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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2015
ISBN 978-3-492-96388-6
© 2013 Piper Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagmotive: akg-images (Isaac Newton, links oben; Instrumente von Newton, rechts und links unten);
Andreas Cellarius/Getty Images (»The Celestial Atlas« von Joannes Janssonius, oben Mitte); Don Bayley/Getty Images (Uhr, unten); Historisches Museum Hannover (Wilhelm Leibniz, rechts oben); Joan Blaeu/Getty Images (Hintergrundbild)
Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell
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Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.
ALBERT EINSTEIN
[1] Der Physiker und Parlamentsabgeordnete Isaac Newton ließ sich im Alter von 47 Jahren von dem Londoner Hofmaler Godfrey Kneller porträtieren (1690).
»Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.« Isaac Newton
[2] Der Universalgelehrte und Höfling Gottfried Wilhelm Leibniz mit 65 Jahren nach einem Porträt von unbekannter Hand (1711).
»Ich habe mehrfach betont, dass ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte … Die Zeit ist die Ordnung des nicht zugleich Existierenden. Sie ist somit die allgemeine Ordnung der Veränderungen.« Gottfried Wilhelm Leibniz
Als kleiner Junge besuchte ich meinen Vater manchmal auf der Baustelle. Er war Maurer, hatte schon im Alter von zwölf Jahren angefangen, das Handwerk seines Vaters zu erlernen und 40 mal 20 mal 25 Zentimeter große Tuffsteine, in Süditalien »tufi« genannt, die Leiter hinaufzuschleppen. Mit 18 war er nach Deutschland gekommen.
Während ich mit der Maurerkelle im Sandhaufen spielte, schaute ich ihm aus sicherem Abstand zu, wie er Stein um Stein aufeinanderlegte und gerade Mauern hochzog. Obschon seine Hilfsmittel bescheiden wirkten, baute mein Vater Häuser mit vollkommen senkrechten Wänden. Am wichtigsten war das Lot: eine Schnur, an der ein Metallzylinder baumelte, manchmal auch ein schlichter Stein. Das herabhängende Gewicht zeigte eine besondere Richtung an. Mochte der Boden im Rheintal mit seinen schroff abfallenden Hängen noch so uneben sein, das Senklot machte die Vertikale im Raum sichtbar.
Um zur Ruhe zu kommen, brauchte der kleine Metallzylinder immer eine Weile. Er war nicht so schwer wie jene trägen Gewichte, die man im Brücken- oder Bergbau benutzte. Mal übte ich mich in dem Geduldsspiel, ihn auszutarieren, dann wiederum stieß ich ihn absichtlich an, um zu verfolgen, wie lange er pendelte.
Erst sehr viel später erfuhr ich, dass Wissenschaftler das Gleiche getan hatten. Gebannt vom gleichmäßigen Hin und Her pendelnder Gewichte, zählten sie deren Schwingungen und bauten die akkuratesten Zeitmesser, die Menschen bis dato entwickelt hatten. Mit der Pendeluhr differenzierte sich die Uhrzeit im 17.Jahrhundert erstmals in Minuten und Sekunden aus. Ihr regelmäßiges Ticktack bedeutete einen Fortschritt in der Ganggenauigkeit mechanischer Uhren, durch den wissenschaftliche Präzisionsmessungen überhaupt erst möglich wurden. Die Erfindung und rasche Verbreitung der Pendeluhren war die Voraussetzung für eine neue Physik, die von Beschleunigungen und Kräften handelte.
Aber was messen solche Uhren? Was ist das, was wir »Zeit« nennen und woran wir uns im Wandel der Ereignisse orientieren?
Dieses Buch dreht die Uhr noch einmal zurück, um das Phänomen Zeit aus Perspektive zweier grundverschiedener Forscherpersönlichkeiten zu betrachten: aus der Sicht von Isaac Newton, dem Sohn eines Schafzüchters aus dem ostenglischen Woolsthorpe, der von klein auf den Gang der Gestirne beobachtet und Sonnenuhren baut, und von Gottfried Wilhelm Leibniz, einem Professorenkind aus Leipzig, das hinter den dicken Mauern der Universität mit Lehr- und Stundenplänen aufwächst.
Als Newton und Leibniz in den 1640er-Jahren geboren werden, zieren weder Sekunden- noch Minutenzeiger die Ziffernblätter von Uhren. Die am weitesten verbreiteten Instrumente zur Zeitbestimmung sind Sonnen- und Sanduhren. Sie zeigen eine von den Lichtverhältnissen abhängige lokale Zeit an oder sind, wie beim Stundenglas, auf eine feste Zeitspanne geeicht. Zwar gibt es längst auch mechanische Uhren, Räderuhren auf Kirchtürmen zum Beispiel oder reich verzierte Tischuhren, doch handelt es sich dabei um teure Einzelstücke, die nach individuellen Kundenwünschen angefertigt werden. Die viel bewunderten Automaten sind beim Stundenschlag zu allerlei Bewegungen fähig: Hier rollt ein Löwe mit den Augen, dort holen Jesu Peiniger zu Schlägen mit der Geißel aus. Die Genauigkeit der Zeitangabe ist oft zweitrangig.
Anders die neuen Uhren: Beim Bau der Pendeluhr arbeiten mathematisch versierte Naturforscher mit Uhrmachern zusammen, den Pionieren der Feinmechanik. In Paris und London erlebt Leibniz in den 1670er-Jahren hautnah mit, wie die Uhrenentwicklung und eine an Experimenten orientierte Forschung Hand in Hand gehen. Fast zwei Jahrzehnte nach der Erfindung der Pendeluhr erregt 1675 eine weitere Entdeckung viel Aufsehen, die im Deutschen den wunderbaren Namen »Unruh« trägt. Das von einer gewundenen Feder angetriebene oszillierende Rädchen, ein Ticktack im Kleinformat, ist bis heute das Herzstück mechanischer Taschenuhren.
Mit der Unruhfeder wird die Zeit mobil. Vor allem in London verbreiten sich die neuen Uhren im Nu. In der größten europäischen Metropole und Welthandelsstadt ist der Tag schon so stark auf Planung ausgerichtet, dass der Uhrenbesitz bereits an der Schwelle zum 18.Jahrhundert zum bürgerlichen Selbstverständnis gehört. Automatische Weckvorrichtungen erfreuen sich großer Beliebtheit, man spricht neuerdings von »Pünktlichkeit«, erstmals rennen Sportler gegen die Zeit an, arbeiten Tagelöhner wie nach einer Stechuhr. England ist dabei, den Weg zu einer kapitalistischen Zeitökonomie einzuschlagen.
Ohne die neuen Uhren wären auch Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica kaum vorstellbar, seine revolutionäre Bewegungslehre und Theorie der Schwerkraft, in der Beschleunigung alles ist und die zu ihrer experimentellen Bestätigung einer genauen Zeitmessung bedarf. Schon vor ihm hat der Chefexperimentator der Royal Society, Robert Hooke, mit einem kreisenden Pendel den Lauf der Planeten simuliert und deren Kreis- oder Ellipsenbahnen erstmals physikalisch richtig gedeutet. Ihm verdankt Newton den entscheidenden gedanklichen Anstoß zur Schwerkrafttheorie.
Kein Forscher hat das Denken über Zeit derart geprägt wie Newton. Ihm zufolge bewegen sich alle Planeten, Monde und anderen Körper vor dem Hintergrund einer universellen Zeit. »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.«
Für Leibniz dagegen ist Zeit nicht einfach da. Sie ist nichts Wirkliches, worin sich alles Geschehen abspielt, sondern zuallererst ein Bewusstseinsphänomen. Unser subjektives Zeiterleben schließe aber nicht nur innere Vorgänge ein. Zeit sei eine »Idee des reinen Verstandes«, die sich auch auf die Außendinge beziehe und derer wir vermöge unserer Sinne gewahr würden.
Leibniz fasziniert die Vielfalt und Komplexität der Welt. Seine Metaphysik verfolgt die Vielfarbigkeit des Daseins bis in die kleinsten individuellen Erscheinungsformen hinein. Der Philosoph schlägt einen Bogen vom subjektiven Zeitempfinden zu einer sozialen und messbaren Zeit.
Durch den Blick auf die Uhr können wir das Geschehen deshalb zuverlässig in Früheres und Späteres einteilen, weil sich im Inneren der Automaten ein kausaler Mechanismus auf immer gleiche Weise abspult. Aber auch ohne Uhren können wir uns mit anderen darüber einig werden, ob sich etwas früher oder später ereignet hat. Leibniz zufolge erkennen wir fortwährend kausale Beziehungen zwischen den Dingen und ihren wechselnden Zuständen und konstruieren erst aufgrund dieser eine zeitliche Ordnung.
Leibniz, nicht nur abstrakter Denker, entwirft selbst Uhrenmodelle und erfindet einen Automaten, der keine Zeiteinheiten zählt, sondern alle vier Grundrechenarten beherrscht. Im Zusammenspiel mit Uhrmachern heckt er neuartige mechanische Bauteile aus, die die natürlichen Zahlen repräsentieren, konzipiert Eingabe- und Resultatwerke und investiert ein Vermögen in seine »lebendige Rechenbank«. Quasi nebenbei blitzt dabei 1679 auch die Idee eines binären Rechners auf. Sie ahnen nicht, wie viel Leibniz in Ihrem Computer steckt!
Der Deutsche, dessen Gelehrtenkorrespondenz, etwa 15000 Briefe, heute Teil des Weltkulturerbes ist, sucht mehrfach den Kontakt zum führenden englischen Mathematiker. Newton ist es dank seines Infinitesimalkalküls gelungen, die Bewegung der Planeten und anderer Körper Zeitpunkt für Zeitpunkt kontinuierlich zu erfassen. Allerdings hat der eigenbrötlerische Forscher aus Cambridge seinen Calculus nicht veröffentlicht, sondern geheim gehalten.
Den Ruhm heimst Leibniz ein, der nach ihm auf die gleiche Rechenmethode gestoßen ist. Leibniz kleidet die Differenzial- und Integralrechnung in ihre bis heute verwendete Symbolsprache und macht sie von 1684 an auf dem Kontinent bekannt. Mit den wenigen Briefen, die sich die beiden herausragenden Mathematiker ihrer Zeit schreiben, setzt ein raffiniertes Versteckspiel ein. Ihre anfängliche Wertschätzung füreinander wird bald vom Konkurrenzdenken überschattet. Schließlich entfesseln sie den heftigsten Prioritätsstreit in der Geschichte der Mathematik. Er weitet sich zu einer Staatsaffäre aus, als der hannoversche Kurfürst Georg Ludwig, in dessen Diensten Leibniz steht, 1714 zum britischen König George gekrönt wird. Erst kurz vor Leibniz’ Tod mündet die Auseinandersetzung durch das Eingreifen der Prinzessin von Wales in eine maßgebende Debatte über Raum und Zeit.
Unser Zeitbewusstsein und die vielfach empfundene Zeitknappheit in westlichen Gesellschaften sind Ausdruck eines Zivilisationsprozesses, in dem immer mehr Tätigkeiten vor dem Hintergrund eines engmaschigen Zeitrasters erlebt werden. Dieses Buch rollt die Zeit-Geschichte noch einmal auf. Es schaut zurück auf eine Epoche, in der sich in Europa eine neue Zeitrechnung anbahnt, in der das Verständnis von Zeit aber noch nicht von omnipräsenten Uhren überblendet ist und in der sich die Philosophie noch nicht in ihre späteren Disziplinen aufgefächert hat.
Die Kapitel pendeln zwischen England und dem Kontinent hin und her. Sie erzählen, wie europäische Adelshöfe und Metropolen den Kutschenverkehr und die nächtliche Straßenbeleuchtung einführen, wie das Zeitungs- und Zeitschriftenwesen Verbreitung findet, wie in den Großstädten das Bedürfnis nach einer kontinuierlichen Zeitbestimmung wächst und in welchem gesellschaftlichen Kontext Uhren mit Minuten- und Sekundenzeiger aufkommen.
Parallel dazu wird Zeit zum Gegenstand der Naturwissenschaften. Newton entwickelt den für die Physik maßgeblichen Zeitbegriff. Seine »absolute Zeit« ist ein fester Bezugsrahmen, in dem sich alle Körper bewegen. Analog zur standardisierten Uhrzeit, die ein koordiniertes Miteinander der Menschen in einer Großstadt ermöglicht, reduziert die »absolute Zeit« die Komplexität im Zusammenspiel physikalischer Objekte.
Dadurch wird zwar verständlich, warum wir von »der Zeit« sprechen. Aber gerade gegen eine solche Verdinglichung von Zeit wehrt sich Leibniz energisch. Für ihn gibt es keine »Zeit an sich«, sondern nur zeitliche Beziehungen zwischen Ereignissen. Der Philosoph stellt eine relationale Theorie der Zeit auf, die jedoch im Schatten der newtonschen Physik steht und bald in Vergessenheit gerät.
Erst im 20. und 21.Jahrhundert findet sie eine wachsende Anhängerschaft, nachdem in der Wissenschaftstheorie Ernst Mach, in der Physik Albert Einstein und in der Soziologie Nobert Elias einen Relationalismus im leibnizschen Sinn vertreten haben. Insbesondere die Schwierigkeit, die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik miteinander zu verbinden, lässt das Interesse an der leibnizschen Zeitauffassung heute aufleben. Dabei wird deutlich, dass die großen modernen physikalischen Theorien in Bezug auf das dahinterstehende Zeitverständnis ebenso weit auseinanderliegen wie die leibnizsche von der newtonschen Position. Ihre Kontroverse über Raum und Zeit ist bis heute nicht gründlich genug aufgearbeitet worden.
Die Gegenüberstellung der beiden faszinierenden Figuren steht im Mittelpunkt dieses Buches. Es schildert, wie im ausgehenden 17.Jahrhundert erstmals minutengenaue Uhren in bürgerliche Haushalte einziehen und dem Menschen auf den Leib rücken, wie das Tempo in die Welt kommt und eine präzise Uhrzeit die lokale Sonnenzeit in Verruf bringt. Und schließlich, wie sich der Zeitstandard vom erfahrbaren Himmelsgeschehen ablöst, kurz: warum die Neuzeit ihren Namen zu Recht trägt. Die biografische Konstellation ist Ausgangspunkt für eine Entdeckungsreise auf den Spuren der Zeitbestimmung und der menschlichen Zeiterfahrung in die beschleunigte Welt der Moderne. In eine Welt der Unruhe.
Während Isaac Newton in der Grafschaft Lincolnshire unter Schäfern aufwächst, fällt in London der Kopf des englischen Königs
London, 30.Januar 1649. Der Zustrom zum Whitehall Palace reißt nicht ab. Tausende schieben sich durch die Straßen und drängen zum Banqueting House, wo das Gerüst bereits aufgebaut ist. Soldaten kontrollieren alle Zugänge zur City und riegeln das Schafott weiträumig ab.
Charles I. hat sich an diesem Wintertag doppelt eingehüllt, um nicht zu frieren und zitternd vor der Menge zu erscheinen.1 Der drei Tage zuvor zum Tode verurteilte König wirkt gefasst. Noch einmal erklärt er, ihm sei immer an der Freiheit seines Volkes gelegen gewesen. Diese Freiheit aber könne nur unter einer rechtmäßigen Regierung erlangt werden: unter der von Gott gegebenen königlichen Macht. Er werde als Märtyrer sterben und gehe von einem vergänglichen Königreich über in ein unvergängliches. Die Mahnung erreicht die Menschen nicht. Nur Bischof Robert Jaxon und die eifrigen Protokollführer vernehmen die letzten Worte des Königs, der sich wiederholt darüber beklagt, der Block sei für seine Hinrichtung zu niedrig.2 Schließlich signalisiert er dem maskierten Henker, er sei bereit.
»Als sie das abgeschlagene Haupt erblickten, brachen sie in einen Schrei aus, allgemein, unwillkürlich, in dem sich das Gefühl der Schuld und der Ohnmacht mit dem Schrecken durchdrang«, so der Historiker Leopold von Ranke.3 Souvenirjäger versuchen, ihre Taschentücher mit dem königlichen Blut zu tränken.
Die Nachricht von der Enthauptung des Königs verbreitet sich wie ein Lauffeuer auf der Insel und in ganz Europa. Erst durch die öffentliche Hinrichtung rückt der politische Umsturz in England ins Blickfeld, der sich im Windschatten des Dreißigjährigen Krieges ereignet hat. Eine Republik von Königsmördern mitten in Europa!
Unter Charles I. war England ins außenpolitische Abseits geraten. Das Land gilt längst nicht mehr als verlässlicher Bündnispartner, sondern als schwache, von Parlamentsbeschlüssen abhängige und von Verfassungskrisen geplagte Monarchie.4 Unvorstellbar, dass sich hier innerhalb der kommenden Jahrzehnte die meist-beachtete politische Alternative zum Absolutismus französischen Zuschnitts entwickeln wird. Beinahe genauso unvorstellbar, dass dieser bevölkerungsarme britische Inselstaat einmal zur Weltmacht aufsteigen könnte.
In der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts lebt England von Landwirtschaft und Wollindustrie. Schafherden prägen das Landschaftsbild, Tuchwaren sind die wichtigsten Exportartikel. Zuerst waren es schwere Stoffe aus Wolle, neuerdings sind die leichteren und billigeren »new draperies« gefragt, die Abnehmer in den Mittelmeerländern, teilweise auch schon in Übersee finden.5
Der Handel mit Tuchen kommt den Großfarmern und freien Bauern, den »Yeomen«, zugute, die für den Markt produzieren. Ihre Ländereien dehnen sich hier und da bereits weiter aus als die der alteingesessenen Feudalherren. Ganz so groß sind die newtonschen Besitztümer in der Grafschaft Lincolnshire nicht. Aber der Lebensstandard der Familie ist sichtlich gestiegen. Sie bewohnt neuerdings ein zweigeschossiges Herrenhaus mit dreibogigen Fenstern. Robert Newton hatte es im Jahr 1623 erworben und mit ihm den Titel des »Lord of the Manor« an seinen Sohn Isaac weitergegeben.
Isaac Newton stirbt nur wenige Monate nach seiner Hochzeit, noch vor der Geburt seines einzigen Kindes, das wie er Isaac heißen wird. Dem Sohn hinterlässt er ein Erbe, das diesem ein Leben lang eine gewisse finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit garantieren wird. Zum Familienbesitz gehören das Herrenhaus, Ackerland, volle Kornspeicher und 42 Rinder.6 Die Währung aber, in der der Reichtum einer Familie in England seit jeher bemessen wird, sind Schafe. Und mit 234 Schafen ist man wer in Lincolnshire!
Wenn Bauern etwas vererben, wird der Besitz in der Regel unter vielen Söhnen aufgeteilt. Isaac Newtons Vorfahren hatten es durch eine geschickte Heiratspolitik geschafft, die durch Erbteilung entstandenen Verluste auszugleichen und neue Ländereien hinzuzugewinnen. Die Ehe seiner Eltern, die im Frühjahr 1642 geschlossen wurde, steht beispielhaft für den sozialen Aufstieg vieler »Yeomen«.
Als Mitgift brachte die Braut nicht bloß eine weitere Parzelle Land mit in die Ehe ein. Über Hannah Ayscough, die Tochter des Gentleman James Ayscough, hat die Familie erstmals Tuchfühlung zur gesellschaftlichen Oberschicht aufgenommen, der »upper class«. Während Isaacs Vater und Großvater ihren Namen nicht schreiben konnten, hat Hannahs Bruder William in Cambridge studiert. Sie selbst wird ihrem Sohn, den es ebenfalls nach Cambridge ziehen wird, ab und an ein paar Briefzeilen senden.
Isaac Newton wird am 25.Dezember 1642 geboren, am Morgen des ersten Weihnachtstages. Da hat in Italien oder Frankreich schon längst das neue Jahr begonnen. Legt man die in den katholischen Ländern gültige und heute allgemein anerkannte Gregorianische Zeitrechnung zugrunde, so ist es nämlich bereits der 4.Januar 1643. Doch auf der Insel richtet man sich immer noch nach dem alten Julianischen Kalender. Diese Kalenderspaltung, die den Diskurs über Zeitrechnung und Zeitbestimmung auf eine politisch-religiöse Ebene hebt, hält das ganze 17.Jahrhundert hindurch an. Auch für die Geschichtsschreibung ergeben sich Probleme aus dem Zeitloch von zehn Tagen. Es lässt sich nicht einfach stopfen.
Unsere Schlaf- und Wachrhythmen, die Gezeiten, Wetterzyklen und Ernteperioden sind an kosmische Zyklen gebunden: an die steten Wechsel von Tag und Nacht, die Mondphasen und Jahreszeiten. Auf diesen Perioden basiert die Kalenderrechnung. Indem wir Tage, Monate und Jahre aneinanderreihen, bringen wir zum Ausdruck, dass die Veränderungen, die wir erleben, kein bloßes Nacheinander sind. Vielmehr betrachten wir alles Geschehen vor dem Hintergrund einer wiederkehrenden Abfolge von Helligkeitsverhältnissen, Mond- und Wetterphasen. Für eine durchgängige Zeitrechnung müssen die verschiedenen Perioden jedoch auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Genau darin besteht das jahrtausendealte Kalenderproblem.
Unser heutiger Kalender hat eine lange Vorgeschichte. Schon jungsteinzeitliche Kreisgrabenanlagen, die in Europa ab etwa 4900 v.Chr. in großer Zahl entstanden, zeugen von der großen Bedeutung, die dem Jahreslauf der Sonne beigemessen wurde. Die Sonne geht nicht immer an derselben Stelle über dem Horizont auf. Beobachtet man den Sonnenaufgang im Wechsel der Tage, stellt man fest, dass sich der Ort ihres Erscheinens kontinuierlich in derselben Richtung verschiebt – bis zur Sonnenwende. Dann kehrt sich die Bewegungsrichtung um. Der Ort des Sonnenaufgangs pendelt in schöner Regelmäßigkeit zwischen zwei festen Wendepunkten hin und her, Jahr für Jahr.
Landmarken am Horizont oder eigens dafür errichtete große Bauwerke können daher als Zeitmarken dienen. In der Jungsteinzeit erleichterten sie den Übergang zu einer bäuerlichen Lebensweise. Für frühe Kulturen sei ein durchgängiger Kalender noch gar nicht so wichtig gewesen, erläutert der Wissenschaftshistoriker Gerd Graßhoff. Aber zu wissen, wann der Frühling beginnen und eine konstant wärmere Temperatur einsetzen würde, konnte über den Ernteertrag und das Schicksal einer Gemeinschaft entscheiden.
Erst im Lauf der Jahrtausende füllte sich der Pendelbogen der Sonne mit immer präziseren Zeitmarken. Währenddessen büßte der Mond in unseren Breiten seine Rolle als Taktgeber mehr und mehr ein. Etliche frühe Kulturen verwendeten noch Mondkalender, da von Neumond zu Neumond nur etwa 29 Nächte verstreichen und sich der Wechsel der Mondphasen leicht verfolgen lässt. In unserem heutigen Kalender haben Monate nur noch ungefähr die Länge eines Mondzyklus und nichts mehr mit konkreten Himmelserscheinungen zu tun. Lediglich der Termin des Osterfests ist noch an den Zeitpunkt des Vollmonds geknüpft und damit auch die Daten von Christi Himmelfahrt und Pfingsten. Wie Irrlichter verweisen diese vagabundierenden Feiertage darauf, dass die Perioden des Mondes, der Sonne und der Erde schwer in Einklang zu bringen sind.
Newtons Epoche wird eine bedeutende Übergangsphase zu allgemein verbindlichen Zeitstandards sein. In London und Paris werden Sternwarten errichtet, um den gleichmäßigen Gang ausgeklügelter Uhrwerke immer besser an die Himmelsuhr anzugleichen. Trotz gleichartiger Forschungsprojekte auf der britischen Insel und dem Kontinent bleibt Europa jedoch in eine protestantische und eine katholische Zeitrechnung geteilt.
Der Julianische Kalender umfasst 365 Tage. Das Sonnenjahr ist einen Vierteltag länger. Folglich würde der Kalender bereits nach 100 Jahren um fast einen Monat aus dem Takt geraten, hätte man nicht schon zu Julius Cäsars Zeiten alle vier Jahre einen Schalttag eingefügt: den 29.Februar. Die Schwierigkeiten waren damit aber noch nicht aus der Welt. Mit 365,25 Tagen war die Länge des Sonnenjahres zwar schon recht gut getroffen, jedoch blieb eine Differenz von elf Minuten, die sich im Lauf der Jahrhunderte bemerkbar machte. Auch englische Astronomen kamen zu dem Schluss, der Kalender müsse entsprechend angepasst werden. Eine Kalenderreform, wie sie die katholischen Länder auf Anweisung von Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 beschlossen hatten, schien vielen von ihnen unumgänglich. Immerhin hatte sich der Kalender seit Christi Geburt um elf Tage verschoben. Die Bischöfe der anglikanischen Staatskirche widersetzten sich dem Vorschlag jedoch genauso wie deutsche Protestanten. Lieber wollte man der Sonne hinterherhinken, als dem Papst zu folgen.7
Den Puritanern, der »heißeren Sorte von Protestanten« auf der Insel, sind die weihnachtlichen Feiertage ein Dorn im Auge. Männer und Frauen beschmutzten ihre Ehre an diesen zwölf Tagen und Nächten mehr als im ganzen Rest des Jahres, schimpfen die Prediger. Besonders ausgelassen feiern die Menschen am Dreikönigstag. Bei gesüßtem Bier, auf dem gedörrte Apfelschalen schwimmen, wird bis in die Nacht hinein gesungen und getanzt.
Im Hause Newton dagegen herrscht Sorge: Gleich nach der Geburt ihres Kindes Isaac schickt die Mutter zwei Frauen nach North Witham. Sie sollen bei Lady Packenham Rat und Medikamente einholen. Das Leben des untergewichtigen Jungen hängt offenbar am seidenen Faden.8 Er ist so klein, dass er in einen Literkrug, einen »quart-pot«, passen würde.9
[3] Isaac Newtons Geburtshaus Woolsthorpe Manor bei Grantham in Lincolnshire, Holzstich um 1890.
Zu den wenigen verlässlichen Dokumenten aus seiner frühen Kindheit zählt ein zerfledderter Taufschein. Demnach lässt ihn seine früh verwitwete Mutter Hannah erst eine Woche nach der Geburt taufen. Sie selbst trägt Trauer, mitten in der fröhlichsten Jahreszeit, in der auch die ärmsten Bauern, die sonst an jeder Talgkerze und jedem Binsenlicht sparen, die Nacht zum Tag machen.
Der englische König hat im Winter 1642 wenig Grund zu feiern. Mehrfach hat Charles I. das Parlament aufgelöst und dann doch wieder einberufen, um höhere Steuern bewilligen zu lassen – ohne den gewünschten Erfolg. Als er schließlich die Verhaftung einiger widerständiger Parlamentarier anordnet, schlägt ihm eine ungeahnte Welle der Empörung entgegen.
Der Verfassungskonflikt eskaliert. In London, der mit Abstand größten und wirtschaftlich bedeutendsten Stadt auf der Insel, entladen sich die Spannungen in Protesten und Ausschreitungen, sodass sich der König gezwungen sieht, die Metropole zu verlassen. Da die Pressezensur außer Kraft gesetzt ist, können Parlamentarier nun offen für ihre Programme werben. Schätzungen zufolge kann mehr als die Hälfte der männlichen Stadtbevölkerung lesen.10 Allein in Newtons Geburtsjahr erscheinen Dutzende neue politische Zeitungen. Man lastet Charles I. die unrechtmäßige Einführung von Steuern an, die Förderung von Monopolen und den fehlenden Schutz für die englische Handelsflotte.
Innerhalb kurzer Zeit stellen Parlamentarier unter der Führung des Puritaners Oliver Cromwell eine Nationalarmee auf die Beine. Ihre Soldaten werden »Rundköpfe« genannt, im Unterschied zu den »Kavalieren« der königlichen Truppen. Während der Hof das Haar in Locken trägt, die bis zu den Schultern herabfallen, scheren die Puritaner, die sich von der anglikanischen Hochkirche abgespalten haben, ihr Haar kurz. 1645 gewinnt ihre Armee die entscheidende Schlacht in Mittelengland und nimmt kurz darauf das königliche Hauptquartier in Oxford ein. Charles I. flieht nach Schottland.11
Im Verlauf des Bürgerkriegs ziehen immer wieder Soldaten an Woolsthorpe vorbei. Der Ort liegt nahe der wichtigen Marsch- und Postroute, die von London aus über Grantham nach Schottland führt. Obwohl die Grafschaft Lincolnshire durch die Parlamentstruppen weitgehend gesichert ist, kommt es gelegentlich auch hier zu Plünderungen. Aber die englischen Armeen sind klein, jedenfalls nicht mit den riesigen Streitkräften zu vergleichen, die Mitteleuropa zur selben Zeit im Dreißigjährigen Krieg verheeren. Das Gut, auf dem Isaac Newton aufwächst, bleibt unbeschadet.
In den ersten Lebensjahren hat der Junge seine Mutter Hannah ganz für sich. Das ändert sich plötzlich nach seinem dritten Geburtstag, als sie einen Heiratsantrag des wohlhabenden Geistlichen Barnabas Smith annimmt.12 Im Jahr zuvor hat der 63-Jährige seine Frau verloren. Nun zieht die mehr als 30 Jahre jüngere Witwe zu ihm ins Pfarrhaus im Nachbarort North Witham – ohne den Jungen. Isaac bleibt in Obhut der Großmutter zurück. Und das nicht bloß vorübergehend. Barnabas Smith nimmt den Stiefsohn bis zu seinem Tod sieben Jahre später nicht zu sich ins Haus.
An seiner Verlassenheit wird Isaac Newton ein Leben lang leiden. Als Student wird er eine Liste seiner Jugendsünden aufstellen und bekennen, seiner Mutter und seinem Stiefvater damit gedroht zu haben, sie mit dem ganzen Haus in Flammen aufgehen zu lassen. Seine Zurückgezogenheit, sein Trübsinn und Misstrauen gegenüber Menschen, vielleicht auch die späteren schweren Depressionen können im Zusammenhang mit dieser frühen Verlusterfahrung und den damit verbundenen Ängsten gesehen werden.
Isaac ist sechs Jahre alt, als der Bürgerkrieg endet. Charles I. hat ein neues Heer zusammengetrommelt, und wieder wird seine Armee von Cromwells Truppen geschlagen, er selbst gefangen genommen. Allerdings ist auch das parlamentarische Lager inzwischen bis aufs Messer zerstritten. Die Levellers zum Beispiel treten für die Rechte der Kleinbauern ein, fordern ein allgemeines Wahlrecht und eine dritte Kammer im Parlament: neben dem Oberhaus, in dem sich Hochadel und Klerus versammeln, und dem Unterhaus, das die Interessen des Landadels und der sonstigen Vermögenden im Lande vertritt. Noch radikalere Gruppen als die Levellers lehnen das Privateigentum ganz ab.
Einige dieser Ideen werden im Zeitalter der Aufklärung neu aufleben. Cromwell aber, im Bemühen, irgendwie Herr der Lage zu werden, kämpft von nun an sowohl gegen die Royalisten als auch gegen die Levellers. Er lässt London besetzen, das Oberhaus wird abgeschafft, die Tür zu einer dritten Kammer für immer zugeschlagen. Den König bringt Cromwell kurzerhand vors Gericht. In einem Schauprozess wird Charles I. verurteilt und am 30.Januar 1649 an der Schwelle seines Palastes geköpft.
Ein Aufschrei geht durch Europa. Auf dem Kontinent hat man eine solche Ungeheuerlichkeit noch nicht erlebt. Die Zahl der zeitgenössischen Schriften, die sich zu der Enthauptung des englischen Königs äußern, geht in die Tausende. Über kaum ein Thema berichten deutsche Zeitungen so ausführlich und kontinuierlich wie über die Revolution.13 Könige können Intrigen zum Opfer fallen oder Attentaten wie Heinrich IV. von Frankreich im Jahr 1610. Sie können auf Schlachtfeldern sterben wie der Schwedenkönig Gustav Adolf 1632 im Dreißigjährigen Krieg. Dass ein Herrscher »von Gottes Gnaden« von Revolutionären öffentlich hingerichtet wird, ist in Europa ohne Beispiel.
Frankreichs Regentin erschaudert, als sie die Nachricht aus London erhält. Auch in ihrem Land haben sich Adlige und Parlament erhoben. Gemeinsam mit ihrem erst zehnjährigen Sohn Ludwig ist die Königinmutter bei Nacht und Nebel aus Paris geflohen. Nun lässt sie die Hauptstadt von Soldaten belagern.14 Anders als in England geht die Monarchie in Frankreich jedoch gestärkt aus dem Bürgerkrieg hervor. Als »Sonnenkönig« wird Ludwig XIV. eine fast unumschränkte Macht erringen. Weitere 140 Jahre werden vergehen, ehe sich im Paris der Französischen Revolution ein ähnliches Schauspiel wiederholen wird wie soeben in London.
Der deutsche Dichter Andreas Gryphius widmet den letzten Stunden des englischen Königs ein Trauerspiel. Wenige Tage nachdem er von der Hinrichtung erfahren hat, bringt er einen ersten Entwurf zu Papier. In dem mehrfach umgeschriebenen Stück »Carolus Stuardus« erwartet der König die Enthauptung würdevoll, während sich die Anführer der Revolution, Oliver Cromwell und Lord Fairfax, unversöhnlich gegenüberstehen:
Fairfax: »Die Faust siht schrecklich aus die Fürsten Blutt befleckt.«
Cromwell: »Tyrannen Blutt steht frisch. Wie Feldherr, so erschreckt?«
Fairfax: »Der Völcker Recht verbeut Erb-Könige zu tödten.«
Cromwell: »Man hört die Rechte nicht bey Drommeln und Trompeten.«
Fairfax: »Man schwur: auffs minste nicht sein Heil und Haubt zu letzen.«
Cromwell: »So pflegt man was man wil den Kindern einzuschwetzen.«15
Der Dramatiker stellt der Radikalität und Unerschrockenheit Cromwells den gemäßigten Fairfax gegenüber, der sein Handeln später bereuen und die Seiten wechseln wird. Die Mehrheit des englischen Volkes hat eine solche Exekution nie gewollt. Insbesondere für die gottesfürchtige Landbevölkerung ist Cromwell von nun an der Königsmörder. Zwar rechtfertigen einige zeitgenössische Dichter die Tat als Tyrannenmord und versuchen, die neue Regierung zu entlasten. Zum Bestseller aber wird ein Tagebuch des Königs, von einem unbekannten Autor verfasst, das Charles I. zum Märtyrer stilisiert. Gryphius greift darauf zurück, und auch Isaac Newton liest es in jungen Jahren.16 Den Schüler erschüttert die blutige Tat. Er malt ein Bild Charles’ I. und schreibt ein Gedicht zur Hinrichtung des Königs.17
Die europäischen Mächte besiegeln das Ende des Dreißigjährigen Krieges, und Gottfried Wilhelm Leibniz kommt in der besetzten Stadt Leipzig zur Welt
[4] Die Stadt Leipzig, hier in einem Kupferstich aus Merians Theatrum Europaeum während der Belagerung durch kaiserliche Truppen 1632, war immer wieder Kriegsschauplatz im Dreißigjährigen Krieg.
Andreas Gryphius gilt als der deutsche Dichter des Dreißigjährigen Krieges. Zwei Jahre ist er alt, als der Krieg beginnt, mit vier verliert er den Vater, mit elf die Mutter. Erst rollt die Gegenreformation über seine schlesische Heimatstadt Glogau hinweg, danach die Pest. Mit 20 schreibt er das Gedicht »Tränen des Vaterlands«:
»Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun,
das vom Blut fette Schwert, die donnernde Kartaun,
hat allen Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.
Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret.
Das Rathaus liegt im Graus. Die Starken sind zerhaun.
Die Jungfern sind geschändt. Und wo wir hin nur schaun,
ist Feuer, Pest und Tod, der Hertz und Geist durchfähret.
Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut,
von Leichen fast verstopft, sich langsam fortgedrungen.
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
was grimmer denn die Pest, und Glut, und Hungersnot:
dass auch der Seelen-Schatz so vielen abgezwungen.18
Es ist ein verheerender Krieg. In Sachsen sinkt die Bevölkerung nahezu um die Hälfte. Bauern sehen ihre Höfe in Flammen aufgehen, Dörfer und Städte werden zuerst von kaiserlichen Truppen niedergebrannt und dann von schwedischen Soldaten geplündert. Eine ganze Generation wächst mit dem Kriegshandwerk und in Ruinen auf.19 Der Dreißigjährige Krieg eskaliert auf andere Weise als der englische Bürgerkrieg. Charles I. hatte die öffentliche Empörung über sein aggressives politisches Vorgehen unterschätzt. Aus ihr resultierte die Stärke jenes Bündnisses, das sich von der Hauptstadt aus gegen ihn bildete und an dessen Spitze sich Cromwell setzte. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, von vielen Seiten bedroht, in Klein- und Kleinststaaten zersplittert, ist nicht der rechte Ort für Revolutionen und Königsmorde. Hier fehlt ein politisches Zentrum wie London, das imstande wäre, auf die Kräfte im Rest des Landes derart Einfluss zu nehmen. Erst eine unheilvolle Verkettung internationaler Konflikte hat den europaweiten Religionskrieg heraufbeschworen.20
Je länger dieser Krieg andauert, umso tiefer wird der Graben zwischen den Konfessionen. Während hungrige Söldnerheere bald hier, bald dort ihre Schneisen schlagen, wächst die Angst der Bevölkerung vor Barbarei und Gewalt, vor Hunger und Seuchen. Einem bis dahin beispiellosen Gemetzel fällt im Mai 1631 mehr als die Hälfte der Einwohner des protestantischen Magdeburgs zum Opfer. Binnen weniger Stunden habe seine Soldateska die Stadt mit all ihren Reichtümern in Asche gelegt, triumphiert der kaiserliche General Gottfried Heinrich Graf Pappenheim. »Waß sich nun an Menschen in die Keller und auf die Boden versteckht, das ist alles verbronnen. Ich halt, es seyen uber 20000 Seellen darüber gegangen, und es ist gewiß seit der Zerstorung Jerusalem khein greilicher Werckh und Straff Gottes gesehn worden. Alle unßere Soldaten seindt reich worden.«21
Als Gottfried Wilhelm Leibniz im Sommer 1646 geboren wird, schaut alle Welt nach Münster und Osnabrück. Dort tagen 150 Gesandtschaften, um ein gesamteuropäisches Vertragswerk auszuarbeiten und das Geflecht aus territorialen Machtansprüchen und religiösen Fehden zu entwirren. Lediglich England, mit seiner innenpolitischen Krise beschäftigt, fehlt bei den Verhandlungen.
Über vier Jahre ziehen sich die Konferenzen und Bankette hin. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen von Diplomaten und Rechtsgelehrten, von Adligen, die ihre Dienerschaften und ihren Hausrat mit nach Westfalen bringen, und Juristen, die weniger anspruchsvoll sind als die hohen Herrschaften, eifrig Briefe schreiben, von Hof zu Hof reisen und das internationale Geschehen verfolgen.22 »Alle Deutschen sind Herr Doktor«, stellt der französische Gesandte Claude de Mesmes fest, der während der Friedensverhandlungen mit 200 Bediensteten am Münsteraner Domplatz residiert.23
Endlich werden am 24.Oktober 1648 die Verträge zwischen dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Frankreich und Schweden geschlossen: Das Reich tritt mit Vorpommern einen wichtigen Zugang zur Ostsee an die Schweden ab und verliert das Elsass langfristig an die Franzosen. Die Macht des Kaisers ist geschwächt, denn von nun an haben Fürstentümer, Grafschaften und Reichsstädte das Recht, auf eigene Faust Allianzen zu schließen, vorausgesetzt, »dass dergleichen Bündnisse nicht gegen Kaiser und Reich und dessen Landfrieden« gerichtet sind.24
Aber kann ein solches Konglomerat aus 300 Kleinstaaten Bestand haben? Zeitgenössische Gelehrte zweifeln daran. Zu tief sitzen die traumatischen Erfahrungen derjenigen, die über ein halbes Menschenalter Gewalt und Zerstörung ausgesetzt waren. Wie Gryphius sehen sie die vordringliche Aufgabe eines jeden Herrschers fortan darin, den Krieg zu verhindern. Ruhe, die erste Bürgerpflicht, ist daher auch die höchste Pflicht der Obrigkeit.
In ganz Europa ist der Hunger nach politischen Nachrichten gewachsen. Nicht von ungefähr fällt die erste große Welle von Zeitungsgründungen in die Zeit des gesamteuropäischen Krieges. Die periodische Presse soll den Kontinent überschaubarer machen. Sie entsteht auf Basis einer neuen Infrastruktur: eines öffentlichen Postwesens, im Reich also der Kaiserlichen Reichspost und der ihr nachfolgenden jeweiligen Landespost.25
»Wirtschaft, Politik, Wissenschaft hingen von diesem neuen Blutkreislauf der frühmodernen Gesellschaft ab«, erläutert Wolfgang Behringer in seiner maßgeblichen Studie zur Kommunikationsrevolution der frühen Neuzeit. »Der Posttag verlieh der Korrespondenz der Liebespaare, der Diplomaten und der Kaufleute seinen Rhythmus. Er strukturierte den Zeittakt der fürstlichen Kanzleien und der Börsen, determinierte die Erscheinungsdaten des neuen Mediums der periodischen Presse und prägte die Briefwechsel der Wissenschaftler des 17. und 18.Jahrhunderts.«26
Die Nachrichten zirkulieren umso schneller, je öfter die Städte »Posttag« haben. Bald nach Kriegsende erteilt der sächsische Kurfürst die Genehmigung für die »erste Tageszeitung der Welt«. Die Einkommenden Zeitungen, die sechsmal in der Woche erscheinen und von einem Leipziger Professor zensiert werden, gehen zwar rasch wieder ein, aber Ende des 17.Jahrhunderts werden drei Viertel aller Zeitungen zwei- bis dreimal pro Woche oder noch häufiger herausgegeben.27
Gottfried Wilhelm Leibniz wächst hinter den dicken Mauern der Leipziger Universität im Halbdunkel von Hörsälen und Bibliotheken auf. »21.Junii am Sontag 1646 Ist mein Sohn Gottfried Wilhelm, post sextam verspertinam 1/4 uff 7 uhr abents zur welt gebohren, im Wassermann«, heißt es in der Familienchronik.28 Die astrologisch relevante Angabe der Uhrzeit darf seinerzeit nicht fehlen. Den Schlägen der Kirchturmuhr entsprechend, ist sie bis auf eine Viertelstunde genau. Minuteneinteilungen sind in jenen Jahren noch unbekannt.
Die Eltern lassen ihren Jungen in der Leipziger Nikolaikirche taufen, die in jüngerer Geschichte durch die Montagsdemonstrationen zum Ende der DDR bekannt geworden ist. Taufpaten sind der kursächsische Hofprediger Martin Geier und der Rechtsgelehrte Johann Frisch. Die Einheit von Glauben und Wissen wird Gottfried Wilhelms Lebensmaxime. Es ist auch die Losung der Hochschule, die ihn in ihrem Schoß aufnimmt.
Zum Zeitpunkt seiner Geburt wohnt die Familie vermutlich in einem der Universitätsgebäude an der späteren Ritterstraße. Der spätgotische Bau mit imposanten Giebeln, der heute nicht mehr existiert, beherbergt zusammen mit dem Neuen Kolleg und dem Großen Kolleg ein Gutteil der Leipziger Professoren- und Studentenschaft. In unmittelbarer Nachbarschaft finden sich das Frauenkolleg und weitere Einrichtungen, in denen Dozenten und Studenten nach strengen Regeln zusammenleben.
Der Vater, Friedrich Leibniz, ist Jurist und Professor für Moralphilosophie. Zwei Jahre zuvor hat er die Tochter eines anderen angesehenen Leipziger Juristen und Professors geheiratet, die 24 Jahre jüngere Catharina Schmuck. Dass ihr gemeinsamer Sohn einmal eine juristische Laufbahn einschlagen wird, passt ins Bild der Familie und in eine Zeit, die beherrscht wird vom Wunsch nach Frieden und Schlichtung zwischen fast hoffnungslos zerstrittenen Parteien.
Friedrich Leibniz verschlug es noch vor Kriegsbeginn in die damals etwa 18000 Einwohner zählende Messestadt, an deren Universität sich Jahr für Jahr 750 Studenten einschrieben. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits beide Elternteile verloren. Unter der Obhut eines Onkels konnte er jedoch ein Studium aufnehmen, und 1624 fand er eine Anstellung als Notar.29 Seine erste Frau Anna schenkte ihm einen Sohn, Johann Friedrich, starb allerdings bald darauf. Die nächste Ehe ging er mit der Tochter eines Leipziger Buchhändlers ein, die ihn ebenfalls als Witwer zurückließ. Der Tod blieb ein ständiger Begleiter seines Lebens, zumal Leipzig mehrfach zum Kriegsschauplatz, von der Pest heimgesucht und schließlich besetzt wurde.
Ihren Abzug lassen sich die schwedischen Besatzer teuer bezahlen. Am 22.Juli 1650 – Gottfried Wilhelm ist gerade vier Jahre alt geworden, seine Schwester Anna Catharina feiert in wenigen Tagen ihren zweiten Geburtstag – kann man endlich auch in Leipzig die Friedensverträge bejubeln. Der Tag beginnt mit Glockengeläut, an das sich Gottesdienste und Andachten anschließen. Es ist keine prächtige Feier wie in Nürnberg, schon gar kein Volksfest. Stattdessen werden die Bürger von ihrem Fürsten ermahnt, niemand solle nach dem öffentlichen Gottesdienst »bey Vermeidung ernster Straffe sich unterstehen, die übrige Zeit des Tages mit Schlemmen, Temmen oder anderer Üppigkeit zuzubringen, sondern zu Hause mit den Seinigen Gott ferner loben, rühmen, ehren, preisen«.30 Universitätsangehörige wie der von seinem Sohn als »zierlich« und »cholerisch« charakterisierte Friedrich Leibniz und seine als fromm geltende Frau Catharina begehen den Tag zweifellos in diesem Sinn.
Der Vater habe hohe Erwartungen in ihn gesetzt und sich dadurch oft den Spott seiner Freunde zugezogen, wird Gottfried Wilhelm Leibniz später schreiben. Noch vor dem Einschulungsalter habe er ihn in die Welt der Bücher eingeführt, sodass er schon als Junge am Lesen von Geschichten mehr Vergnügen gefunden habe als am Spiel.31
Aber kaum hat er das sechste Lebensjahr vollendet, stirbt der Vater. Dem Sohn bleiben nach eigener Aussage nur »schwache Erinnerungen« an ihn, die sich mehr und mehr mit fremden Erzählungen vermischen. Die vom Vater hinterlassene Bibliothek wird bald zu Gottfried Wilhelms Refugium. Schon als Achtjähriger verbringt er hier ganze Tage mit der Lektüre, liest historische Texte und die Schriften der Kirchenväter.
Die Leipziger Universität ist ein Zentrum der lutherischen Orthodoxie. Hier predigen konservative Theologen wie Johann Hülsemann die Vergeblichkeit alles irdischen Tuns.32 Der Mensch bekomme auf der Höhe seines Lebens von Gott einen Schlag, »dass er wie ein Krautstengel oder eine Sonnenkrone umfällt, weggenommen und im Huy abgehauen wird; da liegt es dann alles, darauff 20, 30 Jahren großer Fleiß und Mühe ist gewendet worden«.33
Mit diesem tief sitzenden Pessimismus ist Leibniz von Kindheit an konfrontiert. Hülsemann, mehrfach Rektor der Hochschule, und andere Theologen bauen ihre Orthodoxie mithilfe der scholastischen Begriffswelt bis ins Kleinste aus und stehen anderen Konfessionen unversöhnlich gegenüber. Dagegen zieht Leibniz neben den Büchern Luthers auch Streitschriften der Calvinisten, der Jesuiten und Arminianer, der Thomisten und Jansenisten zurate. Später wird er an überkonfessionelle Reformideen anknüpfen und Hülsemanns düsterem Gottesbild mit der Auffassung begegnen, die wahre Frömmigkeit bestehe darin, Gott zu lieben, statt ihn zu fürchten.
Derweil setzt sich die Spaltung der Kirchen im 17.Jahrhundert weiter fort. Vor allem Protestanten suchen religiöse Erfahrungen abseits der Institutionen und deren spitzfindiger Schriftauslegung. In den deutschen Staaten wird der Pietismus mit seiner neuen Innerlichkeit nach und nach zur wichtigsten Reformbewegung, in England vertieft sich die Kluft zwischen der anglikanischen Kirche und neuen Glaubensgemeinschaften.
Es klingt wie eine Ironie der Geschichte: Newton, der bald am Trinity College in Cambridge lehrt – am »Dreifaltigkeits-College« –, wird sich den Antitrinitariern anschließen, die die Dreifaltigkeit und Menschwerdung Gottes leugnen. In seinen Auseinandersetzungen mit Leibniz wird auch beider verschiedenartiges Gottesbild eine Rolle spielen. Während beide darum ringen, ihre naturphilosophischen Erkenntnisse mit der Theologie zu verbinden, wird der eine den anderen der Religionsfeindlichkeit und des Materialismus bezichtigen.