Das stille Land
Roman
Aus dem Englischen von
Gerhard Falkner und
Nora Matocza
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Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Driftless Area« im Verlag Grove Press.
© 2006, Tom Drury
All rights reserved
Für die deutsche Ausgabe
© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg
Unter Verwendung eines Fotos von © Stefanie Schneider/VG Bild-Kunst, Bonn 2014
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-98022-6
E-Book: ISBN 978-3-608-10762-3
Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe.
Kurz vorher starb in der wohlhabenden Familie der Chang eine Tochter mit dem Namen Yen-erh im Alter von 15 Jahren – ganz plötzlich, ohne ersichtlichen Grund. In der Nacht jedoch erwachte sie wieder zum Leben, stand auf und versuchte davonzueilen; doch die Familie versperrte die Tür und wollte es verhindern. Darauf sagte sie: »Ich bin der Geist der Tochter eines Unterpräfekten. … Ich bin ein Gespenst, was soll das also, mich hier einzusperren?«
Seltsame Geschichten aus dem Studierzimmer des Liao
Sie hießen Pierre Hunter und Rebecca Lee und waren siebzehn Jahre alt. Er war gerade zu ihr ins Krankenhaus gekommen, denn sie hatte sich nach einem Geländelauf an einem regnerischen Wochenende eine Lungenentzündung geholt.
Sie lag im Bett, hielt sich mit ihren blassen, mageren Händen am Geländer fest und sagte, es müsse dunkel im Raum sein, sonst könne sie nicht schlafen.
»Hier ist es nie dunkel«, sagte sie. »Die ganze Nacht kommt Licht rein.«
»Vielleicht solltest du die Jalousien geschlossen lassen.«
»Mach ich ja. Ich meine doch, wenn sie unten sind.«
Pierre ging zum Fenster und schaute hinaus. Der Parkplatz wurde durch eine Art Gitternetz von Straßenlampen beleuchtet, und eine davon stand unmittelbar vor dem Fenster des Zimmers. Ihr Licht war weiß und im Zentrum blau.
»Jetzt verstehe ich, was du meinst«, sagte er. »Sieht ein bisschen aus wie von einem Elektroschweißgerät.«
»Du solltest das mal sehen, wenn das Licht im Zimmer aus ist«, sagte sie. »Es ist jetzt schon schlimm genug, aber dann wird es noch schlimmer. Und es summt andauernd, das mag ich auch nicht.«
»Wirklich? Ich hör nichts.«
Sie strich sich mit den Fingern durchs Haar, das kurz und brünett war, mit roten Strähnen und seitlich einigen längeren Spitzen, die wie Koteletten aussahen.
»Stimmt«, sagte sie. »Im Moment summt es nicht.«
»Hast du das mal jemandem gesagt?«
»Sie haben mir das da gegeben.«
Sie öffnete ein Schubfach des Nachtkästchens und warf ihm eine schwarze Schlafbrille mit Gummiband zu.
»Das soll ich aufsetzen«, sagte sie. »Stell dir das mal vor! Wer soll denn mit so etwas auf den Augen schlafen können?«
»Vermutlich können das manche Leute«, sagte Pierre.
»Ich nicht.«
»Sonst würden sie die Dinger ja nicht herstellen.«
»Denen müsste mal jemand sagen, sie sollen die Produktion einstellen, oder?«
Als es Zeit war aufzubrechen, ging Pierre zu der für dieses Stockwerk zuständigen Schwester. Sie nickte zuckend und schaute an ihm vorbei, als ob sie alles, was er zu sagen hatte, schon im Voraus wüsste.
»Rebecca steht unter starken Medikamenten«, sagte sie. »Sie weiß nicht immer, was um sie herum los ist. Sie schläft gerade. Sie brauchen sich deswegen keine Sorgen zu machen.«
»Es geht um dieses Licht.«
»Ach ja. Das Licht, von dem sie immer spricht.«
»Sicher, aber dieses Licht ist ja wirklich da.«
»Natürlich ist da Licht.«
»Ja, und es summt.«
»Es gibt hier viele Lichter«, sagte die Krankenschwester. »Das ist schließlich ein Krankenhaus. Ich finde, es ist ganz normal, dass es hier Lichter und Geräusche gibt. Und es wäre in der Tat ein sehr dunkles Krankenhaus, wenn wir anfangen würden, genau deswegen die Lichter auszuschalten.«
Sie redeten oder, besser, debattierten noch eine Weile. Pierre hatte den Verdacht, dass die Krankenschwester eine war, die auf jede Anfrage sagte, das sei unmöglich, selbst wenn das überhaupt nicht der Fall war oder sie einfach keine Ahnung hatte.
Doch am nächsten Abend gingen auf dem Parkplatz drei Lampen aus, einschließlich derjenigen vor Rebeccas Fenster.
Ein Elektriker des Krankenhauses, der den Grund herausfinden sollte, entdeckte, dass ein Leitungsschutzschalter in einem verschlossenen Kasten auf der Rampe hinter den Müllcontainern abgeschaltet worden war.
Das war zwar ein wenig seltsam, aber es kam ab und zu vor, und der Elektriker legte den Schalter um, die Lampen gingen wieder an, und er vergaß das Ganze – bis zum nächsten Abend, als dieselben drei Lampen wieder ausgingen und er sie erneut einschaltete.
In der dritten Nacht nahm sich der Elektriker eine Thermoskanne Kaffee mit und wartete in seinem LKW auf dem Parkplatz. Um circa zehn Uhr sah er, wie jemand in einem Kapuzenpulli aus dem Krankenhaus kam, die Rampe hinaufging, den Sicherungskasten öffnete und die Lampen ausschaltete.
Der Elektriker machte die Thermoskanne zu und stieg aus dem Lastwagen. Er war so schlau, nicht zu rufen und kein Geräusch zu machen, und so holte er die große vermummte Gestalt fast ein, ohne rennen zu müssen. Aber nicht ganz. Es gab eine Verfolgungsjagd, doch der Elektriker war nicht besonders schnell, und derjenige, der die Lichter ausgeschaltet hatte, wäre entkommen, wenn er nicht den Fehler gemacht hätte, in den Krankenhausgarten einzubiegen, der in einem Hof ohne weiteren Ausgang lag. Dort erwischte ihn der Elektriker, zog ihm die Kapuze herunter und sah, dass der Vermummte noch ein Junge war.
»Nicht so schnell, Freundchen«, sagte er. »Wie heißt du?«
»Pierre Hunter«, sagte Pierre. »Meine Freundin liegt im zweiten Stock. Wegen der Lampen kann sie nicht schlafen.«
»Ich sag dir mal was«, sagte der Elektriker. »An der elektrischen Versorgung eines Krankenhauses herumzuhantieren, das ist nicht nur illegal, es ist auch gefährlich. Du könntest damit jemandem die Versorgung abschalten, die ihm das Leben rettet. Hast du daran mal gedacht?«
»Als ob sie die Energieversorgung dafür über den Parkplatz laufen lassen würden«, sagte Pierre.
»Oha, du bist also Kabelexperte.«
»Und außerdem ist da ein Schaltplan auf der Innenseite der Abdeckung.«
»Jawohl«, sagte der Elektriker. »Den hab ich gezeichnet. Aber beantworte mir mal Folgendes: Wie hast du denn das Schloss aufgekriegt?«
»Die Kombination steht auf der Rückseite«, sagte Pierre.
Sie gingen zusammen zum Sicherungskasten, wo der Elektriker sich von der Richtigkeit überzeugen konnte.
»Das war ja nun nicht der Sinn der Sache«, sagte er.
Er schaltete den Strom wieder ein, aber wie der Zufall es wollte, gingen nur zwei Lampen wieder an, während die dritte flackerte und durchbrannte.
»Ist es diese da?«, sagte der Elektriker.
»Ich glaube ja.«
»Dann schätze ich, deine Freundin wird heute Nacht gut schlafen.«
Was Pierre gemacht hatte, konnte als allerdings abwegiger Versuch angesehen werden, sich über eine rücksichtslose Bürokratie hinwegzusetzen, und man war sich dessen im Krankenhaus auch bewusst. Rebecca Lee war nicht die Einzige, die sich über die Lampen beschwerte und über das Geräusch, das sie machten.
Anstatt also zur Polizei zu gehen, begnügte sich der Leiter der Sicherheitsabteilung damit, Pierre Hausverbot zu erteilen. Das galt auch für den Parkplatz.
Während Pierres Verbannung vom Krankenhausgelände kam eines Abends eine Freundin von Rebecca namens Carrie Sloan zur Wohnung der Hunters, die oberhalb der Stadt Shale lag; dort wohnte Pierre in einem großen Haus auf einem drei Morgen großen Grundstück mit seiner Mutter, seinem Vater und ihrem Hund, einer Labradorhündin namens Monster.
Pierre war draußen auf dem Hof gewesen und hatte den Eulen in den Hemlocktannen gelauscht, und nun unterhielten sich Carrie und er in der Garage neben den Sabre-Mähtraktoren.
»Also pass mal auf, Rebecca will mit dir Schluss machen«, sagte Carrie. »Sie wollte, dass du es als Erster erfährst.«
»Oh, super«, sagte Pierre.
»Tut mir leid.«
»Aber du hast es ja doch vor mir gewusst.«
»Na ja, dann bist du eben einer der Ersten.«
»Sie hätte mich ja anrufen können.«
»Sie kommt momentan mit dem Telefon nicht klar, Pierre.«
»Man braucht eigentlich nur jemanden, der wählt und den Hörer hält.«
»Geht es denn überhaupt um das Telefon?«, sagte Carrie Sloan. »Eigentlich nicht, oder? Natürlich tut dir das jetzt bestimmt sehr weh und so.«
»Es ist wegen der Lampen, oder?«
»Nein. Das hat sie völlig vergessen. Es gibt keinen Grund, Pierre. Es ist einfach so, wie es ist.«
»Was soll das heißen?«
»Denk mal drüber nach.«
»Klar ist es so, wie es ist. Wenn es nicht so wäre, wäre es ja nicht so.«
»Na ja, so sagt man halt.«
»Ich schätze, das bedeutet einfach ›Ganz schön scheiße‹, oder?«
»Wenn du es unbedingt so sehen willst«, stimmte sie zu.
»Schon bevor sie krank wurde, war ich mir nicht mehr sicher, ob sie wirklich noch mit mir gehen wollte.«
»Na ja, jetzt weißt du’s. Sie will nicht.«
»Sie soll mir bitte einen Brief schreiben.«
»Ich werde deine Bitte weiterleiten, aber ich kann dir nichts versprechen.« Sie wandte sich einem weißen MGA in der Garage zu und fragte: »Ist das dein Wagen?«
»Ich kann ihn fahren«, sagte Pierre. »Aber es ist nicht de facto meiner.«
Sie blieben noch eine Weile stehen und schauten auf das weiße Zweisitzer-Cabrio. Die straffe Wölbung der hinteren Kotflügel ging über in den langen Schwung der Seiten, und der Kühlergrill schwang in elegantem Bogen zwischen den beiden dienstbeflissenen runden Scheinwerfern zurück.
»Lass uns ’ne Spritztour machen.«
»Okay, spring rein.«
Pierre ließ den Motor aufheulen, düste zum Elektrizitätswerk, das manche »Frankensteins Spielwiese« nannten, und parkte vor dem Maschendrahttor. Während der Fahrt kamen sie kaum zum Sprechen, denn die dauerte nur ein paar Minuten.
»Toll, was?«, sagte Pierre.
Sie legte ihren schmalen Arm auf die Autotür und lächelte schief, als würde sie ihn komplett durchschauen, wobei ihr gar nichts daran lag, ihn zu durchschauen.
Für dieses Lächeln war sie an der Highschool berühmt.
»Findest du das witzig, mich hierherzubringen?«
»Irgendwie schon, ja.«
»Du bist sauer auf mich, weil ich dir die Nachricht überbracht habe.«
»Eher darüber, wie du sie überbracht hast«, sagte Pierre. »Dir hat das anscheinend Spaß gemacht.«
»Na, ist dir jetzt das Herz gebrochen, oder was? Heulst du etwa? Ich hoffe, du heulst nicht.«
»Nur innerlich.«
»Sagst du eigentlich jemals auch was Ernstgemeintes?«
»Manchmal schon«, gab Pierre zu. »Weißt du, was der Typ zu mir gesagt hat, der mich erwischt hat, als ich die Lampen ausgeschaltet habe? ›Ja, durchaus.‹ Ist das nicht komisch? Meinst du, das war ein Engländer?«
»Weiß nicht«, sagte Carrie. »Jeder könnte Engländer sein.«
»Das stimmt allerdings.«
»Wenn er aus England kommt.«
»Ja, das ist der entscheidende Punkt.«
Carrie war die Vorsitzende des Poesie-Workshops, und sie erzählte, sie habe ein Gedicht über Rebecca geschrieben, bei dem Sportfest, bei dem diese sich die Lungenentzündung geholt hatte.
»Lass hören«, sagte Pierre.
Eichenblätter schwappen Regen auf die regennassen Läufer,
Doch auf Rebecca warten alle vergebens.
Wie ein Pferd, eingeengt von der Herde,
Kommt sie nicht durch, um zu führen.
Irgendetwas stimmt nicht – das ist klar –
Denn auf dieserart Gelände ist sie überragend.
»Das ist gut«, sagte Pierre.
»Aber?«
»Oh, nichts.«
»Nein, nein, ist schon okay. Ich höre ein Zögern.«
»Na ja, die Reime gehen ein bisschen durcheinander, aber ich schätze, das kann man so machen.«
Sie nickte: »Das kann man nicht nur, sondern es gefällt mir auch so.«
Pierre brachte sie zurück zum Haus, schaute ihr nach, als sie wegfuhr, und ging dann hinein.
Das Haus der Hunters war ein großes, knarrendes Gebäude mit verstaubten grünen Vasen auf hölzernen Tischen und mit engen Stiegen, die sich in den Schatten verloren, und Pierres Eltern sahen sich gerade im Wohnzimmer den Film Der Teufelshauptmann an.
Auf dem ausgebleichten roten Teppich lag Monster, die schwarze Labradorhündin, flach auf der Seite und schlief.
Pierre tastete sich bis zu einem schwarzen Ledersessel, während er auf den Bildschirm schaute, und überlegte kurz, ob er ihnen erzählen solle, was Carrie Sloan ihm gesagt hatte, aber dann dachte er: lieber nicht.
»Warum ist das ein Klassiker?«, fragte seine Mutter. »Das würde ich gerne mal wissen. Es ist weiter nichts als ein ewiger Singsang und ein Herumgereite, soweit ich das beurteilen kann.«
Pierres Vater nahm die Zeitung, schüttelte sie, setzte sich die Brille auf und las laut vor: »Der Film zeigt auf elegische Weise die unermessliche Weite des Westens.«
»Das leuchtet absolut nicht ein.«
»Einer der besten Filme mit John Wayne.«
»Vielleicht. Aber wenn ich ihn sehe, sehe ich immer nur John Wayne.«
»Genau das macht einen Star aus.«
»Ich glaube, es ist besser, wenn der Held erst mal unauffälliger ist und man noch gar nicht weiß, wer es eigentlich sein wird.«
Pierre legte die Füße hoch und schaute über seine Knie auf den Fernseher. »Sagt mir doch nochmal, warum sie das gelbe Band trägt.«
»Sie trägt es für ihren Liebhaber in der US-Kavallerie.«
»Schau mal, Monster«, sagte Pierres Vater. »Da ist ein Hund in John Waynes Regiment.«
Er redete ständig mit Monster und antwortete oft für sie mit verstellter Stimme – hoch und ein bisschen dümmlich.
»Wie wäre es mit einem Spaziergang, altes Mädchen?«, pflegte er zu sagen, während er die Leine schon in der Hand hielt und hinunter in die tiefgründigen und skeptischen Augen der Labradorhündin blickte.
»Ich weiß nicht. Sieht ziemlich nach Regen aus.«
»Na, komm schon, es wird dir gefallen.«
»Aber da draußen sieht es verdammt nach Regen aus.«
»Ich dachte immer, du bist so etwas wie ein Wasserhund.«
»Ach, weißt du, das ist ziemlich übertrieben. Ich leg mich jetzt erst mal hin.«
»Nein, jetzt wird die Hundeleine angelegt.«
»Kannst du gerne machen. Aber du wirst es nicht mögen.«
»Dir angelegt, meine ich.«
In Shale galten Pierres Eltern als extravagante Persönlichkeiten und wurden viel bewundert. Sie waren in mittlerem Alter in die kleine Stadt gezogen, nachdem sich beide von ihren vorherigen Ehepartnern getrennt und die anderen Familien im weit entfernten Council Bluffs zurückgelassen hatten.
Dieser Skandal war unübersehbar, schien sie aber nicht im Geringsten zu berühren. Sie arbeiteten hart, achteten auf alles, was in der Welt vorging, und veranstalteten wilde Kartenspielabende. Sie bekamen Pierre in einem Alter, in dem viele Eltern (sie selbst eingeschlossen) bereits erwachsene Kinder hatten.
Pierres Mutter leitete das Versicherungsbüro in Shale, und sein Vater war Elektrophysiker bei einem Luft- und Raumfahrtunternehmen in Desmond City. Was das genau bedeutete, wusste niemand, nicht einmal Pierre. Sein Vater konnte es erklären, aber nur in jener Sprache, die der menschliche Verstand gewöhnlich sofort wieder vergisst.
Als Pierre vierzehn Jahre alt war, wühlten er und die noch junge Labradorhündin Monster im Keller herum und fanden ein Paar Schlittschuhe mit ausgefransten Schnürsenkeln an einem Nagel hängen. Die Schlittschuhe waren gut verarbeitet und schwer, aber abgenutzt, verschrammt und mit den Jahren spröde geworden. Er nahm sie vom Nagel und trug sie nach oben.
Er fand seinen Vater in seinem Arbeitszimmer, wo er am Telefon mit jemandem aus dem Labor sprach, in dem er arbeitete.
»Versuch es mal zu schütteln«, sagte er. »Ach so, hast du schon? Okay, dann versuch’s einfach noch einmal … Mir egal. Leg es vorläufig einfach mal auf den Tisch … Mach dir deswegen keine Sorgen. So etwas kommt nie vor. Das sagt jeder … Wo kommt die Ladekapazität denn her? Na siehst du. Irgendwo muss die ja herkommen.«
Er schaute Pierre an. »Ich bin am Telefonieren«, sagte er.
»Sind das deine?«, fragte Pierre.
»Ich staune, dass es die noch gibt. Habe mal Eishockey gespielt, weißt du. War auch gar nicht so schlecht.«
»Kann ich sie haben?«, sagte Pierre.
Sein Vater nickte. »Klar, nimm sie.«
Ins Telefon sagte er: »Ja … Nein, nein, nein. Hast du Kapitel 8 gelesen? Ich bin ziemlich sicher, dass es da drinsteht … Na, dann lies es nochmal.«
Nachdem Rebecca mit ihm Schluss gemacht hatte, versuchte Pierre, sich in einen aufgewühlten Zustand romantischer Verlustgefühle hineinzusteigern. Das lieferte ihm einen Vorwand zu trinken und mit versteinerten Augen vor sich hin zu brüten, was er als interessant empfand.
Als er sich eines Abends hoch über dem Lens Lake an einem Ort namens Grade die Kante gegeben hatte, begegneten ihm anschließend seine Eltern, als er in der Küche herumstand.
»Wie wäre es, wenn es eine Sprache gäbe, die nur aus einem Wort bestünde?«, fragte er.
»Dann wäre sie einfach zu lernen«, sagte seine Mutter.
»Und mit diesem einen Wort würden alle Menschen jedes Mal, wenn sie den Mund aufmachen, alles sagen«, sagte Pierre.
»Ja, das wäre schon eine tolle Sprache«, sagte der Vater. »Worauf bist du denn drauf?«
»Nur Alkohol«, sagte Pierre. »Ganz normales amerikanisches Besäufnis. Du siehst heute Abend alt aus. Ihr seht heute Abend beide alt aus.«
Das war zwar ehrlich, aber eine miese Bemerkung, und er würde sie später bestimmt bereuen.
»Wir sehen nur deinetwegen alt aus«, sagte seine Mutter. »So wie du herumhängst, Pierre, frage ich mich, was aus dir werden soll.«
»Du bist doch gar nicht so traurig«, sagte sein Vater. »Eigentlich nicht wirklich. Du versuchst nur, die Aufmerksamkeit, die Rebecca wegen ihrer Krankheit bekommt, auf dich zu lenken.«
»Möglich, aber nicht wahrscheinlich«, sagte Pierre.
Sein Vater schenkte ein Glas Leitungswasser ein und gab es ihm. »Trink das mal«, sagte er. »Vielleicht hättest du aufs Internat gehen sollen. Ich weiß nicht, ob es für dich hier immer so gut ist.«
»Würde mir nichts ausmachen, wenn es dort Lacrosse gibt«, sagte Pierre. »Und ich glaube, bei den meisten gibt es das auch.«
»Du spielst aber doch Football.«
»Trotzdem, mir gefallen diese Lacrosse-Schläger.«
»Das hier ist für dich gekommen«, sagte seine Mutter.
Es war ein Brief von Rebecca, den Pierre mit in sein Zimmer hinauf nahm, um ihn im Bett zu lesen.
Lieber Pierre,
ich kann es kaum glauben, dass jetzt schon die Abschlussklasse kommt und damit wohl auch die letzte Chance, die Dinge zu tun, an die man sich sein Leben lang erinnern wird. Irgendjemand hat gesagt, jeder Tag sei ein Geschenk, und der hatte wirklich den Durchblick. Wie Carrie dir ja schon erzählt hat, möchte ich in unserem letzten Jahr an der Shale-Midlothian Highschool einfach meine Freiheit haben, um andere Menschen kennenzulernen. Ich werde nie vergessen, wie ich bei dem Ausflug in die Effigy Mounds deine Jacke anhatte.
Mit herzlichen Grüßen,
Rebecca
Pierre ließ den Brief zu Boden segeln. Das Ganze hörte sich an, als hätte sie ein Verhältnis mit einem Verkäufer von Absolventenringen, allerdings war er auch wieder gerührt, dass sie sich daran erinnerte, wie sie seine Jacke getragen hatte. Sie kamen allerdings nie wieder zusammen, und im folgenden Jahr zog Rebecca nach Arizona, wo ihr Vater einen Job in der Stadt Yuma annahm, und Pierre sah sie nie wieder.
Die Jahre vergingen. Pierre ging aufs College in Ames, 280 km südwestlich von Shale. Es dauerte fünf Jahre, bis er fertig war. Seine Eltern starben im Winter des dritten Jahres. Der Tod seiner Mutter war zu erwarten gewesen, bei seinem Vater hingegen setzte das Herz drei Wochen später völlig unerwartet aus. Er war gerade auf dem Weg vom Baumarkt nach Hause und fuhr noch an den Straßenrand, wo ihn später eine Briefträgerin auf ihrer Runde in seinem Auto fand.
Wenn Pierre später auf diese Zeit zurückblickte, war ihm, als ob er alles wie durch Milchglas sähe. Er bewegte sich wie ein Schlafwandler unter all den Leuten in Anzügen und Kleidern, den Leuten, die durch Treppenhäuser schwebten. Dass seine Eltern nicht mehr da waren, schien ihm ein Ding der Unmöglichkeit. Für ihn waren sie immer noch am Leben. Das Problem türmte sich bedrohlich auf, aber eine Lösung war nicht greifbar. Er hatte das Gefühl, es gäbe noch etwas, was er tun könnte, wenn ihm nur einfallen würde, was.
Als er in der Church of the Four Corners darauf wartete, dass das Begräbnis seines Vaters begann, erfasste ihn eine Art Nervenkrise. Es zitterten ihm die Hände, und sein Atem wurde flach. Er stand auf und schlich sich an der Reihe seiner Halbgeschwister aus Council Bluffs vorbei. Er verließ das Kirchenschiff und stieg die zwei Stockwerke zum Glockenstuhl hinauf, blieb stehen und betrachtete über der halben Mauer den Sonnenglanz auf den schneebedeckten Bergen. Er rauchte eine Zigarette, drückte sie aus und weinte dann eine ganze Weile sehr heftig. Er hatte ein blaues Taschentuch, wie es die alten Farmer bei sich trugen, damit wischte er sich das Gesicht ab und schneuzte sich die Nase. Das Licht schmerzte ihn in den Augen, denn es war so hell und dünn und hatte offensichtlich keine Ahnung, worauf es schien.
Die seltsame Kette von Ereignissen, die zu den berühmten Gewalttaten auf dem Fay’s Hill führen sollte, begann in der Silvesternacht des Jahres, in dem Pierre vierundzwanzig wurde.
Er wohnte inzwischen wieder in Shale, in einem Apartment über einem Schreibwarenladen. Er hatte einen Bachelor in Naturwissenschaften gemacht und arbeitete als Barkeeper in einem Luxusnachtklub namens Jack of Diamonds draußen am Lens Lake.
Er war der mit Abstand jüngste Barkeeper, deshalb bekam er an diesem Abend die erste Schicht, bevor die Kunden aufgrund des herannahenden Jahresendes achtlos dicke Trinkgelder auf den Tisch blättern würden.
Deshalb konnte Pierre die Bar gegen neun Uhr verlassen und auf eine private Silvesterparty in Desmond City gehen. Das Haus gehörte Leuten, die er nicht besonders gut kannte, und es war karg und ohne Gespür eingerichtet. In der Badewanne lag ein Hammer, im Kamin ein Bakelit-Radio und im Wohnzimmer gab es Gitarren und ein Schlagzeug. Zerfetzte Papierjalousien hingen über die Lehne einer Bank vor den Fenstern, als hätte jemand sie abgenommen und dann vergessen, sie wegzuwerfen. Die Wände waren dunkelrot und -blau gestrichen.
Dazu passende Kunstobjekte aus der Werbung waren in einem Haus dieser Art nicht unüblich, und das Objekt, das man hier gefunden hatte, war ausgefallen und bestechend: Es war ein heller, blauer Quader in Form einer Zigarettenschachtel allerdings drei- bis viermal so groß, und sein Inneres wurde von unaufhörlichen Blitzen durchzuckt. Beim Berühren der Oberfläche schossen Strahlenbündel zu den Fingerspitzen. Seitlich war die Warnung der Gesundheitsbehörde zu lesen, und auf der Vorderseite stand:
KOOL
MILD
DIE MENTHOLMARKE
Pierre holte sich ein Glas Whiskey aus der Küche, setzte sich in einen Schaukelstuhl und betrachtete beim Trinken das blaue Licht. Nach einer Weile kam eine Frau und setzte sich auf die Armlehne seines Stuhls. Sie war langgliedrig, hatte getuschte Wimpern, roch nach Gewürzen und trug eine schwarze Lederjacke mit silbernen Nieten und dichten Fransen an den Ärmeln.
Sie hieß Allison Kennedy und arbeitete in einer Glasfabrik der Stadt Arcadia am Fließband. Sie hatte eisblaue Augen mit goldenen Flecken und sang in einer Band, die sich Carbon Family nannte.
»Ich hab gehört, du spielst Schlagzeug«, sagte sie.
»Ja«, sagte er. »Schlagzeug und Cello.«
»Wir versuchen hier gerade etwas aufzuziehen, aber unser Schlagzeuger ist nicht da.«
»Ich spiele.«
Etwa eine halbe Stunde später begann die Musik. Allison Kennedy spielte auf einer roten ASAT Classic-Gitarre, es gab zwei weitere Gitarristen und Pierre am Schlagzeug. Die kleinen Verstärker standen hinten an der Wand und erzeugten einen lauten, klirrenden Sound. Die Band spielte »Thrift Store Chair«, »Coralville Dam«, »Polyester Bride« und »In Heaven There Is No Beer«.
Diesen letzten Song spielte nur selten jemand so wie die Carbon Family. Da war es eine langsame Version, mit vielen Moll-Akkorden und voller Trauer. Mit ihrer geisterhaft hohen Stimme konnte Allison Kennedy das glaubwürdig vermitteln.
Im Himmel gibt’s kein Bier
Und keiner bringt Post zu mir
Und wenn ich den Herzschlag verlier’
Sind die Freunde zum Ramschverkauf hier.
Der Song war zu Ende, aber das Gefühl von Verzweiflung hing noch in der Hitze des Partyraums. Die Bandmitglieder gingen von der Bühne, um sich ein Bier zu holen und zu besprechen, was als Nächstes gespielt werden sollte. Pierre blieb beim Schlagzeug. Es bestand aus einem Bass mit zwei Tomtoms, einer kleinen Trommel, einem Standtom und zwei Becken, einem Ride und einem Hi-Hat. Er begann ein Solo, das zunächst ein wenig vor sich hin dümpelte und erst allmählich Gestalt annahm, wobei es immer wieder auf eine Reihe von Rim Shots zurückkam, die klangen, als würde eine Maschine kaputtgehen.
Ja, wir müssen sterben – war die Botschaft seines Spiels –, aber bis dahin sollten wir ordentlich Krach machen, so wie jetzt hier. Er versuchte das psychische Gleichgewicht der Party wieder herzustellen, aber sobald die Leute merken, dass ein Schlagzeugsolo beginnt, verlassen sie normalerweise den Raum, egal, warum das Solo gespielt wird – zumindest war das hier der Fall.
Da traf der Schlagzeuger der Band ein. Pierre spazierte mit seinem großen Whiskyglas auf der Party umher, hörte Gesprächen zu und mischte sich manchmal ein, schien aber nie den richtigen Ton zu treffen. Seltsam, wie man auf einmal zu einem unwillkommenen Gast werden kann, wenn man kaum Leute kennt oder schlimmstenfalls sogar ein völlig Fremder ist, aber Pierre hatte für so etwas ein besonderes Talent.
So stieß er zum Beispiel einmal auf einen Jungen und zwei Mädchen, die sich in einer Nische zwischen der Küche und dem angrenzenden Raum unterhielten. Man erkannte sie sofort als Studenten des Junior College, wegen ihrer strahlenden, flinken Augen und ihrer Klamotten von Humana.
»Es hieß, die soll ich einnehmen«, sagte der Junge. »Und das hab ich dann auch getan. Aber das Klingeln in meinem Ohr wurde immer schlimmer, da hab ich sie wieder abgesetzt.«
»Was war’s, was du einnehmen solltest?«, fragte Pierre.
»Habe ich vielleicht mit dir geredet?«
»Bis jetzt nicht.«
»Antidepressiva.«
»Bist wohl niedergeschlagen?«
»Ich habe Depressionen.«
Pierre nickte und nahm einen Schluck. »Was ist da der Unterschied?«
»Oh, Mann. Darüber rede ich doch die ganze Zeit«, sagte der Junge.
Eines der Mädchen sah Pierre ausdruckslos an und kaute auf einem kleinen Plastikschwert herum. »Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, dass Depression mit etwas Deprimierendem zu tun hat.«
»Du solltest vielleicht mal versuchen, Musik zu hören«, sagte Pierre. »Mir geht’s dann gleich besser.«
»Klar, dachte mir schon, dass es so simpel ist.«
»The Decemberists haben gerade ein gutes Album rausgebracht. Hör dir mal ›The Sporting Life‹ an. Wenn dich das nicht zum Lächeln bringt, dann weiß ich auch nicht.«
»Wer bist du denn eigentlich?«
»Das ist der, der vorhin auf das Schlagzeug eingedroschen hat«, sagte das Mädchen.
»Oh«, sagte Pierre. »Hat es dir gefallen?«
»Eigentlich nicht. Es hat mir in den Ohren weh getan.«
Pierre machte auf dieser Party also keine gute Figur, wusste sich aber anscheinend nicht anders zu helfen. Doch manchmal passiert einem gerade dann, wenn man es am wenigsten verdient, plötzlich etwas Schönes.
Pierre kam die Treppe herunter und Allison Kennedy in der schwarzen Fransenjacke ging im selben Moment hoch. Sie sahen sich in dem engen Treppenhaus aufeinander zukommen, und ohne ein einziges Wort zu sprechen, begannen sie miteinander zu knutschen.
So etwas geschah Pierre sonst nie, und er spürte, dass die leidenschaftlichen Küsse ihn von dem Schlagzeugsolo und von seinem aufdringlichen Verhalten dem depressiven Jungen gegenüber erlösten.
Dann war es vorbei – er ging nach unten und Allison nach oben –, aber ihm war, als wäre der Abend zumindest teilweise noch zu retten, er suchte seine Handschuhe und die Jacke und trat nach draußen, um einen Spaziergang zu machen und wenn möglich ein bisschen nüchterner zu werden.