbische Politik gehört. »Arschloch« sei ein schwäbisches Schlüsselwort, hat er damals gesagt und unter anderem zitiert, dass »Arschloch« im Schwäbischen keine Beleidigung sei. Ist das auch für Sie ein Schlüsselwort?
Ich bin einmal auf die Zugspitze gewandert, hinauf über den Grat. Und wie ich da stand, kam von der Seite ein anderer. Den kannte ich – aus Schwäbisch Gmünd. Er kannte mich auch. Da rief er aus: »Jetzt leck mi no am Arsch!« (Beide lachen.)
Eine schwäbische Begrüßungsformel.
Auch ein Ausdruck der Überraschung.
Können Sie noch Schwäbisch?
Wenn i muas, no gôt des scho’ no.4 Meinen Hamburger Freunden erzähle ich oft, was für eine wunderschöne Grammatik der schwäbische Dialekt hat. Zum Beweis trage ich dann vor:
»I han amol oin kennt ghett,5
der hot oine kennt ghett,
dui hot a Kend ghett.
Des hot se aber ned von sellem ghett,
der hot nemlich nemme kend ghett.
Se hot aber no an andra kennt ghett,
der hot no kend ghett.
Ond wenn se den ned kennt ghett hett,
dann hät se au das Kend ned ghett.«
Plusquamperfekt?
Ja! Das gibt es komischerweise im Schwedischen auch noch.
Für die meisten Schwaben ist ja Hochdeutsch die erste Fremdsprache. War das für Sie auch so?
Wir haben zu Hause Berlinerisch und Hochdeutsch gesprochen. Aber auf der Gass’ henn mer nadierlich schwäbisch g’schwätzt.6 Ich weiß noch: Als 17-Jähriger wollte ich Tanzstunden machen mit ein paar Schulfreunden in Schwäbisch Gmünd. Wir mussten zum Direktor des Gymnasiums, um Genehmigung zu ersuchen. Die erste Frage, die er stellte – Professor Dietzel, er hat Französisch und Geschichte gelehrt –, die erste Frage war: »Ja, was henn’der denn für Mätza?«7
Das ist der freundliche Umgang des Schwaben mit dem weiblichen Geschlecht?
Na ja – »die heilige Mätz« heißt das auch im Mittelhochdeutschen. Die Madonna war das. Auch im Unterricht haben die Lehrer sehr viel schwäbisch gesprochen. Bloß wenn dann ein Goethe-Text verlesen wurde …
Dann wurde der auf Hochdeutsch vorgetragen. Mit schwäbischem Sound.
Das Schwäbische war die Alltagssprache.
Wie wurden Sie als Kind von nicht schwäbisch schwätzenden Eltern von den Schwaben aufgenommen? Vielen Schwaben waren früher Menschen, die hochdeutsch sprachen, suspekt. Haben Sie das auch erlebt?
Ja. Meine Großeltern, die Oma und der Stiefopa, die kamen 1946 aus Berlin nach Gmünd. Und die wurden schief angesehen. Natürlich. Ihr Deutsch klang falsch in den schwäbischen Ohren.
Gibt es noch etwas, was an Ihnen selbst schwäbisch ist?
Wissen Sie, ich bezeichne mich als gelernten Hamburger.
Im Schwäbischen sagt man dazu Neig’schmeckter.
Hier heißt das »Quiddje«. Ich habe natürlich auch das Hanseatische mit aufgesogen. Aber ich komme immer gerne ins Schwabenland. Ich vermisse manchmal das Wandern auf der Schwäbischen Alb. Ich erinnere mich gerne an meine erste Besoffenheit bei einem Klassenkameraden. Dessen Eltern hatten ein Gasthaus in Wäschenbeuren. Und was haben wir getrunken?
Most?
Mooscht!
Das gibt ja fürchterliches Kopfweh!
Ich weiß! Dasselbe hat uns ereilt, als wir morgens auf dem Friedhof aufwachten. (Beide lachen.)
Es gibt zwei schwäbische Geschlechter, die die deutsche Geschichte sehr stark beeinflusst haben. Das waren die Staufer. Aber auch die Hohenzollern. Das waren ja auch Schwaben. Wie erklären Sie als Historiker sich, dass da auf so engem Raum zwei so wichtige politische Familien hochkamen?
Vielleicht eine Begabung zur Macht. Wahrscheinlich glückliches Erben. Und auch ein Talent, auszugreifen.
Sich was unter den Nagel zu reißen?
Genau, das meinte ich mit ausgreifen. Oder sollte ich sagen: abgreifen.
Im 12. Jahrhundert ist ja ein Teil der schwäbischen Hohenzollern nach Preußen ausgewandert.
Ja. Die haben, glaube ich, noch einen kleinen Umweg über Nürnberg und Ansbach gemacht. Also über Franken.
Und das endete schließlich im preußischen Hurra-Patriotismus. Die Preußen waren eigentlich wildgewordene Schwaben, die den Kontakt mit ihrer schwäbischen Basis verloren hatten!
Ich weiß nicht, wann die Hohenzollern aufgehört haben, sich als Schwaben zu empfinden.
Auf jeden Fall ist das doch ungewöhnlich – diese beiden Geschlechter. Friedrich II., »Stupor Mundi«,8 war ein weltläufiger Mensch. Der hat besser arabisch als schwäbisch gesprochen.
Das war der erste Multikulti-Kaiser.
Der war ja auch nie zu Hause.
Ich glaube, der war nie im Schwäbischen. Er hat in Palermo gelebt – und sich mehr unter den Arabern rumgetrieben.
Das ist doch erstaunlich, dass damals die Weltläufigkeit der Schwaben viel weiter war als etwa vor 50 Jahren?
Ich habe in Amerika studiert – von 1950 bis 1952. Ich bin da auch quer über den Kontinent gereist. Und ich habe mir immer gerne Friedhöfe angeschaut. Und überall, im Mittleren Westen, in Pennsylvania, überall habe ich schwäbische Namen entdeckt. Die Schwaben waren immer sehr weltläufig. Die sind immer hinausgegangen in die Welt. Nicht zuletzt wegen der Armut zu Hause. Und sie haben es ja auch zu etwas gebracht. Im Übrigen: Wenn ich darüber nachdenke, dieses »Wir können alles, außer Hochdeutsch« – das ist ja doch ein sehr treffendes Schlagwort. Wenn Sie sich überlegen, was das Schwabenland alles an Dichtern hervorgebracht hat. Schiller, Mörike, Hölderlin, den singenden Silcher. Bis hin zu Hermann Hesse. Aber auch die Tüftler: Die Schwaben haben die Welt ja versaut durch die Erfindung des Autos.
Meinen Sie das ernst?
Nein, nicht wirklich. Ein so begeisterter Fußgänger bin ich nicht mehr. (Beide lachen.)
Woher kommt dann dieses Image vom engstirnigen Schwaben?
Unkenntnis. Ignoranz. Ich glaube, wer sie wirklich kennt, merkt: Die Schwaben sind Tüftler. Sie sind Denker. Da gibt es – bei aller Bodenständigkeit und bei aller Ungelenkheit im Auftreten – eine ungeheure Neugierde auf den Rest der Welt. Wenn Sie mal schauen, wer alles draußen ist! Aus Schwäbisch Gmünd kam ein Kunstmaler, der hieß Emanuel Leutze. Dieser Leutze hat das berühmte Bild gemalt »Washington Crossing the Delaware«. Das ist für Amerika so ikonenhaft wie für uns irgendein Lenbach-Bismarck.9 Ein winziges Boot auf dem Fluss mit schäumenden Wellen – und Washington steht aufrecht da, während ringsum die Kugeln einschlagen.
Baden-Württemberg war ja lange wirtschaftlich gesehen die Nummer eins in Deutschland. Wird aber immer als das »Ländle« bezeichnet. Stoiber hat es ja geschafft, dass die Republik glaubt, Bayern wäre die Nummer eins. Sind die Schwaben zu bescheiden?
Man hat ja lange gesagt: Die Gesetze werden in Berlin gemacht, in München gelesen und in Stuttgart ausgeführt.
Auch Kretschmann ist ja ungemein beliebt in Baden-Württemberg. Er kommt im Bund aber nicht so richtig vor.
Er ist sehr populär in Baden-Württemberg. Bundespolitisch spielt er aber kaum eine Rolle. Ich sehe auch nicht, dass er irgendeinen Einfluss ausübt.
Und es sieht auch nicht so aus, als wolle er das.
Er ist ein typischer Schwabe. »No nix Narrets!«10 – Bodenhaftung behalten und vernünftig bleiben!
Ist das heute der richtige Weg, Politik zu machen?
Ich glaube, er bricht damit aus dem vorherrschenden Muster aus. Heute gilt: Alles möglichst schnell und ohne dass man nachgedacht hat. Bei ihm spürt man, egal ob man mit seinen Entscheidungen einverstanden ist oder nicht: Dahinter steht Abwägung, Überlegung und Überzeugung.
Oft wird er mit Ex-Bundespräsident Heuss verglichen!
In Heuss haben sich schwäbisches Bildungsbürgertum und schwäbische Bodennähe mit Vernunft und Bescheidenheit vermengt. Es gibt da eine Geschichte: Er lebte in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart, dort hatte er ein Haus. Neben ihm wohnte zufällig der Mercedes-Chef. 1952 oder wann das war. Damals gab es gerade einen Miniskandal, weil Mercedes Leihautos an Regierungsbeamte gegeben hatte. Der Mercedes-Chef schaute eines Tages über seinen Gartenzaun und sah, wie der Heuss gerade den Gartentisch eindeckte. Da rief er über den Zaun: »Darf ich Ihnen ned a Mädle romschicka?«11 Darauf rief Heuss zurück: »Des han i jetzt ned g’wisst, dass Sie au Leihmädle hend.«12 (Beide lachen.)
In Stuttgart gab es ja einen Machtwechsel – da tauchte der »Wutbürger« auf. Waren Sie überrascht?
Mich hat es überrascht, aber nicht sonderlich. Weil ich auch fand, dass der Mappus das Problem Stuttgart 21 taktisch so miserabel gehandhabt hat. Auch wenn man weder grüner Ideologie anhing noch unbedingt den alten Bahnhof für einen doppelten Salto über den Gipfel der architektonischen Kunst hielt. Wenn Mappus das besser gemacht hätte – er hätte den Aufruhr schon im Vorfeld entschärfen können.
War das ein politischer Betriebsunfall?
Ich finde, es war überfällig.
Eine demokratische Normalisierung?
Es bot sich jetzt die Gelegenheit dazu an. In Baden-Württemberg war das ja fast wie in Japan, wo sie 50 Jahre keinen Wechsel hatten.
Fast hätte es 1989 ja einen zweiten schwäbischen Bundeskanzler geben können. Aber Lothar Späth hat damals zurückgezogen.
Helmut Kohl war ein gewiefter Machttaktiker. Ich war 1989 überzeugt, dass er nicht wiedergewählt würde. Aber dann kamen der Mauerfall und die Wiedervereinigung. Ohne die Wiedervereinigung wäre Kohl 1990 abgewählt worden.
In der »Zeit« haben Sie kürzlich geschrieben: Ohne die Wiedervereinigung wäre er ein schwacher Kanzler gewesen.
Ich war nie ein Kohl-Freund. Aber ich halte ihm zwei Dinge zugute: Erstens, dass er rasch zugegriffen hat, als sich die Chance zur Wiedervereinigung bot. Und zweitens, dass er nicht, als die Wiedervereinigung möglich wurde, gesagt hat: »Jetzt pfeife ich auf Europa, jetzt können wir wieder Deutschland machen.« Sondern er hat gesagt: »Jetzt erst recht Europa«. Herr Todenhöfer13 hat ja damals erklärt: Um der Wiedervereinigung willen müssten wir auch aus der Europäischen Gemeinschaft austreten. So hieß die damals noch. Und jetzt rettet er Syrien, oder?
Sie nennen sich ja jetzt Editor-at-Large. Das klingt unheimlich bedeutungsvoll. Können Sie mir erklären, was dieser monströse Titel bedeutet? »Auf der Flucht« – oder so ähnlich?
Ich wollte den Titel nur für meine englischen Visitenkarten, aber dann ist er auf irgendeine Weise ins Impressum geraten. Wenn ich gefragt werde »Was heißt denn das?«, dann sage ich immer: »At large« heißt »auf freiem Fuß«. Ein »Ambassadorat-Large« ist ein Botschafter, der keine Botschaft leitet, aber diplomatische Aufträge ausführt. Ein »Criminal-at-Large« ist ein entsprungener Häftling. Und ein »Editor-at-Large« ist eine Mischung aus beidem. (Beide lachen.)
Sind Sie etwa ein »Suebian-at-Large«?
Ich glaube, das wäre sogar ein sehr gutes Etikett. Ich fühle mich hier schon »at large«: weit entfernt. Und doch – bei aller geografischen, räumlichen Distanz – ist mir das Schwabenland im Herzen sehr nahe. Die Erinnerung ist höchst lebendig und manchmal verdichtet sie sich zur Sehnsucht: mal wieder so einen richtigen schwäbischen Rehbraten mit Spätzle und einer ordentlichen Soße!
Schwäbische Gourmet-Erlebnisse?
Ja. Und der Kartoffelsalat! Auf Hamburgisch heißt das, der muss sappschig sein. Auf Schwäbisch muss er schlunzig sein.
Schlonzig! (Beide lachen.)
Most habe ich, glaube ich, seit 40 Jahren nicht mehr getrunken. Und aus so einem Viertelesglas, wenn es noch einen Henkel hat, einen schönen Trollinger oder Lemberger oder einen Stettener Pulvermächer zu schlotzen, ist für mich immer noch ein seliges Vergnügen.
Also das Schwäbische ist schon noch da. Wobei mir der Gmünder Marktplatz, den ich als riesigen Platz in Erinnerung habe, heute wie ein kleiner Schlauch vorkommt. Und die Berge erscheinen mir plötzlich ziemlich gedrückt.
Es ist alles etwas enger als in Norddeutschland?
Es ist enger geworden, ja. Der Himmel ist nicht ganz so groß. Woll’n Sie noch einen – for the road?14
Noi, noi! Sonscht fend’ i mein’ Flieger nemme.15
Herr Kienzle, jetzt bin ich sehr gespannt auf Ihr Buch!
1 Marion Gräfin Dönhoff war von 1968 bis 1972 Chefredakteurin und von 1973 bis zu ihrem Tod im Jahr 2002 Mitherausgeberin der »Zeit«. 1971 erhielt die Journalistin und Autorin den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
2 »Was interessiert mich mein blödes Gerede von gestern?«
3 Die Schenken von Stauffenberg sind ein schwäbisches Uradelsgeschlecht, das 1262 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Claus Schenk Graf von Stauffenberg verübte das misslungene Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944.
4 »Wenn ich muss, dann geht das schon noch.«
5 »Ich kannte mal einen, der eine Frau kannte, die ein Kind hatte. Das hatte sie aber nicht von ihm, da er nicht mehr konnte. Sie kannte aber auch noch einen anderen, der noch konnte. Und wenn sie diesen nicht gekannt hätte, hätte sie auch das Kind nicht gehabt.«
6 Aber auf der Straße haben wir natürlich schwäbisch geredet.
7 »Was habt ihr denn für Mädchen?«
8 Lateinisch: Staunen der Welt
9 Der Porträtmaler Franz von Lenbach schuf bis 1897 rund 80 Gemälde von Otto von Bismarck.
10 Schwäbisch für: »Immer mit der Ruhe!«
11 »Darf ich Ihnen ein Mädchen rüberschicken?«
12 »Dass habe ich jetzt nicht gewusst, dass Sie auch Leihmädchen haben.«
13 Jürgen Todenhöfer war bis 1990 deutscher Bundestagsabgeordneter der CDU.
14 Englisch: für unterwegs
15 Nein, nein! Sonst finde ich mein Flugzeug nicht mehr.
Meine Reise zu Erhard Eppler beginnt mit einer Überraschung: Das »Navi« verweigert die Adresse. Auf dem Galgenberg, Schwäbisch Hall. Alle Versuche enden mit demselben Ergebnis: Galgenberg – Fehlanzeige. Es gibt ihn, wie ich später feststellen muss, tatsächlich nicht mehr. Und das hat mit Erhard Eppler zu tun. Er hatte beim Empfang zu seinem 85. Geburtstag ganz nebenbei erwähnt, dass es nicht so schön sei, auf dem Galgenberg zu sterben. Feiner Eppler’scher Humor. Die Haller Stadträte nahmen den Hinweis ernst – und änderten den Namen. Heute heißt die Straße wieder Friedensberg – wie schon nach der Reichsgründung im Jahr 1871.
Ich habe Erhard Eppler schließlich doch noch gefunden. Er ist putzmunter, aber ein bisschen schmaler geworden. Er wohnt in einem Einfamilienhaus älterer Bauart. Unscheinbar, solide, bescheiden. Sehr schwäbisch. Das Wohnzimmer hat fast etwas Museales, seit Jahren dürfte nicht viel geändert worden sein. Warum auch?
Der üppige Garten ist ein bisschen aus der Fasson geraten, das Grüne hat die Möglichkeit, sich fast ungehindert zu entfalten. Der Garten – verrät er – ist längst sein Lieblingsort geworden. Dort »schäffelt« er jeden Tag vier bis fünf Stunden. Auf sein selbst gezogenes Gemüse ist er besonders stolz. Nur noch selten mischt er sich in die Politik ein. Dann wird er in den Medien gerne als moralische Instanz gefeiert. Oder als sozialdemokratisches Urgestein. Worüber er sich königlich amüsiert.
HERR EPPLER, Herbert Wehner hat Sie einmal als »Pietcong«1