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»Lara!«
Sie zuckt zusammen und rutscht in die hinterste Ecke des Bettes. Sie zieht ihre Beine fest an sich, drückt den kleinen Stofflöwen, den sie in der Hand hält, an ihr Gesicht und wiegt sich mit ihm hin und her.
»Ist ja gut, Kleiner!«, flüstert sie. »Noch drei Stunden. Dann ist es vorbei. … Für heute«, fügt sie nach einer winzigen Pause hinzu.
Der kleine Löwe ist der Einzige, der sie versteht, bei ihm darf sie traurig sein und sogar weinen. Sonst ist Weinen verboten.
Mit zittrigen Fingern drückt Lara die Stöpsel ihres iPods ganz fest in ihre Ohren. Sie atmet tief durch, während die leisen Klänge von Händels Harfenkonzert in ihre Ohren schweben und sich von dort in ihrem ganzen Körper ausbreiten.
»Melodien, die direkt aus dem Himmel kommen!«, hat ihre Großmutter immer gesagt. Sie gehören zu Laras Leben, solange sie denken kann. Wenn andere Kinder eine Spieluhr mit Kinderliedern zum Einschlafen über dem Bett hängen hatten, so stand neben Laras Bett ein CD-Player mit den Harfenkonzerten, die ihre Großmutter mit den berühmtesten Orchestern der Welt gegeben hat.
»Lara! Wo bist du? La-ra!«
Die wütende Stimme kommt langsam näher, durchdringt die Schutzmauer der himmlischen Töne, die vergeblich versuchen, alles andere zu verdrängen.
Spätestens jetzt sollte sie aufstehen, ihm entgegenlaufen, die Arme um ihn legen und fröhlich rufen: »Hier bin ich! Ich hab mich doch nur frisch geschminkt.«
Dann würde er sie zufrieden ansehen, ihr vielleicht einen Kuss geben und sagen: »So gefällst du mir, Prinzessin!«
Er liebt sie, aber nur wenn sie fröhlich ist.
»Lara!«
Sie sollte aufstehen, ehe es zu spät ist.
Aber Lara kann nicht aufstehen. Ihre Beine zittern.
Die Tür wird aufgestoßen, Schritte kommen näher, die Bettdecke wird ihr vom Kopf gerissen.
Lara sieht in sein vor Wut verzerrtes Gesicht.
Er reißt ihr die Stöpsel aus den Ohren, wirft sie mitsamt dem iPod auf den Boden und trampelt mit dem Fuß darauf herum. Es knirscht. Der kleine Löwe wird gegen die Wand geschleudert. Dann ist Lara an der Reihe.
Schützend legt sie die Hände vors Gesicht. Dabei weiß sie genau, dass er überall hinschlagen würde, nur nicht ins Gesicht, denn er liebt ihr Gesicht.
»Du hast wunderschöne blaue Augen!«, schwärmt er immer wieder. »Und dazu die kleine Nase und deine roten Lippen!«
Henk gibt sich immer Mühe, sie nicht so zu schlagen, dass es anschließend blaue Flecken gibt.
Dafür ist Lara ihm sehr dankbar. Wie sollte sie die blauen Flecken auch ihren Eltern erklären oder ihren Freundinnen in der Schule? Schon jetzt werden sie in jeder Sportstunde zum Problem. Noch kann sie die Blutergüsse unter dem Trainingsanzug verstecken. Was aber soll sie machen, wenn es wärmer wird und alle anderen ein T-Shirt und kurze Hosen anziehen? Da kann sie kaum mit einer langärmeligen Jacke herumlaufen, ohne dass jemand misstrauisch wird.
Und an allem ist allein sie schuld.
Er schlägt sie ja nur, wenn sie wieder mal eine seiner Regeln verletzt hat. So wie jetzt. Aber das ist schließlich ihr Fehler.
»Du solltest längst wieder unten an der Bar stehen!«, schreit er. »Werner bezahlt dafür, dass du seine Gäste bedienst und nicht dafür, dass du faul im Bett liegst!« Seine Fäuste prasseln auf sie nieder.
Es tut nicht weh, sie hat es ja erwartet. Und was man erwartet, schmerzt weniger.
»Es tut mir so leid!« Laras Augen sind mit Tränen gefüllt.
»Los! Aufstehen!« Er zieht sie an den Haaren aus dem Bett. Lara beißt die Zähne zusammen. Henk hasst es, wenn sie weint. »Los, geh dir das Gesicht waschen. So verheult siehst du scheußlich aus.«
Lara spürt seine Blicke im Rücken, als sie zum Waschbecken geht.
»Vielleicht sollte ich mir eine andere Freundin suchen, eine, die mich wirklich liebt.«
»Nein!« Lara dreht sich zu ihm, ihre Beine zittern vor Aufregung. »Tu das nicht! Ich liebe dich doch!« Die Tränen laufen ihr jetzt über die Backen, obwohl sie weiß, dass sie damit eine weitere Regel verletzt: Weinen ist streng verboten!
»Du liebst mich? Ha! Liebe sieht anders aus! Zurzeit blamierst du mich nur!«
»Bitte, Henk!« Sie legt ihm die Arme um den Hals, drückt sich an ihn.
Er schiebt sie beiseite und geht zur Tür. »In zwei Minuten sehe ich dich unten, sonst war’s das mit uns und der großen Liebe, Prinzessin.«
Lara rennt zum Waschbecken, füllt ihre Hände mit kaltem Wasser und taucht ihr brennendes Gesicht hinein. Make-up, Lippenstift, Wimperntusche. Laras Hände fliegen über ihr Gesicht.
Anschließend sammelt sie die Reste ihres iPods ein. Er war ein Geschenk ihrer Großmutter. Nicht weinen!, befiehlt sie sich, während sie die Teile in den Papierkorb wirft. Sie hebt den kleinen Löwen auf, streichelt ihm über den Kopf und flüstert: »Ab jetzt bleibst du zu Hause. Er wird dir nicht noch einmal wehtun! Das verspreche ich dir!«
Dann eilt sie zur Treppe.
Von unten schallen die lachenden Stimmen der versammelten Gäste herauf. Es ist eine reine Männergesellschaft. Mit einem von ihnen wird sie schon bald wieder nach oben gehen müssen.
Bei dem Gedanken steigt erneut Übelkeit in ihr hoch.
Aber sie wird Henk nicht noch einmal enttäuschen. Er wird mit ihr zufrieden sein. Sie liebt ihn doch und das wird sie ihm beweisen. Heute, morgen und übermorgen. So lange und so oft er das möchte, denn sie liebt ihn doch.