Über dieses Buch:
Seltsam friedlich liegt sie da, auf einer Blumenwiese. Doch die junge Frau ruht für immer: Genickbruch. Als Hauptkommissar Martin Velsmann an den Tatort kommt, ist ihm klar, dass dies kein gewöhnlicher Fall wird: Die Tote ist nackt – bist auf die eigenartigen Tätowierungen. Kurze Zeit später wird eine weitere Leiche gefunden. Auch ihren Körper zeichnen die mysteriösen Bilder. Waren die Frauen Mitglieder einer geheimen Gruppe? Wird es weitere Opfer geben? Für Velsmann und sein Team beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …
Über den Autor:
Berndt Schulz wurde 1942 in Berlin geboren. Er veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane und Sachbücher. Außerdem ist Schulz unter dem Pseudonym Mattias Gerwald als Autor historischer Romane erfolgreich. Er lebt in Nordhessen und Frankfurt am Main.
Bei dotbooks erscheint Berndt Schulz' Krimi-Reihe rund um Kriminalkommissar Martin Velsmann, die folgende Bände umfasst:
»Novembermord: Martin Velsmann ermittelt – Der erste Fall«
»Engelmord: Martin Velsmann ermittelt – Der zweite Fall«
»Regenmord: Martin Velsmann ermittelt – Der dritte Fall«
»Frühjahrsmord: Martin Velsmann ermittelt – Der vierte Fall«
»Klostermord: Martin Velsmann ermittelt – Der fünfte Fall«
Die ersten zwei Romanen der »Martin Velsmann«-Reihe sind auch als Sammelband unter dem Titel »Novembermord & Engelmord« erhältlich.
Außerdem erscheinen bei dotbooks Berndt Schulz' Kriminalromane »Wildwuchs« und »Moderholz«, der Roman »Eine Liebe im Krieg« sowie der Kinderkriminalroman »Das Geheimnis des Falkengottes«.
Ebenfalls bei dotbooks veröffentlicht Berndt Schulz unter dem Pseudonym Mattias Gerwald folgende Bände der »Tempelritter-Saga«:
»Die Suche nach Vineta«, »Das Grabtuch Christi«, »Der Kreuzzug der Kinder«, »Die Stunde der Gerechten«, »Die Säulen Salomons«, »Das Grab des Heiligen«
Und die historischen Romane »Die Geliebte des Propheten«, »Das Geheimnis des Ketzers«, »Die Entdecker«, »Die Sternenburg«, »Die Gottkönigin«, »Die Gesandten des Kaisers« und »Die Hetzjagd«.
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eBook-Neuausgabe Februar 2015
Dieses Buch erschien bereits 2007 unter dem Titel »Frühjahrserwachen« bei CoCon-Verlag, Hanau
Copyright © der Originalausgabe 2007 CoCon-Verlag, Hanau
Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock/Mimadeo, Serov
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-350-7
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Berndt Schulz
Frühjahrsmord
Martin Velsmann ermittelt – Der vierte Fall
dotbooks.
»Es ist Frühling, und schon ein Zittern aus Liebe macht verdächtig.«
Kapitel 1
Blütenstaub fiel auf ihre Schultern. Ihre Hauben aus schimmerndem Papier bedeckten sich mit jungen Blättern der Obstbäume. In ihren weißen Schutzanzügen sahen die Ermittler der Hanauer Mordkommission unwirklich aus. Und der bleiche Farbfleck, der sie seit den Morgenstunden erregte, weil er nicht in das Bild des jungen, aufbrechenden Frühlings passte, lag inmitten ausgedehnter Streuobstwiesen. Eine nackte, weibliche Leiche in grotesker Verrenkung. Auch sie von Blüten bedeckt.
Chefermittler Heinrich Pauli und seine beiden Untergebenen Rau und Speck umkreisten den Tatort. Ein unfassbarer Ort. Er lag in einer Landschaft, die von Farben, Düften und aufquellenden Formen strotzte. Frühlingswiesen in Meerholz im Kinzigtal.
Die Gruppe der Spurensicherung traf ein. Der Arzt brachte zwei müde aussehende weibliche Assistenten von der Hochschule mit. Die Fotografen packten ihr Equipment aus. Flinke Hände schlossen den Tatort mit rotweißen Bändern ab, damit Neugierige und auch die Journalisten der Regionalpresse, die den Polizeifunk abgehört hatten, auf Distanz blieben.
»Fasst nichts an und dreht trotzdem alles dreimal um!«, rief Pauli den Technikern zu, die schon in ihre Arbeit vertieft waren. Der Chef der Gruppe wandte sich ihm zu und verdrehte den Blick.
Irgendwie muss ein neuer Tag ja anfangen, dachte Pauli. Aber warum auf diese Art!
Der zuständige Staatsanwalt bekam von Pauli einen ersten Bericht. Später würde man im Präsidium die Fakten erörtern. Zu diesem frühen Zeitpunkt gab es nur wenige Anhaltspunkte. Der Tod der jungen Frau musste durch Genickbruch verursacht sein. Es waren keine Verletzungen zu erkennen, die auf eine aktive Gegenwehr schließen ließen. Alles andere mussten die Mediziner untersuchen.
Hauptkommissar Heinrich Pauli blickte nach seinem Rapport zum strahlend blauen Morgenhimmel empor. Aber eine Antwort auf seine Fragen war von dort nicht zu erhalten. Pauli hatte an manchen Tatorten das Gefühl, als spräche er zum allerersten Mal. Er seufzte und ließ den Staatsanwalt stehen.
Er dachte einmal mehr darüber nach, wie viele Leichen er schon gesehen hatte. Und wie sehr es ihn abstumpfte, in diese sinnlosen Schrecken zu blicken und zu wissen, dass er sie nicht beenden konnte. Niemals. War das wirklich sein Leben? Pauli fluchte leise. Er beschloss, seinen Kollegen von der Fuldaer Kripo anzurufen. Hauptkommissar Martin Velsmann hatte vor ein paar Jahren Morde an jungen Frauen im Kinzigtal aufgeklärt. Damals war eine ausländische Mafia im Spiel gewesen. Das Kinzigtal zog anscheinend den Auswurf an. Ging das alles wieder von vorn los?
Pauli griff zum Handy. Dann hielt er es für angebracht, vorher den Staatsanwalt zu informieren. Gelders hörte sich die Bitte an. Nach kurzer Überlegung sagte er:
»Ich habe nichts gegen Amtshilfe, aber sie muss in Grenzen bleiben, ich schätze Hauptkommissar Martin Velsmann als kompetenten Ermittler, und Fulda ist ja nicht feindliches Ausland. Es kann nicht schaden, ihn heran zu ziehen.«
Pauli erreichte Velsmann und erklärte ihm den Sachverhalt. Der Hauptkommissar aus Fulda war noch beim Frühstück in seiner Wohnung, Pauli hörte im Hintergrund ein irritierendes Geräusch, es klang wie das Kratzen über Blech mit scharfen Fingernägeln. Bevor er darüber nachdenken konnte, versprach Velsmann, er würde los fahren, wenn er die Musik abgestellt und den Kaffee getrunken hatte. In einer knappen Stunde konnte er vor Ort sein.
Während Pauli auf ihn wartete und den Fundort der Leiche wieder und wieder umkreiste, dachte er nach.
Kurz vor Sonnenaufgang, auf den Punkt genau um sechs Uhr, war der Anruf eingegangen. Die Telefonannahme hatte sich gefragt, warum ein Langläufer schon bei Dunkelheit aufbrach. Der Mann kam vom Heiligenkopf herunter, hatte eine Pinkelpause eingelegt und dabei die Leiche neben dem Weg in der Blumenwiese entdeckt. Die Polizeinummer war in seinem Handy gespeichert. Die Telefonannahme musste ihn beruhigen, dann wurden seine Angaben verständlich. Wenige Minuten später schreckte Pauli aus dem Schlaf auf, rieb sich einen seiner immer wiederkehrenden Albträume aus den Augen, in denen es um unverhältnismäßig wucherndes Unkraut in seinem Vorgarten ging und nahm den Anruf entgegen.
Im Kinzigtal stieg die Hitze.
Pauli wartete auf den Kollegen aus Fulda und tigerte immer unruhiger um den Tatort herum. Er musste Fragen der Techniker beantworten.
Er starrte die Tote an.
Er war nicht abgebrüht, er kam mit solchen Gewalttaten immer weniger zurecht.
Hier hatte sich in einem kurzen Moment etwas ausgetobt. Etwas, das stärker war als die Angst vor der erzeugten Gewalt. Vor der Unumkehrbarkeit des Hasses. Ein Unbekannter war weiter gegangen, von irgendetwas getrieben, hatte die Grenze überschritten. So wenig liegt zwischen dem Gefühl der Sicherheit und dem Tod, dachte der Kommissar. Er blickte um sich. Die Kollegen waren beruhigend an der Arbeit. Eine Hundestaffel rückte an. Die Landschaft blühte. Ringsum nur Wälder, Wiesen und bewaldete Hügel. Die drei Fahnenmasten, am Jahresanfang von der Kommune aufgestellt. Im Hintergrund war der kleine Ort Meerholz am Hügel nur zu erahnen, ein Stadtteil der alten Barbarossastadt Gelnhausen. Dort erwachten in diesem Moment die Menschen und erfreuten sich des Anblicks alter, sauber geputzter Fachwerkhäuser in Reih und Glied.
Pauli wurde in seinen Betrachtungen durch die Ankunft des Fuldaer Hauptkommissars unterbrochen. Er blickte überrascht auf die Armbanduhr, es waren tatsächlich schon siebenundvierzig Minuten vergangen. Pauli ging Velsmann entgegen. Endlich hatte der Kollege seinen grünen Scorpio gegen einen vernünftigen Dienstwagen getauscht, einen blau-silbergrauen Audi. Seine Vorgesetzten mochten ihn dazu gezwungen haben. Pauli bewunderte den hochgewachsenen, dunkelhaarigen Polizisten mit dem hintergründigen Lächeln, obwohl er etwas verkörperte, das Pauli nicht verstand. Sie begrüßten sich, Velsmann besaß einen überaus festen Händedruck, Pauli hielt dagegen. Der Staatsanwalt winkte ihnen aus einiger Entfernung mit einer Geste zu, die ausdrückte: Ich behalte euch im Auge.
Velsmanns Blicke flogen über die Bilder, die der Tatort ihm bot. Er nahm Witterung auf. Landschaft. Absperrungen, Kollegen und Kolleginnen, Polizeiautos mit rotierendem Blaulicht, kreuz und quer geparkt, Scheinwerfer auf Rädern. Die Erde gehört dem Verbrechen, las Kommissar Pauli in seinem Gesicht. Er ging voraus. Am Tatort blieb er stehen.
»Jung. Nackt. Gebrochenes Genick wahrscheinlich«, sagte er. »Sie trägt noch Schmuck. An der Innenseite des rechten Oberschenkels eine bunte Tätowierung.«
Martin Velsmann starrte die Leiche an. Er betrachtete sie von allen Seiten. Der Perspektivwechsel machte den Anblick nicht erträglicher. Es gab Dinge, die zogen Blicke magisch an, dazu gehörte zweifellos ein nackter, weiblicher Körper, aber dieses Bild? Der Kopf der Toten markierte ein makabres Zeichen. Velsmann machte einem jungen Fotografen Platz, dann sagte er:
»Das könnte eine schwierige Ermittlung geben.«
»Was meinen Sie?«
»Das passt nicht zusammen, fügt sich nicht ein. Irgendwas stimmt doch da nicht.«
»Wie, was stimmt nicht? Natürlich stimmt nichts, wenn Sie meinen, dass an diesem schönen Ort plötzlich eine Leiche liegt. Oder was meinen Sie, Kollege Velsmann?«
»Man muss natürlich vorsichtig sein mit Vermutungen zu diesem frühen Zeitpunkt«, sagte Velsmann und zog einen Schreibblock aus der karierten Hemdtasche. »Aber Sie sehen ja selbst. Dieses Arrangierte, anders kann ich es nicht ausdrücken, dieses … Fundstück mit all den Zutaten. Zu viele Tatmotive auf einmal. Das wirkt doch nicht echt.«
»Hm«, machte Pauli uninspiriert.
Velsmann half nach. »Genickbruch. Nackt. Trägt Schmuck. Schillernde Tätowierungen. Keine Spuren von aktiver Gegenwehr. Liegt da, als ruhe sie sich endlich aus, aber dann dieses furchtbare Gesicht. Wer will uns da was zeigen?«
»Wer will uns da was?«
»Was zeigen.«
»Hm.«
»Es ist wirklich nur so ein Gedanke. Vielleicht bedeutet es auch überhaupt nichts.«
»Sie denken an irgendeine Botschaft?«
»An so etwas.«
»Der Täter will, dass wir etwas sehen, etwas begreifen? Dass wir … ihn sehen?«
Velsmann schüttelte den Kopf und nickte gleichzeitig, es war seine Spezialität.
»Oder er braucht Publikum«, sagte er leise. »Wie bei einem Schauspiel. Oder ist es eine Warnung?«
»Aber für wen denn, um Gottes Willen! Eine Warnung für uns? Oder für wen?«
»Tatorte wirken auf labile Kommissare immer dramatisch«, wiegelte Velsmann ab. »Der Täter ist vielleicht ein Scherzkeks und legt was aus, um uns zu verwirren und in die Irre zu führen, und ich falle darauf rein.«
Pauli blickte ihm misstrauisch nach.
Der Hauptkommissar aus Fulda umkreiste wieder die Leiche, der Fotograf war verschwunden. Velsmann ging in die Knie.
»Irgendwo muss der Täter ja schließlich sein Opfer ablegen«, rief Pauli.
»Da haben Sie recht«, bemerkte Velsmann zerstreut.
»Das muss nicht immer gleich was bedeuten«, setzte Pauli nach.
Velsmann blickte auf. »Auch wieder richtig. Aber die Tat bedeutet etwas. Und eins steht fest. Eine Tat im Affekt hinterlässt andere Spuren. – Kommen Sie mal her!«
Auf der nackten Haut, unterhalb der rechten Brust, hatte Velsmann eine merkwürdige Stelle bemerkt. Erst dachte er an eine Hautunreinheit, einen Leberfleck. Aber es war nur eine weitere winzige Tätowierung. Er deutete darauf. Pauli bückte sich.
»Sieht aus wie ein aufgeschlagenes Buch«, sagte Velsmann. »Oder ein geöffneter Flügel. Mit einem schwarzen Pfeil.«
»Office Dokument öffnen«, sagte Pauli.
»Wie bitte?«
»Office Dokument öffnen«, wiederholte Pauli.
Velsmann verstand. »Sie meinen, das Symbol dafür? Ja. Aber das ist ja nun mal kein Computer, sondern eine Frau. Was bedeutet das also?«
»Keine Ahnung«, gab Pauli zu. »Aber das kriegen wir raus.«
»Seltsam«, bemerkte Velsmann. »Der hässliche Zaubervogel da am Oberschenkel, das kennt man. Aber das hier?«
Pauli beugte sich noch einmal über den Körper der Toten. Seine Miene verriet Abscheu. Er sagte nichts. Er blickte Velsmann versperrt an, als verreise er gerade an einen anderen Ort.
»Wir müssen natürlich im Auge behalten«, nahm Velsmann den Faden wieder auf, »dass die Tätowierung mit dem Mord gar nichts zu tun haben muss. Sie befindet sich ja auf ihrem Körper, der Mörder wird ihr das nicht eintätowiert haben. Aber es kann auch eine unerhörte Botschaft sein. Kennen Sie das? Sie kommen an einen fremden Ort … und alles ist plötzlich aufgeladen mit Bedeutung. Jedes kleinste Detail. Alle Wahrnehmungssinne vibrieren. Man könnte durchdrehen.«
»Wenn Sie meinen, Kollege Velsmann«
»Manchmal spreche ich einfach nur so vor mich hin. Ich muss telefonieren«, sagte Martin Velsmann, zog sein Handy und trat zur Seite.
Heinrich Pauli hörte ihn sprechen. Er beugte sich noch einmal über die seltsame Tätowierung. Office Dokument öffnen, von der Startleiste von Microsoft Windows. Danke für ihren Besuch. Was soll dieser Quatsch, dachte er. Ich sollte den Beruf wechseln und im Garten arbeiten. Das Unkraut wuchert, die gemeinen Nachtkerzen und der Giersch übernehmen das Regiment, und ich bin nicht zur Stelle.
Velsmann kam zurück.
»Eure Leute von der Spurensicherung scheinen gut zu sein, die Tütchen füllen sich schon.«
»Es sind die Besten.«
Velsmann machte eine vage Bewegung zu der Toten hin. »Wissen wir schon mehr über sie?«
»Nein«, sagte Pauli. »Wir haben bisher nur das, was man ohnehin sieht.«
»Wer hat sie eigentlich gefunden?«
»Der Jogger da drüben. Scheint ihn ziemlich mitgenommen zu haben.«
Martin Velsmann erblickte einen zusammen gesunkenen, alterslosen Mann im grauen Sportanzug mit einem großen roten Markenemblem auf der Brust, dort wo das Herz sitzt. Er starrte dumpf vor sich hin.
»Der sieht nicht gut aus. Schickt ihn lieber ins Revier zur Vernehmung, sonst fällt der Mann noch um!«, schlug Velsmann vor. Pauli nickte und gab seine Anweisungen.
Wieder blieb der Fuldaer Hauptkommissar bei der Leiche stehen. Er ging noch einmal in die Knie. Pauli betrachtete den Kollegen und die Tote gleichzeitig. Er musste an die letzte Nacht denken, brach den Gedanken aber lieber gleich wieder ab.
»Was waren da eigentlich für Geräusche im Hintergrund, als ich Sie heute Morgen anrief?«
»Geräusche? Ich hörte den Verkehrsfunk. – Ach das meinen Sie. Die Katze, die ich neuerdings habe, kratzte an der Plastikverkleidung ihres Klos herum. Sie versteht nicht, dass sie ihr Geschäft mit dem Gestreuten verdecken muss.«
»Frühstücken Sie denn auf dem Klo?«
»Wie meinen Sie, Kollege?«
»Ist ja egal! – Also, was denken Sie über den Fall?« Pauli sah den Kollegen erwartungsvoll an.
»Ich habe fürs Erste genug gesehen«, sagte Velsmann. »Fahren wir zur Besprechung ins Kommissariat?«
»Ich lasse die Leiche dann wegschaffen«, nickte Pauli enttäuscht. Er hatte sich mehr vom Hauptkommissar erwartet. »Arzt und Techniker sind auch fertig. Wenn Sie im Büro dabei sein wollen, sehr gern. Polizeidirektion Main-Kinzig, am Freiheitsplatz.«
»Ich weiß. Wenn der Herr Staatsanwalt nichts dagegen hat.«
»Das regele ich schon. Der schätzt sie.«
»Kein Wunder, nachdem ich ihm diese russisch-karelischen Mädchenhändler vom Hals geschafft habe.«
»Ich hoffe inständig, wir kriegen denselben Mist jetzt nicht noch mal.«
»Könnte sein. Aber ich weiß nicht recht, das damals war anders. Ich könnte nicht mal sagen, weshalb. Es ist im Moment nur ein Gefühl. Alle diese Anzeichen. Das hier scheint mir etwas Neues zu sein, hier ist jemand anderer am Werk. Und ich befürchte, er ist nicht weniger unheimlich als seine Vorgänger.«
»Okay. Sie sind der Experte.«
»Fahren Sie voraus, ich folge Ihnen«, schlug Velsmann vor. »Bis Hanau komme ich, aber in dieser Stadt finde ich mich ohne Navigator nicht zurecht.«
Pauli gab seinen Untergebenen ein Zeichen. Die Tote wurde in Plastikfolie gehüllt und auf eine Bahre gelegt. Die Assistenten des Arztes halfen dabei, die Bahre auf Rollen in den Leichenwagen zu schieben.
Pauli und Velsmann beobachteten die Vorgänge, dann gingen sie zu ihren Autos. Ein Journalist rief ihnen etwas zu, aber Pauli winkte ab. Velsmann reagierte schon lange nicht mehr auf die Lokalpresse. Die meisten dieser Leute besaßen nur ein einziges Talent: das Falsche zu schreiben. Auch die Assistenten stiegen ein. Der kleine Konvoi setzte sich auf der Schotterstraße in Bewegung. Den Schluss bildete der Kastenwagen mit der Ermordeten. Die Pressefotografen machten ihre Schnappschüsse vom Tatort.
***
Kommissar Pauli leitete die Besprechung, die um Punkt zehn begann. Er fasste zusammen, was sie bisher wussten. Velsmann bewunderte seinen präzisen Stil, die leichte Darstellung, er selbst tat sich immer schwer damit, war oft zu theoretisch. Die fünf männlichen und zwei weiblichen Polizisten in dem niedrigen, aber hellen Raum der Hanauer Mordkommission lauschten Paulis Worten, einige mit abgeschotteten Mienen. Es wurden Fotos herum gereicht. Der Staatsanwalt hielt sie besonders lange in der Hand. Dr. Gelders sagte:
»Wie sollen wir das verkaufen? Wie stellen wir es dar?«
»Wieso?«, fragte eine der Polizistinnen. »Wie sollen wir es darstellen? Es stellt sich doch selber dar. Es ist ein brutaler Mord an einer Frau von wahrscheinlich einem, vielleicht auch mehreren verrückten, männlichen Tätern, wie sie im Kinzigtal tagtäglich durchs Unterholz schleichen.«
»Na, langsam, nicht gleich zu weit ausholen«, mahnte Gelders. »Ob der oder die Täter verrückt sind, wissen wir nicht. Die Tat ist es.«
»Vermutlich einer dieser normalen Psychopathen, die was mit Frauen abzurechnen haben«, ließ die Polizistin nicht locker. »Ich kann es nicht mehr hören!«
»Also, wie gehen wir damit raus?«, nahm Pauli den Gedanken des Staatsanwaltes auf. »Wir können der Öffentlichkeit nicht alles zumuten. Und einen bestimmten Verdacht schon gar nicht. Vielleicht ist der Mörder auch eine Frau.«
»Die Mörderin«, meinte Assistent Speck.
»Wie?«
»Wenn der Täter eine Frau war, sprechen wir von einer Mörderin.«
»Wenn die Täterin eine Frau war, meinst du wohl«, ergänzte der Polizeiaspirant Rau.
»Ach, hört auf mit dem Kinderkram!« Pauli hob die Stimme. »So kommen wir nicht weiter. Konzentriert euch!«
Martin Velsmann räusperte sich.
»Wollen Sie etwas sagen, Kollege Velsmann?«
Der Hauptkommissar aus Fulda blickte den Staatsanwalt an, er holte sich dessen stumme Zustimmung, um zu antworten, denn offiziell war er gar nicht anwesend. Nach der letzten Verwaltungsreform war die Fuldaer Kripo für Gewaltverbrechen im Kinzigtal nicht mehr zuständig.
»Eine ermordete junge Frau, das reicht wohl für die Medien. Schicken Sie die Fotos mit dem Konterfei raus, daraus kann man alles entnehmen. Vielleicht kann das Labor den Anblick ein bisschen retuschieren. Jemand kennt sie vielleicht. Dann wären wir schon ein ganzes Stück weiter. Ich denke, Spekulationen über Täter oder Täterin stellen wir besser im Moment nicht an.«
»Hm«, machte Pauli. Er gab dem Aspiranten ein Zeichen, den Diaprojektor anzuschalten. »Wir sehen uns die Fotos noch mal vergrößert an. Vielleicht kommt jemand auf eine Idee.«
Das Licht erlosch, die Leinwand wurde noch weißer. Das erste Bild erschien. Es löste einen kleinen Schock aus. Das Bild zeigte Gesicht und Kopf der Getöteten.
»Oh, zum Teufel!«, sagte ein Polizeimeister mit belegter Stimme. »Wer macht so was?«
»Soll das eine Frage sein?«, fragte sein Nachbar, ein junger Fahnder.
»Nein, verdammt noch mal!«
»Ihr erkennt die mutmaßlich tödlichen Verletzungen selbst«, erklärte Pauli. »Der Arzt hält Genickbruch für die wahrscheinliche Todesursache, aber Genaueres werden wir noch erfahren. Die Genickwirbel sind gebrochen, deshalb die bläuliche Gesichtsfarbe, die angeschwollene Zunge, das verzerrte Gesicht.«
»Und die aufgerissenen Augen«, meinte jemand im Dunkeln.
»Das könnte auch Angst sein. Sie sah ja wahrscheinlich den Täter direkt vor sich.«
»Aber es gibt keine Spuren, die auf einen Kampf hinweisen.«
»Dann war der … Täter ein starker Mann«, meinte Speck. »Von vorn oder von hinten, er hat ihr mit einem einzigen Griff den Hals umgedreht. Ist so was … technisch möglich?«
»Muss ein kräftiger Kerl gewesen sein«, bestätigte Aspirant Rau.
»Oder eine kräftige Powerfrau«, sagte ironisch eine der Polizistinnen.
»Tötungstechnisch gesehen, ist das jederzeit möglich«, sagte der stellvertretende Leiter des gerichtsmedizinischen Labors.
»Aus den Umständen könnte man schließen, die Ermordete kannte ihren Mörder«, überlegte Pauli. »Er nähert sich ihr, sie ahnt nichts Böses. Eine persönliche Beziehung, ein handfester Streit, eine Abrechnung, was weiß ich.«
»Dann müssen wir umso dringender herausfinden, wer sie ist … ich meine … war«, sagte der Kollege vom Archiv. »Wahrscheinlich haben die beiden eine gemeinsame Vergangenheit. Sie und ihr Mörder, meine ich.«
»Wenn sie sich kannten, sind sie sich begegnet, das ist klar«, sagte Pauli. »Irgendwann einmal, irgendwo einmal auf diesem gottverdammten Erdball. Diesen Moment müssen wir packen!«
»Wir wissen es noch nicht«, sagte der Staatsanwalt. »Was wir aber wissen ist, dass die Leiche direkt neben einem öffentlichen Weg gefunden wurde. Der Täter machte sich nicht die Mühe, sie zu verstecken. Sie sollte gefunden werden.«
»Aber legt er sie dann nicht neben eine Hauptstraße? Dieser Feldweg zwischen Heiligenkopf und Parkplatz am Viadukt wird nur von Spaziergängern und Joggern genutzt«, wandte ein Polizeiobermeister ein.
»Aber die sehen alles«, meinte Speck.
»Jogger?«, fragte Rau nach, »die sind doch blind, ihr Blut schäumt vor ihren Augen.«
»Der Mann, der die Leiche fand, wird gerade verhört«, sagte der Staatsanwalt mit einem tadelnden Blick.
»Hatten wir nicht vor vier Jahren diesen Serienmord an jungen Frauen aus Karelien, an diesen Prostituierten?«, fragte der Beamte vom Labor in Richtung Velsmann. »Ist das hier dasselbe? Haben wir es mit Nachahmern zu tun, oder was?«
Velsmann erwiderte: »Wir wissen es nicht. Aber noch haben wir ja keinen Serienmord.«
Pauli gab ein Zeichen. Das nächste Bild erfüllte den abgedunkelten Raum: Der nackte Körper in seiner merkwürdigen Verrenkung.
»Sieht aus wie ein Seepferdchen«, flüsterte eine Polizistin.
»Wie bitte?«
»Ach, nichts.«
»Eine Schönheit«, sagte der Kollege vom Archiv.
»Wenn man das Gesicht weglässt«, assistierte ein junger Polizist.
»Also, jetzt hört mal«, ereiferte sich seine Kollegin.
Martin Velsmann war für die Kommentare, so schräg sie auch waren, dankbar, denn er kam sich vor wie in einem schmuddeligen Bahnhofskino, dem Zwang ausgeliefert, auf einen nackten Körper zu starren, der die Leinwand füllte, ein unbehagliches Gefühl, das die Eindrücke am Tatort noch übertraf. Das ging auch nach fünfunddreißig Dienstjahren nicht weg.
»Das nächste Bild«, bat Pauli.
Es zeigte den ganzen Tatort inmitten der Blumenwiesen. Im Hintergrund erkannte man drei Fahnenmasten, dahinter den Waldrand, daneben die Häuser von Meerholz.
»Seid ihr euch bewusst, dass wir es hier mit der Mitte Europas zu tun haben?« Die Anwesenden blickten überrascht auf den Sprecher. Der Polizist vom Erkennungsdienst fuchtelte plötzlich mit den Händen. »Festgelegt zum Jahresende. Der geographische Mittelpunkt der Europäischen Union.«
»Er hat recht! Warum bin ich nicht darauf gekommen! Das dürfen wir auf gar keinen Fall außer Acht lassen!« Pauli war aufgestanden. »Das ist ein ganz, ganz wichtiger Aspekt!«
»Wenn es denn stimmt, was Schneider sagt!«
»Na klar!«, rief der Kollege, der die Hände nicht still halten konnte. »Ihr seht doch die Fahnen, oder nicht? Eine für die Europäische Union, eine für den Kreis, eine für die Stadt. Neun Grad, neun Minuten östlicher Länge, fünfzig Grad, zehn Minuten und einundzwanzig Sekunden nördlicher Breite.«
»Was du aber auch alles weißt, Schneiderlein.«
»Ich wohne schließlich in Meerholz.«
»Wo denn genau?«
»Das ist im Moment doch unwichtig!«, donnerte der Staatsanwalt. »Wie ist das also mit diesem Mittelpunkt, wer klärt uns auf?«
»Das IGN hat es doch festgelegt, das Nationale Geographische Institut Frankreichs. Bisher lag der Mittelpunkt irgendwo … ich weiß nicht … in Rheinland-Pfalz. Aber jetzt sind die Rumänen und Bulgaren und weiß der Teufel wer in den erlauchten Kreis eingetreten, und dadurch hat sich die Sache verschoben. Seit Anfang 2007 liegt die Mitte Europas in unserer Heimat, im schönen Meerholz.«
»Da hat er tatsächlich recht«, sagte Heinrich Pauli.
»Danke Kollege!«, sagte der Staatsanwalt. »Das verändert den Blickwinkel auf die Tat erheblich.«
»Nein«, sagte Martin Velsmann in das eintretende Schweigen hinein. »Zunächst einmal scheint mir alles beim Alten zu bleiben. Die Tat hat sich nicht verändert.«
»Aber Moment mal! Das ist doch ein wichtiges Detail!«
»Überlegen wir uns. Selbst wenn es stimmt, dass der Mord nicht zufällig in Meerholz, an diesem strategischen Punkt, stattfand«, meinte Velsmann, »sondern der Täter uns mit diesem Indiz ein Zeichen geben will, dann schafft das im Augenblick noch keine neue Betrachtungsweise. Zugegeben, der Fundort könnte eine Botschaft an uns sein, und wenn es so ist, dann werden wir sie irgendwann auch verstehen. Aber – wir beschäftigen uns im Moment nur mit der Ermordeten, nicht mit dem Täter.«
»Aber das können wir doch nicht trennen!«
»Doch, Kollegin«, sagte Velsmann. »Das müssen wir sogar, nach meiner bescheidenen Meinung. Über den Täter wissen wir nichts. Spekulationen sind in soweit gefährlich, als damit etwas in unsere Köpfe kommt, das wir vielleicht später schwer wieder los werden. Es könnte unseren Blick trüben. Es könnte unsere Vorurteile festigen. Wir dürfen über den mutmaßlichen Täter erst dann nachdenken, wenn wir Indizien über ihn haben. Nach meiner Erfahrung kommen wir manchmal zu richtigen Erkenntnissen erst auf der zweiten oder dritten Ebene. Im Vordergrund finden wir manchmal falsche Spuren, Irrwege, wir landen in Sackgassen.«
»Ich kenne Ihre Theorien, Herr Velsmann«, sagte der Staatsanwalt mit einem süffisanten Unterton. »Etwas bedeutet sich selbst und verdeckt gleichzeitig etwas anderes. Das meinen Sie doch?«
Velsmann nickte. »Im Moment müssen wir klären, wer die Ermordete ist. Es wurde ja schon gesagt, aus deren Vergangenheit und Lebensgeschichte können wir eventuell ein Bild des Mörders rekonstruieren – nicht umgekehrt.«
»Seltsame Logik, Hauptkommissar«, sagte eine Polizistin. »Waren Sie in einem früheren Leben mal Astrologe?«
»Nein, Polizeiassistent«, erwiderte Velsmann. »Im vorigen Jahrtausend.«
Jemand kicherte.
»Ein Dinosaurier«, flüsterte ein Polizist, und sein Nachbar zur Linken lachte unterdrückt.
»Ganz richtig, Kollege«, meinte Velsmann, der die Bemerkung mitbekommen hatte. »Und ich sterbe bald aus. Aber vorher habe ich noch ein paar Ansichten.«
»Die uns willkommen sind«, sagte Pauli und warf einen unwilligen Blick in die Runde. »Kollege Velsmann hat vollkommen recht mit seiner Meinung. Wir konzentrieren uns jetzt darauf herauszufinden, wer die Ermordete ist. Und dann machen wir den nächsten Schritt und dann noch einen.«
»Aber wir dürfen doch wohl nach einem unbekannten Gewalttäter fahnden, Herr Velsmann?«, fragte eine Polizistin.
Der Hauptkommissar nickte freundlich.
»Sie hatte nichts bei sich«, sagte der Leiter der Spurensicherung. »Keine privaten Dinge. Und nirgends Fingerabdrücke, auch nicht am Hals oder sonstwo am Körper, wo sie normalerweise ohnehin schwer festzustellen sind. Für unser schönes, neues digitales Identifikationssystem gibt es überhaupt kein Futter. Das wird schwer!«
»Wie lange ist sie schon tot?«, fragte ein Polizist. »Hat die Gerichtsmedizin darüber schon was gesagt?«
»Nur vage«, sagte Pauli. »Sie lag nicht lange dort, vermutlich geschah der Mord in dieser Nacht.«
»Da war doch noch etwas«, sagte Velsmann. »Die Tätowierung.«
»Das Ding am Oberschenkel, dieser Vogel? Das haben wir ja gesehen. Was ist damit?« Der Staatsanwalt hörte sich immer unwillig an.
»Nein, ich meine eine andere Stelle«, erwiderte Velsmann.
Pauli schaute über den Raum und gab dem Polizeiassistenten ein Zeichen. Eine Vergrößerung erschien. Alle sahen die kleine Tätowierung unterhalb der Brust.
»Was ist das?«, wollte eine Polizistin wissen.
»Zum Teufel«, platzte der Kollege vom Archiv heraus. »Das ist ein Computer-Symbol, von der Startleiste bei Windows, Office Dokument öffnen oder so ähnlich.«
»Genau so heißt es, Kollege. Und was fangen wir damit an? Jemand eine Idee?«
Brummeln in der Versammlung. Assistent Speck hob den Finger. »Der Mord hat was mit Computer-Spielen, jedenfalls mit Software zu tun. Vielleicht gehörte die Ermordete einem Club an. Vielleicht gibt es so was in der Gegend, mit einem entsprechenden Namen.«
»Sehr gut!«, lobte Pauli.
Speck fasste Mut. »Es gibt Unmengen von Leuten, die was mit Computern machen, professionell, halbprofessionell, Tag und Nacht. Nicht nur Freaks, auch ganz abgestandene Leute, ich meine seriöse Menschen, Banker, Ärzte, was weiß ich. Meistens haben die auch ein Logo, wegen des Corpsgeistes, und auch einen Codenamen oder ein Pseudonym, um sich im Netz abzugrenzen.«
»Das müsste zu erfassen sein«, meinte Pauli.
»Klar, wenn ein Verdacht vorliegt?«
»Kümmern Sie sich darum, Volker.«
»Office Dokument öffnen, sehr sprechend«, sagte ein Polizist. »Auf was die Leute so kommen!«
»Nur um uns die Arbeit zu erschweren, davon kannst du ausgehen.«
»Was macht man mit diesem Software-Befehl?«, wollte eine Polizistin wissen.
»Na, man geht in die Office-Verwaltung und öffnet ein Dokument – wie der Name schon sagt.«
»Öffnet ein Dokument?«
»Ja.«
»Und warum trägt sie das auf ihrem Körper?«
»Vielleicht wollte sie sich öffnen? Oder jemand wollte sie öffnen?«
»Hahaha!«
»Warum nicht?«, sagte der Kollege mit lauter Stimme. »Ich meine es ernst. Eine Kontaktsuchende? Alleinstehend und auf Partnersuche? Sehnsucht nach Nähe, oder auch nach Gruppensex? Gehörte sie einem Swinger-Club an?«
»Oder eine Prostituierte vielleicht?«
»Na also! Langsam! Ehrlich gesagt, kommt mir das ein wenig weit hergeholt vor!« Der Staatsanwalt winkte ab.
»Jedenfalls kann man sich doch treffen wollen, zum Sex beispielsweise, Bäumchen wechsle dich. Körper öffne dich. Und die Tätowierung ist der Ausweis. Ich weiß nicht.«
»Eine Frau ist kein Dokument, auch wenn sie geöffnet wird nicht«, erklärte eine Polizistin.
»Männerphantasien«, trat ihr eine Kollegin zur Seite.
»Och, ohne Männerphantasien, wie du das nennst, Carmen, wären Frauen nicht die Hälfte so bedeutend.«
»Aahh – immer noch das Gehabe! …«
»Darf ich deine geschätzte Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Tote das auf ihrem Körper trägt? Die Tote! Und ich habe es ihr nicht eingraviert«, verteidigte sich der laute Polizist.
»Jetzt überlegt lieber, Kollegen! Das führt zu nichts.«
»Darf ich trotzdem was sagen?«, fragte Assistent Rau.
Pauli machte eine ungeduldige Geste.
Rau sagte: »In meiner Erinnerung taucht da was auf. Die Ermordete kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich kann mich irren, aber wenn ich es mir recht überlege, glaube ich, sie schon mal gesehen zu haben.«
***
Er spürte, wie ihn das Alter packte. Bisher hatte es ihn beruhigt, dass er jünger aussah, als er war. Jetzt war sein Vorsprung verbraucht, es hatte ihn eingeholt. Er spürte es im Gesicht, das sich verhärtete, unter der weich werdenden Kinnpartie, um den Mund, der sich nicht mehr so leicht öffnete. Die Augen brannten manchmal auch dann, wenn er sie nicht überanstrengt hatte. Etwas anderes war damit noch verbunden. Das unbarmherzige Ziel rückte näher. Es gab keine Ausflucht mehr, keinen Neuanfang, keinen Richtungswechsel. Sein Leben bewegte sich nur noch in eine Richtung, etwas schob ihn, er war dabei, die Todeszone zu betreten. Er konnte den Verlauf nur verzögern, aber nicht aufhalten. Seine Füße berührten schon die Grenze. Es war kein Spiel mehr, es wurde ernst. Und die Geschwindigkeit nahm zu.
Ich bin, verdammt noch mal, so sehr mit meinem Altern beschäftigt, dass ich langsam dienstuntauglich werde, dachte Hauptkommissar Martin Velsmann, während er nach Fulda zurück fuhr. Der Verkehr auf der A 66 nahm zu, die meisten Autos fuhren jedoch in Gegenrichtung, zu den Arbeitsplätzen nach Frankfurt oder Offenbach. Velsmann fischte sein Handy aus der Jackentasche und rief im Büro an. Seine Assistentin Tosca Poppe war dran.
»Hören Sie, Tosca. Ich bin heute Morgen wegen eines Falls nach Hanau gerufen worden und komme etwas später.«
»Nach Hanau?«
Velsmann erklärte es ihr in knappen Worten. Tosca kannte Kommissar Pauli und verstand.
»Liegt in Fulda was an?«
»Nein, nichts, Chef, die Verbrecher schlafen.«
»Gut. Seien wir leise und lassen es dabei. Bis später.«
Bevor Velsmann das Handy verstauen konnte, schlug es an. Velsmann meldete sich. Es war Kommissar Pauli.
»Neuigkeiten. Der Rechtsmediziner sagt uns, dass die Tote schwanger war. Im dritten Monat. Sie ist nicht sexuell missbraucht worden. Und außerdem muss sie drogenabhängig gewesen sein, die Blutuntersuchung beweist das einwandfrei.«
»Das ist eine Menge. – Also kommt sie aus einem bestimmten Milieu«, konstatierte Velsmann.
»Sozusagen. Aber aus welchem Milieu? Drogenszene vielleicht. Aber wenn sie schwanger war, kann sie keine Prostituierte sein, oder?«
»Wahrscheinlich nicht. Muss ja nicht sein. Im Kinzigtal gibt es ja auch ganz normale junge Frauen.«
»Meinen Sie?«
»Na hören Sie mal! Sind Sie anderer Meinung?«
»Die Frauen, die ich treffe, sind okay.«
»Na also! Nur weil wir mit diesem Mädchenhändlerring aus dem Osten zu tun hatten, können wir ja nicht alle jungen Frauen verdächtigen, käufliche Ware zu sein. Vielleicht war die Tote eine ganz normale junge Frau, die nicht verhütet.«
»Es wäre einfacher, wenn es sich um eine Prostituierte handelte, dann muss sie irgendwo gearbeitet haben und jemand kennt sie.«
»Hat Ihr Assistent sich inzwischen an was Brauchbares erinnert?«
»Er arbeitet noch dran.«
»Bleiben wir bei dem Gedanken. Ich denke, es existieren Zwischenzonen«, sinnierte Velsmann. »Wenn jemand keine Hausfrau ist, muss sie nicht gleich im Puff arbeiten, aber man hat schon alles Mögliche gehört, von Freizeitprostitution, Schaumpartys mit Putzfrauen, blutjunge Girls erwarten dich in der Turnhalle. Da fließt alles, sozusagen. Und wir haben immerhin Frühling.«
»Lieblos«, sagte Pauli.
»Was?«
»Der Tatort. Der nächste Ort in der Nähe von Meerholz trägt den Namen Lieblos.«
»Tatsächlich? Na ja, werden wir nicht spitzfindig, halten Sie mich auf dem Laufenden. In Fulda scheint im Moment nicht viel los zu sein.«
Velsmann legte das Handy auf den Beifahrersitz. In Höhe von Stahlau blickte er zu der märchenhaften Silhouette des Landstädtchens hinüber. Dort hatten sich vor ein paar Jahren bizarre Morde ereignet. Martin Velsmann erinnerte sich nur ungern an jenen eiskalten Winter. Damals hatte er zum ersten Mal ohne Andrea und die Kinder auskommen müssen. Die Wohnung in der Sebastianstraße war kalt und düster gewesen. Seitdem lebten sie getrennt. Aber in der letzten Zeit hatten sie sich wieder angenähert. Vielleicht, dachte Velsmann, und schaltete in den vierten Gang hoch, kommen wir doch noch zusammen. Aber wer gibt als erster nach? Oder anders ausgedrückt, wer zieht zu wem?
Das ist die große Quizfrage. Die Multi-Million-Existenzfrage.
Was hatte der Junge gesagt? Er glaubte, die Ermordete zu kennen, aber er konnte nicht sagen, woher. Wollte der Assistent sich wichtig machen? Manchmal übersieht man das Offensichtliche, oder die Erinnerung weigert sich aus einem peinlichen Grund, dachte Velsmann. Sie ist für den da, der sich nicht anstrengt. Je mehr man sich Mühe gibt, desto weiter entfernt blickt das zu Erkennende zurück. Wie bei einem Kinderspiel. Es ist verhext!
Velsmann ging vom Gas, ein Fahrer in einem Tiefergelegten, wie sie auf den Straßen des Main-Kinzig-Kreises immer häufiger auftauchten, überholte ihn und schnitt ihn.
Velsmann fluchte leise und bediente die Lichthupe. Manchmal sind die Dinge so nahe, dass man darüber hinweg blickt oder hinweg blicken möchte, dachte er, als er sich wieder entspannte. Aber dem Polizeiaspiranten in Hanau würde schon das Richtige einfallen, er hatte einen aufgeweckten Eindruck gemacht.
Martin Velsmann passierte Neuhof. Der Kaliberg sah schneeweiß aus, es hatte lange nicht geregnet. Hinter dem Ort bog er auf die Schnellstraße nach Eichenzell ein. Er gab noch einmal Gas. Auf der rechten Fahrspur fuhr ein Konvoi der Bundeswehr. Er erreichte wenig später den Bronnzeller Verteilerkreisel und die Vororte von Fulda. Dahinter behinderten Schlangen von Lastwagen die Weiterfahrt in die Innenstadt. Martin Velsmann blickte auf osteuropäische Kennzeichen und Aufschriften. Er musste die Vorstellung unterdrücken, in den Laderäumen befänden sich, eng gedrängt, Illegale, Männer für den Arbeitsmarkt, Frauen für den Liebesmarkt. Er seufzte. Berufskrankheit, dachte er. Er übte sich in Geduld. In der Frankfurter Straße floss der Verkehr wieder. Die Innenstadt war frei.
Velsmann erreichte das Präsidium, parkte den Wagen im Hof und ging in sein Büro.
Tosca Poppe empfing ihn mit wackelnden Hüften und verdrehten Augen, dann brachte sie Kaffee. Sie trug ihre übliche Kampfuniform in schreienden Farben, die eigentlich kurzen, aber unregelmäßig gewachsenen, blonden Haare hatte sie nach Art eines Samurais hochgesteckt. Auch sein Assistent Gregor-Anatol Baumann traf in diesem Moment ein. Er trippelte in Velsmanns Büro, als balanciere er etwas zwischen den Knien und stellte sich linkisch vor Velsmanns Schreibtisch.
»Dann wollen wir mal«, sagte Velsmann. Gemeinsam gingen sie den Tagesplan durch.
Kapitel 2
Es war dieses Licht in seinen Augen. Es schaffte unscharfe Umrisse. Gestalten wie auf Watte, die zu schweben schienen. Man wusste nicht, wie nahe sie waren. Ein Zug fuhr vorbei. Er lauschte. Etwas klirrte und wackelte. Das kannte er schon. Dann kam der scharfe Geruch dazu. Das Licht verschwand allmählich, ein mit Blüten bedeckter Baum schob sich dazwischen, er dachte daran, dass er seine Axt schärfen musste. Dann ging er hinein.
In den Innenräumen war es kühler. Und dunkel. Und es roch anders. Nicht wie draußen, nach aufbrechender, triefender Erde und nach diesem … er suchte nach passenden Worten … nach dieser Geilheit. Wenn sich etwas in die Luft erhebt, das einen mitriss und den Verstand verwirrte. Diese Fäden, die einen unsichtbar umschlangen, harmlos scheinend, diese plötzliche Weite, die einen schaudern lässt, als risse jemand unvermittelt die Tür auf und man steht schwankend am Abgrund. Wenn es aufsteigt, draußen und in einem selbst, immer zur gleichen Zeit, und es will einen öffnen. Öffnen. Wozu das alles? Weit öffnen. Es kehrte immer wieder.
Er wollte nicht geöffnet werden.
Er brauchte Wände um sich herum. Er wollte sich zugestellt und in Sicherheit fühlen. In seinem Versteck. Horror ist, dachte er, wenn alles nichts nützt, wenn man die Türen nicht wirklich schließen kann. Wenn man sich nicht zurückziehen kann. Hatte das nicht einer gesagt? Wenn man es nicht mehr in der Hand hat, weil von überall Stimmen und Geräusche kommen und die anderen ungehindert eindringen.
Die anderen!
Er tastete über seinen Kopf. Es schmerzte wieder. Die Wunden waren da, und sie taten weh. Aber es gab Wunden, die ließen sich nicht ertasten. Wieder ertönte das Rauschen und Poltern, es vibrierte. Ein stählernes Geräusch. Aber das war immer noch besser als die Nähe und die Gegenwart der anderen.
Er wollte sich nicht erinnern, schob alles in seinem Kopf beiseite, ging in die kleine Küche, brummte eine Melodie vor sich hin, die er in diesem Moment erfand, bückte sich und hob eine der Ankündigungen auf. Er verstaute sie in einem Abfallkorb. Er quoll schon über. Er drückte den Papierberg hinunter, fluchte, trat dann darauf, stampfte darauf herum, beruhigte sich wieder.
Dann räumte er Geschirr fort. Es war sauber. Er hielt ein Glas hoch, prüfte den Rand, entdeckte einen Fleck und fuhr mit dem Handtuch darüber. Danach holte er den Besen.
Die Melodie entstand wieder. Es musste sauber sein. Das war die Bedingung. Und er musste es in der Hand haben. Es durfte ihm nicht entgleiten.
Das Licht draußen war wie eine Mauer. Hart, gleißend. Wie eine Drohung. Seine Blicke schlichen dorthin. Er legte die Hand über die Augen und blickte in diese Mauer. Es schmerzte. Das ging niemals weg. Er wusste nicht, wann das angefangen hatte. Etwas musste in der Kindheit geschehen sein. Oder war der Unfall daran schuld? Hatte sich alles später entwickelt, als er schlief? Als er zu schlafen schien, in dieser schrecklichen Zeit des Zusammenbrechens aller Sicherheiten? Aber wenigstens waren jetzt die Gerüche fort.
Nun gut, dachte der Mann und wendete sich ab. Dann muss ich es eben tun.
Er hantierte weiter. Es gab immer etwas zu tun. Und er dachte weiter. Es gab auch immer etwas zu denken. Heute war die Küche dran. Das Küchenfenster musste neu gestrichen werden, die Farbe blätterte ab, der dunkle Holzrahmen wurde darunter sichtbar. Das war unerträglich. Aber er musste erst Farbe kaufen, und heute war Sonntag. Es gibt diesen Abschaum, dachte er. Und es gibt mich. Sie erschrecken vor mir. Aber es gibt mich mehr als alle anderen zusammen genommen. Ich hebe sie alle auf. Und vor allem die Besonderen. Sie bauen sich vor dir auf, aber es ist der letzte Dreck. Wie sie mich anschauen. Ich will es nicht mehr sehen. Diese herausfordernden Blicke, mit denen sie mich aus der Deckung locken.
Vor allem die Besonderen. Sie sind überall, sie sind laut, sie versauen alles. Sie bringen alles in Unordnung. Das schöne Gefühl, die Ruhe, die Beziehungen. Alles.
Sie sind nur mit einem Verzicht auf Leben zu besiegen. Mit einem allmählichen Absterben. Man zieht sich zurück, macht die Türen zu, schließt die Fenster. Man schlägt den Fernseher kaputt, bis die Röhren und alles wie Innereien heraus hängen, stellt das Radio ab oder zieht gleich den Stecker raus und lauscht. Außer den Ankündigungen kommt ja nichts mehr an. Keine Nachrichten.
Oder man wählt den anderen Weg, dachte er. Man erfindet sein Ritual. Sein eigenes, eng umfasstes Recht. Man staffiert es mit seinem Zorn aus und gibt ihm eine Begründung. Und einen Namen.
Das Ritual.
Dann hält man es aus. Eine Weile.
Bis zum sicheren Ende.
***
Christel Funke lachte. Sie öffnete sich ganz und gar diesem Lachen. Ihr breiter Mund ließ die Zahnreihen blitzen. Während sie ihn handhabte, hörte sie mit dem Lachen auf. Er mochte das nicht. Wer mochte das schon, mitten drin? Man fühlte sich ja ausgelacht. Aber Christel konnte sich kaum beherrschen. Sie war schon so lange dabei, dass ihr Tun sie nur noch heiter stimmte. War nicht alles nur lustig? Das überfiel sie manchmal mitten im Dienst, sie konnte es kaum unterdrücken. Es schüttelte sie innerlich.
Sie machte alles richtig. Das war zu hören. Er wurde schlaff und hilflos in ihren Händen, sein innerer Widerstand erlosch. Es war, als löse sich sein Körper auf in eine haltlose Masse. Er bäumte sich ein letztes Mal auf, fiel zurück. Er war zufrieden. Er wischte sich über die feuchten Lippen. Die Geldscheine knisterten in seiner Hand.
»Ich komme wieder, versprochen. Du bist wirklich eine süße Sau.«
Danach streckte sie sich aus.
Sie starrte zur Decke. Schöne Stadt, schöner Arbeitsplatz, dachte sie. Sie hatte alles in der Hand. Das Klagen der anderen verstand sie nicht, es war das professionelle Jammern. Die Opferklage. Dann suchten sie immer nach Begründungen für ihr Tun. Ich war noch ein halbes Kind, und dann kam er und versprach mir viel, er lud mich ein, bezahlte alles, dann hat er mir Gewalt angetan …
Jeder kommt damit zurecht, wie er es braucht, dachte Christel. Jeder konstruiert sich die Geschichte, die er zu brauchen glaubt, um nicht verantwortlich zu sein. Es waren immer die anderen …
Ich bin froh, dass ich es genießen kann. Das Begehrtwerden. Das Bewundertwerden. Die Gier.
Hier bin ich. Ich, Ich, Ich! Und sie kommen zu mir. Um mich zu sehen. Sie kommen wegen mir. Und ich warte auf sie.
Sie erhob sich. Der letzte Kunde war gegangen. Sie konnte verschwinden. Sie stellte sich in der kleinen Glaskabine unter die Dusche, ließ das Wasser so heiß, wie sie es vertrug, über ihren Körper laufen, wusch alles ab, blieb lange im kräftigen, reinigenden Wasserstrahl stehen. Als die Tätowierung zu brennen begann, stieg sie aus der Kabine. Sie trocknete sich mit einem weichen Handtuch ab und rieb sich mit einer milden Hautcreme ein, es kühlte. Und es duftete.
Sie zog helle, hauchdünne Unterwäsche an, Jeans, ein ärmelloses grünes Sommerhemd und eine leichte Leinenjacke. Sie konnte dabei nicht vermeiden, ein paar Tanzschritte zu vollführen, sich zu wiegen. Am Schluss schlüpfte sie in Halbschuhe aus weichem Leder. Sie griff nach ihrer Tasche, hängte sie über die Schulter und verließ das Haus.
Unten winkte sie der dunkelhäutigen Bedienung aus Sri Lanka zu und wusste, dass sie morgen wieder das gleiche tun würde. Das ging früh los und endete spät. Es war ihr Leben und würde es bleiben. Wozu sich also aufregen.
***
Der Aufruf ging noch am Nachmittag raus. Die Polizeisprecherin hatte sich einen Zehnzeiler schreiben lassen, der jetzt über alle Faxe lief. Und über alle E-mail-Verbindungen. Lisa Bäcker, Prostituierte in einem Nachtclub im Hanauer Nordosten. Polizeiaspirant Rau hatte sich endlich erinnert, wenn auch stotternd. Es war eine peinliche Erinnerung gewesen. Aber schließlich war sie ihm doch geglückt. Das Polizeigewissen hatte ihn gepackt. Er hatte sich an den Besuch im Club »Chantal« erinnert, ein Abend lang an der Bar, eine halbe Stunde auf dem Zimmer.
Chantal. Eine Verheißung. Halbdunkle Räume. Gedämpfte Musik. Geflüsterte Worte. Und der Geruch nach Drinks.
Lisa Bäcker.
Sie hielten die digitalen Daten in den Händen.
Und jetzt war das Band aufgetaucht. Alle saßen im Filmraum zusammen. Der Projektor vergrößerte das Bild.
»Da!«, sagte Pauli. »Jetzt! Aufpassen!«
Die Beamten sahen das Innere eines Zugabteils. Nach dem Interieur zu urteilen, ein ratternder Regionalexpress. Wahrscheinlich zwischen Hanau und Fulda, oder in Gegenrichtung. Hinten im Bild ein weiblicher Fahrgast. Dahinter ein Schatten. Im Vordergrund ein Ehepaar und ihnen gegenüber ein einzelner Mann, vergraben hinter einer Zeitung.
Das dumpfe, hämmernde Geräusch des fahrenden Zuges, manchmal ein Schleifen, wenn es in die Kurven ging. Bilder, die manchmal Schlieren zogen, wenn die Vibration zu stark war. Hinter den Fenstern huschte etwas vorbei.