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Am Ufer der Träume

Inhalt

ERSTES BUCH

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

ZWEITES BUCH

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Vita

Impressum

ERSTES BUCH

IRLAND

»In vielen Gegenden saßen geplagte Menschen auf den Zäunen ihrer verfaulten Gärten, wrangen ihre Hände und beklagten die Zerstörung, die sie ohne Nahrung zurückgelassen hatte.«

Father Matthew, 1846

1

An diesem Morgen verlor Molly ihren Glauben an einen gerechten Gott. Nur ein zorniger Schöpfer, der sich von Irland und seinen Menschen abgewandt hatte, konnte solches Unglück über ihre Heimat bringen. Wie dunkler Nebel, der alles zu ersticken drohte, breitete sich diese unheilvolle Plage aus, vernichtender als der Schwarze Tod, der vor einigen Jahrhunderten in Europa gewütet und ganze Landstriche entvölkert hatte, tödlicher als alle Krankheiten, die man sich vorstellen konnte. Nicht seit den sieben Plagen in der Offenbarung des Johannes war eine solche Strafe über die Menschen hereingebrochen.

Verstört stolperte sie über den Acker hinterm Haus. Alle paar Schritte grub sie eine Kartoffel aus, brach sie auf und starrte auf die schwarzen Flecken in ihrem Inneren, ein sicheres Zeichen dafür, dass die gefürchtete Fäule zurückgekehrt war. Ihre gesamte Ernte war vernichtet, nicht eine einzige gesunde Kartoffel lag in den Erdfurchen, so angestrengt sie auch danach suchte. Nicht auf ihrem Acker und nicht auf den Äckern ihrer Nachbarn. In ganz Irland war in diesem Sommer keine gesunde Kartoffel gereift. Das Todesurteil für Tausende von hilflosen Menschen, wenn nicht ein großes Wunder geschah.

Erschöpft sank sie zu Boden. Sie ließ sich selten entmutigen, war nach dem Verschwinden ihres Vaters als Erste wieder auf dem Getreidefeld gewesen, um die Ernte des englischen Landbesitzers einzuholen, hatte sich nicht einmal von einer schweren Erkältung unterkriegen lassen, die sie während des letzten Winters heimgesucht hatte. Sie würde nicht sterben, hatte sie sich eingeredet, nicht jetzt, und neben ihren täglichen Gebeten auch ein ernstes Wort an ihren Schöpfer gerichtet: »Ich bin noch nicht bereit, o Herr! Ich habe mich bemüht, ein sündenfreies Leben zu führen, und täglich zu dir gebetet, und du hast mich sicher nicht auf die Erde geschickt, damit ich ihr schon nach wenigen Jahren und ohne etwas erreicht zu haben wieder den Rücken kehre. Du hast uns den Vater genommen, das haben wir in stiller Demut ertragen, aber damit sollte es auch genug sein. Ich will meiner Mutter und meiner Schwester helfen, die schwere Prüfung, die du uns aufgebürdet hast, zu bestehen, und ich will ein sinnvolles Leben führen und etwas erreichen. Ich muss wieder gesund werden, o Herr, und ich hoffe doch sehr, dass du mir dabei hilfst!«

Der Herr hatte sie tatsächlich erhört, obwohl er ihre forsche Sprache sicher nicht gutgeheißen hatte, und das Fieber aus ihrem Körper vertrieben. Sie war wieder gesund geworden. Doch die Prüfung war noch schwerer ausgefallen, als sie befürchtet hatte, und nicht einmal eine furchtlose junge Frau wie sie konnte die Tränen zurückhalten, als ihr bewusst wurde, dass die Kartoffelfäule ein zweites Mal ihre Ernte vernichtet hatte. Wie konnte Gott so etwas zulassen? Was bewog ihn, ein ganzes Volk gläubiger Menschen in den Tod zu schicken? Eine zweite Kartoffelfäule würde noch mehr Opfer fordern als die Plage im letzten Jahr und vor den Häusern und in den Straßengräben würden Tausende von Leichen liegen. Sie schluckte ein paarmal heftig, als sie an die vielen toten Kinder dachte, die sie im vergangenen Jahr gesehen hatte.

Die Katastrophe hatte sich schon vor einigen Wochen angedeutet, als sie die ersten schwarzen Blätter auf dem Acker bemerkt hatten. So hatte es auch vor einem Jahr begonnen, im Sommer 1845, nur hatte damals noch niemand gewusst, welche verheerenden Auswirkungen die Kartoffelfäule haben würde. Die gesamte Ernte des Landes hatte die Plage zerstört, ein Unglück gewaltigen Ausmaßes, das unzählige Menschen in den Hunger und den Tod getrieben hatte. Sie lebten von Kartoffeln, hatten selten etwas anderes gegessen, konnten sich weder Fleisch noch Geflügel leisten. Kartoffeln kosteten nichts. Das wenige Getreide, das sie anbauten, und das Fleisch von ihren Schweinen forderte der englische Besitzer ihrer Farm als Pacht. In regelmäßigen Abständen tauchte ein Mittelsmann von Sir Robert Bourke bei ihnen auf und kassierte. Nicht genug, wie er bei seinem letzten Besuch betont hatte.

Sie hatten Glück gehabt, anders als viele ihrer Nachbarn, die keinen Penny gespart hatten und ihre Farm verlassen mussten. Einige waren in die Armenhäuser geflohen, andere nach Amerika oder Australien ausgewandert und zu viele auf den Straßen am Hunger gestorben. Sie hatten die wenigen Pennys, die ihnen geblieben waren, für den Mais ausgegeben, den die Regierung aus Amerika herangeschafft hatte. Einen ganzen Penny hatten die Halsabschneider für das Pfund verlangt. Keiner war das seltsame Gemüse gewohnt und sie hatten alle Durchfall davon bekommen, sich nur allmählich an den eigenartigen Geschmack gewöhnt. Doch der Mais hatte sie vor dem Hungertod gerettet.

Dann war das importierte Gemüse immer teurer geworden und im Juni ganz ausgeblieben. Seitdem lebten sie von Wurzeln und Waldbeeren, die Molly und ihre vier Jahre jüngere Schwester Fanny in den Wäldern sammelten. Ihre Mutter arbeitete von früh bis spät auf den Äckern. Ihr Vater war nach der ersten Kartoffelfäule fortgegangen, angeblich um beim öffentlichen Straßenbau im Norden ein paar Pennys zu verdienen, war aber nicht zurückgekehrt. Entweder war er gestorben oder er hatte seine Familie im Stich gelassen. Molly vermisste ihn kaum. Er war ein ungerechter und jähzorniger Mann, der die Schuld immer bei anderen gesucht und seinen ganzen Zorn an ihrer Mutter ausgelassen hatte. Sie hatten seinen Namen schon lange nicht mehr erwähnt.

Molly rieb sich die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Wütend warf sie die verfaulte Kartoffel auf den Boden. Ihre blasse Haut und ihre rötlichen Haare leuchteten in der schwachen Sonne. Auch die Hungersnot hatte es nicht geschafft, den feurigen Glanz aus ihren grünen Augen zu vertreiben, ein Beweis für ihr zuweilen ungezügeltes Temperament, das sie öfter mal über das Ziel hinausschießen ließ und zahlreiche junge Männer erschreckte, die ihr sonst vielleicht den Hof gemacht hätten. Ihr Körper war ausgemergelt von den Entbehrungen der letzten Monate, doch mit etwas Fantasie konnte man sich gut vorstellen, wie attraktiv sie bei ausreichender Ernährung und in einem sauberen Kleid aussehen würde. Nicht so verführerisch wie ihre Schwester, die jedem männlichen Wesen den Kopf verdrehte, das musste sie selbst zugeben, aber hübsch genug, um von den Männern bewundert zu werden.

Verächtlich trat sie mit den nackten Füßen auf die verfaulte Kartoffel. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, deuteten an, dass sie noch immer stark genug war, um sich gegen ihr Schicksal aufzulehnen. Aber was war mit ihrer Mutter, die in letzter Zeit noch anfälliger für Krankheiten geworden war? Was mit ihrer Schwester, die wesentlich schwächer als sie war und kein weiteres Jahr ohne ausreichendes Essen durchhalten würde? Im letzten Jahr hatte sie der Mais durch den Winter gebracht, aber woher sollten sie diesmal etwas zu essen bekommen? Ihre kargen Ersparnisse waren aufgebraucht und während der kalten Jahreszeit kamen sie weder an Wurzeln noch an Waldbeeren heran. Die Engländer hassten die Iren und würden ihnen bestimmt nicht helfen.

Sie kehrte zum Haus zurück, einer armseligen Hütte ohne Fenster, die ihr Vater aus Lehm und Schottersteinen erbaut und mit einem undichten Dach aus Grassoden versehen hatte, das kaum den Regen abhielt. Sie wohnten und schliefen im einzigen Raum, zusammen mit den beiden Schweinen, die der Mittelsmann des Landbesitzers in Kürze abholen würde, schwitzten im Sommer und froren im Winter und atmeten die stickige Luft, die sich vor allem nachts darin sammelte. Es war ihnen streng verboten, einen der Bäume auf ihrem Land zu fällen, und man hätte sie ins Gefängnis geworfen oder in eine Sträflingskolonie nach Australien geschickt, wenn sie sich an dem Futter für die Schweine vergriffen oder eines der Tiere geschlachtet hätten. Nicht einmal das schäbige Haus gehörte ihnen, obwohl ihr Vater es eigenhändig erbaut hatte. Katholiken durften keinen Besitz haben.

Ihre Mutter und ihre Schwester erschienen vor der Tür und erkannten wohl schon von Weitem, dass sie keine gesunde Kartoffel gefunden hatte. Also würde es wieder nur den wässrigen Wurzelsud geben, von dem sie schon die ganze Woche aßen und der jeden Tag dünner wurde. Die Hoffnung, dass eine oder mehrere Kartoffeln von der Plage verschont geblieben waren, würden sie dennoch nicht aufgeben und Molly würde auch am nächsten Morgen wieder die Furchen ihres Ackers ablaufen.

»Nichts«, sagte sie, als sie in Hörweite ihrer Mutter und Schwester war.

Ihre Mutter nickte schwach. Das Feuer in ihren Augen war längst erloschen und sie wirkte wesentlich schwächer und ausgezehrter als ihre Töchter. Ihr Gesicht, das noch vor wenigen Jahren hübsch und gesund ausgesehen hatte, war eingefallen und unter ihrem zerfledderten Kleid standen die Knochen hervor. Ihre Haare hatte sie notdürftig zu einem Knoten gebunden.

»Die ganze Ernte?«, fragte Fanny. In ihren großen und ausdrucksvollen Augen, die selbst erwachsene Männer verzauberten, stand die nackte Angst. Sie trug ein schäbiges Kleid, das knapp über ihre Knie reichte, und schien ihre Haare in dem nahen Bach gewaschen zu haben. Sie waren noch nass und hingen bis auf ihre Schultern hinab. »Wird es so schlimm wie letztes Jahr?«

Molly legte einen Arm um ihre Schultern und drückte ihre Schwester fest an sich. Fanny konnte sehr erwachsen sein, besonders in der Gegenwart von jungen Männern, wenn sie sich beinahe kokett benahm, ihre nackten Knöchel unter dem Kleid sehen ließ oder einen ihrer Verehrer mit einem unschuldig erscheinenden Lächeln um den Finger wickelte. Eine Fähigkeit, die ihr der Herr in die Wiege gelegt haben musste. In diesem Augenblick wirkte sie etliche Jahre jünger und so ängstlich und hilflos, dass Molly sie mit einer Floskel beruhigte: »Es gibt immer einen Weg, Fanny! Wir schaffen das!«

Sie setzten sich an den einfachen Holztisch, den sie bei einem Händler im nahen Castlebar gegen einige Pfund Kartoffeln eingetauscht hatten, und füllten ihre hölzernen Näpfe mit Wurzelsud. Molly verzog das Gesicht. Sie würde sich nie an diesen Geschmack gewöhnen, aß die Suppe nur, weil sie Hunger hatte und es weit und breit nichts anderes gab. Sie hätte nie gedacht, dass sie sich einmal nach Kartoffeln sehnen würde. Allein der Gedanke an eine gekochte Kartoffel mit Butter ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Von draußen drang der Hufschlag mehrerer Pferde herein. Er verstummte vor ihrer halb geöffneten Tür. Eine männliche Stimme, die ihr nur zu vertraut war, befahl rüde: »Rose Campbell! Komm raus! Ich habe mit dir zu reden!«

Molly beobachtete, wie ihre Mutter zusammenzuckte und die Hand mit dem Löffel sinken ließ, dann aufstand und zur Tür ging. Molly und Fanny folgten ihr zögernd. Die Stimme verhieß nichts Gutes, sie gehörte dem Mittelsmann, der jeden Monat kam, um die Pacht für den Landbesitzer zu kassieren.

Er hieß James Whitmore, ein ehrgeiziger Mann in mittleren Jahren, der zum Board of Guardians in ihrer Grafschaft gehörte. Als Mitglied dieses Gremiums war er auch für das Wohlergehen der armen Leute verantwortlich, zeigte sich aber nur daran interessiert, das Vermögen und den Besitz von Sir Robert Bourke zu vermehren, der ihn für seine Mühe angemessen entlohnte und versprochen hatte, ihm seine Tochter zur Frau zu geben. Sir Robert Bourke lebte in England und dachte nicht daran, seinen Fuß auf irischen Boden zu setzen. In seinen Augen waren alle Iren minderwertige Taugenichtse.

»Rose Campbell«, rief Whitmore von seinem Rappen herab. Mit ihm waren vier einfach gekleidete Männer gekommen, die unruhig auf ihren Pferden verharrten. »Im Namen von Sir Robert Bourke befehle ich dir, dieses Anwesen unverzüglich zu verlassen!« Er blickte auf die beiden Schweine, die laut quiekend aus dem Haus drängten. »Da die eher karge Getreideernte und das Fleisch der Schweine kaum die Pacht für einen Monat decken, erklärt er sich in seiner Großzügigkeit bereit, dir die restlichen Schulden zu erlassen.«

Rose Campbell musste sich am Türbalken festhalten. Sie war noch blasser geworden als bisher und Molly trat rasch an ihre Seite und stützte sie, bevor ihre Beine nachgeben konnten. »Aber ... aber wir können hier nicht weg! Wo sollen wir denn hin? Geben Sie ... geben Sie uns eine Chance, Sir! Sobald die Plage vorbei ist, können wir Getreide anbauen und die Ernte fällt sicher besser aus. Sie dürfen uns nicht wegschicken, Sir!«

Molly ahnte, wie schwer es ihrer Mutter fiel, sich vor dem eingebildeten Mittelsmann zu erniedrigen. Bis zur ersten Kartoffelfäule war sie eine starke und selbstbewusste Frau gewesen, die auch nicht davor zurückgeschreckt war, ihrem Ehemann die Meinung zu sagen. Erst seit sie keine Kartoffeln mehr hatten und sie kaum noch etwas aß, wirkte sie schwach und fing sich schon beim leisesten Windhauch eine Erkältung ein. Wäre sie allein gewesen, hätte sie Whitmore wahrscheinlich wortlos gehorcht. Nur ihr mütterlicher Instinkt ließ sie um Gnade bitten ... ihren beiden Töchtern zuliebe.

»Kommt gar nicht infrage!«, beschied ihr der Mittelsmann. In seinem langen Mantel mit dem breiten Schulterkragen und dem Zylinder sah er wie ein Edelmann aus. »Sir Robert Bourke hat entschieden, auf den Wiesen dieses Anwesens eine Rinderzucht zu beginnen, und denkt nicht daran, sich mit zwei mageren Schweinen und einem Getreidefeld zu begnügen. Er strebt nach Höherem. Und jetzt nimm deine Töchter und verlass das Haus! Ohne deinen Mann wärst du sowieso nicht in der Lage gewesen, eine Farm zu führen.«

»Aber das Haus! Es ist ... alles, was wir noch haben.« Sie war den Tränen nahe. »Mein Mann hat es eigenhändig gebaut! Das ... das Haus gehört uns!«

»Irrtum! Nach dem Gesetz gehört auch das Haus dem Landbesitzer.«

»Haben ... haben Sie doch ein Herz, Sir! Lassen Sie uns hier wohnen!«

»Verschwinde!«, herrschte Whitmore sie an. Er berührte den Knauf seiner Reitpeitsche. »Oder willst du, dass ich dir den Rücken blutig schlage?«

Molly sah, wie er seinen Männern ein Zeichen gab und diese mit Äxten und schweren Hämmern aus den Sätteln stiegen. In ihren Gesichtern stand grimmige Entschlossenheit. Sie waren vom gleichen Schlag wie die Männer, die vor einigen Wochen auf einer Nachbarfarm gewesen waren, die Besitzer mit Knüppeln vertrieben und ihre baufällige Hütte dem Erdboden gleichgemacht hatten. Den kargen Besitz der Familie hatten sie vor deren Augen verbrannt. Das Weinen der sieben Kinder glaubte Molly jetzt noch zu hören.

Ihre Gestalt straffte sich und sie stellte sich den Männern in den Weg. Sie handelte instinktiv, ließ der Angst keine Zeit, sich in ihrem Körper auszubreiten. Zum Entsetzen ihrer Mutter, die wohl befürchtete, dass Whitmore zur Peitsche greifen würde, sagte sie: »Warten Sie! Sir ... bitte!« Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie einer der Männer drohend seinen Hammer erhob. »Gestatten Sie uns, den wenigen Besitz, den wir noch haben, mitzunehmen.«

»Was fällt dir ein, dich den Anweisungen des Landlords zu widersetzen?« Seine Hand lag schon wieder auf der Peitsche. »Kommt nicht infrage!« Er wandte sich an seine Männer. »Worauf wartet ihr noch? Reißt das Haus ein!«

»Den Kochtopf, die Essnäpfe und die Löffel!«, rief Molly schnell. »Lassen Sie uns wenigstens diese Sachen! Die brauchen wir im Arbeitshaus!«

Whitmore hielt seine Männer mit einer Handbewegung zurück. »Meinetwegen, holt das Zeug. Und dann verschwindet! Ich habe keine Lust, mir von armseligen Gestalten wie euch den Tag verderben zu lassen. Beeilt euch!«

Molly und Fanny rannten ins Haus zurück. Sie tranken hastig den Rest ihres Wurzelsuds und packten den Kochtopf, die leeren Essnäpfe und die Löffel in die ausgefranste Wolldecke, unter der sie auf ihrem Strohlager geschlafen hatten. Sonst gab es keinen Besitz, den sie hätten retten können. Den halb vollen Essnapf ihrer Mutter trug Molly so behutsam wie möglich nach draußen, um nichts zu verschütten und ihr wenigstens das bisschen lauwarmen Wurzelsud zu gönnen. Wer wusste schon, wann sie wieder etwas zu essen bekommen würden?

»Kümmere dich um Mutter!«, flüsterte sie ihrer Schwester zu.

»Wird’s bald?«, hörten sie Whitmore rufen. »Wenn ihr nicht sofort herauskommt, schlagen wir die armselige Hütte über euren Köpfen zusammen!«

Sie beeilten sich und liefen an den grinsenden Männern vorbei zu dem staubigen Feldweg, der zur Wagenstraße führte. Fanny stützte ihre schwache Mutter. Weniger die barschen Worte des Mittelmanns als die Erniedrigung, einen Engländer um Gnade anflehen zu müssen, hatten den Stolz der einst so selbstsicheren Frau verletzt, und nur die Angst um ihre Töchter hielt sie davon ab, mit bloßen Händen auf Whitmore loszugehen, auch wenn sie wahrscheinlich keine drei Schritte weit gekommen wäre. Doch manchmal war es besser, mit erhobenem Haupt in den Tod zu gehen, als vor dem Feind zu kriechen und um sein Leben zu flehen. Die Worte ihres stolzen Vaters, eines tapferen Soldaten, der im Kampf gegen die verhassten Engländer gefallen war.

Sie hatten gerade erst den Feldweg erreicht, als die Männer begannen, die Wände ihres Hauses einzuschlagen. Das dumpfe Echo der Axthiebe und Hammerschläge trieb mit dem kühlen Morgenwind über die Äcker und Wiesen. Rose Campbell drehte sich nicht um, nur an ihrer verkrampften Haltung erkannte man, welchen Schmerz die Laute in ihr auslösten. Das Haus war keinen Penny wert, das Innere war dunkel und stickig und es gab keine Fenster, die frische Luft hereinließen, aber es war ihr Zuhause, ein sicherer Hort, in dem sie wenigstens vor dem Regen und der Kälte geschützt gewesen waren. Auf der Straße überlebte man nicht lange. Im Winter waren Tausende von Menschen gestorben, weil man sie aus ihren Häusern und von ihren Farmen vertrieben hatte, vor Hunger und Kälte, weil ihnen niemand helfen konnte.

Nur Molly und Fanny drehten sich um. Mit versteinerten Mienen beobachteten sie, wie die Männer mit kräftigen Axthieben und wuchtigen Hammerschlägen den Lehm und die Schottersteine lösten und ihr Haus innerhalb weniger Minuten dem Erdboden gleichmachten. Den Tisch, die Stühle und das Strohlager ließen sie in Flammen aufgehen. Schwarzer Qualm stieg aus den Trümmern empor, wurde vom Wind über die Wiesen und Äcker geweht und verbarg die kärglichen Überreste ihres Heims vor ihren Augen, als hätte der Herrgott seine Hand im Spiel, um ihnen den qualvollen Anblick zu ersparen.

2

Über der Wagenstraße nach Castlebar wölbte sich ein basaltgrauer Himmel und tauchte die grünen Hügel in fahles Licht. Die Sonne war nur noch als blasser Schimmer hinter den dichten Wolken zu erkennen. Auch der Wind hatte aufgefrischt und brachte kühle Luft aus dem Südwesten. Er kroch unter die schäbigen Lumpen, in die sie gekleidet waren, und trieb ihnen eisige Schauer über die nackte Haut. Sie froren wie im tiefsten Winter.

Von der schrecklichen Erkenntnis, dass sie nichts mehr zu essen hatten, und der Vertreibung von ihrer Farm gezeichnet, wandten sie sich nach Nordosten. Der Schmerz hatte sich tief in ihre Seelen gefressen und erstickte jedes Wort, das sich in ihren Gedanken bildete. Rose Campbell trank schweigend ihren Wurzelsud und schaffte mühsam ein Lächeln, als sie Molly den leeren Napf reichte. Sie wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort über die Lippen.

Ohne sich abzusprechen, hielten sie auf das Haus eines ihrer Nachbarn zu, einer Familie mit fünf Kindern, die ungefähr eine halbe Meile entfernt in einem Lehmhaus wohnte. Es war genauso schäbig wie ihre ehemalige Hütte, hatte aber einen Raum mehr und ein kleines Fenster neben der Tür. Statt Fensterglas hatte man eine gegerbte Tierhaut über den Rahmen gespannt. Eines der kleineren Kinder kam weinend ums Haus gerannt und verschwand durch die halb geöffnete Tür, eine Hand gegen die blutende Nase gepresst.

Sie kannten die Familie vom Sehen, waren ihnen vor der Hungersnot auf einem Erntedankfest begegnet und hatten einige Male mit ihnen gesprochen, wenn sie ihnen auf der Wagenstraße begegnet waren. Doch ihre Hoffnung, zwei oder drei Tage bei ihnen unterkriechen zu können, wurde bereits zerstört, als sie noch einige Schritte vom Haus entfernt waren. Die Tür flog so heftig ins Schloss, dass sie erschrocken stehen blieben und nur zögernd weitergingen.

Molly wäre am liebsten sofort umgekehrt, brauchte aber nur ihrer kränkelnden Mutter in die Augen zu blicken, um es dennoch zu versuchen. »Mrs. Rankin!«, rief sie. Den Farmer hatte sie auf dem Acker gesehen. »Ich bin’s ... Molly. Die Engländer haben unser Haus zerstört und uns von der Farm vertrieben. Mutter geht es nicht besonders. Lassen Sie uns bitte rein. Nur für ein paar Tage ... bis es Mutter wieder besser geht. Wir brauchen nicht viel.«

Der Schatten der Farmersfrau tauchte am Fenster auf. Ihre Stimme klang nervös. »Gehen Sie weiter! Wir dürfen niemand reinlassen. Mister Whitmore hat es verboten. Wenn ich Sie reinlasse, geht es uns genauso wie Ihnen.«

»Nur bis morgen früh«, bat Molly.

»Gehen Sie!«, kam die ängstliche Antwort.

Molly bemerkte, dass der Farmer auf sie aufmerksam geworden war und eilig auf sie zukam. Auch er schien nach gesunden Kartoffeln gesucht zu haben. »Verschwindet!«, rief er schon von Weitem. »Runter von unserer Farm!«

Ihnen blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Von der feindseligen Reaktion der Nachbarn überrascht, zogen sie weiter nach Nordosten, über die Wagenstraße in Richtung Castlebar. Die Hauptstadt ihrer Grafschaft lag nur wenige Meilen von ihrer ehemaligen Farm entfernt. Vielleicht würden sie dort etwas Essbares und sogar eine Unterkunft finden. Ins Arbeitshaus würden sie erst gehen, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gab. Man erzählte sich schreckliche Dinge über das Gebäude nördlich der Stadt, schlimmer als in einem Gefängnis sollte es dort zugehen. In Castlebar würden sie vielleicht Arbeit bekommen, in dem Hotel, vor dem die Kutschen nach Dublin hielten, oder im Schlachthaus. Eine Stadt bot mehr Möglichkeiten.

Molly war wieder voller Hoffnung. Zumindest bemühte sie sich um diesen Eindruck, als sie sah, wie niedergeschlagen ihre Mutter und ihre Schwester waren. Sie lief vornweg, die Essnäpfe und Löffel im Kochtopf. Die zerfledderte Wolldecke hatte sie ihrer Mutter um die Schultern gelegt.

»Es wird alles gut, Mutter«, sagte sie zu ihr. »Auf der Farm hätten wir sowieso nicht mehr lange durchgehalten. In der Stadt ist alles besser. Keine Angst, wir finden bestimmt eine Unterkunft. Irgendjemand nimmt uns auf.«

»Ich weiß nicht.« Die Augen ihrer Mutter waren voller Zweifel. »Du hast doch gehört, was die Rankins gesagt haben. Meinst du, Städter reagieren anders? Auch dort haben James Whitmore und sein Board of Guardians das Sagen. Sie wollen nicht, dass mehr Leute in die Stadt kommen. Sie wollen, dass möglichst viele Leute die Grafschaft verlassen, um Geld für Hilfsleistungen zu sparen. Weißt du noch, was der Wanderarbeiter gesagt hat? In den Städten sterben mehr Menschen als auf dem Land.« Sie blieb stehen und blickte nachdenklich in die Ferne. »Ich weiß, ich habe auch nie daran gedacht, in ein Arbeitshaus zu gehen, aber dort hätten wir wenigstens etwas zu essen.«

»Lass es uns erst einmal in der Stadt versuchen, Mutter. Wer weiß, was uns in Castlebar erwartet. Ins Arbeitshaus können wir immer noch gehen.«

Von der vagen Hoffnung beseelt, in Castlebar könnte sich ihr Schicksal tatsächlich zum Besseren wenden, hielten sie weiter auf die Stadt zu. Immer wieder einmal wagte sich die Sonne zwischen den Wolken hervor und ließ die Wiesen zu beiden Seiten der Wagenstraße noch grüner erscheinen, als sie wirklich waren. Inmitten des satten Grüns leuchteten gelbe Butterblumen. Der Anblick der üppigen Natur täuschte darüber hinweg, was für ein Drama sich in dieser pittoresken Umgebung abspielte, und auch Molly, Fanny und ihre Mutter ließen sich von den romantischen Bildern in die Irre führen und waren umso entsetzter, als sie einen Hügel erklommen und die Leichen einer ganzen Familie neben der Straße liegen sahen. Ein Mann, eine Frau, beide jung, und drei kleine Kinder, eins davon noch ein Säugling. Sie waren nackt, anscheinend hatten Bettler und Obdachlose ihre Kleider genommen, und schienen nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Ihre Haut war beinahe schwarz.

»Schwarzes Fieber«, erkannte Rose Campbell. Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Seitdem unzählige Menschen während der ersten Hungersnot an der Krankheit gestorben waren, wusste jeder, dass es keine wirksame Medizin gegen dieses tödliche Fieber gab. »Schnell weiter, bevor wir uns anstecken!«

Doch kaum waren sie über den Hügel hinweg, lagen wieder Tote am Straßenrand, diesmal nur Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, alle um die zehn Jahre alt. Auch diesen Leichen hatte man die Kleider geraubt. Ihre Haut war dunkel und wies mehrere Eiterbeulen und Pusteln auf. Sie schienen noch länger in der Sonne gelegen zu haben. Warum sie niemand eingesammelt hatte, wussten sie nicht. Ihr Anblick war so abschreckend, dass Fanny sich übergeben musste. Sie klammerte sich an ihre Mutter und weinte hemmungslos. »Warum, Mutter? Warum lässt unser Herrgott so etwas zu? Warum mussten diese Menschen sterben? Sie waren noch so jung.« Sie löste sich zögernd von Rose und blickte wieder auf die Leichen, als gehorchte sie einem inneren Zwang. »Jünger als Molly und ich, Mutter! Sie waren viel jünger als wir beide!«

»Gegen das Schwarze Fieber ist kein Kraut gewachsen, mein Kind.«

Der Gestank, der von den Leichen ausging, war beinahe unerträglich. Ein scharfer und ätzender Geruch, der einem den Atem nahm und sich tief in die Haut einzubrennen schien. Selbst an heißen Sommertagen hatte es in ihrer stickigen Hütte niemals so streng gerochen, selbst dann nicht, wenn die Schweine sich entleert hatten. Fanny blieb neben ihrer Mutter und schob einen Zipfel der Wolldecke vor Mund und Nase, auch Molly hielt sich die Nase zu. Ihre Mutter ertrug den Gestank und blickte ahnungsvoll in die Ferne, als hätte sie Angst, hinter dem nächsten Hügel noch Schlimmeres zu entdecken.

Doch dort kamen ihnen nur zwei Männer mit einem Leiterwagen entgegen. In dem Wagen lagen mehrere Decken. »Wir sammeln die Toten ein«, erklärte der Ältere. »Gibt’s da hinten noch Leichen?« Er deutete nach Süden.

Rose Campbell berichtete ihm von den Toten, die sie gesehen hatten. In ihrer Stimme klang Resignation mit, als hätte sie bereits jegliche Hoffnung aufgegeben. »Das Schwarze Fieber hat sie dahingerafft«, sagte sie müde.

»Das Schwarze Fieber, die Cholera, der Hunger ... was macht das für einen Unterschied? Die verdammte Kartoffelfäule ist an ihrem Tod schuld! Die Kartoffelfäule und die Engländer, die uns alles genommen haben, was wir besitzen, und nur darauf warten, dass wir verrecken. Wollt ihr in die Stadt?«

»Gibt es dort Unterkunft? Und etwas zu essen?

Der Mann lachte. »Habt ihr Geld?«

»Wir könnten arbeiten.«

Er schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ihr einen ganzen Sack voll Geld hättet und euch die Finger wund arbeiten würdet, gäbe es in Castlebar nichts zu essen und keine Unterkunft für euch. Wir haben selbst kaum was zu futtern.«

»Vielleicht doch«, hoffte Fanny.

»Vergesst es! Wisst ihr, wie viele Tote wir täglich wegkarren?« Er winkte ab. »Ihr würdet es sowieso nicht glauben. Und das ist erst der Anfang. In ganz Irland gibt es nicht genug Kartoffeln, nicht mal in Dublin, und die Amerikaner schicken auch keinen Mais mehr. Wenn nicht bald was passiert, werden wir alle verhungern. Noch ist es einigermaßen warm und im Wald gibt es Beeren und Eichhörnchen, die man fangen kann, aber sobald der Winter kommt, sieht es hier düster aus. Wenn wir beide ...« Er sah seinen Begleiter an. »... wenn wir keinen Job bei Whitmore hätten, wären wir schon längst über alle Berge. In Australien oder Kanada ... oder in Amerika, da gibt es freies Land und die Engländer sind genauso verhasst wie wir. Geht nach Amerika!«

»Aber die Überfahrt kostet Geld!«

Der Mann blickte Fanny an und leckte sich über die Lippen. »Ihr findet schon eine Möglichkeit, an das Geld zu kommen. Geht nach Amerika, bevor ihr auf unserem Wagen landet.« Er griff nach den beiden Wolldecken, die in dem Leiterwagen lagen, und warf sie ihnen zu. »Hier ... damit ihr nicht erfriert!«

»Sie sind sehr freundlich, Mister.«

»Meine Frau ist am Schwarzen Fieber gestorben.«

Die letzte Meile der Wagenstraße bis zur Stadt war gepflastert, doch die klobigen Steine waren so unregelmäßig gesetzt, dass sie mit ihren nackten Füßen nur schwer Halt fanden. Ihre Fußsohlen waren aufgerissen und bluteten leicht. Besonders Fanny litt unter dem anstrengenden Marsch, obwohl sie noch keine zwei Meilen zurückgelegt hatten. Mehr als Molly hatte sie immer von einem besseren Leben geträumt, ein Edelmann würde sie heiraten, wenn sie ihm nur lange genug schöne Augen machte, und die Aussicht, die nächsten Wochen auf der Straße zu verbringen, ging ihr besonders nahe.

Vor ihnen tauchte die Stadt auf, eine scheinbar wahllos verstreute Ansammlung von Häusern, die inmitten der grünen Hügel noch dunkler und abweisender als sonst aussahen. Wie ein Koloss ragten die Mauern des Schlosses empor, davor erstreckte sich eine große Wiese, der einzige helle Fleck in der Stadt. Auf einem Hügel thronte die wuchtige Christ Church.

Schon als sie sich der Stadt näherten, merkten sie, wie recht der Leichensammler mit seinen Worten gehabt hatte. Selbst die Türen des Krankenhauses am Ortsrand wurden von unsichtbaren Händen verschlossen und verriegelt, als sie darauf zugehen wollten. Wie ausgestorben lag die Hauptstraße vor ihnen. Alle Türen waren verschlossen, weder spielende Kinder noch Schweine, Hühner oder Hunde waren vor den Häusern zu sehen. »Geht weg, geht weg!« Der hysterisch klingende Ausruf eines Mannes waren die einzigen Worte, die sie hörten. Nur wenige Schritte vor ihnen fiel ein Tor ins Schloss.

»Hier haben wir nichts verloren«, sagte Rose Campbell leise.

Molly wollte noch nicht aufgeben. Sie deutete zur Kirche empor. »Der Pfarrer! Der Pfarrer ist ein Christenmann! Er darf uns die Hilfe nicht verwehren. Denkt an die Geschichte von Maria und Josef. Er gibt uns ein Quartier.«

Tatsächlich antwortete der hagere Mann auf ihr Klopfen, aber als er eine der beiden schweren Kirchentüren öffnete und sie dahinter die wimmernden Kranken liegen sahen, brauchte er nicht einmal etwas zu sagen, um sie zum Weitergehen aufzufordern. Über hundert, vielleicht sogar mehr Kranke, die meisten mit dunklen Flecken auf der Haut, lagen auf einfachen Strohlagern und blinzelten stöhnend in ihre Richtung, als das helle Tageslicht in die Kirche fiel.

»Wir haben keinen Platz mehr«, sagte der Pfarrer, »nicht einmal für die Kranken. Das Arbeitshaus nimmt sie nicht auf. Geht weiter und versucht es woanders. Gott möge euch auf eurem Weg begleiten.« Er schlug ein Kreuz.

»Es gibt keinen Gott«, erwiderte Fanny zum Entsetzen ihrer Mutter. »Wenn es einen gäbe, würde er niemals solches Leid zulassen.« Sie blickte auf die wimmernden Kranken, presste die Lippen zusammen, als sie bemerkte, wie ein alter Mann stöhnend und mit ausgestreckten Armen auf sie zukroch, und wandte sich rasch ab. »Warum, Herr Pfarrer? Warum das alles?«

»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, zitierte der Pfarrer aus der Bibel. Auch er schien keine einleuchtende Erklärung für das viele Leid zu haben. »Selbst Jesus Christus musste leiden, bevor er das Paradies betreten durfte. Vertraut ihm, meine Schwestern! Gott ist stark und mächtig genug, um uns von diesem Übel zu erlösen. Betet zu ihm, betet den Rosenkranz, und er wird uns das Licht schicken, das am Ende dieses dunklen Weges auf uns wartet.«

»Amen«, erwiderte Rose Campbell rasch.

Sie verabschiedeten sich mit einem Kopfnicken von dem Pfarrer und stiegen den Hügel zur Straße hinab. Auf der Hauptstraße wandten sie sich nach Norden. Vom Schlachthaus trieb beißender Gestank herüber, nicht viel besser als der Geruch, der ihnen aus der Kirche entgegengeströmt war. Alles Fleisch, das dort verarbeitet wurde, wanderte auf die Frachtschiffe nach England. Soldaten begleiteten jeden Transport, um ihn vor Überfällen hungriger Bürger zu beschützen. Einen solchen Überfall hatte es im vergangenen Jahr gegeben, zwei Angreifer waren verwundet liegen geblieben und später gestorben. Auch das wussten sie von dem Wanderarbeiter, der eine Weile bei ihnen untergekrochen war und ihnen aus der Zeitung vorgelesen hatte. Seltsamerweise konnte er lesen, für einen Mann seines Standes eine Seltenheit und ein Glücksfall für Molly und Fanny, die einiges von ihm gelernt hatten. »Und was nützt euch das, wenn ihr mit einem einfachen Farmer verheiratet seid?«, hatte ihre Mutter gefragt. »Lernt lieber, wie man eine Hose oder Jacke stopft.«

Weder Molly noch Fanny hatten vor, einen Farmer zu heiraten, und sagten lediglich: »Schaden kann es nicht.« Fanny träumte von ihrem Edelmann und Molly war sich nicht sicher, ob sie überhaupt jemals heiraten würde. Sie war mit ihren zweiundzwanzig Jahren schon beinahe über das Alter hinaus, in dem eine junge Frau normalerweise heiratete, und hatte auch nie verstanden, warum manche Frauen einen Mann ehelichten, nur um ausreichend versorgt zu sein. Spielten denn Liebe und Zuneigung überhaupt keine Rolle? Sie hatte sich geschworen, nur einen Mann zu heiraten, den sie wirklich liebte. »Und von was willst du dann leben?«, hatte ihre Mutter gefragt. »Glaubst du vielleicht, eine alleinstehende Frau bekommt Arbeit und Unterkunft?« Auf diese Frage wusste Molly noch keine Antwort.

Sie ließen die Stadt hinter sich und liefen über die Wagenstraße weiter nach Norden. Die Sonne stand bereits im Westen und kam kaum noch hinter den dichter werdenden Wolken zum Vorschein. Dunkle Schatten lagen über den sanften Hügeln, die sich rings um die Stadt erhoben. Wie ein stummer Wächter ragte der Croagh Patrick im Westen empor, ein mächtiger Berg, in dessen Höhlen gefährliche Ungeheuer leben sollten, so erzählte man sich in der Gegend. Die Straße, eine halbe Meile vor der Stadt nicht mehr gepflastert und nicht mehr als ein holpriger Feldweg, wand sich in zahlreichen Kurven über die Hügel und führte auf einen Wald zu, der seit vielen Jahren als Unterschlupf für Wegelagerer und Strauchdiebe galt. Einen anderen Weg gab es nicht. Abseits des Waldes erstreckte sich violettes Moorgras bis in die Ferne.

Doch Molly, Fanny und ihre Mutter erschreckte ein ganz anderer Anblick. Ungefähr eine Meile nördlich von Castlebar erhoben sich die dunklen Mauern des Arbeitshauses. Drei spitze Giebeldächer krönten das breite Eingangsgebäude, dahinter ragten die Dachfirste von zwei weiteren Gebäuden hervor, beide durch schmale Verbindungsbauten mit dem Frontgebäude verbunden. Nicht einmal Rose Campbell war bisher so weit nördlich der Stadt gewesen, obwohl sie schon seit ihrer Kindheit in der Grafschaft lebte, und zeigte sich ähnlich betroffen wie ihre Töchter, die mit großen Augen auf das Gebäude blickten.

»Es ist ... so groß«, flüsterte Fanny.

»Wie ein Gefängnis«, sagte Molly.

Sie gingen langsam an dem Arbeitshaus vorbei. Die Gebäude waren von einer hohen Ziegelmauer umgeben, welche die Bewohner nicht am Verlassen des Arbeitshauses hindern, sie vielmehr vor den Blicken der Städter verbergen sollte, die sich durch ihre Gegenwart belästigt fühlten. Das erfuhren sie aber erst später, als sie selbst zu den Insassen gehörten. Vor dem Haupteingang, über dem etwas in großen Lettern stand, das auch Molly und Fanny nicht entziffern konnten, lagerten mehrere Familien und warteten auf Einlass. In ihren Lumpen waren sie nur unzureichend gegen Wind und Wetter geschützt. Die meisten stöhnten vor Schmerzen und lagen erschöpft auf dem nackten Boden, den Blick verzweifelt auf den Eingang des Hauses gerichtet.

Etwas abseits und anscheinend zu schwach, um das Eingangstor zu erreichen, entdeckte Molly eine junge Mutter mit ihrem Baby. Sie hockte im Gras und presste den kleinen Körper in einen schmutzigen Lumpen gewickelt an ihre Brust. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, die Haut war fleckig und am Hals und im Gesicht entzündet, die Haare schmutzig und strähnig. »Mein Baby! Mein Baby!«, flüsterte sie monoton vor sich hin. »Mein Baby, mein Baby!«

»Was ist mit dem Baby?«, fragte Molly freundlich.

»Gott hat uns verlassen.«

Molly zog vorsichtig einen Lumpen vom Kopf des Babys und sah, dass es tot war. Seine Haut war schwarz verfärbt, sein Körper so ausgemergelt und mager, dass es kaum noch als menschliches Wesen zu erkennen war. Vorsichtig deckte Molly den Kopf wieder zu. »Es tut mir leid«, sagte sie zu der Frau. In einer spontanen Geste nahm sie ihre Wolldecke herunter und legte sie der Mutter um. Mit den dunklen Flecken hatte auch sie nicht mehr lange zu leben.

Benommen kehrte sie zu ihrer Mutter und ihrer Schwester zurück. Sie umarmte die beiden. »Das Arbeitshaus lässt keine Kranken herein«, sagte sie.

»Gott sei ihren armen Seelen gnädig«, erwiderte ihre Mutter.

3

Der Anblick der vielen Kranken, die nicht in dem Arbeitshaus bleiben durften, stimmte die drei Frauen traurig. In der Gewissheit, nichts für die armen Menschen tun zu können, liefen sie weiter, darum bemüht, ihr Jammern und Stöhnen so schnell wie möglich aus den Ohren zu bekommen.

Molly fror ohne ihre Wolldecke, ließ sich aber nichts anmerken. Sobald sie den Wald erreicht hatten, würden sie vor dem frostigen Wind geschützt sein. Während der ersten Hungersnot sollte es Menschen gegeben haben, die den ganzen Winter im Wald verbracht hatten, sich von Nüssen und Eicheln, Kräutern und getrockneten Beeren, sogar von Brennnesseln ernährt und tatsächlich überlebt hatten, auch wenn einige krank geworden und im Frühjahr gestorben waren. So hatte man es sich jedenfalls auf dem Marktplatz erzählt. Bis sie sich im Klaren darüber waren, wie sie vorgehen sollten, würden sie ihr Lager im Unterholz aufschlagen und darauf hoffen, dass der Winter noch eine Weile auf sich warten ließ, auch wenn der kühle Wind das Gegenteil ankündigte.

»Ich will nicht ins Arbeitshaus«, entschied Fanny, noch bevor sie den Wald erreichten. »Wenn du da mal drin bist, kommst du nie wieder raus. Du musst von morgens bis abends die größten Drecksarbeiten verrichten, und wenn du gegen ihre Vorschriften verstößt, sperren sie dir das Essen oder sie peitschen dich aus und werfen dich in ein Verlies. Hab ich jedenfalls gehört.«

»Die Leute reden viel.« Rose Campbell, die vor einigen Stunden noch dafür gewesen war, das Arbeitshaus aufzusuchen, war sich nicht mehr sicher. Auch ihr lastete der Anblick der vielen Kranken schwer auf der Seele. Gab es denn keine Krankenstation im Arbeitshaus? Setzten sie einen auf die Straße, wenn man zu schwach zum Arbeiten war? »So schlimm ist es sicher nicht.«

»Ich hab eine bessere Idee«, sagte Molly. Die Begegnung mit der jungen Mutter und ihrem toten Baby hatte sie traurig gestimmt, ihr aber nicht den Willen genommen, sich gegen die Hungersnot aufzulehnen. »Wir übernachten im Wald und ziehen morgen zum Croagh Patrick weiter. In seinen Ausläufern soll es Höhlen geben. Wenn wir ein Feuer in Gang kriegen und was zu essen finden, können wir dort wochenlang durchhalten. Da sind bestimmt noch andere Farmer. Sobald wir erfahren, dass neuer Mais aus Amerika gekommen ist, gehen wir in die Stadt und holen uns Vorräte für den Winter.«

»Und wie willst du das anstellen?« Ihre Mutter war skeptisch. »Wir haben kein Geld mehr, um Mais zu kaufen. Umsonst geben die Engländer ihn bestimmt nicht her. Vier Pennys das Pfund haben sie letzten Winter verlangt. Wir besitzen nicht mal einen. Damit kommen wir nicht weit, Molly.«

Molly erkannte, wie wenig Hoffnung ihre Mutter hatte, und versuchte, sie mit einem Lächeln aufzumuntern. Es fiel ihr schwer. »Wer weiß, was bis dahin passiert, Mutter. Vielleicht geben sie uns Kredit. Oder es gibt irgendwo öffentliche Arbeit. Sie können nicht ein ganzes Land verhungern lassen.«

»Weißt du, wie viele Menschen schon gestorben sind? Tausende, vielleicht sogar mehr.« Ihre Mutter war stehen geblieben und blickte nachdenklich in die Ferne. »Die Engländer sind zu allem fähig. In dem Krieg, in dem mein Vater, euer Großvater, fiel, haben wir unser ganzes Land an sie verloren und sie haben Gesetze erlassen, durch die uns kaum noch Luft zum Atmen bleibt. Wenn es nach ihnen ginge, könnten alle Iren verhungern oder erfrieren. Es kümmert sie nicht. Ihr habt doch erlebt, wie sie uns behandeln. Es macht ihnen Freude, uns zu schikanieren. Wir sind schlimmer dran als Sklaven.«

Molly musste ihr recht geben, sagte aber: »Wir finden einen Weg, Mutter. Fanny und ich arbeiten irgendwo, bis wir das Geld für die Vorräte zusammenhaben. Für ein paar Tage bekommen wir sicher Arbeit. Und wenn es keinen Mais gibt, besorgen wir die Vorräte irgendwo anders.« Ihre Worte klangen so entschlossen und bestimmt, dass sie selbst daran glaubte. »Bei den Höhlen gibt es genug Holz, das reicht für den ganzen Winter. Keine Sorge, Mutter!«

Auch Fanny war wieder besserer Stimmung. Sie lächelte sogar, als wäre ihr gerade erst eingefallen, wie man noch leichter an die Vorräte kommen könnte. »Wir lassen uns nicht unterkriegen, Mutter! Schon gar nicht von den Engländern! Die Zeiten bleiben nicht immer so schlecht, und wenn die Kartoffelfäule endlich vorbei ist und wir wieder gute Ernten haben, bekommen wir sicher eine neue Farm. Wir haben es ohne Vater geschafft. Vor der Fäule hatten wir eine bessere Ernte als alle Nachbarn. Und so wird es wieder sein.«

Sie marschierten weiter auf den Wald zu. Molly immer noch voraus, den Blick nachdenklich in die Ferne gerichtet. Ihre Schwester und ihre Mutter wenige Schritte hinter ihr. Fanny hatte einen Arm unter die Achsel ihrer Mutter geschoben, stützte sie und gab ihr etwas von ihrer Wärme ab. Rose Campbell wirkte nach den Worten ihrer Töchter hoffnungsvoller, war aber zu schwach für den langen Marsch und brauchte Hilfe, obwohl sie das niemals zugegeben hätte. Sie hatte weniger gegessen als Molly und Fanny, die ganzen letzten Wochen schon, und auf vieles verzichtet, um das Überleben ihrer Töchter zu sichern. Molly und Fanny waren jung und hatten ihr Leben noch vor sich. Wenn der Herrgott jemanden zu sich rief, wollte sie sich freiwillig melden.

»Wisst ihr noch, was der Leichensammler gesagt hat?«, fragte Molly nach einer ganzen Weile. Sie drehte sich zu Fanny und ihrer Mutter um. »Amerika ... wir sollten nach Amerika auswandern. Dort gibt es genug zu essen.«

»Und die Überfahrt kostet drei oder vier Pfund.« Rose Campbell war froh, als sie einen Augenblick stehen blieben und sie sich etwas ausruhen konnte. »So viel Geld hatten wir nicht mal in guten Zeiten. Und wer sagt uns denn, dass das Leben dort wirklich besser ist? Auch dort müssten wir hart arbeiten, wahrscheinlich härter als hier. Wisst ihr, wie man ein Haus baut? Kennt ihr eine Bank, die einer Frau einen Kredit geben würde?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir müssten schon einen Mann bei uns haben, einen starken Mann, der sich vor nichts fürchtet und zupacken kann. Ich bin schon zu alt, um mich noch einmal zu binden, außerdem würde mich keiner mehr nehmen. Und ihr ...« Sie betrachtete ihre Töchter. »Ihr seid hübsch und ihr fürchtet euch nicht vor harter Arbeit, aber die Männer haben im Moment andere Sorgen.«

»Wer weiß«, sagte Fanny lächelnd. »Ich würde bestimmt einen rumkriegen. Habt ihr gesehen, wie mich der Leichensammler angesehen hat? Der hätte garantiert einen Penny bezahlt, um mich anfassen zu dürfen. Und der Wanderarbeiter, der bei uns war?« Sie lachte. »Der hatte nur Angst, weil du ihn so scharf angesehen hast, Mutter. Sonst hätte er es bestimmt versucht.«

»Fanny!«, wies Rose Campbell ihre Tochter zurecht. Zum ersten Mal, seit sie die Farm verlassen hatten, straffte sich ihre Gestalt. »So etwas darfst du nicht sagen. Wer sich für Geld von einem Mann anfassen lässt, ist nicht besser als die –« Sie brach mitten im Satz ab. »Du weißt, was ich meine.«

»Und wenn wir dafür nach Amerika kämen?«

»Ich will so etwas nicht mehr hören, Fanny!« Die Stimme ihrer Mutter klang erstaunlich fest. »Du weißt, wie unser Herrgott über so etwas denkt. Ich erwarte, dass du deine sündigen Gedanken beichtest. Ich weiß nicht, ob es uns jemals gestattet sein wird, wieder eine Kirche zu betreten, aber du wirst dich an meine Worte erinnern und unseren Herrgott um Verzeihung bitten.«

»Ich hab’s nicht ernst gemeint, Mutter. Tut mir leid.«

»Unterlass diese Scherze, hörst du?«

Während sie weiter auf den Wald zugingen, dachte Molly über die Worte ihrer Schwester nach. Nicht darüber, was sie über Männer dachte. Ihr war schon lange bewusst, welche Wirkung ihre Schwester auf Männer hatte, und sie war sich auch im Klaren darüber, dass Fanny mit zunehmendem Alter bereit sein würde, diese Waffe gezielt einzusetzen. Sie war nicht die Einzige. Auf dem Marktplatz hatte sie öfter beobachtet, wie verführerisch aussehende Frauen manchen Männern den Kopf verdreht hatten. Von einer Farmerstochter in Carrick-on-Shannon erzählte man sich, dass sie auf diese Weise sogar einen Edelmann verführt hatte und fürstlich von ihm entlohnt worden war.

»Amerika« war das Wort, das sich in ihren Gedanken festgesetzt hatte. Der Name eines Landes, über das sie nur wusste, dass unzählige Iren während der ersten Hungersnot dorthin ausgewandert waren und dass man dort angeblich freier und unabhängiger war. »Land der Freiheit« nannten sie es. Selbst für Frauen sollte es dort möglich sein, einträgliche Arbeit zu bekommen und ein Leben zu führen, wie es in Irland niemals möglich wäre, auch ohne die Hungersnot.