Cover
Weine nicht, Prinzessin!

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Nachwort

Vita

Impressum

1

»Lara!«

Sie zuckt zusammen und rutscht in die hinterste Ecke des Bettes. Sie zieht ihre Beine fest an sich, drückt den kleinen Stofflöwen, den sie in der Hand hält, an ihr Gesicht und wiegt sich mit ihm hin und her.

»Ist ja gut, Kleiner!«, flüstert sie. »Noch drei Stunden. Dann ist es vorbei. … Für heute«, fügt sie nach einer winzigen Pause hinzu.

Der kleine Löwe ist der Einzige, der sie versteht, bei ihm darf sie traurig sein und sogar weinen. Sonst ist Weinen verboten.

Mit zittrigen Fingern drückt Lara die Stöpsel ihres iPods ganz fest in ihre Ohren. Sie atmet tief durch, während die leisen Klänge von Händels Harfenkonzert in ihre Ohren schweben und sich von dort in ihrem ganzen Körper ausbreiten.

»Melodien, die direkt aus dem Himmel kommen!«, hat ihre Großmutter immer gesagt. Sie gehören zu Laras Leben, solange sie denken kann. Wenn andere Kinder eine Spieluhr mit Kinderliedern zum Einschlafen über dem Bett hängen hatten, so stand neben Laras Bett ein CD-Player mit den Harfenkonzerten, die ihre Großmutter mit den berühmtesten Orchestern der Welt gegeben hat.

»Lara! Wo bist du? La-ra!«

Die wütende Stimme kommt langsam näher, durchdringt die Schutzmauer der himmlischen Töne, die vergeblich versuchen, alles andere zu verdrängen.

Spätestens jetzt sollte sie aufstehen, ihm entgegenlaufen, die Arme um ihn legen und fröhlich rufen: »Hier bin ich! Ich hab mich doch nur frisch geschminkt.«

Dann würde er sie zufrieden ansehen, ihr vielleicht einen Kuss geben und sagen: »So gefällst du mir, Prinzessin!«

Er liebt sie, aber nur wenn sie fröhlich ist.

»Lara!«

Sie sollte aufstehen, ehe es zu spät ist.

Aber Lara kann nicht aufstehen. Ihre Beine zittern.

Die Tür wird aufgestoßen, Schritte kommen näher, die Bettdecke wird ihr vom Kopf gerissen.

Lara sieht in sein vor Wut verzerrtes Gesicht.

Er reißt ihr die Stöpsel aus den Ohren, wirft sie mitsamt dem iPod auf den Boden und trampelt mit dem Fuß darauf herum. Es knirscht. Der kleine Löwe wird gegen die Wand geschleudert. Dann ist Lara an der Reihe.

Schützend legt sie die Hände vors Gesicht. Dabei weiß sie genau, dass er überall hinschlagen würde, nur nicht ins Gesicht, denn er liebt ihr Gesicht.

»Du hast wunderschöne blaue Augen!«, schwärmt er immer wieder. »Und dazu die kleine Nase und deine roten Lippen!«

Henk gibt sich immer Mühe, sie nicht so zu schlagen, dass es anschließend blaue Flecken gibt.

Dafür ist Lara ihm sehr dankbar. Wie sollte sie die blauen Flecken auch ihren Eltern erklären oder ihren Freundinnen in der Schule? Schon jetzt werden sie in jeder Sportstunde zum Problem. Noch kann sie die Blutergüsse unter dem Trainingsanzug verstecken. Was aber soll sie machen, wenn es wärmer wird und alle anderen ein T-Shirt und kurze Hosen anziehen? Da kann sie kaum mit einer langärmeligen Jacke herumlaufen, ohne dass jemand misstrauisch wird.

Und an allem ist allein sie schuld.

Er schlägt sie ja nur, wenn sie wieder mal eine seiner Regeln verletzt hat. So wie jetzt. Aber das ist schließlich ihr Fehler.

»Du solltest längst wieder unten an der Bar stehen!«, schreit er. »Werner bezahlt dafür, dass du seine Gäste bedienst und nicht dafür, dass du faul im Bett liegst!« Seine Fäuste prasseln auf sie nieder.

Es tut nicht weh, sie hat es ja erwartet. Und was man erwartet, schmerzt weniger.

»Es tut mir so leid!« Laras Augen sind mit Tränen gefüllt.

»Los! Aufstehen!« Er zieht sie an den Haaren aus dem Bett. Lara beißt die Zähne zusammen. Henk hasst es, wenn sie weint. »Los, geh dir das Gesicht waschen. So verheult siehst du scheußlich aus.«

Lara spürt seine Blicke im Rücken, als sie zum Waschbecken geht.

»Vielleicht sollte ich mir eine andere Freundin suchen, eine, die mich wirklich liebt.«

»Nein!« Lara dreht sich zu ihm, ihre Beine zittern vor Aufregung. »Tu das nicht! Ich liebe dich doch!« Die Tränen laufen ihr jetzt über die Backen, obwohl sie weiß, dass sie damit eine weitere Regel verletzt: Weinen ist streng verboten!

»Du liebst mich? Ha! Liebe sieht anders aus! Zurzeit blamierst du mich nur!«

»Bitte, Henk!« Sie legt ihm die Arme um den Hals, drückt sich an ihn.

Er schiebt sie beiseite und geht zur Tür. »In zwei Minuten sehe ich dich unten, sonst war’s das mit uns und der großen Liebe, Prinzessin.«

Lara rennt zum Waschbecken, füllt ihre Hände mit kaltem Wasser und taucht ihr brennendes Gesicht hinein. Make-up, Lippenstift, Wimperntusche. Laras Hände fliegen über ihr Gesicht.

Anschließend sammelt sie die Reste ihres iPods ein. Er war ein Geschenk ihrer Großmutter. Nicht weinen!, befiehlt sie sich, während sie die Teile in den Papierkorb wirft. Sie hebt den kleinen Löwen auf, streichelt ihm über den Kopf und flüstert: »Ab jetzt bleibst du zu Hause. Er wird dir nicht noch einmal wehtun! Das verspreche ich dir!«

Dann eilt sie zur Treppe.

Von unten schallen die lachenden Stimmen der versammelten Gäste herauf. Es ist eine reine Männergesellschaft. Mit einem von ihnen wird sie schon bald wieder nach oben gehen müssen.

Bei dem Gedanken steigt erneut Übelkeit in ihr hoch.

Aber sie wird Henk nicht noch einmal enttäuschen. Er wird mit ihr zufrieden sein. Sie liebt ihn doch und das wird sie ihm beweisen. Heute, morgen und übermorgen. So lange und so oft er das möchte, denn sie liebt ihn doch.

2

Lara liegt in ihrem Bett und räkelt sich. Sie genießt diese ersten Minuten nach dem Aufwachen, wenn die Erinnerung an den letzten Tag, die letzten Wochen und Monate nur ein verschwommener Nebel ist und der neue Tag noch nicht begonnen hat.

Es sind nur wenige kostbare Minuten, dann hat die Erinnerung wieder in ihrem Körper Platz gefunden, breitet sich darin aus, verdrängt jedes andere Gefühl, jeden Gedanken, sodass Lara bald aus dem Bett springen und flüchten muss.

Neben ihr auf dem Kopfkissen schläft der kleine Stofflöwe. Lara drückt ihn liebevoll an ihr Gesicht und legt ihn dann zwischen ihre Beine, wo sie vom gestrigen Abend angeschwollen ist und ein Brennen spürt.

Schlimmer als das aber brennt ihre Sehnsucht nach Henk. An diesem Samstag hat er keine Zeit für sie.

»Wichtige Geschäfte in Amsterdam«, hat er nur gesagt.

»Kann ich nicht mitkommen?«, hat sie ihn gefragt. Die Vorstellung, ihn zwei Tage nicht zu sehen, ist schrecklich.

Henk hat nur gelacht und sie in den Arm genommen. »Nichts für kleine Mädchen«, hat er gesagt. »Ich bring dir was Schönes mit.«

Die Sonne scheint durch die Vorhänge. Wie gerne wäre Lara mit ihm durch den Park spaziert oder ins Kino gegangen. Einfach nur mit ihm zusammen sein. Lara und Henk.

Nie wieder andere Männer!

Aber sie weiß, dass es Henk nur zusammen mit ihnen gibt. Das hat er ihr schon nach dem ersten Abend in der Bar klargemacht: »Willst du mich, musst du auch mit den anderen ins Bett.«

Das Brennen zwischen ihren Beinen wird unerträglich. Hastig schlägt Lara die Bettdecke zurück. Sie springt auf und läuft ins Badezimmer.

Unter der Dusche lässt sie das warme Wasser über ihren Körper laufen. Wieder und wieder füllt sie die Hand mit der orangefarbenen Duschcreme, die nach frischen Pfirsichen duftet. Sie reibt jeden Quadratmillimeter Haut damit ein und achtet sorgfältig darauf, dass kein Spalt, keine Ritze ungewaschen bleibt.

Sie reibt den frischen Duft in die Poren hinein, reibt und reibt, bis sich ihre Haut rot verfärbt und schmerzhaft brennt. An einigen Stellen mischt sich rotes Blut in den weißen Schaum. Fasziniert beobachtet Lara, wie er sich verfärbt. Dann lässt sie heißes Wasser darüberlaufen. Die Schmerzen tun gut, sie verstärken die reinigende Kraft des Wassers.

Wenn dann das Wasser den rotgefärbten Schaum abspült, verfolgt Lara ihn mit ihren Blicken, bis er im Abfluss verschwindet und mit ihm für kurze Zeit die bösen Erinnerungen und der Albtraum der letzten Nacht.

Dann und nur dann gibt es die wenigen Glückssekunden, dieses Gefühl, wieder ganz sauber zu sein.

Die Mutter hat sich schon über den Verbrauch an Pfirsichduschgel gewundert. »Kaum habe ich eine neue Flasche gekauft, ist sie auch schon wieder leer. Trinkst du das Zeug, Lara?«

»Wenn jemand Verdacht schöpft, werden wir getrennt, Prinzessin. Also sieh dich vor!« Henks immer wiederkehrende mahnende Worte, bei denen jedes Mal ein kalter Schauer über Laras Rücken läuft.

Trennung von Henk, das wäre schlimmer als alle Albträume der letzten Wochen zusammen!

Und so hat sie seit einigen Tagen von ihrem Taschengeld ihren eigenen Vorrat an Pfirsichduschgel angelegt und hinten in ihrem Kleiderschrank versteckt.

Im Haus ist es noch ruhig, die Eltern schlafen morgens länger, weil sie erst spät in der Nacht aus ihrem Restaurant zurückkommen.

Anfangs haben sie sich noch gewundert, dass Lara samstags immer vor ihnen aufsteht, aber inzwischen finden sie es einfach nur schön, sich morgens an einen gedeckten Frühstückstisch zu setzen.

Nachdem Lara Geschirr, Butter und Marmeladen aufgedeckt hat, schnappt sie sich ein Brötchen und setzt sich auf die Terrasse. Schon nach kurzer Zeit haben sich alle Spatzen der Umgebung um sie herum versammelt und schauen erwartungsvoll zu ihr hoch. Sie füttert sie mit Brotkrumen.

Immer wieder schaut sie zwischendurch auf das Display ihres Handys. Keine Nachricht von Henk.

Eine halbe Stunde später erscheint ihr Vater, wie immer eine hektisch-fröhliche Stimmung verbreitend. Kaffeeduft zieht durch das Haus, Brötchen werden im Backofen geröstet.

»Eier mit Speck, Lara, wie immer?«

Wie schön, dass es dies »wie immer« noch gibt. Auch wenn es selten geworden ist.

»Hier, zum Wachwerden! Mit einem besonderen Gruß aus der Küche.« Der Vater stellt Lara den Teller mit Speck und Eiern vor die Nase. Speck und Eier gehören, seit Lara denken kann, zu jedem Samstagmorgen. Wenigstens das hat sich nicht geändert.

Auch die Mutter erscheint frisch geduscht und nach Pfirsich duftend.

Lara stochert in ihren Eiern herum.

»Hast du heute schon etwas vor?«, fragt die Mutter und beißt in ihr Honigbrötchen.

Lara schüttelt den Kopf.

»Du könntest dich mit Meike treffen. Die war schon lange nicht mehr hier.«

»Meike hat schon was anderes vor.« Lara zerrührt die Eier und den Speck.

»Du isst ja gar nicht. Hast du keinen Appetit?«, fragt der Vater besorgt.

»Habt ihr euch gestritten?«, fragt die Mutter, nun ebenfalls besorgt.

»Kind, du musst essen«, meint der Vater. »Du bist schon so dünn geworden. Komm doch nachher mit Meike ins Pfannkuchenhaus. Was hältst du von einem Pfannkuchen mit Pflaumenmus, den isst du doch immer so gerne?!« Für Laras Vater lassen sich alle Probleme mit einem Spezialpfannkuchen lösen.

Aber es gibt wohl keinen, der Henk herbeizaubern kann.

Lara schiebt ihren Teller beiseite. »Ich habe keinen Hunger.«

Sie steht auf und geht aus dem Zimmer.

»Ich mache mir Sorgen!«, hört sie die Mutter hinter sich sagen. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.«

»Ach was, unsere Lara kommt in die Pubertät. Da spielen die Hormone eben verrückt. Das wird schon wieder«, meint der Vater.

Lara steht oben am Fenster und schaut hinaus auf die Straße. Der Nachbar wäscht sein Auto wie jeden Samstag, Frau Pretz fährt mit ihrem Fahrrad zum Markt. Markus, der Nachbarsjunge, führt seinen Hund Gassi. Es ist wie jeden Samstag.

Wo mag Henk jetzt sein? Denkt er an sie, so wie sie pausenlos an ihn denkt?

Sie sieht sein Gesicht vor sich. Er lächelt, so wie er das in letzter Zeit nur noch selten tut.

Wo bist du, Henk? Wann kommst du endlich zurück?

Leise Harfentöne mischen sich in ihre sehnsuchtsvollen Gedanken. Wie von Zauberhand schieben sie das Gesicht von Henk beiseite, weiter und weiter in den Hintergrund, bis es nur noch ein verschwommener Umriss ist und dann ganz verschwindet.

Lara dreht sich wütend zu ihrer Mutter um.

»Warum tust du das? Jetzt hast du ihn vertrieben.«

Aber Laras Mutter hört nicht. Ihre Hände fliegen über die Saiten und so wie die Harfentöne Henks Gesicht verdrängt haben, so verdrängen sie jetzt Laras Wut.

»Zaubertöne«, nannte die Großmutter sie. »Aber das ist auch kein Wunder, denn die Harfe ist das Instrument der Engel.«

Lara setzt sich auf ihr Bett, schließt die Augen und lauscht der Melodie. Händel. Harfenkonzert B-Dur op. 4 Nr. 6. Allegro moderato. Seit Monaten übt sie es. Wird es jemals so klingen wie bei ihrer Mutter oder der Großmutter?

Auch Lara lernt seit sechs Jahren Harfe spielen. Ein anderes Instrument kam nie für sie infrage. Die Großmutter glaubte, dass sie einmal eine ganz Große werden wird.

Die letzten Töne schweben durch das Zimmer. Lara hält den Atem an.

Die Mutter steht auf und streicht ihr über den Kopf. »Es wird alles gut, du wirst sehen. Es gibt solche Phasen, wo man zu nichts Lust hat. Ich kann mir auch Schöneres vorstellen, als den ganzen Tag im Restaurant zu arbeiten.«

Die Eltern verabschieden sich, Lara bleibt wie so oft in letzter Zeit alleine zu Hause.

Ein ganzes Wochenende ohne Henk liegt nun vor ihr. Wie soll sie das nur aushalten? Die Sehnsucht nach ihm ist unerträglich. Immer wieder schaut sie auf ihr Handy. Warum meldet er sich nicht?

Schließlich setzt sie sich an ihre Harfe und fängt an zu spielen. Langsam, dann immer schneller gleiten ihre Finger über die Saiten, die Melodie trägt sie davon. Die Sehnsucht nach Henk lässt sie hinter sich.

3

Das lang ersehnte Lebenszeichen von Henk rauscht erst am Montag ein und dann ausgerechnet mitten in die Mathestunde hinein. Obwohl Lara ihr Handy leise gestellt hat, brummt es in ihrer Schultasche so laut, dass Herr Distel von der Tafel zu ihr hinüberschaut.

Der Lehrer ist sichtlich verärgert, denn es ist nicht das erste Mal, dass Lara ihr Handy verbotenerweise im Unterricht eingeschaltet hat.

»Du kennst die Regel, Lara!« Der Lehrer streckt die Hand aus.

»Lara ist handysüchtig! Die stirbt ohne ihr Handy!«, schreit Martin aus der hintersten Reihe. Die Klasse lacht.

Lara streckt ihm die Zunge heraus, während sie ohne zu protestieren ihr Handy aus der Tasche zieht und es vorne auf das Lehrerpult legt.

»Du kannst es morgen nach der sechsten Stunde im Lehrerzimmer abholen!«

Lara nickt wieder und setzt sich auf ihren Platz.

»Hey, du hättest was sagen sollen!«, flüstert Meike, Laras ehemals beste Freundin neben ihr. »Der Distel ist nicht so. Mit dem kann man reden.«

Lara zuckt die Achseln. »Will ich aber gar nicht! Soll er es doch bis morgen behalten. Ich brauch es nicht.«

Meike schaut sie verwundert an. Das sind ja ganz neue Töne. Seit einigen Monaten kann Lara keine zehn Minuten ohne ihr Handy auskommen. Da hat Martin schon recht, obwohl es unfair war, das vor der Klasse zu sagen.

Alle Freundinnen sind total genervt, weil Lara immerzu aufs Display schaut, ob eine neue SMS von diesem Henk da ist. Henk hier, Henk da, Meike kann es schon nicht mehr hören. Sie gönnt es Lara, dass sie so schrecklich verliebt ist, er sieht ja auch toll aus, aber dafür nimmt er jede einzelne freie Sekunde von Lara in Anspruch, belegt ihre Gefühle und Gedanken so komplett, dass selbst für ihre besten Freundinnen kein Platz mehr ist.

Was niemand weiß: Lara besitzt zwei Handys, eins für jedes ihrer beiden Leben. Auf dem zweiten gibt es nur eine Nummer, es ist ihr Kontakt zu Henk. Und dieses Handy muss sie immer eingeschaltet lassen. Eine seiner Regeln.

Während sich die anderen über ihre Geometrieaufgabe beugen und eifrig Dreiecke und Kreise malen, bückt sich Lara, tut so, als würde sie etwas in ihrer Schultasche suchen, und schaut dabei heimlich auf das Display von Henks Handy.

Die vertraute Nummer mit der inzwischen auch vertrauten Nachricht: »13.35 vor dem Schultor. Beeil dich!«

Endlich! Henk hat sie doch nicht vergessen. Zwei lange Tage hat sie darauf gewartet in der bangen Ungewissheit: Hat er sie – wie mehrfach angedroht – gegen eine andere ausgetauscht? Weil sie ihre Tränen nicht unter Kontrolle hat?

Für Lara ist es unvorstellbar, dass sie jemals einen anderen als Henk lieben könnte, aber sie weiß genau, dass Henk seine Drohung ohne mit der Wimper zu zucken wahr machen würde. So wie er es ja jetzt schon mit der Treue nicht immer so ernst nimmt, wie sie das gerne hätte.

»Männer sind eben so. Das ist normal. Sie können einer Frau nicht treu sein«, hat er erklärt, als sie ihn einmal mit einem anderen Mädchen im Arm gesehen hat. »Das ist wie ein Naturgesetz. Wenn du das nicht ertragen kannst, bist du die Falsche für mich. Außerdem steigst du doch auch mit anderen Männern ins Bett.«

»Aber das will ich doch gar nicht … Ich mache das doch nur … Das tue ich doch nur für dich.« Wieder einmal schossen Lara diese verhassten Tränen in die Augen.