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Regina Mühlhäuser

Eroberungen

Sexuelle Gewalttaten und intime
Beziehungen deutscher Soldaten
in der Sowjetunion, 1941–1945

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© E-Book 2012 by Hamburger Edition

© der Printausgabe 2010 by Hamburger Edition

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Inhalt

Einleitung

I. Ausgangspunkte

Forschungsliteratur

Quellen

Männlichkeitskonzeptionen

Weiblichkeitsvorstellungen

Kinder

Private Fotografien von Wehrmachtssoldaten, Teil I

II. Sexuelle Gewalt

Formen und Funktionen sexueller Gewaltakte

Situationen

Verhandlungen innerhalb der Truppe

III. Sexuelle Tauschgeschäfte

Gelegenheitshandel

Gewerbliche Prostitution

Verfolgung »prostitutionsverdächtiger« Frauen

Disziplinierung der Wehrmachtssoldaten

Appelle an die SS-Männer

Wehrmachtsbordelle

IV. Einvernehmliche Verhältnisse

Das Begehren der Männer nach Normalität

Die Sehnsucht der Frauen nach neuen Erfahrungen

Regulierung durch die Wehrmacht

Richtlinien der SS

Verhandlungen über Heiratsgesuche

Rhetorik der Niederlage

Private Fotografien von Wehrmachtssoldaten, Teil II

V. Besatzungskinder

Bevölkerungspolitische Zukunftsvorstellungen

Kontrollmaßnahmen

Fazit: Sexualität und Geschlechterordnung in Krieg und Nachkriegszeit

Danksagung

Abkürzungen

Quellen und Literatur

Bildnachweise

Einleitung

Otto Pauls war als junger Mann in den Sowjetunion stationiert. Im Interview mit dem Dokumentarfilmer Hartmut Kaminski erklärt er, so mancher deutsche Soldat habe in jedem Ort »eine Braut« gehabt: »Von wegen dass die Soldaten sich so schweinisch benommen haben, vergewaltigt haben. Ich habe so etwas nie gesehen. Brauchten wir gar nicht. Die Ukraine hat uns mit offenen Armen empfangen.«1 Pauls blickt insgesamt durchaus selbstkritisch auf seine Vergangenheit und die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion zurück, daher sticht umso mehr ins Auge, dass er die Kontakte zu einheimischen Frauen lediglich als harmlosen, jenseits der eigentlichen Kriegshandlungen liegenden Nebenschauplatz beschreibt. Hier spiegelt sich das bis heute weitverbreitete Bild, demzufolge die militärische Eroberung eines Territoriums quasi selbstverständlich mit der sexuellen Eroberung einheimischer Frauen einhergeht.2 In dem vorliegenden Buch möchte ich der Frage nachgehen, auf welche Realität sich solche romantisierenden Eroberungsnarrative gründen.

Grundsätzlich scheint es so trivial wie zutreffend zu sein: Das Auftreten der deutschen Männer gegenüber der einheimischen Bevölkerung in der Sowjetunion war von ihren jeweiligen körperlichen und sexuellen Erfahrungen, Selbstwahrnehmungen und Normen geprägt. Viele erhofften sich von dem Freiraum, den der Krieg ihnen fern der Heimat bot, die Gelegenheit zu sexuellen Eskapaden; viele sehnten sich nach zwischenmenschlichen Begegnungen und Nähe. Beides gilt für die erste Phase des Krieges, als die Männer den Feldzug oft noch ungebrochen als Abenteuer empfanden, ebenso wie für spätere Perioden, als das deutsche Militär zurückgedrängt wurde und Angst und Verzweiflung unter den Soldaten zunahmen. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht die Frage, ob und wie Angehörige von Wehrmacht, SS und zivilen Besatzungsbehörden in der Begegnung mit einheimischen Frauen Sexualität lebten.3 Zu welchen Formen heterosexueller Zusammentreffen kam es während des Krieges, der Besatzung und im Zuge der »Endlösung«? Welche Rolle spielten dabei geschlechtsspezifische Erfahrungen und Deutungsmuster aus der Vorkriegszeit? Und auf welche Weise waren die sexuellen Aktivitäten der deutschen Männer im Besatzungsgebiet mit der spezifischen Eskalation und Entgrenzung von Gewalt im Kontext der deutschen Kriegführung in der Sowjetunion verknüpft? Der für diese Untersuchung zentrale Begriff der sexuellen Zusammentreffen ist dem in der englischsprachigen Literatur verbreiteten Ausdruck sexual encounters entlehnt und umfasst das ganze Spektrum sexueller Kontakte von zwei oder mehreren Personen: das Erzwingen von Nacktheit, unterschiedliche Formen sexueller Folter, Vergewaltigung und sexueller Versklavung ebenso wie sexuellen Tauschhandel, gewerbliche Prostitution, einvernehmliche Affären und romantische Verhältnisse. Dabei betont das Wort Zusammentreffen die unterschiedlichen Momente des Aufeinanderprallens: von Männern und Frauen, von Macht und Ohnmacht, von unterschiedlichen Kulturen und Positionen.4

Bei der Beschäftigung mit diesem Thema wird rasch deutlich, dass das Handeln der Soldaten keineswegs, wie Otto Pauls es darstellt, jenseits der Kriegshandlungen lag: Sexualität kam zum einen in Verbindung mit kriegerischen Gewaltakten zum Ausdruck, zum anderen prägte die alltägliche Präsenz von Gewalt auch die Begegnungen der Männer mit einheimischen Frauen, und zwar bis hinein in die einvernehmlichen Verhältnisse, die Verlobungen und Ehen. Die Führungen von Wehrmacht und SS rechneten mit solchen sexuellen Zusammentreffen und den daraus resultierenden, sowohl positiv als auch negativ bewerteten Auswirkungen: auf die Gesundheit der Truppe, die Stimmung der Soldaten, die Kohäsion der Einheiten. Letztlich ging es dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW), dem Oberkommando des Heeres (OKH) und dem Persönlichen Stab Reichsführer-SS (RF-SS) um den jeweiligen Nutzen oder Schaden sexueller Aktivitäten für die Kriegführung.

Die Bedeutung sexueller Zusammentreffen während des Krieges und der Besatzung in der ehemaligen Sowjetunion erschließt sich also nicht, wenn lediglich das Handeln und die Deutungsmuster der Soldaten in den Blick genommen werden. Vielmehr gilt es, beides im Kontext der militärischen Institutionen, der deutschen Gesamtgesellschaft und der Reaktionen in den besetzten Ländern zu betrachten. Der zweite Komplex dieser Untersuchung widmet sich daher der Frage, wie die Führungen von Wehrmacht und SS vorgingen, um die sexuellen Aktivitäten der Soldaten unter Kontrolle zu behalten. Welche Vorstellungen von Männlichkeit und Sexualität lagen den Maßnahmen zugrunde? Welche Rolle spielte der Bezug auf die Heimatfront für die Kontrolle der Soldaten? Und welche neuen Praktiken und Sexualitätsvorstellungen brachten die Eingriffe der Militärführung hervor?

Die Forschung zu sexueller Gewalt in kriegerischen Konflikten, die sich in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt hat,5 zeigt, dass die Kommunikation zwischen Armeeführung, Offizieren, kleinen Einheiten und einfachen Rekruten genau zu untersuchen ist – können sexuelle Gewaltakte doch sowohl Ausdruck der Missachtung von Verhaltensregeln und disziplinarischen Vorgaben durch die einfachen Soldaten als auch Teil einer militärischen Strategie sein.6 Deutlich geworden ist zudem, dass sexuelle Gewalttaten in Kriegs- und Krisengebieten nicht nur die jeweiligen Opfer treffen. Durch sexuelle Gewalt wird das gesamte gesellschaftliche Gefüge des Gegners nachhaltig angegriffen und zerstört.7 Auch die militärische Organisation von Prostitution sowie einvernehmliche Verhältnisse zwischen Besatzungssoldaten und einheimischen Frauen ziehen kurz- wie längerfristige Folgen nach sich.8 In dem vorliegenden Band setze ich mich zwar nur begrenzt mit den Auswirkungen solcher Zusammentreffen für die betroffenen Frauen und die jeweiligen Gesellschaften in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion auseinander. Durch die Dokumentation von Zeuginnen- und Zeugenaussagen kommt diese Ebene gleichwohl zur Sprache.

Ende 1942 gerieten auch die Kinder, die bei sexuellen Zusammentreffen von deutschen Männern und einheimischen Frauen »im Osten«9 gezeugt wurden, ins Blickfeld der deutschen Behörden. Wie viele es waren, blieb bis zum Ende des Krieges ungewiss, die Beteiligten bezweifelten aber nicht, dass ihre Anzahl substanziell sein müsste. Umstritten war indes der potentielle Wert dieser Kinder für die »deutsche Volksgemeinschaft«. Im letzten Kapitel dieses Buches wird insofern nachgezeichnet, wie sich die militärischen und zivilen Besatzungsbehörden dazu verhielten. Wie stellten sie sich die Zukunft der »Soldatenkinder« vor?

Im Vordergrund dieser Studie steht nicht der Anspruch, ein erschöpfendes Bild der sexuellen Zusammentreffen, der militärischen Regulierungsmaßnahmen oder des Umgangs mit den Kindern zu zeichnen, das für alle Gebiete gleichermaßen gültig wäre. Dazu sind Detail- und Lokalstudien vonnöten, die in diesem Rahmen nicht geleistet werden konnten. Mich interessiert stattdessen zweierlei: Zum einen möchte ich durch die Präsentation und Zusammenstellung von Quellen ganz unterschiedlicher Art die Vielschichtigkeit des Phänomens mit seinen jeweiligen Wechselwirkungen deutlich machen. Aus diesem Grund habe ich mich auch entschieden, die gesamte Bandbreite sexueller Kontakte – von sexueller Gewalt über sexuelle Tauschgeschäfte bis hin zu einvernehmlichen Beziehungen und den daraus hervorgegangenen Kindern – in die Betrachtung einzubeziehen. Zum anderen geht es mir um die Entschlüsselung und theoretische Deutung der Quellen im Sinne der Foucaultschen Erkenntnis, dass sexuelle Vorstellungen und Praktiken nichts Gegebenes, Festes, Biologisch-Invariables sind, sondern eine Form von Macht/Wissen darstellen, die immer wieder neu hergestellt und etabliert werden muss.10 Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz interpretieren Sexualität im Anschluss an Foucault als »Motor und Folge von Auseinandersetzungen innerhalb eines sozio-kulturellen Machtgeflechts«.11 Wie sah dies vor dem Hintergrund des Vernichtungskrieges in der ehemaligen Sowjetunion aus? Und wie wirkten sich das Machtgeflecht sowie die Kriegsgewalt und der Nationalsozialismus auf die sexuellen Vorstellungen und Praktiken der »im Osten« eingesetzten deutschen Männer aus?

So lückenhaft die Erkenntnisse in diesem Buch noch ausfallen mögen, so deutlich dürfte doch werden, dass die Auseinandersetzung mit dem sexuellen Verhalten der deutschen Soldaten in den besetzten Gebieten der Sowjetunion einen weiteren wichtigen Mosaikstein zum Verständnis des Vernichtungskrieges liefert. Sie wirft außerdem Fragen nach der (sexuellen) Verfasstheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft auf, genauer: nach den Beziehungs- und Familienstrukturen sowie den sich entwickelnden sexuellen Wünschen und Praktiken nach der Rückkehr der Männer.

1 Kaminski, Liebe im Vernichtungskrieg, Dokumentarfilm.

2 Seifert, »Krieg und Vergewaltigung«, S. 101; Lauretis, »Rhetorik als Gewalt«, S. 362. Die Erzählungen der territorialen Eroberung als Liebesgeschichte ist bisher vor allem in der Kolonialgeschichtsschreibung untersucht worden; vgl. Zantop, Kolonialphantasien, S. 61 ff.

3 Soldaten in der Sowjetunion gingen auch homosexuellen und autoerotischen Praktiken nach, vgl. z.B. Snyder, Sex Crimes, S. 103ff.; Giles, »Denial of Homosexuality«; Fout, »Homosexuelle in der NS-Zeit«; Dörner, »Heimtückische Nachrede«; Steinkamp, Devianz-Problematik in der Wehrmacht, S. 302ff. und S. 234ff.; ders., »Ungewöhnliche Todesfälle«. Entsprechende Aktivitäten werden in dieser Untersuchung aber nur am Rande thematisiert. Ebenso wenig werden die sexuellen Zusammentreffen mit deutschen Wehrmachts- und SS-Helferinnen oder Frauen, die im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes (RAD) in der Sowjetunion stationiert waren, untersucht.

4 Für die Übersetzung des englischen Ausdrucks encounter mag der deutsche Begriff »Begegnung« zunächst passender erscheinen. Dieser verweist aber auf ein Moment der Gegenseitigkeit, das insbesondere im Falle von sexuellen Gewaltverbrechen nicht gegeben ist.

5 Als Überblick über die deutsch- und englischsprachige Literatur vgl. Schwensen, »Sexuelle Gewalt in kriegerischen Konflikten«; Mühlhäuser/Schwensen, »Sexuelle Gewalt in Kriegen«.

6 Vgl. z.B. Wood, »Sexuelle Gewalt im Krieg«; Zipfel, »Ausnahmezustand«.

7 Vgl. z.B. Alison, »Sexuelle Gewalt in Zeiten des Kriegs«; dies. u.a., »›Meine Not ist nicht einzig‹«; Seifert, »Krieg und Vergewaltigung«.

8 Vgl. z.B. Enloe, Maneuvers, S. 51 ff.; Moon, Sex Among Allies; Drolshagen, Nicht ungeschoren davonkommen.

9 Zum nationalsozialistischen Umgang mit dem Begriff »Osten« vgl. Harvey, »Der Osten braucht Dich!«, S. 158ff.

10 Foucault, Wille zum Wissen, S. 125ff. Zum Paradigmenwechsel von einer alten »Geschichte des Sexus« im Sinne der »Sittengeschichte« zu einer Diskursgeschichte über den Sexus vgl. Finzsch, »Geschichte der Sexualität«, S. 201f.

11 Martschukat/Stieglitz, »Es ist ein Junge!«, S. 178.

I. Ausgangspunkte

»Er vertrug mehr Schnaps, er hat mehr Zigaretten geraucht und er hat auch mehr Frauen in den Hintern gekniffen als ich.«1 Schnaps, Zigaretten, Frauen – mit diesen Insignien soldatischer Männlichkeit kennzeichnet ein Teilnehmer der jährlich im britischen Beltring veranstalteten »War & Peace Show«2 seine Bewunderung für den SS-Funker, den er während der Vorführung »Waffen SS in Combat« verkörpert. Seine Erzählung ist von scherzhaftem Augenzwinkern begleitet, offenbart aber gleichsam ungebrochen die Hochachtung, die er dem während des Krieges gestorbenen Deutschen entgegenbringt. Ein anderer Teilnehmer hält die SS-Runen an den Aufschlägen seiner Uniform in die Kamera: »Wir dürfen diese Uniform niemals vergessen – wegen all der schlimmen Dinge, die damit verbunden sind, aber auch wegen mancherlei Gutem.«3 Für ihn stellen die Taten der SS »zwei Seiten derselben Medaille« dar. Auf der einen Seite hätten die Deutschen Verbrechen gegen Zivilistinnen und Zivilisten verübt, Dörfer niedergebrannt und Frauen und Kinder getötet. Auf der anderen Seite seien sie »nette Jungs« gewesen, die in den besetzten Gebieten Freundschaften geschlossen und Romanzen mit einheimischen Frauen gehabt hätten. Genau dieser Gegensatz sei es, der ihn fasziniere. Unbefangen posieren er und andere vor der Kamera; sie tragen ihre Originaluniformen mit Stolz. Die schwarze Montur erscheint als Kleidung stattlicher Männlichkeit, nicht zuletzt verheißt sie sexuelle Attraktivität.4 So werden während der Festivals auch intime Bekanntschaften gepflegt, und man feiert Eheschließungen in der historischen deutschen Uniform.5

Die Interviews, die Heike Gallmeier und Tabea Sternberg mit britischen Reenactern6 geführt haben, die sich jährlich treffen, um in der Rolle von SS-Männern, Polizisten und Wehrmachtssoldaten bekannte militärische Schlachten nachzuspielen, offenbaren die Bewunderung der Rollenspieler für das, was sie als »deutsche Disziplin« und »maskuline Stärke« begreifen. Nun mag mancher argumentieren, dies seien lediglich abstruse Fantasien von ein paar Tausend Militaristen. Diese Einschätzung erscheint aber vorschnell, denn die Erzählungen der historischen Rollenspieler gehen auf Annahmen zurück, die keineswegs nur denjenigen vorbehalten sind, die den Krieg verherrlichen und zu ihrem Hobby machen. Die bewundernde Rede der Reenacter stützt sich vielmehr auf vorherrschende Ideale von Männlichkeit und männlicher Sexualität.7 Demnach entspringt der Sexus des Mannes einer natürlichen, leben- und kraftspendenden Energie, die beständig droht, überhandzunehmen und die deswegen unter Kontrolle gehalten werden muss.8 Solange ein Mann, insbesondere ein Soldat, seinen Körper und seine Triebe beherrscht und in der Lage ist, sie effektiv einzusetzen und gegebenenfalls zu manipulieren, gilt er als leistungsfähig und stark.9 Eingeschrieben ist dieser Vorstellung von männlicher Triebhaftigkeit allerdings, wie Ruth Seifert darlegt, auch die beständige Möglichkeit des Scheiterns – denn sexuelle Aktivitäten von Soldaten drohen immer, die militärischen Anforderungen zu konterkarieren, zum Beispiel die Disziplin oder die medizinische Gesundheit einer Einheit zu schwächen.10 Die Führungen moderner Armeen kalkulieren mit solchen Bildern und versuchen, das sexuelle Begehren ihrer Soldaten für den Kriegseinsatz zu kanalisieren. Der Sexualität von Soldaten wird also nicht nur symbolisch, sondern auch militärpolitisch ein bedeutsamer Stellenwert zugeschrieben.

Darüber hinaus sind die Vorstellungen der historischen Rollenspieler durch die gesellschaftlich weitverbreitete Faszination mit der Verwobenheit von Nationalsozialismus und Sexualität geprägt. Diese drückt sich zum einen in einer Verfälschung von historischen Zusammenhängen aus, wie beispielsweise in dem sich hartnäckig haltenden Mythos, der nationalsozialistische Lebensborn e.V. sei eine Zuchtanstalt gewesen, in der man die männliche SS-Elite und »arische« Frauen zusammengebracht habe, um »rassereine« Kinder zu zeugen: Obgleich die seriöse historische Forschung beweist, dass dies keineswegs den Tatsachen entsprach, sondern die Lebensborn-Heime vielmehr für werdende Mütter errichtet wurden, die ihren Nachwuchs sicher und in kontrollierter Umgebung zur Welt bringen sollten,11 findet sich der Mythos von der Zuchtanstalt bis heute in dokumentarischen Medienberichten und sogar Schulbüchern.12 Zum anderen zeigt sich die Faszination, die die Koppelung von nationalsozialistischer Macht und Sex ausübt, auch in dem massenhaften Absatz von Pornofilmen, die vor dem historischen Hintergrund der Jahre 1939 bis 1945 spielen. Rebecca Scherr fürchtet gar, dass die Erinnerung an den Holocaust durch solche Filme zu »sexy memories« zu verkommen droht.13

Diese Sorge ist gerade heute, wo die wenigen Überlebenden, die noch Zeugnis von der Geschichte ablegen können, in absehbarer Zukunft sterben werden, nur allzu berechtigt. Gleichwohl wäre es vereinfachend, das Phänomen der nachträglichen Sexualisierung des Nationalsozialismus einzig auf die Verharmlosung der Verbrechen und die Trivialisierung der Leiden der Opfer zu reduzieren. Omer Bartov hat beschrieben, dass israelische Jugendliche – »die tatsächlichen und symbolischen Nachkommen der Holocaust-Überlebenden« – durch Bücher und Filme zu sexuellem Sadismus in den NS-Lagern oft ungewollt Erregung verspürten.14 Dies führt uns die Notwendigkeit vor Augen, sich damit auseinanderzusetzen, wie Sexualität und sexuelle Zusammentreffen während des Holocaust und des Krieges in der ehemaligen UdSSR zum Thema gemacht, skandalisiert, verheimlicht oder zum Schweigen gebracht wurden und werden. Wo verlaufen die Linien zwischen sexueller Erregung, Scham, Schuldgefühlen und kulturellen Normen?

Aus Sicht Dagmar Herzogs fungieren die »kulturellen Phantasmen« in Literatur und Film zu Sexualität im Nationalsozialismus als »ein Speicher intuitiver Erkenntnisse, die offenbar nicht in die akademische Forschung integriert werden können«.15 Tatsächlich hat sich die historische Forschung, wie im Folgenden gezeigt wird, des Themas bisher nur sehr zögerlich angenommen.

Forschungsliteratur

Kaum ein Krieg ist in den vergangenen 20 Jahren so ausführlich erforscht worden wie der Vernichtungsfeldzug der deutschen Truppen in der Sowjetunion und der damit einhergehende Massenmord an den Jüdinnen und Juden.16 Seit Anfang der 1990er Jahre sind die Motive, Sinnstiftungen und Handlungsräume der einfachen Soldaten auf die Agenda der historischen Forschung gerückt.17 Christopher Brownings Studie »Ganz normale Männer«, Daniel Jonah Goldhagens heiß diskutiertes Buch »Hitlers willige Vollstrecker« oder die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1945«, die Fotos zeigte, die einfache Soldaten von den deutschen Verbrechen gemacht hatten, beschäftigen sich mit dem »Mitmachen« und der Mitwisserschaft des »kleinen Mannes«.18 Sie lösten eine nachhaltige Auseinandersetzung über die historische Verantwortung deutscher Soldaten für den Krieg und die »Endlösung« aus.19 Die Sexualität der Täter wurde allerdings sowohl bei der Beschreibung der Verbrechen als auch in den Auseinandersetzungen mit den Selbstdeutungen der Soldaten bis vor wenigen Jahren nur selten explizit aufgegriffen.

Zwar hatte die Journalistin Susan Brownmiller schon 1975 in »Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft« die These aufgestellt, die Angehörigen von Wehrmacht und SS hätten in Osteuropa und Russland massenhaft sexuelle Gewaltverbrechen gegen Frauen verübt und Vergewaltigung gezielt als Waffe eingesetzt;20 dem wurde in der Forschung aber lange nicht systematisch nachgegangen. Vielmehr übernahmen viele Brownmillers These, ohne sie auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen.21

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Brownmillers Buch in den USA tauchte die Frage nach dem sexuellen Verhalten der Soldaten in der Sowjetunion erstmals auch in der historischen Forschung in Deutschland auf. Franz W. Seidler widmete sich 1977 dem Thema »Prostitution, Homosexualität, Selbstverstümmelung. Probleme der deutschen Wehrmachtssanitätsführung« und zeigte, dass die Befriedigung sexueller Bedürfnisse und die Eindämmung sexuell übertragbarer Krankheiten für Wehrmacht und SS in allen besetzten Gebieten zum militärischen Kalkül gehört hatten.22 Mit seiner umfangreichen Dokumentation von Aktenmaterial zeichnete er die Behandlungsmethoden bei Gonorrhö- und Syphiliserkrankungen nach, beschrieb den Aufbau wehrmachtseigener Bordelle und deutete sogar an, dass die Freiwilligkeit mancher Frauen, die in der Sowjetunion in solchen Häusern Dienste leisteten, begrenzt gewesen sein dürfte. Dabei übernahm Seidler, der Jahre später aufgrund seiner geschichtsrevisionistischen Darstellungen in die Kritik geriet,23 allerdings die Sichtweise der Wehrmacht und leistete keinerlei kritische Aufarbeitung.24

In der ersten großen Studie zu den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD machten Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm 1981 darauf aufmerksam, dass auch sexuelle Gewalttaten im Krieg gegen die Sowjetunion kein Einzelfall waren und es zu klären gelte, wie die militärische Führung darauf reagiert habe. Während Krausnicks Darstellung nahelegte, die Truppenführer seien strikt gegen solche Taten vorgegangen, war Wilhelm der Ansicht, die Männer hätten selbst bei offensichtlichen Verstößen gegen die NS-Rassengesetze nicht mit Konsequenzen zu rechnen gehabt.25 Trotz solcher Ansätze erschienen sexuelle Gewaltverbrechen in der Geschichtsschreibung zum Vernichtungskrieg bis vor kurzem bestenfalls als Ausnahmefall, als Schritt in einer Gewaltdynamik, die formelhaft mit der Triade Mord – Plünderung – Vergewaltigung umschrieben wurde, oder als verbreitete, aber letztlich nicht konkretisierbare Folge der Brutalisierung im Zuge des Krieges.26 Hannes Heer etwa spricht von »Mordlust und Sadismus, Gefühlskälte und sexuelle[n] Perversionen« bei »große[n] Teile[n] der Truppe«, die an der Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Weißrussland beteiligt waren. Wie sich diese sexuellen Perversionen ausdrückten und was sie bedeuteten, lässt er jedoch offen.27 Und in vielen regionalen oder thematischen Mikrostudien werden zwar einzelne Fälle von sexueller Gewalt, Prostitution oder auch einvernehmlichen Verhältnissen erwähnt, aber nicht systematisch untersucht.28 Dies mag zum einen mit der oft spärlichen und komplizierten Quellenlage zusammenhängen und zum anderen darin begründet liegen, dass es problematisch ist, eine Darstellungsform zu finden, die nicht trivialisierend oder voyeuristisch wirkt. Darüber hinaus ist die Forschungslücke aber wohl auch damit zu erklären, dass die Auseinandersetzung mit der Verwobenheit von Krieg, Gewalt und Sexualität auf besondere Weise affektiv aufgeladen ist und die Interdependenz, in die Sexualität und Gewalt im Krieg geraten, nach wie vor als unvermeidliches und unhinterfragt hinzunehmendes Faktum gesehen wird, das nur dann der Erforschung bedarf, wenn man darin ein besonders brutales Vorgehen oder eine Kriegsstrategie erkennt.29

Erst in den vergangenen Jahren wurden vereinzelt Untersuchungen vorgelegt, die sich eingehender mit dem Thema auseinandersetzen. In der ersten systematischen Studie »Wehrmacht und sexuelle Gewalt« aus dem Jahr 2004 untersucht Birgit Beck den Umgang der Wehrmachtsjustiz mit Soldaten, die der »Notzucht« angeklagt wurden. Sie geht davon aus, dass es sich bei Vergewaltigung durch Wehrmachtssoldaten nicht nur um Ausnahmefälle handelte. Gleichzeitig betont sie, man könne nicht von einer Waffe im Rahmen einer breit angelegten, militärisch befohlenen Strategie sprechen: Denn erstens gebe es bis heute keine Hinweise darauf, dass Vergewaltigung angeordnet oder die Männer dazu aufgefordert wurden. Und zweitens sei »Notzucht« ein Straftatbestand in den Gesetzbüchern der Wehrmacht, und die Militärrichter haben Soldaten deswegen mitunter auch verurteilt.30

Von den über 17 Millionen an allen Fronten eingesetzten deutschen Soldaten wurden laut offizieller Wehrmachtskriminalstatistik bis 1944 nur 5349 Männer wegen »Sittlichkeitsdelikten« – vor allem »Notzucht«, »Unzucht mit Männern«, »verbotenem Geschlechtsverkehr« und »verbotenen Abtreibungen« – verurteilt. Im gleichen Zeitraum kam es zu 1,5 Millionen Verurteilungen aufgrund von »Fahnenflucht«, »Selbstverstümmelung« und »Zersetzung der Wehrkraft«. Die Wehrmachtsgerichte maßen den »Sittlichkeitsdelikten« also eine deutlich geringere Bedeutung bei. Kam es dennoch zu Gerichtsverfahren gegen Männer, die der Vergewaltigung bezichtigt wurden, ahndeten die Richter vor allem den Umstand, dass die Rekruten die Disziplin und das Ansehen der Truppe verletzt hatten. An der Ostfront wurde sexuelle Gewalt gegen Frauen im Vergleich zur Westfront deutlich seltener gerichtlich verfolgt, und das Strafmaß fiel in der Tendenz niedriger aus – was Beck in erster Linie auf die Kriegführung in Polen und der Sowjetunion und den »Kriegsgerichtsbarkeitserlass« vom 13. Mai 1941 zurückführt, der eine »präventive Amnestie« (Jürgen Förster) für Verbrechen deutscher Soldaten gegen die sowjetische Zivilbevölkerung darstellte.31 Christian Thomas Huber betont demgegenüber, dass die in der Sowjetunion wohl wesentlich höhere Dunkelziffer sexueller Gewaltverbrechen auch von den unterschiedlichen Ermittlungsweisen herrühre: Während sexuelle Gewalttaten an der Westfront in der Regel von den Opfern oder ihren Familien angezeigt wurden, seien an der Ostfront meist deutsche Vorgesetzte oder Dolmetscher einem Gerücht nachgegangen. Dies habe naturgemäß zu weniger Meldungen und Anklagen geführt.32

David Raub Snyder untersucht in seinem Buch »Sex Crimes under the Wehrmacht« ganz ähnliche Aktenbestände wie Beck.33 Sein Interesse richtet sich jedoch stärker auf die Analyse und Bewertung des militärischen Justizapparats. Während Becks Untersuchung mit der Urteilsverkündung aufhört, widmet Snyder sich auch der Frage, ob die Männer ihre Strafen absitzen mussten. Er zeigt, dass insbesondere Soldaten, die sich durch Tapferkeit oder andere militärisch verwertbare Tugenden ausgezeichnet hatten, mit größter Nachsicht der Militärrichter rechnen konnten, selbst wenn sie eine als »rassisch unerwünscht« erachtete russische Frau oder eine Jüdin vergewaltigt hatten oder homosexuell aktiv gewesen waren. Snyder verdeutlicht, dass die Wehrmachtsrichter vor allem nach Kriterien militärischer Effizienz entschieden, wobei er militärische Ratio und NS-Ideologie meines Erachtens allzu strikt voneinander trennt. Die Sprache der Richter, so Snyder, »klingt wie die des Nationalsozialismus, aber Ideologie scheint hier nicht am Werke gewesen zu sein«.34 Mit dieser Einschätzung setzt sich Snyder weder damit auseinander, dass der juristische Apparat selbst von ideologischen Prämissen durchdrungen war, noch fragt er nach der Geschlechterideologie, die den Urteilen zugrunde lag. Letztere hat Beck in ihrer Analyse der richterlichen Vorstellungen von »weiblicher Geschlechtsehre« und »männlicher Geschlechtsnot« hinlänglich dokumentiert.35

Manche Autoren gehen davon aus, die NS-Ideologeme »Rassebewusstsein« und »Manneszucht« hätten dazu geführt, dass sexuelle Gewalttaten in der Wehrmacht die absolute Ausnahme gewesen und hart, nicht selten mit der Todesstrafe, geahndet worden seien. Dabei beziehen sie sich allerdings in der Regel lediglich auf die Schilderung von Einzelfällen.36 Die Frage, welches Ausmaß die sexuellen Gewalttaten, die deutsche Truppen in den Territorien der ehemaligen Sowjetunion verübten, tatsächlich annahmen, kann bis heute nicht annähernd realistisch beantwortet werden. Aus den bisherigen Forschungsergebnissen den Schluss zu ziehen, es sei während des deutschen Vernichtungskrieges in der Sowjetunion ausnehmend selten zu sexuellen Gewalttaten gekommen, ist meines Erachtens jedoch vorschnell; dem stehen nicht zuletzt zahllose Berichte von Augenzeuginnen und -zeugen entgegen, die darauf hindeuten, dass Angehörige von Wehrmacht, SS, Polizei und Zivilverwaltung in unterschiedlichen Stadien des Krieges sexuelle Gewalttaten verübten.

Wendy Jo Gertjejanssen hat in ihrer Dissertation »Victims, Heroes, and Survivors« gezeigt, wie vielschichtig das Quellenmaterial ist, mit dem man sich diesem Teil der Geschichte nähern kann.37 Sie legt ihrer Arbeit allerdings einen ahistorischen Begriff von sexueller Gewalt zugrunde und unterscheidet zum Beispiel Gewalttaten durch deutsche Soldaten nicht von denen durch Soldaten der Roten Armee oder der Partisanen verübte. Insofern gibt ihre äußerst materialreiche Studie letztlich nur sehr wenig Aufschluss über die unterschiedlichen Konstellationen und Funktionen sexueller Gewalt während des Vernichtungskrieges.

Ob die physischen und psychischen Effekte der sexuellen Aktivitäten von Soldaten nicht direkt mit Kriegführung und Massenmord zusammengedacht werden müssen, fragt indes Elisabeth Heineman in ihrem Literaturbericht »Sexuality and Nazism. The Doubly Unspeakable«: »Erleichterte Sex den Mördern das Morden, entweder weil die Täter ihre Opfer auf diese Weise noch weiter demütigen und entmenschlichen konnten, oder weil Sex ihnen die Gelegenheit bot, Spannungen abzubauen, die die Tötungsaktionen sonst beeinträchtigt hätten?«38 Zunächst muss man Heinemans Rekurs auf die Entmenschlichung der Opfer wohl differenzieren. Die Opfer dieser Taten mögen sich in jeder Hinsicht zu Recht entmenschlicht gefühlt haben und bis heute fühlen. Tatsächlich gehörte es zu den Strategien der Täter, ihren Opfern genau dieses Gefühl zu vermitteln. Wenn man aber die Gewalttäter und -taten begreifen will, muss man sich damit konfrontieren, dass an der Koppelung von Sexualität und Gewalt – am Besitzergreifen, Erobern, Einnehmen, am Überwältigen, Zerstören und Verunstalten – prinzipiell nichts »Unmenschliches« ist.39 Man könnte Heinemans Ansatz vielmehr erweitern und fragen, auf welche Weisen sich sexueller Lustgewinn und Lust an der Gewalt verschränken können. In ihrer Studie »An Intimate History of Killing« hat Joanna Bourke anhand von zahlreichen Beispielen von verschiedenen Kriegsschauplätzen deutlich gemacht, auf welch unterschiedliche Weisen Grausamkeit, todbringende Gewalt und (sexuelle) Lust im Krieg verschmelzen können.40 Gaby Zipfel stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass Männer, die sich mit der Möglichkeit des eigenen Todes konfrontiert sehen, durch die sexuelle und potentiell todbringende Macht über einen anderen Körper »ihre sexuelle Potenz und ihre Fähigkeit, Angst zu überwinden«, affirmieren.41 Die Überlegungen des Sozialpsychologen Harald Welzer gehen in eine ganz ähnliche Richtung, wenn er konstatiert, dass Situationen absoluter Macht den »Thrill« erzeugen, »absolute Machtausübung gerade in sexueller Hinsicht zu experimentieren«.42 Die Historikerin kann mit ihrem Werkzeug allerdings kaum eine angemessene Antwort auf diese Fragen finden.

In den vergangenen Jahren hat sich die Forschung verstärkt mit dem Vorkommen sexueller Gewalt vor dem Hintergrund absoluter Machtausübung in den Konzentrationslagern auseinandergesetzt. Dabei ist deutlich geworden, dass weibliche Häftlinge mit der Ankunft im Lager unterschiedliche Formen sexueller Gewalt erfuhren.43 Bereits während der ersten Untersuchung, der Selektion und in den Duschräumen mussten die Frauen dem KZ-Personal halbnackt oder nackt gegenübertreten und physische wie verbale Übergriffe über sich ergehen lassen. Und auch männliche Häftlinge waren Gewaltakten ausgesetzt, die sich gegen ihre sexuelle und körperliche Integrität richteten, selbst wenn sie sie meist nicht als sexuelle Taten begriffen.44 Uneinig ist sich die Forschung darüber, ob Vergewaltigung oder physische Gewalttaten ähnlicher Schwere gegen Frauen ein häufiges Phänomen darstellten oder eher selten vorkamen. Myrna Goldenberg legt in »Sex, Rape, and Survival« beispielsweise nahe, Vergewaltigung – als verbreitete Gewaltform von Männern gegen Frauen – sei in Konzentrations- und Vernichtungslagern gängig gewesen, wobei sie Übergriffe durch SS-Aufseher mit solchen durch männliche Mithäftlinge zusammendenkt.45 Na’ama Shik kommt nach ihrer Untersuchung von Hunderten Überlebendenberichten dagegen zu dem Schluss, Vergewaltigungen weiblicher Häftlinge durch SS-Aufseher hätten eher die Ausnahme dargestellt. Sie führt dies vornehmlich auf die NS-Ideologie zurück, die zum strikten Verbot sexueller Kontakte mit Jüdinnen, Sinti- und Roma-Frauen und überdies dazu geführt habe, dass Frauen in der totalen Institution Konzentrationslager völlig auf ihren Körper reduziert worden seien. Die Frauen seien zwar physisch verfügbar gewesen, hätten für die SS-Aufseher aber nur noch einen »Klumpen Fleisch« dargestellt.46 Im Rahmen der Diskussion, ob sexuelle Gewalt während des Holocaust ein spezifisches Phänomen war oder dieselben Funktionen hatte wie in kriegerischen Konflikten, vermischt Doris Bergen das Vorkommen sexueller Gewalt innerhalb der Konzentrationslager und Ghettos mit den Erfahrungen von Jüdinnen und Juden in der Kriegssituation in Polen und der Sowjetunion. Mit ihrem Ergebnis bewegt sie sich zwischen den Positionen von Shik und Goldenberg; die Ausübung sexueller Gewalt, so ihr Argument, sei einzigartig und doch verallgemeinerbar gewesen.47 Vor dem Hintergrund meiner Ausführungen zu sexueller Gewalt im folgenden Kapitel möchte ich zu bedenken geben, ob nicht die Umgebung eine entscheidende Rolle für die Häufigkeit und die Formen sexueller Gewalt spielte. Um dies genauer zu untersuchen, wäre das Vorkommen sexueller Gewalt in den Lagern, den Ghettos, während der Besatzung, an der Front und vor den Erschießungsaktionen zunächst getrennt zu untersuchen, um darauf aufbauend einen Vergleich vorzunehmen.

Auch die Bordelle in den Konzentrationslagern werden mitunter mit Prostitution im Kriegsgebiet verglichen.48 Dies führt meines Erachtens aber nur sehr begrenzt weiter, da die Bedingungen vollkommen andere waren. Zwischen 1942 und 1944 richtete die SS in zehn Konzentrationslagern Bordelle für privilegierte männliche Häftlinge ein, um diese zu höheren Leistungen in der Zwangsarbeit anzuspornen.49 Tatsächlich entsprang dieser Gedanke des Leistungsanreizes derselben Vorstellung, mit der auch die Wehrmacht versuchte, ihre Soldaten durch die Bereitstellung von Militärbordellen psychisch und physisch zu stärken. Während die Soldaten sich aber, vom Kriegsgeschehen im Feld brutalisiert, durch einen Besuch bei den »Frauen des Feindes« belohnten, waren die Häftlinge in den Konzentrationslagern Gefangene, die sich von ihren Aufsehern die Erlaubnis einholten, ihre Mitgefangenen aufzusuchen.50 Gaby Zipfel gibt zu bedenken, ob es sich dabei nicht um erzwungene Libidinösität unter denkbar unwürdigen Bedingungen handelt.51

Während man bei den Frauen, die für den »Arbeitsdienst Bordell« angeworben wurden, keinesfalls von einer freiwilligen Entscheidung sprechen kann,52 ist bisher völlig unklar, ob sich die Frauen in den Wehrmachtsbordellen auf besetztem sowjetischen Territorium zur Prostitution entschieden oder sexuell versklavt wurden. Tatsächlich sind die militärischen Bordelle in den besetzten Gebieten der UdSSR bis heute kaum untersucht worden.53 Seidler hat, wie bereits dargelegt, zwar beschrieben, dass das OKH, das OKW und der Sanitätsdienst der Wehrmacht beträchtliche Mittel aufwendeten, um Bordelle unter militärischer Kontrolle einzurichten, über die besetzten Gebiete der Sowjetunion trifft er jedoch nur vereinzelt Aussagen.54 In der ersten systematischen Studie zu den Wehrmachtsbordellen in Frankreich hat Insa Meinen 2002 gezeigt, auf welch vielfältige Weise das OKH einheimische Frauen, die als Prostituierte arbeiteten oder dessen verdächtigt wurden, verfolgte und entrechtete. Ihnen drohten rigorose Zwangsmaßnahmen, die von gynäkologischen Untersuchungen über die Einweisung und Verwahrung in Krankenhäusern bis hin zur Überführung in Internierungslager reichten. Dabei zeigte sich die Vichy-Administration derart entgegenkommend, dass die NS-Behörden die Verfolgung der Frauen weitgehend der einheimischen Polizei überließen.55 Die ersten Ergebnisse einer Studie zu Wehrmachtsbordellen in den Niederlanden deuten darauf hin, dass die Wehrmacht hier – ähnlich wie in Frankreich, wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß – vor allem auf bestehende Prostitutionsstrukturen zurückgriff, um militärisch kontrollierte Bordelle einzurichten.56 Max Plassmann betont zudem die Flexibilität der Wehrmacht: Die Bordelle seien nicht nach einem einheitlichen Plan, sondern unbürokratisch, je nach den Bedarfsmeldungen der örtlichen Besatzungsverwaltung oder der Truppenführer, eingerichtet worden.57 Nach Meinen war das Vorgehen der Wehrmachtsführung längerfristig allerdings darauf angelegt, einen standardisierten Bordellbetrieb für deutsche Soldaten in ganz Europa zu etablieren.58

Dass deutsche Soldaten und SS-Männer in den besetzten Gebieten auch längerfristige Beziehungen suchten, thematisierte 1994 erstmals ausführlich die Historikerin Anette Warring in ihrem Buch »Tyskerpiger– under besættelse og retsopgør«.59 Dabei erforschte sie nicht nur konkrete Verhältnisse von Besatzern und Besetzten, sondern zeigte überdies, wie die Frauen nach Kriegsende im kollektiven Gedächtnis zu Verräterinnen gemacht und ausgegrenzt wurden, um die dänische Gesellschaft symbolisch zu »reinigen«. Auch die Journalistin Ebba Drolshagen hebt in ihrem Buch »Nicht ungeschoren davonkommen. Die Geliebten der Wehrmachtssoldaten im besetzten Europa« hervor, auf welche Weise die betroffenen Frauen Strafaktionen ausgesetzt waren.60 Ihre Studie konzentriert sich allerdings vor allem auf die besetzten Länder in Nord- und Westeuropa. Dass es auch in Osteuropa zu einvernehmlichen Verhältnissen zwischen Besatzern und Besetzten kam, macht Rolf-Dieter Müller in seinem Aufsatz »Liebe im Vernichtungskrieg« zum Thema. Manche Wehrmachtssoldaten schufen sich in den besetzten Gebieten in kürzester Zeit eine Parallelwelt, stellten Heiratsgesuche und hofften, sich dort nach dem Krieg eine neue Existenz aufbauen zu können. Müller legt seiner Untersuchung nicht nur NS-Akten zugrunde, sondern auch Interviews des Filmemachers Hartmut Kaminski mit Nachkommen einheimischer Frauen und deutscher Soldaten.61 Sie haben ihre Väter niemals kennengelernt, sprechen von sich selbst aber als »Kindern der Liebe«.62 Auf welchen lebensgeschichtlichen Sinnstiftungen die Worte beruhen, mit denen diese Menschen das Verhältnis ihrer Eltern beschreiben, kann und soll hier nicht beurteilt werden. Irritierend ist jedoch, auf welche Weise Müller ihre romantisierenden Schilderungen zu seinem Interpretationsrahmen macht: »Haben wir den Mut, uns Romeo und Julia, Kinder verfeindeter Familien also, deren Liebe – nachdem auf beiden Seiten Blut geflossen war – keine Chance hatte, auch in Riga oder Minsk vorzustellen?«63 Müller zieht die tragische Liebesgeschichte der westlichen Hemisphäre heran, um das Schicksal von einheimischen Frauen und deutschen Männern in der Sowjetunion zu illustrieren, die ein intimes Verhältnis eingegangen waren und noch während des Krieges getrennt wurden. In seiner Darstellung ist Liebe eine anthropologische Konstante, ein schicksalhaftes Ereignis, das sich selbst unter widrigen Umständen, in diesem Fall der Kriegssituation, seinen Weg bahnt. Dabei werden die Gefühle der Soldaten und der Frauen verklärt, ohne die Vielfältigkeit der Motivlagen in den Blick zu nehmen. Letztlich entgeht Müller so die Spezifik der Macht- und Gewaltstrukturen, in deren Rahmen die Paare nicht nur Repressalien erfuhren, was er ausführlich beschreibt, sondern die auch für die Beziehungen selbst konstitutiv waren.

Wie dieser Forschungsüberblick bereits andeutet, ist die Quellenlage oft spärlich, und ihre Interpretation stellt die Historikerin vor zahlreiche Probleme. Diese möchte ich im Folgenden sowohl im Hinblick auf die Quellenauswahl als auch mit Blick auf die darin vorherrschenden Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit erörtern.

Quellen

Die Quellen zum Thema sind verstreut und von sehr unterschiedlicher Aussagekraft. Grob lassen sie sich in vier Gruppen einteilen: (1) die zeitgenössischen Selbstzeugnisse und späteren Erinnerungserzählungen deutscher Männer, die als Wehrmachts- oder SS-Angehörige in der Sowjetunion stationiert waren; (2) die Akten der Wehrmacht, insbesondere der Heeressanitätsinspektion, der SS- und Polizeiführer sowie der zivilen Besatzungsbehörden in den »besetzten Ostgebieten«; (3) die Selbstzeugnisse derjenigen, die während des deutschen Vernichtungskrieges in der Sowjetunion aus »rassischen« oder politischen Gründen verfolgt wurden; und (4) die Berichte aus der einheimischen Bevölkerung, deren Position sich im Laufe der Jahre zwischen Kollaboration, Abwarten und Widerstand bewegen konnte.

Die Quellenlage ist insgesamt ausgesprochen lückenhaft. Bei den NS-Akten lassen sich nur wenige Bestände eindeutig dem Thema zuordnen, so etwa die Korrespondenzen und die Diagnosen zu sexuell übertragbaren Krankheiten bei den Amtsärzten. Gleichwohl kann man in nahezu jedem Bestand vereinzelte Hinweise auf sexuelle Zusammentreffen finden. Als besonders diffizil erweist sich die Arbeit mit den Selbstzeugnissen, denn sexuelle Erfahrungen werden bis heute oft verschwiegen – und wenn nicht, sind die Erzählungen meist von Tabus und Skandalisierungen geprägt. In den Beschreibungen der deutschen Männer wirken sexuelle Kontakte zumeist wie harmlose Begegnungen, die nichts mit dem Kriegsgeschehen zu tun hatten. Nur selten spricht ein ehemaliger Soldat den Zusammenhang von Sexualität und Gewalt an – und wenn überhaupt, dann nur aus der Perspektive des Beobachters. NS-Verfolgte sowie Beobachterinnen und Beobachter wählen dafür in der Regel ebenfalls die Zuschauerperspektive. Kaum einmal äußert sich eine Frau oder ein Mann offen über ein sexuelles Zusammentreffen, das sie oder er am eigenen Leib erlebt hat. Die Quellen erlauben in der Regel auch keine Rückschlüsse darauf, ob sich das Geschilderte wirklich auf diese Weise zugetragen hat. Gleichwohl verweisen die Vielfalt und das Ensemble der Quellen darauf, dass solche Dinge geschehen sind.

Die Quellenlage variiert zudem von Gebiet zu Gebiet. Bei dem Territorium, das die Nationalsozialisten in der ehemaligen Sowjetunion besetzten, handelt es sich um eine Vielzahl von Ländern mit zahlreichen Ethnien, Sprachen und Kulturen; manche waren erst kurz zuvor von der UdSSR annektiert worden, und Kollaboration mit den Nationalsozialisten oder Widerstand waren ganz unterschiedlich ausgeprägt. Auch die kulturell und religiös begründeten Vorstellungen vom Geschlechterverhältnis und von sexueller Moral differierten.64 Diese Spezifika beeinflussen bis heute die Art und Weise, wie die sexuellen Zusammentreffen von deutschen Männern und einheimischen Frauen, zu denen es während des Krieges in Estland, Lettland, Litauen, der Ukraine, Weißrussland und Russland gekommen ist, gedeutet und erzählt beziehungsweise verschwiegen werden. Wendy Jo Gertjejanssen, die Interviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen in Lettland und der Ukraine durchgeführt hat, machte die interessante Erfahrung, dass ihre Gesprächspartnerinnen in Lettland vor allem sexuelle Gewalt durch Soldaten der Roten Armee zum Thema machten, während bei den Ukrainerinnen die Vergewaltigungen durch Deutsche und ukrainische Kollaborateure im Vordergrund standen. Diese unterschiedlichen Darstellungen reflektieren nicht unbedingt die historische Realität; sie offenbaren vor allem die Eckpunkte der jeweiligen nationalen Erinnerungskultur.65

Dies schlägt sich auch in der vorliegenden Studie nieder. Da sich Frauen aus den im damaligen Reichskommissariat Ostland (RKO) zusammengefassten baltischen Staaten sowie aus der Ukraine noch am ehesten äußern und es in diesen Gebieten wohl auch häufiger zu sexuellem Tauschhandel und konsensuellen Verhältnissen kam, die in irgendeiner Form aktenkundig geworden sind, konzentriere ich mich in den entsprechenden Kapiteln vor allem auf diese Territorien. Im Kapitel zu sexueller Gewalt stammen die Zeuginnenaussagen dagegen aus allen Kriegsgebieten »im Osten«. Die Namen von Städten und Ortschaften werden dabei in der zeitgenössischen deutschen Umschrift genannt; lediglich in einzelnen Quellen tauchen die jeweiligen nationalen oder jiddischen Bezeichnungen auf.

Um sich der Vielschichtigkeit der Quellen anzunähern, ist es notwendig, sich mit den damals herrschenden Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen auseinanderzusetzen, die die unterschiedlichen Lebenswelten von Männern und Frauen, Besatzern und Besetzten prägten. Die detaillierte Quellendiskussion verbinde ich daher im Folgenden mit einigen grundlegenden Erörterungen über Männlichkeit, Weiblichkeit, Körperlichkeit und Gewalt sowie über die Rolle der Kinder, damals wie heute.

Männlichkeitskonzeptionen

Deutsche Männer reagierten in der Kriegssituation auf unterschiedlichste Weise. Sie deuteten das Geschehen abhängig von gesellschaftlich dominanten Normen oder situativ gebildeten Gruppennormen, von sozialisierten Wertehaltungen, religiösen Überzeugungen, von Erfahrungen, Kompetenzen, Gefühlen, Wünschen et cetera. Entsprechend steckten sie ihre Handlungsräume ab, trafen ihre Entscheidungen und trugen die Konsequenzen ihres Handelns.66 Das gilt auch für ihre Zusammentreffen mit einheimischen Frauen, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird. Manche Männer eiferten dem NS-Ideal des »rassebewussten« Kriegers nach und lebten sexuelle Enthaltsamkeit; andere verfolgten ihre sexuellen Interessen und Wünsche und prahlten mit ihren Erlebnissen; einige Männer empfanden es als unerträgliche Zumutung, am hegemonialen Ideal unerschrockener Männlichkeit gemessen zu werden, und sahen sich erheblich unter Druck gesetzt.67

Zeitgenössische Selbstzeugnisse wie Feldpostbriefe und Tagebücher zählen zu den wichtigsten Quellen, um sich den Erlebnissen der Männer vor Ort zu nähern. Nach Schätzungen sind im Gesamtverlauf des Krieges mehr als 40 Milliarden deutsche Feldpostbriefe zwischen Front und Heimat hin- und hergeschickt worden.68 Ein Großteil wurde von den mehr als drei Millionen Wehrmachtsangehörigen verfasst, die an der deutsch-sowjetischen Front eingesetzt waren.69 Die Briefe bilden die Kriegsverhältnisse nicht direkt ab. Wenn man sich aber bewusst macht, dass sie keine ungefilterten Eindrücke vermitteln, sondern das Kriegsgeschehen durch kulturell tradierte Deutungsmuster verklären, verharmlosen oder verschweigen, erkennt man genau darin ihren Wert: Sie spiegeln die subjektiv erzeugten Sinn- und Identitätskonstrukte der Soldaten wider.70 Ähnliches gilt für die Tagebücher, die in der Regel die Eindrücke von Soldaten mit bürgerlichem Hintergrund beziehungsweise von Offizieren wiedergeben. Die meisten Soldaten, insbesondere Personen aus bildungsfernen Schichten, haben keine entsprechenden Aufzeichnungen gemacht oder hinterlassen. Insofern erlauben Tagebuchschilderungen nur in Ansätzen Verallgemeinerungen.71

Das wichtigste Thema der zeitgenössischen Selbstzeugnisse war laut Klaus Latzel der »unblutige militärische Alltag«, das heißt die täglichen Dienstverpflichtungen sowie das Verhalten der Kameraden und Vorgesetzten beziehungsweise Untergebenen.72 Den Aufzeichnungen lässt sich außerdem entnehmen, dass Körpererfahrungen für die meisten Soldaten einen zentralen Teil ihres Kriegserlebens darstellten. In vielen Feldpostbriefen nehmen physische Strapazen und bis an die Grenzen gehende Verausgabung einen großen Raum ein: endlos scheinende Märsche, der Transport von schwerem Gepäck und Gerät, der Bau von Schanzen et cetera.73 Im Verhältnis zu dieser extremen physischen Anstrengung ließ die Versorgung mit Lebensmitteln häufig sehr zu wünschen übrig, die Mahlzeiten waren eintönig, mitunter nicht sättigend und wenig ausgewogen. Viele Soldaten litten an einer gestörten Verdauung, an Verstopfung und Magenverstimmungen.74 Mitunter wurden die Männer auch ernsthaft krank, bekamen Fieber und magerten stark ab. Als generelles Problem stellten sich die allgemein schlechten hygienischen Bedingungen, der Mangel an Wasser und Seife dar. In vielen Feldpostbriefen und Tagebüchern ist von einem dauernden Kampf gegen Flöhe, Wanzen und Läuse die Rede.75 Direkten Einfluss auf die körperliche Verfassung der Soldaten hatte außerdem das Wetter – die extreme Hitze im Sommer und die zeitweise kaum erträgliche Kälte im Winter.76