INGO WIRTH
PROTOKOLLE
DES TODES
AUTHENTISCHE FÄLLE DER RECHTSMEDIZIN
AUTHENTISCHE FÄLLE DER RECHTSMEDIZIN
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Originalausgabe: © Militzke Verlag GmbH, Leipzig 2009, Alle Rechte vorbehalten
Ausgabe eBook: © Militzke Verlag GmbH, Leipzig 2015, Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Elisabeth Herzer,Julia Lössl
Umschlaggestaltung: Thomas Butsch
Umschlagfoto: © panthermedia.net / Manfred Halter
http://www.militzke.de
ISBN: 978-3-86989-977-8 (eBook)
ISBN: 978-3-86989-824-5 (Hardcover)
eISBN: 978-3-86989-977-8
In jedem Jahr erscheinen hunderte von Kriminalromanen. Die Autoren sind mit Sicherheit nicht Gerichtsmediziner, aber sie haben die Fantasie, sich besonders raffinierte Fälle auszudenken. Je grausamer ein Verbrechen geschildert wird, umso größer ist dann die Befriedigung der Leser, wenn endlich Kriminalisten und Gerichtsmediziner den Fall lösen.
Die Praxis ist in der Regel einfacher, wenn man die Täterpsychologie und die Handlungsmöglichkeiten einkalkuliert. Hierbei gibt es einige Gesetzmäßigkeiten, die wir selbst in manchen Schriften dargestellt haben. Grundmotive aus der Sexualsphäre, Neid, Eifersucht und Hass wirken heute wie gestern. Der Autor zeigt das in seinem Buch ganz realistisch. Er hat es als Facharzt für Gerichtliche Medizin geschrieben, der sich seit Jahren mit der Geschichte unseres Faches befasst. Wir haben ihn zu diesem Buch ermutigt, weil wir wissen, dass kaum eine Woche vergeht, in der nicht um Vorträge zu Themen aus der Gerichtsmedizin gebeten wird. Mit der vorliegenden Darstellung gibt der Autor den Interessierten eine Grundlage zum Verständnis.
Eigentlich sieht für den Leser alles klar und logisch aus. Er kann freilich nur ahnen, dass das Lebenswerk vieler Wissenschaftler den heutigen Stand der Gerichtsmedizin auf höchstem naturwissenschaftlichem Niveau begründet hat. Aus Landsteiners drei (und später vier) Blutgruppen haben sich auch in der Praxis über fünfhundert Trillionen Blutmuster entwickelt. Eine ganze Reihe von Glanzleistungen aus den letzten Jahren ließe sich hier auflisten.
Da es sonst nicht ersichtlich wird, muss ich noch vermerken, dass der Autor aus dem großen und traditionsreichen Institut für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin hervorgegangen ist.
Berlin, im Juni 1987
Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Otto Prokop
Schon lange bevor es die Gerichtliche Medizin im heutigen Sinne gab, wurden Ärzte bei Rechtsstreiten zu Rate gezogen. Bereits im Altertum beurteilten Sachverständige die Tödlichkeit einer Wunde oder die Wirkung eines Giftes. Aus der über Jahrhunderte praktizierten Wund- und Leichenschau ging schließlich im späten Mittelalter die gerichtliche Leichenöffnung hervor.
Die Anfänge der wissenschaftlich begründeten Gerichtsmedizin reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück. Ihre Ursprünge liegen in Frankreich und vor allem in Italien. Dort erschienen die ersten Abhandlungen gerichtlich-medizinischen Inhalts der Neuzeit. Mit dem Anwachsen des Schrifttums begannen die Bemühungen, das Fach zu charakterisieren. Paul Ammann, Professor der Botanik und Physiologie in Leipzig, nannte es 1670 »beurteilende oder entscheidende Medizin«, während es der kurfürstlich-sächsische Leibarzt Thomas Reinesius 1679 als »medizinische Schule der Rechtsgelehrten« beschrieb. Im Titel eines 1690 veröffentlichten Buches verwendete der Leipziger Anatomieprofessor Johannes Bohn erstmalig die Bezeichnung »medicina forensis«. Allen Autoren gemeinsam ist, dass sie die Gerichtsmedizin zutreffend als eine dem Wesen nach medizinische Disziplin ansahen.
Dementgegen stellte Michael Alberti, Professor der Medizin und Naturphilosophie an der Universität Halle, mit dem 1725 geprägten Begriff »medizinische Rechtswissenschaft« die juristische Seite in den Vordergrund. Aus der Überbetonung des naturwissenschaftlichen Inhalts resultierten Namensgebungen wie »gerichtliche Physik« – Physik als Synonym für Naturkunde – von dem Breslauer Arzt Wolfgang Friedrich Wilhelm Klose aus dem Jahr 1814.
Durchgesetzt hat sich schließlich die von Johannes Bohn gewählte Fachbezeichnung »Forensische Medizin«. Das Adjektiv forensisch, zu deutsch gerichtlich, geht auf das lateinische Wort forum für Marktplatz zurück. In den Städten des Römischen Reiches war das Forum als Zentrum des politischen und kulturellen Lebens sowohl Volksversammlungsplatz als auch Ort der Rechtsprechung.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfolgte an den Universitäten im deutschen Sprachraum eine Vereinigung der Gerichtlichen Medizin mit der neu geschaffenen Disziplin »medizinische Polizei«, der heutigen Hygiene, zur Staatsarzneikunde. Zunächst wurden beide Teilgebiete, wenn überhaupt, nur nebenamtlich gelehrt. So hielten Chirurgen, Gynäkologen und Pharmakologen, vereinzelt sogar Chemiker und Tierärzte die Vorlesungen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Lehrstühle. Den Anfang machte Dorpat 1801, es folgten Krakau 1804, Wien 1805 und Prag 1808.
An der Universität Berlin schuf der Gerichtsmediziner und Hygieniker Wilhelm Wagner im Jahr 1833 eine »Praktische Unterrichtsanstalt für die Staatsarzneikunde«. Sein Nachfolger Johann Ludwig Casper war am Ausbau der wissenschaftlichen Basis des gesamten Faches wesentlich beteiligt. Auf der Grundlage reicher eigener Erfahrungen – zur damaligen Zeit durchaus keine Selbstverständlichkeit – entstand sein 1857/58 erschienenes zweibändiges »Practisches Handbuch der gerichtlichen Medicin«. Das Buch enthält eine Vielzahl von Falldarstellungen, die anschaulich einen Eindruck von den damaligen Aufgaben der Gerichtsärzte vermitteln.
Als sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hygiene zu einem umfänglichen Spezialgebiet entwickelte, zerfiel das nicht mehr zeitgemäße Doppelfach Staatsarzneikunde. Im Gegensatz zu Österreich blieb in Deutschland die Gerichtliche Medizin gegenüber ihrer Schwesterdisziplin zurück. Die beklagenswerte Situation Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts beschrieb der Bonner Gerichtsmediziner Emil Ungar wie folgt: »Die Berücksichtigung und Werthschätzung, welche ihr zu Theil wird, ist eine so geringe, dass heute sogar die Existenzberechtigung dieser Doctrin vielfach angezweifelt und geleugnet wird.«
Mit Tatkraft und Beharrlichkeit gelang es jedoch, einige grundlegende Forderungen durchzusetzen. Im Jahr 1901 wurden die Vorlesungen über Gerichtliche Medizin an den deutschen Universitäten obligatorischer Bestandteil des Medizinstudiums, zunächst aber ohne Abschlussprüfung. Die Berichte über schwer wiegende Justizirrtümer infolge mangelhafter ärztlicher Gutachten, die der Direktor des Hallenser Instituts, Arthur Schulz, sammelte und an die zuständigen Ministerien weitergab, trugen ganz wesentlich dazu bei, dass die neue Prüfungsordnung von 1924 endlich das lange geforderte Examen vorsah.
Den gewachsenen Aufgabenumfang des Faches, auch in der akademischen Lehre, verdeutlicht die Begriffserweiterung »Gerichtliche Medizin, Versicherungsmedizin und ärztliche Rechtsund Berufskunde«. Unter der 1968 eingeführten Fachbezeichnung Rechtsmedizin werden die verschiedenen Aufgabenbereiche zusammengefasst. Dieser Name hat sich jedoch nicht überall im deutschen Sprachraum durchsetzen können.
Nach einer langen historischen Entwicklung stellt sich die Gerichtliche oder Rechtsmedizin heute als ein Fachgebiet der Medizin dar, das »einerseits naturwissenschaftlich-medizinische Kenntnisse der Rechtspflege sowie andererseits juristische Fragen und arztrechtliche Probleme dem Ärztestand vermittelt und dabei gleichzeitig die sich im Grenzbereich von Medizin und Recht ergebenden Fragen wissenschaftlich bearbeitet und erforscht«. In Deutschland hat die Geringschätzung der Gerichtlichen Medi-zin eine lange Tradition. Während des 20. Jahrhunderts war das Fach nicht nur einmal in seiner Existenz bedroht. Gegenwärtig vollzieht sich eine Entwicklung, die durch undifferenzierte Zusammenlegung von Universitätsinstituten und Schließung von Standorten bestimmt ist. Zu den beseitigten Einrichtungen gehört auch das traditionsreiche und leistungsfähige Institut für Rechtsmedizin der Humboldt-Universität zu Berlin, das die älteste Facheinrichtung in Deutschland war.
Sterben, Tod und Leichenerscheinungen
Am Ende jeden Lebens stehen Sterben und Tod. Seit Jahrtausenden beschäftigt dieses Naturgesetz die Menschen. Ein Ausdruck dessen sind die verschiedenartigen sinnbildlichen Darstellungen des Todes in Malerei und Literatur. Bereits in der Antike begegnet uns der Tod als geflügelter Dämon und spätestens seit dem 12. Jahrhundert als Knochenmann. Seine Macht über alle Stände und Geschlechter schildern allegorisch die Anfang des 15. Jahrhunderts aufkommenden Totentänze. Die bekannte Gestalt des Sensenmannes symbolisiert den als Schnitter gedachten Tod, der die Menschen dahinrafft. Demgegenüber machte der Dichter Matthias Claudius das Hüllwort Freund Hein für den Tod als willkommenen Erlöser populär.
Stets bestimmten religiöse und philosophische Anschauungen auf der Grundlage des jeweiligen Wissensstandes die unterschiedliche Einstellung der Menschen zum Tod. Schon vor langer Zeit erwuchs aus der Unwissenheit eine geradezu fantastisch anmutende Vielfalt abergläubischer Vorstellungen, die sich teilweise hartnäckig bis in die Gegenwart erhalten haben. Manch ein Verstorbener wurde zum Wiedergänger, bekannt als Schwarzer Mann und Weiße Frau, oder zum Vampir erklärt. Die Furcht, als Scheintoter lebendig begraben zu werden, breitete sich aus.
Die moderne Medizin hat all dem fundierte Erkenntnisse über den Ablauf des Sterbens und die Leichenerscheinungen entgegenzusetzen. Das meist langsame Erlöschen der Lebensfunktionen des Organismus wird als Agonie bezeichnet und geht mit einer Herabsetzung wichtiger Stoffwechselprozesse einher. Diese letzte Phase des Lebens kann auch sehr kurz sein oder bei bestimmten gewaltsamen Todesfällen völlig fehlen. Nach den vorliegenden Beobachtungen wird das Eintreten des Todes vom Sterbenden nicht mehr wahrgenommen, da bereits vorher das Bewusstsein schwindet. Noch heute trifft man gelegentlich die Auffassung an, die Gesichtszüge des Verstorbenen widerspiegelten seine Empfindungen unmittelbar vor dem Tod. In Berichten über den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 ist zu lesen, dass tote Soldaten mit finsteren, von Schmerz verzerrten Gesichtern und andere mit einem »lustig lachenden Gesicht« aufgefunden wurden. Daraus resultierte die Annahme, dass die einen im Gefecht, die anderen »während eines heiteren Gespräches« gefallen seien. Eine derartige Schlussfolgerung, so schrieb der Prager Gerichtsmediziner Josef Maschka bereits vor mehr als einem Jahrhundert, »ist jedoch gänzlich werthlos und entbehrt eines jeden begründeten Anhaltspunktes«. Mit dem Tod erschlaffen sämtliche Muskeln des Körpers, demzufolge auch die mimische Muskulatur.
Der Tod stellt das irreversible Ende des Lebens dar. Hinter dieser einfachen Feststellung verbergen sich komplizierte biologische Zusammenhänge. So zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass es gar keinen momentanen Übergang vom Leben zum Tod gibt. Vielmehr läuft das Sterbegeschehen in mehreren, unterschiedlich langen Etappen ab, die jeweils durch den Ausfall bestimmter Lebenserscheinungen gekennzeichnet sind. Das Ende jeder einzelnen Sterbephase wird mit einem speziell definierten Todesbegriff bezeichnet. Zeitlich nacheinander treten der so genannte klinische Tod, der Individualtod und der biologische Tod ein. Als Kriterien für den klinischen Tod gelten Atem- und Herzstillstand. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt brachte der Medizin Beatmungsgeräte, Herzschrittmacher und Herz-Lungen-Maschinen. Damit lassen sich Atemfunktion und Herztätigkeit apparativ aufrechterhalten, sodass der lebensnotwendige Sauerstoff für die Stoffwechselprozesse im Organismus weiterhin bereitsteht und das Absterben der Körperorgane verhindert wird. Eine Rückkehr vom klinischen Tod zum Leben ist also unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Die Definition des Todes als irreversibles Ende des Lebens trifft demnach heute erst auf den Hirntod zu, der mit dem Erliegen aller Hirnfunktionen eintritt. Bekanntlich sind die spezifischen Lebensäußerungen eines Menschen von der Funktionsfähigkeit verschiedener Hirnregionen abhängig. Deshalb wird der Hirntod dem Individualtod gleichgesetzt. Diesem schließt sich die Phase des so genannten intermediären Lebens an, in der Gewebe und Organe entsprechend ihrer Sauerstoffmangelempfindlichkeit unterschiedlich lange überleben. Durch bestimmte Reize können an einzelnen Geweben und Organen, die noch nicht abgestorben sind, während eines begrenzten Zeitraums auftretende Reaktionen ausgelöst werden.
Zu den am längsten bekannten Erscheinungen gehört die elektrische Erregbarkeit des Leichenmuskels. Ein Zufall hatte im Jahr 1789 zur Entdeckung der galvanischen Elektrizität geführt. Der italienische Arzt Luigi Galvani beobachtete, dass frisch präparierte Froschschenkel in dem Moment zucken, wenn die Muskeln mit einem Kupferdraht an einem Eisengitter aufgehängt werden. Nach Wiederholung der Versuche deutete der italienische Physiker Alessandro Volta im Gegensatz zu Galvani diese Beobachtung richtig und stellte daraufhin 1793 die elektrochemische Spannungsreihe der Metalle auf. Die praktische Anwendung von Galvanis Experimenten an der menschlichen Leiche beschrieb 1796 Carl Caspar Créve, Professor der Medizin an der Universität Mainz. Er empfahl zur Prüfung der Reaktionsfähigkeit der Muskulatur einen einfachen Bügel aus Silber mit einer Zink- und einer Silberplatte an den Enden. Heute wird als Spannungsquelle für die so genannte galvanische Reizung eine Batterie eingesetzt. Bis maximal vier Stunden nach Eintritt des Individualtodes kann damit eine Muskelzuckung erzeugt werden. Mit dem Absterben der letzten Körperzellen ist das intermediäre Leben beendet. Es tritt der biologische Tod ein, der auch als totaler oder absoluter Tod bezeichnet wird.
Als frühe Leichenerscheinungen bilden sich Totenflecke, Totenstarre und Leichenkälte aus. Bereits zwanzig bis dreißig Minuten nach dem Kreislaufstillstand können an den seitlichen Halspartien die ersten Totenflecke beobachtet werden. Infolge des Fehlens der Kreislauftätigkeit sinkt das Blut der Schwere nach in die tiefer gelegenen Körperpartien. Dort werden die prall gefüllten und erweiterten kleinen Blutgefäße als grau-violette Hautverfärbungen – Totenflecke genannt – sichtbar. Wenn man die Leiche während der ersten Stunden in eine andere Lage bringt, bilden sich die Totenflecke an der nun unten befindlichen Körperseite neu aus. Da das Blut durch Wasserverlust zunehmend konzentriert wird, verschwinden später die ursprünglichen Totenflecke nicht mehr vollständig. So kann eine Lageveränderung der Leiche erkannt werden. Kriminalistisch wichtig ist auch das Phänomen, dass die Totenflecke in der ersten Zeit nach dem Tod weggedrückt werden können. Auf Druck mit dem Finger oder einem Gegenstand entweicht das Blut aus den Gefäßen, und es kommt infolgedessen zu einer umschriebenen Abblassung. Diese Erscheinung lässt, ebenso wie die Umlagerbarkeit, innerhalb eines gewissen Zeitraums Rückschlüsse auf die Todeszeit zu. Den Totenflecken folgt alsbald die Totenstarre, deren Ursache bereits im 18. Jahrhundert lebhaft diskutiert wurde. Die zahlreichen älteren Theorien über das Erstarren der Muskulatur haben sich sämtlich als unzutreffend erwiesen. Heute weiß man, dass dem Adenosintriphosphat (ATP), das als so genannter Weichmacher wirkt, die entscheidende Bedeutung zukommt. Wenn die ATPReserve der Muskulatur aufgebraucht ist, entwickelt sich die Totenstarre.
Am 13. März 1847 verstarb in Wien der Professor für Gerichtliche Medizin Jakob Kolletschka. Während einer Obduktion hatte ein Student den Professor mit dem Messer am Finger verletzt. Die scheinbar harmlose Wunde führte zu einer Erkrankung, die innerhalb kurzer Zeit mit dem Tod endete. Starb Jakob Kolletschka durch Leichengift? Nein, sein Tod war die Folge einer Allgemeininfektion durch Verschleppung von Krankheitserregern und deren Giften auf dem Blutweg mit Eiterherdbildung in den inneren Organen. Das Risiko einer Infektion bei der Leichenöffnung besteht also tatsächlich. Zu fürchten ist allerdings nicht ein spezifisches Leichengift, sondern die Ansteckung mit krankheitserregenden Bakterien und Viren. Bei der Untersuchung Verstorbener, die an einer infektiösen Erkrankung gelitten haben, können die Erreger über eine geeignete Eintrittspforte, etwa eine Hautverletzung, in den Körper des Obduzenten eindringen. Eine generelle Gesundheitsgefährdung beim Umgang mit Leichen darf daraus jedoch nicht abgeleitet werden.
Die Leichenzersetzung durch Autolyse, Fäulnis und Verwesung hängt von den Umweltverhältnissen, vor allem von der Temperatur, ab, sodass im zeitlichen Verlauf große Unterschiede bestehen. Kennzeichnend für die Leichenfäulnis, die durch bestimmte Bakterien verursacht wird, sind die Gasbildung und die Verflüssigung des Gewebes. Beim Eiweißabbau entstehen die Substanzen, die der faulenden Leiche den charakteristischen Geruch geben. Das sind insbesondere Tyramin und Ammoniak. Das Tyramin gehört zu einer Gruppe chemischer Verbindungen, die als Ptomaine – abgeleitet von dem griechischen Wort für Kadaver – bezeichnet werden.
Ein echtes Problem stellten die Fäulnisprodukte noch im 19. Jahrhundert für die forensisch tätigen Toxikologen dar. Bedingt durch die damaligen Analysemethoden, kam es immer wieder zu Verwechslungen mit bestimmten pflanzlichen Giftstoffen, den Pflanzenalkaloiden, zu denen so bekannte Gifte wie Coniin und Strychnin gehören. Erste systematische Untersuchungen der Eiweißabbauprodukte, die bei der Fäulnis entstehen, nahm der Italiener Francesco Selmi vor. Auf ihn geht auch der noch heute gebräuchliche Begriff Ptomaine zurück. Im Jahr 1878 erschien seine grundlegende Monografie über die Leichenalkaloide, die auch einige berühmt gewordene Gutachten Selmis enthält. Durch sorgfältige Analysen war es ihm wiederholt gelungen, einen bestehenden Giftmordverdacht zu entkräften.
Der unerwartete Tod eines gewissen Generals Gibbone hatte zu allerlei Spekulationen Anlass gegeben. Die toxikologisch-chemische Analyse schien den Nachweis von Delphinin, einem Rittersporn-Alkaloid, erbracht zu haben. Der Verdacht richtete sich gegen den Diener des Generals. Allein der Umstand, dass jegliches Tatmotiv fehlte, veranlasste das Gericht, Selmi mit einem Obergutachten zu beauftragen. Als Erstes stellte er neue Extrakte aus den Leichenteilen her. Die Untersuchung seiner Organauszüge mit den Reagenzien, die Delphinin anzeigen, ergab ein klares Resultat. Die Reaktionen fielen positiv aus. Also doch ein Giftmord? Selmi begnügte sich aufgrund seiner Erfahrungen jedoch nicht damit, sondern begann mit Tierexperimenten. Er injizierte einigen Fröschen echtes Delphinin und anderen die Organextrakte. In beiden Versuchsreihen trat bei den Tieren ein Herzstillstand auf, jedoch entging der entscheidende Unterschied nicht Selmis Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zum Delphinin verursachten seine Extrakte einen Herzstillstand während der Systole, der Kontraktionsphase der Herzaktion. Das war beim Delphinin nie zu beobachten. Sorgfältig wiederholte Selmi alle Versuchsreihen und nahm schließlich die Suche nach neuen Reagenzien auf, die einen spezifischen Nachweis von Delphinin ermöglichen sollten. Dazu verwendete er unter anderem Gold-Natriumhyposulfit. Während es bei der Reaktion mit Delphinin zur Entstehung eines Bodensatzes kam, blieb bei Zugabe der Leichenextrakte die Bildung eines Niederschlags aus. Selmi widerlegte mit diesen eindeutigen Ergebnissen die Behauptung vom Giftmord an General Gibbone. Die von den Chemikern bei den ersten Analysen verwendeten Reagenzien waren demnach für den Untersuchungszweck ungeeignet und hätten fast zu einem verhängnisvollen Justizirrtum geführt.
Überzeugende Resultate erzielte Selmi auch in einem weiteren Fall. Der Tod der Witwe Sonzogno in Cremona hatte ebenfalls einen Giftmordverdacht entstehen lassen. Mehrere Chemiker wurden mit der Untersuchung des exhumierten Leichnams beauftragt. Aus ihren Analyseergebnissen leiteten sie die Schlussfolgerung ab, in den Organextrakten Morphin gefunden zu haben. Auch in diesem Fall ließ sich die vermeintliche Feststellung von Gift im Körper der Toten nicht recht in die Ermittlungsergebnisse einordnen. Es lagen nämlich keine anderen Anhaltspunkte für ein Verbrechen vor. Weitere Analysen, die Chemiker in Mailand und Brescia ausführten, sollten Klarheit bringen. Sie konnten zwar kein Morphin nachweisen, bestätigten aber das Vorhandensein eines Alkaloids. Das Gericht bestellte Selmi zum Obergutachter. Tatsächlich ließen einige der von ihm angewandten Nachweisreaktionen eine verdächtige Färbung erkennen. Dagegen fielen die meisten Tests auf Morphin negativ aus. Eindeutig verliefen die Tierexperimente mit Kaninchen und Fröschen. Die Wirkungen der Leichenextrakte auf die Versuchstiere waren so grundverschieden von denen des Morphins, dass Selmi jeglichen Zweifel ausräumen konnte. Die Leiche der Witwe Sonzogno enthielt keine Spur von Morphin, sondern wiederum hatten Ptomaine das Vorhandensein eines Pflanzenalkaloids vorgetäuscht. Erst seitdem die unspezifischen Analysemethoden durch moderne Trenn- und Nachweisverfahren ersetzt wurden, besteht diese Gefahr nicht mehr.
Von den konservierenden Leichenveränderungen werden die Mumifikation und das so genannte Fettwachs am häufigsten beobachtet. Eine natürliche Mumie entsteht unter geeigneten Bedingungen durch Austrocknung des Körpers ohne vorangegangene Konservierungsmaßnahmen.
Im Gegensatz dazu vollzieht sich die chemische Umwandlung des körpereigenen Fettgewebes zu Fettwachs im feuchten Milieu unter völligem oder teilweisem Luftabschluss. Günstige Bedingungen für den Entstehungsprozess herrschen im Wasser und in feuchten Erdgräbern. Erstmals beschrieben die Franzosen Michel-Augustin Thouret und Antoine-François de Fourcroy im Jahr 1786 diese Erscheinung nach Beobachtungen auf einem Pariser Friedhof. Die Leichen hatten zwischen fünfzehn und dreißig Jahre in Massengräbern gelegen. Jeweils eintausend bis eintausendfünfhundert Särge waren in großen Gruben möglichst eng neben- und übereinander geschichtet worden. Bei der Öffnung fanden sich zum Erstaunen der Beteiligten nicht, wie erwartet, Skelette, sondern auf besondere Weise erhaltene Leichname.
In seinem »Bericht über die Leichen, die aus dem Kirchhofe und der Kirche der unschuldigen Märtyrer ausgegraben wurden« schrieb Michel-Augustin Thouret: »An den Leichen, deren mehrere in eine gemeinschaftliche Grube geworfen worden waren, war kein Fasergewebe mehr wahrzunehmen, sondern alle weiche Theile zu einem meistens sehr festen mehr oder weniger weißen Mark geworden, das sich fett anfühlte, an trockener Luft hart, und zuweilen glänzend, beynahe wie Metall, wurde an feuchter Luft wieder aufgeweicht, stank, schimmelte, und mit den lebhaftesten und mannigfaltigsten Farben anlief; von außen war es von der Haut gebildet, die man noch an ihrem körnigen Gewebe erkennt.« Die ursprüngliche, auf die Erstbeschreiber zurückgehende Bezeichnung Adipocire, die von den lateinischen Wörtern adeps für Fett und cera für Wachs abgeleitet ist, hat sich als chemisch falsch erwiesen, wird aber heute noch gebraucht. Das Umwandlungsprodukt enthält kaum Fett und kein Wachs, sondern besteht hauptsächlich aus gesättigten höheren Fettsäuren.
Die kriminalistische Bedeutung der natürlichen Leichenkonservierung resultiert vor allem daraus, dass sich verschiedene Verletzungen aufgrund der weitgehenden Erhaltung des Leichnams noch lange Zeit nach dem Todeseintritt erkennen lassen. So berichtete im Jahr 1887 aus Graz der Gerichtsmediziner Julius Kratter über die Aufdeckung des Mordes an einem Mann, der etwa sechs Monate in einem Wassertümpel gelegen hatte. Bei der Obduktion des größtenteils in Adipocire umgewandelten Leichnams fand sich am Hals der mehrfache Abdruck eines Stricks, der später gesucht und auf dem Grund des Tümpels gefunden wurde. Die weiteren Nachforschungen ergaben, dass der Mann mit einem so genannten Kälberstrick erdrosselt worden war.
»Wißt Ihr nicht, wie weh das tut, wenn man wach im Grabe ruht ...«, schrieb die Lyrikerin Friederike Kempner in einem ihrer Gedichte. Die Vorstellung, lebend in einem Sarg beerdigt zu sein, erweckt wohl bei jedem ein gewisses Unbehagen. Machen doch Finsternis, Stille und Grabeskühle keineswegs eine behagliche Atmosphäre aus. Die Folgen verfrühter Beerdigungen weiß Edgar Allan Poe in seiner Erzählung »Lebendig begraben« meisterhaft zu schildern. Da fällt nach drei Jahren Aufenthalt in der Familiengruft dem eintretenden Ehemann das Skelett seiner Frau in dem noch nicht vermoderten Leichengewand klappernd in die Arme, oder eine junge Frau wird um Mitternacht durch die zärtlichen Berührungen ihres Liebhabers aus einem Schlummerzustand erweckt, in dem sie zuvor beerdigt worden war. »Ich könnte, wenn nötig«, behauptete Edgar Allan Poe, »sofort hundert gut beglaubigte Beispiele anführen«. Tatsächlich kostet es nur wenig Mühe, Berichte über die seltsamsten Begebenheiten in großer Zahl zu sammeln. Hierzu einige Schlagzeilen aus der Boulevardpresse: »Die Flucht aus dem Beinhaus«, »Obduktion abgesagt – der Tote lebt«, »Die eigene Trauerfeier miterlebt« oder »Auferstandene Scheintote verursacht Panik«.
Die Verringerung wichtiger Stoffwechselprozesse und das Erlöschen der Lebensfunktionen des Organismus kennzeichnen die letzte Phase des Lebens. Durch äußere Einflüsse, wie Blitzschlag, Unterkühlung und Vergiftung, oder seltener bei Krankheiten, zum Beispiel Epilepsie, können alle Lebenserscheinungen auf ein Minimum herabgesetzt sein. Äußerlich sind in solchen Fällen Herz-Kreislauf- und Atemtätigkeit kaum wahrnehmbar, und es besteht eine tiefe, unter Umständen lang andauernde Bewusstlosigkeit. Für diesen Zustand, bei dem die Unterscheidung zwischen Leben und Tod stark erschwert ist, wurde der Begriff Scheintod geprägt. Gelingt durch geeignete Behandlungsmaßnahmen die volle Wiederherstellung der Lebensfunktionen, bedeutet das also nicht die Erweckung eines Toten, sondern die Genesung eines Schwerstkranken. Unmissverständlich ist der medizinische Fachausdruck vita minima, der besagt, dass es sich um einen auf das Äußerste verminderten Zustand des Lebens handelt.
Weit zurück reichen die Versuche, den Scheintod als eine besondere Zustandsform des menschlichen Daseins zu deuten und dem wahren Tod gegenüberzustellen. So wurde beispielsweise als mögliches Unterscheidungsmerkmal definiert: »Der wahre Tod setzt einen unerregbaren Stillstand der Nerventätigkeit voraus, der Scheintod einen erregbaren.« Die mangelnden Kenntnisse über Sterben und Tod in früherer Zeit bedingten zwangsläufig derartig nebulöse Vorstellungen.
Durch die im 18. Jahrhundert einsetzende intensive medizinische Erforschung des Todes konnten nach und nach wesentliche Zusammenhänge geklärt werden. Trotzdem fand der Begriff Scheintod in Ermangelung einer besseren Bezeichnung weiterhin Verwendung. Das geschah auch, wenn Ärzte in wissenschaftlichen Zeitschriften über die erfolgreiche Behandlung von Patienten mit einer vita minima berichteten. Bei sachunkundigen Lesern konnte so der Eindruck entstehen, dass es mit dem Scheintod doch etwas auf sich haben muss. Erst seit den 1960er Jahren setzt sich langsam der korrekte Terminus vita minima in der medizinischen Fachliteratur durch.
In gewissem Sinne wirkten sich auch bestimmte ärztliche Maßnahmen fördernd auf den Scheintodglauben aus. Bis in die jüngste Vergangenheit wurden gelegentlich Ärzte von Angehörigen eines Verstorbenen aufgefordert, den sicheren Tod durch einen so genannten Pulsaderschnitt oder einen Herzstich festzustellen. Testamentarisch verfügte beispielsweise der schwedische Chemiker Alfred Nobel die Öffnung seiner Pulsadern. Der berühmte Kriminalist Hans Groß, selbst der Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler verlangten die Ausführung eines Herzstichs. Die Ursachen für den Scheintodglauben sind aber noch weitaus vielfältiger und zum Teil uralt.
Schon in grauer Vorzeit mussten sich die Menschen mit Naturerscheinungen auseinandersetzen. Ihnen fehlten allerdings die Kenntnisse um die Beobachtungen richtig zu deuten. Das Aufkommen abergläubischer Vorstellungen war die Folge. Schriftliche Überlieferungen und volkskundliche Studien vermitteln einen Eindruck darüber, welche Erscheinungen an Leichen zu Fehldeutungen Anlass gaben: Der Tote schwitzt – in Wirklichkeit Kondenswasser auf der abgekühlten Leiche. Die Barthaare wachsen – in Wirklichkeit Folge der Eintrocknung des Gewebes mit passivem Hervortreten des Bartes. Die Lage der Leiche verändert sich – in Wirklichkeit verursacht durch Eintreten und Lösen der Totenstarre, später durch Fäulnis. Totenlaute sind zu vernehmen – in Wirklichkeit eine Leichenerscheinung, bedingt durch das Hochdrücken des Zwerchfells infolge Fäulnisgasansammlung im Bauchraum mit Entweichen von Luft durch die Stimmritze. Die Aufrichtung des männlichen Gliedes – in Wirklichkeit Fäulnisgasansammlung im Gewebe der äußeren Geschlechtsorgane. Frisches Blut fließt aus Nase und Mund – in Wirklichkeit Austritt von Fäulnisflüssigkeit aus den Körperöffnungen. Die Leiche lässt eine ganz frische Haut und neue Nägel erkennen – in Wirklichkeit Ablösung der Oberhaut zusammen mit den Nägeln infolge Fäulnis, sodass die rosig und feucht wirkende Lederhaut beziehungsweise die Nagelbetten freiliegen. Eine verstorbene Schwangere gebärt im Sarg ihr Kind – in Wirklichkeit kommt eine so genannte Sarggeburt durch einen starken Fäulnisgasdruck im Bauchraum zustande, der ebenso einen Kotabgang an der Leiche bewirken kann. Solche Leichenerscheinungen sind es auch, die den Scheintodglauben bis heute wach gehalten haben.
Schon aus dem alten Rom gibt es Mitteilungen über Scheintote und verfrühte Beerdigungen. Ein Fall von beinahe historischer Tragweite ereignete sich 1244 in Frankreich. Der neunundzwanzigjährige, an Ruhr leidende König Ludwig IX. wurde von seinen Ärzten für tot erklärt. Nach einer Stunde, die Priester hatten bereits mit dem Lesen der Totenmesse begonnen, waren die Lebenszeichen wieder unübersehbar. Erst sechsundzwanzig Jahre später starb der König wirklich.
Die Berichte über die Rückkehr für tot gehaltener Personen zum Leben und über lebendig Begrabene mehrten sich seit dem späten Mittelalter. Der Franzose Jacques-Jean Bruhier d’Ablaincourt hat derartige Fälle gesammelt und im Jahr 1742 veröffentlicht. Sein umfangreiches Werk erschien 1754 in deutscher Sprache unter dem Titel »Abhandlung von der Ungewissheit der Kennzeichen des Todes, und dem Misbrauche, der mit übereilten Beerdigungen und Einbalsamirungen vorgeht«. Obwohl nur wenige der zweihundertachtundsechzig darin enthaltenen Fallberichte überprüfbar waren, erkannten Medizinische Fakultäten und Akademien Bruhiers Buch an. Es fand rasch weite Verbreitung und wurde von vielen Laien gelesen. So weitete sich im 18. Jahrhundert die Furcht vor dem Scheintod und dem Lebendigbegra-benwerden zu einer Massenerscheinung aus.
Als positive Auswirkung begann, wie bereits erwähnt, eine intensive medizinische Erforschung des Todes. Weitere Konsequenzen waren die Errichtung von Leichenhäusern und die Gründung von Rettungsgesellschaften. In Deutschland entstand das erste Leichenhaus 1791 in Weimar auf Initiative des bekannten Arztes Christoph Wilhelm Hufeland. Bereits vorher waren, ausgelöst durch das Buch von Bruhier, solche Einrichtungen in London, Amsterdam, Wien und Prag in Betrieb genommen worden. In den Leichenhäusern wurden verschiedene Konstruktionen zur Erkennung des Scheintodes installiert. Anfang des 19. Jahrhunderts erhielt das Leichenhaus in Leipzig eine Läutevorrichtung. An den Fingern und Zehen jedes Eingelieferten wurden Drähte befestigt, die über eine Rolle zu einer im Flur angebrachten Glocke führten. Durch eine Bewegung der Gliedmaßen konnte die Glocke in Tätigkeit gesetzt werden. Von solchen einfachen Scheintodklingeln über Sicherheitsröhren im Grab bis zur Konstruktion so genannter Sicherheitssärge reicht die Palette kurioser Erfindungen. Nicht weniger sonderbar muten heute die alten Methoden zur Feststellung des Todes an, die sich sämtlich als unsicher erwiesen haben. Zum Ausschluss des Scheintodes sollten eine Flaumfeder vor Mund und Nase gehalten, ein bis zum Überlaufen mit Wasser gefülltes Glas auf den Brustkorb gestellt oder Siegellack auf die Haut getropft werden. Die systematische Anwendung der so genannten Lebensproben empfahl die Rettungsgesellschaft in Amsterdam, die als Erste in der Welt 1767 gegründet wurde. Ihr erklärtes Ziel war die Rettung und Wiederbelebung Scheintoter.
Zweifellos bestand im 18. Jahrhundert die dringende Notwendigkeit, den Tod mit größerer Sicherheit festzustellen. Dazu fehlte es aber vor allem an geeigneten Mitteln und Methoden.
Das erste Stethoskop konstruierte der berühmte Pariser Arzt René-Théophile-Hyacinthe Laënnec im Jahr 1819. Doch die von ihm eingeführte Auskultation, das Abhorchen des Körpers, setzte sich erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts als ärztliche Untersuchungsmethode durch. Ludwig Julius Caspar Mende, Verfasser eines viel beachteten sechsbändigen Handbuchs der Gerichtlichen Medizin, hatte bereits 1829 auf den großen Wert des Stethoskops für die Feststellung des Todes aufmerksam gemacht. Er konnte damit bei einem Neugeborenen, das für tot erklärt wurde, noch eine halbe Stunde später den Herzschlag wahrnehmen und rettete so dem Knaben das Leben. Eine mangelnde Sorgfalt bei der Untersuchung angeblich Verstorbener war zur damaligen Zeit weit verbreitet. Auch Christoph Wilhelm Hufeland wies wiederholt darauf hin.
Wirksame staatliche Maßnahmen mussten die Initiativen einzelner Ärzte ergänzen, wenn ein durchgreifender Erfolg erzielt werden sollte. Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 enthält die älteste Vorschrift über eine behördliche Leichenschau in Deutschland. Danach musste der Pfarrer bei der Anzeige von Sterbefällen nach der Todesart fragen und den Totengräber beauftragen, bei der Einsargung anwesend zu sein. Die Anwesenheit des Totengräbers allein dürfte kaum eine geeignete Methode darstellen, um der Gefahr der Toterklärung eines Lebenden zu begegnen. Im Jahr 1796 hat der Berliner Arzt Johann Ludwig Formey die Forderung erhoben, »dass kein Mensch beerdigt werden soll, ohne von einem Arzt vorher besichtigt worden zu seyn«. Eine Ministerialverfügung vom 15. Juni 1822 bestimmte für Preußen, dass die Ermächtigung zur Beerdigung »entweder nur auf das Zeugnis eines approbirten Arztes über den wirklich erfolgten Tod oder mit der Beschränkung zu ertheilen ist, dass die Beerdigung erst nach Ablauf von 72 Stunden seit dem von den Zeugen bekundeten Moment des angeblichen Todes erfolgen darf«.
Die Praxis sah allerdings etwas anders aus. In ländlichen Gebieten, in denen kein Arzt ansässig war, erfolgte oft überhaupt keine Leichenschau. Die Laienleichenbeschauer hatten einen denkbar schlechten Ruf. Es waren »Individuen, welche auf der niedersten Stufe der Intelligenz stehen und sich durch ihr unsinniges und mechanisches Niederschreiben von Leichenschauscheinen schon allwärts bekannt und lächerlich gemacht haben«. Im Jahr 1900 erhob der 28. Deutsche Ärztetag in einer Resolution erstmalig die Forderung nach der gesetzlichen Einführung einer obligatorischen ärztlichen Leichenschau, die heute allgemein üblich ist.
In den Jahren 1919/20 ging ein Fall durch die Tagespresse und die medizinische Fachliteratur, der den Scheintodglauben gewaltig aufleben ließ. Am 28. Oktober 1919 nachmittags war die dreiundzwanzigjährige Krankenpflegerin Minna Braun leblos im Berliner Grunewald aufgefunden worden. Der herbeigerufene Gemeindearzt stellte Pulslosigkeit sowie Fehlen der Herztöne und der Atemtätigkeit fest. Aufgeträufelter Siegellack ergab keine Hautrötung. Die vermeintliche Tote wurde daraufhin in eine Leichenhalle überführt und eingesargt. Nach vierzehn Stunden musste der Sarg geöffnet werden, weil Kriminalbeamte an den Kleidern der bis dahin Unbekannten nach Wäschezeichen suchen wollten. Sie stellten zu ihrer Verwunderung leichte Kehlkopfbewegungen fest und ließen denselben Arzt nochmals rufen. Er vernahm bei der erneuten Untersuchung einige dumpfe Herztöne und veranlasste umgehend einen Transport ins Krankenhaus. Nach einem heißen Bad, kräftiger Bürstenmassage, zeitweiliger Sauerstoffbeatmung und fortgesetzter medikamentöser Behandlung erlangte die Patientin am 30. Oktober das Bewusstsein zurück. Auf Befragen gab sie an, aus Liebeskummer am 28. Oktober gegen 14 Uhr Morphinlösung und Veronalpulver eingenommen zu haben. Minna Braun konnte schließlich gesund aus dem Krankenhaus entlassen werden. Wie das Beispiel zeigt, hatte der Arzt bei der ersten Untersuchung die minimalen Lebensäußerungen übersehen.
Das Bekanntwerden dieses Falles löste eine Flut von Mitteilungen über Scheintodfälle in der Tagespresse aus. Einige wurden eingangs zitiert. Im Jahr 1943 überprüfte der Straßburger Gerichtsmediziner Gerhard Rossow eine Sammlung von Zeitungsmeldungen. Resümierend schrieb er: »Wie wir an den gebrachten Beispielen gesehen haben, handelt es sich in allen diesen Fällen um frei erfundene, der Phantasie entsprungene Märchen, die sich kaum von jenen unterscheiden, die schon vor hundert und mehr Jahren dem Publikum aufgetischt wurden.« Auch die Schilderungen von Edgar Allan Poe sind so schnell erklärt.