Vorwort
Dieses Buch entspringt einem einzigen bemerkenswerten Gedanken: Was, wenn all die sattsam bekannten Einwände gegen Marx’ Werk falsch sind? Oder, wenn nicht völlig abwegig, so doch in hohem Maße irreführend?
Was nicht heißen soll, dass Marx sich nie geirrt hätte. Ich gehöre nicht zu jenen Linken, die mit frommem Augenaufschlag erklären, alles müsse kritisierbar sein, aber in verstocktes Schweigen verfallen, wenn sie aufgefordert werden, drei Kritikpunkte an Marx zu nennen. Dass auch ich meine Zweifel an einigen seiner Ideen habe, dürfte aus dem vorliegenden Buch zur Genüge hervorgehen. Doch er hatte in so vielen Fragen recht, dass es gute Gründe gibt, sich als Marxist zu bezeichnen. Kein Freudianer wird sich einbilden, Freud hätte nie geirrt, so wenig wie ein Bewunderer Alfred Hitchcocks jede Einstellung und Drehbuchzeile des Meisters gutheißen wird. Ich will nicht beweisen, dass Marx’ Ideen vollkommen sind, sondern nur zeigen, dass sie plausibel sind. Zu diesem Zweck werde ich im vorliegenden Buch die zehn geläufigsten Kritikpunkte an Marx aufgreifen – nicht unbedingt in der Reihenfolge ihrer Bedeutung – und sie einen nach dem anderen zu widerlegen versuchen. Dabei möchte ich zugleich Lesern, die mit seinem Denken nicht vertraut sind, eine klare und verständliche Einführung in sein Werk bieten.
Das Kommunistische Manifest ist als der »zweifellos einflussreichste Text des 19. Jahrhunderts«1 bezeichnet worden. Nur sehr wenige Denker haben – gemessen an Staatsmännern, Naturwissenschaftlern, Soldaten, religiösen Führern und ähnlichen Persönlichkeiten – den Lauf der Geschichte so entscheidend und konkret verändert wie die Autoren dieses Textes. Es gibt keine kartesischen Regierungen, platonischen Guerilleros oder hegelschen Gewerkschaften. Noch nicht einmal Marx’ erbittertster Kritiker würde in Abrede stellen, dass er unser Verständnis der Menschheitsgeschichte verändert hat. Der antisozialistische Denker Ludwig von Mises beschrieb den Sozialismus als die »mächtigste Reformbewegung der Geschichte, de[n] erste[n] ideologische[n] Trend, der nicht auf einen Teil der Menschheit begrenzt ist, sondern von Menschen aller Rassen, Nationen, Religionen und Zivilisationen unterstützt wird«.2 Doch ausgerechnet im Gefolge einer der verheerendsten uns bekannten Krisen des Kapitalismus scheint sich weithin die merkwürdige Überzeugung durchzusetzen, man könne Marx und seine Theorien getrost begraben. Der Marxismus, lange Zeit die theoretisch anspruchsvollste und politisch entschiedenste Kritik dieses Systems, wird heute überheblich als Steinzeittheorie abgetan.
Wenigstens hat diese Krise bewirkt, dass das Wort »Kapitalismus«, das gewöhnlich mit einem Euphemismus wie »Moderne«, »Industrialismus« oder »der Westen« kaschiert wird, wieder in Gebrauch gekommen ist. Man darf davon ausgehen, dass das kapitalistische System in Schwierigkeiten steckt, wenn wir anfangen, über Kapitalismus zu reden. Darin zeigt sich, dass das System nicht mehr als so natürlich wahrgenommen wird wie die Luft, die wir atmen, sondern als das historisch ziemlich junge Phänomen, das er ist. Im Übrigen kann alles, was geboren wird, auch sterben, weshalb Gesellschaftssysteme sich gern als unsterblich ausgeben. Wie ein Anfall von Denguefieber uns unter Umständen eine ganz neue Körperempfindung vermittelt, so kann eine bestimmte Form des sozialen Zusammenlebens in dem Augenblick, da ihr Zusammenbruch beginnt, als das, was sie ist, wahrgenommen werden. Marx hat als Erster das historische Phänomen erkannt, das als Kapitalismus bezeichnet wird – er hat gezeigt, wie es entsteht, welchen Gesetzen es gehorcht und wie es enden könnte. Wie Newton die unsichtbare Kraft entdeckte, die er in seinen Gravitationsgesetzen darlegte, und Freud die Prozesse eines unsichtbaren Phänomens beschrieb, das er Unbewusstes nannte, so enttarnte Marx in unserem Alltag ein verborgenes Geschehen, das er als kapitalistische Produktionsweise bezeichnete.
Im vorliegenden Buch nehme ich kaum Stellung zum Marxismus als Moral- und Kulturkritik, weil diese im Allgemeinen nicht als Einwand gegen den Marxismus dient und daher nicht in den Rahmen passt, den ich mir gesteckt habe. Meiner Ansicht nach sind jedoch Marx’ vielfältige, ausführliche Schriften zu diesem Bereich Grund genug, sich zu seinem Vermächtnis zu bekennen. Entfremdung, die Kommerzialisierung des sozialen Lebens, eine Kultur der Gier, der Aggression, des geistlosen Hedonismus und wachsenden Nihilismus, der ständige Schwund von Sinn und Wert in der menschlichen Existenz: Es ist kaum eine intelligente Erörterung dieser Fragen denkbar, die nicht der marxistischen Tradition verpflichtet wäre.
In der Frühzeit des Feminismus schrieben einige ungeschickte, aber gutwillige angelsächsische Autoren: »Wenn ich men sage, meine ich natürlich men and women.« Entsprechend sollte ich darauf hinweisen, dass ich, wenn ich Marx sage, sehr häufig Marx und Engels meine. Doch die Beziehung zwischen diesen beiden ist eine andere Geschichte.
Ich bin Alex Callinicos, Philip Carpenter und Ellen Meiksins Wood verpflichtet, die eine Fassung dieses Buchs lasen und denen ich unschätzbare kritische Anmerkungen und Vorschläge verdanke.