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Vorwort

Am Ende einer Epoche: Der Umbruch im Osten und die Folgen

Einigkeit und Recht und Freiheit?

25 Jahre Wiedervereinigung – eine Bilanz

F.A.Z.-eBook 42

Frankfurter Allgemeine Archiv

Herausgeber: Dr. Reinhard Müller

Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher

Projektleitung: Franz-Josef Gasterich

eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb und Vermarktung: Content@faz.de

© 2015 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Titelfoto: © F.A.Z.-Foto / Barbara Klemm.

ISBN: 978-3-89843-413-3

Nicht vergessen

Von Reinhard Müller

Die Wiedervereinigung war wie ein Wunder. Doch das ist angesichts der aktuellen Probleme Deutschlands schon fast vergessen. Flüchtlingsströme, der Krieg in Syrien und in der Ukraine, die Euro-Krise haben die Erinnerung an die deutsche Teilung und die Wiedererlangung der staatlichen Einheit in den Hintergrund treten lassen. Dabei war der Fall der Mauer alles andere als vorhersehbar – auch wenn nicht vergessen werden sollte, dass einige wenige dieses Ziel nie aus den Augen verloren hatten. Die Organisation der staatlichen Einheit auf internationaler und nationaler Ebene in kurzer Zeit bleibt eine diplomatische und verwaltungstechnische Meisterleistung, die in der Geschichte ihresgleichen sucht.

Doch klar ist auch, dass die widernatürliche Trennung des Landes und die vierzigjährige SED-Herrschaft tiefe Spuren hinterlassen haben, die heute noch zu sehen sind. Ohne Zweifel gibt es die versprochenen blühenden Landschaften. Manches blüht mittlerweile im Osten mehr als im Westen. Doch hinter den sanierten Fassaden leben Menschen mit Wunden, die mit Zahlen und Statistiken kaum zu erfassen sind. So ändert ein recht hoher Lebensstandard nichts daran, dass der dauerhafte Verlust eines Arbeitsplatzes eben ein Verlust auch eines sozialen Status ist, auch wenn es sich rein objektiv betrachtet lediglich um eine Beschäftigungsstelle im grauen DDR-Apparat handelte. Das heißt aber noch lange nicht, das das gesamte private Leben in der DDR grau war – die Bewohner der alten mitteldeutschen Länder wollen sich jedenfalls nicht von Westdeutschen sagen lassen, wie es damals war. Manche Erbitterung in der leicht künstlichen Debatte, ob die DDR ein Unrechtstaats war, hat hier ihren Grund. Dass sie kein Rechtsstaat war, sollte freilich jedem klar sein.

Nach der ebenso schwierigen wie zügig ausgehandelten deutschen Einheit, die nur mit Zustimmung der alten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs möglich war, ist Deutschland rechtlich geeint und souverän. Und doch bleiben offene Fragen – von Resten des Besatzungsrechts bis zu den Folgen der Bodenreform, deren Nachwirkungen bis heuten einen wahren Wiederaufbau im Osten verhindern.

Heute ist das gesamte Deutschland Teil einer Europäischen Union, die nach Jahrzehnten des Erfolgs in einer Legitimitätskrise steckt. Die Abschaffung der D-Mark war ein Preis für die Wiedervereinigung. Voraussetzung für die gemeinsame europäische Währung ist gewesen, dass sie stabil sein sollte wie die Mark. Die Euro-Krise fordert heute die Union heraus, wie auch der Strom der Flüchtlinge zu gemeinsamen Handeln zwingt – ohne die nationalen Grundwerte aufzugeben. Diejenigen, die heute zu uns kommen, sind jedenfalls andere als die aus Ostpreußen vor 70 und aus Sachsen vor 25 Jahren. Damals wurden Mauern eingerissen, heute werden neue gebaut – und zugleich wird geholfen. Die Erinnerung an die mit Glück und Geschick gelungene Wiedervereinigung kann auch bei der Bewältigung künftiger Krisen helfen.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wollte von ihrer ersten Ausgabe im Jahr 1949 an, »Stimme Deutschlands in der Welt« sein, gegen Chauvinismus, aber auch gegen nationale Unfreiheit – und vor allem für die Freiheit. Dass ihr das auch bei der journalistischen Begleitung der deutschen Einheit, die der F.A.Z stets ein Anliegen war, eindrucksvoll gelungen ist, davon zeugt dieses Buch.

Ein wunderbarer Bösewicht

Bei der Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Lande 2006 ist Deutschland nur Dritter geworden. Dennoch sprach man überall vom »Sommermärchen«. Die Deutschen hatten sich ganz in Schwarz-Rot-Gold gehüllt, überfielen aber dennoch kein Nachbarland. Die Welt war erstaunt: Wie friedlich und verträglich diese Deutschen doch sind!

Von Berthold Kohler

Und wie fröhlich! Darüber freuten wir Deutsche uns dann wieder, als wären wir Weltmeister geworden. Die Welt mochte uns, und das machte uns glücklich. »Der Deutsche« will nämlich gar nicht hässlich sein. Er will geliebt werden.

Mancher aber kommt mit dem hässlichen Deutschen viel besser zurecht als mit dem geliebten, das geht Deutschen und Nichtdeutschen so. Denn für den hässlichen Deutschen gilt der alte Persil-Spruch: Da weiß man, was man hat. Man kennt sie ja, diese Germanen in Sandalen und weißen Socken, die selbst noch Sonnenliegen am Pool besetzen müssen, weil ihnen ihr teutonischer Drang befiehlt, überall für Ordnung zu sorgen. Früher betrieben sie ihre Ordnungspolitik mit dem Panzer, heute tun sie es mit Handtüchern. Und natürlich mit dem Euro, der Fortsetzung der D-Mark mit anderen Zinssätzen. Und dem Stabilitätspakt. Und dem gusseisernen Rollstuhl von Wolfgang Schäuble.

Dass andere Nationen den alten Klischees frönen, ist leicht zu verstehen. Deutschland ist ein wunderbarer Bösewicht. Er gesteht sofort, wenn man ihn an seine kriminelle Vergangenheit erinnert. Und verfällt in reuiges Verständnis. Muss man nicht immer noch Nachsicht mit den Russen haben? Und mit den Griechen? Sind wir nicht allen noch etwas schuldig, die einmal unter deutscher Herrschaft gelitten hatten? Dass auch Staaten und Nationen im Falle von Kontroversen den Hebel immer dort ansetzen, wo er die größte Wirkung verspricht, ist keine Überraschung. Doch warum wird auch in Deutschland selbst davon fabuliert, dass sich der deutsche Dr. Jekyll nach ein paar Jahrzehnten der mühsamen Selbstbeherrschung wieder in einen Mr. Hegemon verwandeln könne?

Die Nation in der Mitte des europäischen Kontinents hat in mancher Hinsicht noch immer nicht zur eigenen Mitte gefunden. Ihre Debatten sind marmoriert mit Selbstmisstrauen, ob es um Auslandseinsätze oder den Euro geht. Wie kompliziert ist auch alles geworden! Viele waren ganz zufrieden gewesen mit der deutschen Teilung, die mancher als gerechte Strafe und ewige Mahnung für die vorausgegangenen Verbrechen betrachtete. Und war es nicht gemütlich im Windschatten der Mauer? Selbst im Osten fand man seine Nischen. Das unsouveräne Westdeutschland konnte sich weitgehend ungestört von der schmutzigen Weltpolitik seinen Steckenpferden widmen: dem Geschäft und der Weltverbesserung, Letzterer natürlich nur in der Theorie.

Seit der Wiedervereinigung stellen sich den Deutschen aber all die Fragen, denen sie sich als geteilte Nation unter Kuratel nicht stellen brauchten: Wer sind wir (wenn wir nicht länger vor allem diejenigen sind, die einen verbrecherischen Krieg verloren haben)? Was wollen wir (wenn wir das selbst entscheiden können)? Was müssen wir dafür tun (wenn uns das andere nicht länger abnehmen)?

Das Projekt Europa gab den Deutschen über viele Jahre hinweg Antworten auf diese Fragen. Es verschaffte ihnen eine Ersatzidentität. Es schuf ihnen einen Raum, in dem sich ihre Wirtschaftskraft austoben konnte. Und immer stand das europäische Einigungsprojekt für den nur zu verständlichen Traum der Deutschen vom ewigen Frieden.

Den haben auch die anderen Europäer mitgeträumt. Doch je weiter die Integration voranschritt, desto drängender stellte sich die Frage, nach wessen Bilde das vereinte Europa denn geschaffen werden solle: nach dem der Deutschen, der Engländer, der Franzosen, der Griechen? Der Euro hat sich nicht als ein Zauberstab erwiesen, der die mitunter höchst unterschiedlichen Vorstellungen vom Wesen und der Gestalt eines vereinten Europas unter einen Zylinder bringen kann. Um den weiteren Weg muss, wie übrigens bisher schon, gerungen werden. Dass dies in Verhandlungsnächten und nicht mehr auf Schlachtfeldern geschieht, ist eine derart große Errungenschaft, dass sie aus der Nähe oft nicht mehr erkannt wird.

Deutschland verschrieb sich aus guten Gründen so nachhaltig der Einigungsidee, dass es zum Zentrum des politischen Europas geworden ist – nicht zu seinem Diktator. Keine andere Nation hat, was solche Anwandlungen angeht, Läuterungsprozesse wie die deutsche hinter sich. Nun aber, fünfundzwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung und konfrontiert mit ganz grundsätzlichen Fragen, muss Deutschland endlich wissen, was es in Europa sein will: Führungsmacht? Mitläufer? Insolvenzverwalter? Sozialamt? Kein Wunder, dass da mancher mit Wehmut an die alte Rolle des Bösewichts denkt, die uns vertraut war wie keine zweite. Aber seien wir ehrlich: Richtig überzeugt haben wir als Schurke schon lange nicht mehr.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.07.2015

Traum und Wirklichkeit

Als »Zeit der Wunder« hat Richard Schröder die Jahre 1989 und 1990 bezeichnet. Nach der ersten freien Wahl in der DDR war der evangelische Theologe im Frühjahr 1990 zum Fraktionsvorsitzenden der SPD in der Volkskammer gewählt worden.

Von Horst Teltschik

Führt man sich die Ereignisse von damals noch einmal vor Augen, dann ist offensichtlich, wie recht Schröder hat: Deutschland hat sich verändert; Europa hat sich verändert; die Welt hat sich verändert. Das war keine »Wende«, wie Egon Krenz meinte. Das war eine Revolution, eine friedliche Revolution. Nach dem Fall der Mauer wurde Deutschland innerhalb von 329 Tagen vereinigt, ohne dass ein Schuss fiel. Alle Nachbarstaaten und Partner gaben ihre Zustimmung. Deutschland erhielt 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine volle Souveränität zurück. Und auch nach der Vereinigung blieb das Land eingebettet in die Europäische Gemeinschaft und in die Atlantische Allianz.

Der Warschauer Pakt löste sich friedlich und fast lautlos auf; 500 000 sowjetische Soldaten zogen aus Mitteleuropa ab, allein 370 000 aus der ehemaligen DDR. In Verhandlungen über Abrüstung und Rüstungskontrolle konnten Ergebnisse erzielt werden wie nie zuvor in der Geschichte: Die strategischen Nuklearwaffen wurden reduziert (Start I), die Mittelstreckenraketen, gegen die Anfang der achtziger Jahre noch Hunderttausende auf der Straße demonstriert hatten, völlig abgebaut (INF). Es gelang, die Zahl der konventionellen Waffen in Europa zu begrenzen (CFE) und biologische wie chemische Waffen zu verbieten.

Der Ost-West-Konflikt, der sich vier Jahrzehnte wie ein bleierner Schatten über die ganze Welt gelegt hatte, war beendet, die Spaltung Europas überwunden. Die Sowjetunion löste sich 1991 weitgehend friedlich in 15 souveräne Staaten auf. Damit fand auch die bipolare Weltordnung ein Ende, in der sich die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion mit ihren jeweiligen Bündnissen bedrohlich und unversöhnlich gegenübergestanden hatten. Noch nie gab es auf der Welt so viel Demokratie und Marktwirtschaft wie heute. Es war Präsident George Bush der Ältere, der deshalb 1991 von einer neue Weltordnung sprach.

Bundeskanzler Helmut Kohl bemühte sich darum, die Beziehungen mit der Sowjetunion und später mit Russland neu zu gestalten. Ohne Präsident Michail Gorbatschow wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Die Gemeinsame Erklärung vom Juni 1989 und vor allem der »Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit« zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion vom November 1990 verfolgten das Ziel einer dauerhaften friedlichen und freundschaftlichen Zusammenarbeit auf allen Ebenen. In den Jahren 1989 und 1990 schloss die Bundesregierung insgesamt 29 Verträge und Abkommen mit der Sowjetunion. Kohl wollte Russland so eng wie möglich an Europa binden, um den Frieden dauerhaft zu sichern.

Gleichzeitig gestaltete Kohl das Verhältnis zu den mitteleuropäischen Nachbarstaaten neu, insbesondere zu Polen. Schon im November 1989 hatte er in Warschau mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki eine Gemeinsame Erklärung zur Stärkung der bilateralen Beziehungen unterzeichnet. Diese Erklärung enthielt bereits eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in der Form, in der sie von allen seinen Vorgängern seit Willy Brandt ausgesprochen worden war. Die endgültige völkerrechtliche Anerkennung der Grenze konnte erst nach der Vereinigung Deutschlands im Deutsch-Polnischen Grenzvertrag und im »Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit« erfolgen. Kohl hatte die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in ihrer heutigen Form aber nie in Zweifel gezogen. Für ihn waren gute Beziehungen zu Polen von ähnlicher Bedeutung wie die Freundschaft und Zusammenarbeit mit Frankreich.

Zu einem Höhepunkt der Neugestaltung Deutschlands und Europas wurde im November 1990 das Gipfeltreffen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Paris. Dort unterzeichneten die 35 Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten die »Charta für ein neues Europa«. Die KSZE sollte für ein »neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit« Mechanismen entwickeln, um künftige Konfrontationen zu vermeiden, Krisen zu beherrschen und Konflikte friedlich zu beenden. Welch eine Vision! Welch ein Traum! Und sollte ein gemeinsames freies und demokratisches Europa von Vancouver bis Wladiwostok nicht unser Traum sein?

Wer sich diese Bilanz vor Augen führt, der kann nur von einem »Wunder« sprechen. Wir haben in der Tat eine friedliche Revolution erlebt. Viele Menschen in Polen, in Ungarn, in der DDR haben sie entfacht und vorangetrieben. Mutige Politiker wie Helmut Kohl, George Bush, Michail Gorbatschow, aber auch François Mitterrand und am Ende sogar Margaret Thatcher – und nicht zu vergessen die Außenminister Hans-Dietrich Genscher, James Baker, Eduard Schewardnadse, Roland Dumas, Douglas Hurd und der damalige Präsident der Europäischen Kommission Jacques Delors – haben sie gestaltet. Welch ein Kapital, das uns die Geschichte am Ende eines blutigen Jahrhunderts übergeben hat! Haben wir dieses Kapital genutzt? Sind alle Chancen ergriffen worden, die sich damals eröffnet haben?

Aus den Ereignissen vor zwanzig Jahren sind vor allem zwei Lehren zu ziehen: Helmut Kohl ließ sich stets von dem Grundsatz leiten, dass die deutsche und die europäische Einheit zwei Seiten einer Medaille seien. Das sollte sich 1989 zeigen, als Präsident Mitterrand anfänglich noch zögerte, den Bundeskanzler auf dem Weg der Vereinigung Deutschlands zu unterstützen. Das kam etwas überraschend, denn Mitterrand hatte wenige Tage vor dem Fall der Mauer bei deutsch-französischen Konsultationen in Bonn auf Wunsch des Bundeskanzler die französische Haltung zur deutschen Frage sehr freundschaftlich erläutert. Nach dem Fall der Mauer bedankte sich Kohl am 11. November in einem Telefonat mit Mitterrand noch einmal ausdrücklich dafür. Das sei ein guter Rat gewesen. Jetzt kenne er die französische Position.

Mitterrands Zögern lag vor allem in der Sorge begründet, dass ein geeintes, größeres Deutschland die enge und freundschaftliche Zusammenarbeit mit Frankreich und den Prozess der europäischen Einigung vernachlässigen, wenn nicht sogar aufkündigen und Frankreich somit an Gewicht und Einfluss verlieren könnte. Daraus den Schluss zu ziehen, Mitterrand habe die Währungsunion und die Einführung des Euros zur Bedingung für die deutsche Einheit gemacht, entspricht jedoch nicht den Tatsachen.

Schon Mitte der achtziger Jahre hatten Gespräche über eine Währungsunion begonnen. Die französischen Partner machten vor allem auf die Jahr für Jahr hohen Handelsbilanzüberschüsse Deutschlands gegenüber Frankreich geltend. Bundesfinanzminister Stoltenberg bestand jedoch darauf, dass als erster Schritt eine Wirtschaftsunion zu schaffen sei und erst dann eine Währungsunion folgen könne. Außenminister Genscher hingegen versandte im Februar 1988 ein Memorandum an alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG), in dem er einen gemeinsamen Währungsraum mit einer europäischen Zentralbank forderte. Schließlich einigten sich die Mitgliedstaaten im Juni 1988 auf einem Gipfeltreffen in Hannover darauf, unter dem Vorsitz von Kommissionspräsident Delors eine Arbeitsgruppe zur Vorbereitung einer Wirtschafts- und Währungsunion zu bilden. Der Bericht dieser Arbeitsgruppe wurde im Juni 1989 – also ein halbes Jahr vor dem Fall der Mauer in Berlin – auf dem EG-Gipfeltreffen in Madrid als »gute Grundlage« angenommen.

Bundeskanzler Kohl hatte das Ziel einer Wirtschafts- und Währungsunion von Anbeginn unterstützt. Er sah darin eine Chance, die europäische Integration, wie er sagte, »irreversibel« zu machen. Kohl ging noch einen Schritt weiter, denn er nahm die Besorgnisse Mitterrands sehr ernst. Deshalb schlug er dem französischen Präsidenten im Dezember 1989 in einem Brief vor, eine weiter gehende gemeinsame Initiative zu ergreifen. Deren Ziel sollte es sein, die EG zu einer politischen Union zu entwickeln. Mitterrand griff den Vorschlag sofort auf. Schon der EG-Gipfel im April 1990 billigte den deutsch-französischen Vorschlag. Deshalb kann zu Recht gesagt werden, die Vereinigung Deutschlands habe auch die europäische Einigung vorangetrieben und beschleunigt.

In den neunziger Jahren mussten in der Europäischen Union – wie sie seit den 1992 in Kraft getretenen Verträgen von Maastricht heißt – zwei Prozesse gleichzeitig gestaltet werden: die Vertiefung der Integration und die Erweiterung auf inzwischen 27 Mitgliedstaaten. Weitere Etappen der Vertiefung wurden in den Verträgen von Amsterdam (1997), von Nizza (2001) und von Lissabon (2007) festgeschrieben, um angesichts der Vielzahl neuer Mitgliedstaaten die Institutionen zu stärken und die Entscheidungsprozesse zu verbessern. Auch die Einführung des Euros – 1999 als Buchgeld und 2002 als Bargeld – sollte nicht vergessen werden.

Heute wird oft die Frage gestellt, ob es nicht klüger gewesen wäre, die EU zunächst zu vertiefen und erst dann zu erweitern. Doch diese Alternative gab es nicht. Die Vereinigung Europas durch eine Erweiterung der EU war eine historische Chance, die nicht versäumt werden durfte. Dennoch führte die Notwendigkeit, Institutionen und Entscheidungsprozesse an die neuen Verhältnisse anzupassen, in der Union immer wieder zu Krisen. Das wird auch in Zukunft so sein. Aber jede Krise hat bisher zu Fortschritten auf dem Weg der Inte­gration geführt. Krisen bleiben ein Motor der EU.

Auf zwei Schlüsselfragen gibt es noch keine Antworten: Wie groß soll und kann die EU werden? Und was soll das Ziel der Integration sein? Die meisten Politiker weichen solchen Fragen heute aus. Sie wollen die Antwort der zukünftigen Entwicklung überlassen. Die einen wollen nicht mehr als eine gemeinsame Freihandelszone. Andere sind für ein »Europa der Nationen«, was immer damit gemeint sein mag. Mitterrand hat einst von einer Konföderation, Delors von einer Föderation gesprochen. Und die CDU ist in ihren Parteiprogrammen bis 1994 für »Vereinigte Staaten von Europa« eingetreten.

Kein Wunder, dass die Bürger unsicher geworden sind und die europäische Integration zunehmend kritisch sehen. Die höchsten Repräsentanten der Mitgliedstaaten sollten sich daher mehr Gedanken über die Ziele der EU machen und darüber auch eine Verständigung herbeiführen: Soll die Integration weiter vertieft oder das Erreichte nur konsolidiert werden? Sollen jene Mitgliedstaaten, die eine föderative Union wollen, weiter vorangehen dürfen, wenn ein solcher Zusammenschluss offen bleibt für andere, die sich zu einem späteren Zeitpunkt anschließen möchten? Sollen wir also ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ermöglichen, wie es mit der Einführung des Euros oder beim Schengen-Abkommen schon praktiziert worden ist?

Trotz dieser ungeklärten Fragen ist die europäische Einigung eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Die EU trägt entscheidend dazu bei, auf dem Kontinent politische Stabilität, Frieden, Freiheit, Wohlstand und Sicherheit zu schaffen. Für viele Regionen in der Welt ist sie deshalb zu einem Vorbild geworden. Daran sollten wir die Bürger immer wieder erinnern.

Noch eine andere große Sorge bewegte die westlichen Partner Deutschlands in den Jahren 1989 und 1990: Wird das geeinte und größere Deutschland Mitglied der Nato bleiben oder künftig in der Außenpolitik eine ungebundene oder gar neutrale Position einnehmen? Im letzteren Fall hätte es die Zustimmung und Unterstützung aller verloren, vor allem die der Vereinigten Staaten. Doch die Entscheidung für die Mitgliedschaft eines geeinten Deutschlands in der Nato stand für Helmut Kohl nie in Frage. Denn die Partnerschaft zwischen den europäischen und nordamerikanischen Demokratien, geprägt von Verantwortung und der Verpflichtung auf gemeinsame Werte, vermehrt auch das Gewicht unseres Lanes in der Welt. Welche Alternative hätten die Deutschen denn? Auch auf dem Weg zur deutschen Einheit waren die Vereinigten Staaten mit Präsident Bush der wichtigste Partner.

Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und in der Atlantischen Allianz gehört daher zur Staatsräson Deutschlands. Das war die Voraussetzung für die Vereinigung. Außerdem sollte eines nicht vergessen werden: Das geeinte Deutschland im Herzen Europas ist für unsere Nachbarn nur erträglich, wenn wir Partner und Verbündete in der EU und in der Nato bleiben. Deshalb braucht Deutschland die Nato-Mitgliedschaft auch für sich selbst.

Inzwischen wurde die Atlantische Allianz auf 28 Mitgliedstaaten erweitert. Weitere Kandidaten stehen vor der Tür. Dieser Prozess hat schwierige Konflikte mit Russland mit sich gebracht. Bei der Aufnahme der drei baltischen Staaten, die ja ehemalige Sowjetrepubliken waren, konnten die Spannungen durch die Gründung des Nato-Russland-Rates aufgefangen werden. Im Streit über den Beitritt der Ukraine und Georgiens spitzten sich die Auseinandersetzungen jedoch zu; im Falle Georgiens endeten sie sogar in einem heißen Fünftagekrieg. Durch die Entscheidung Präsident Bushs des Jüngeren, in Polen und in der Tschechischen Republik Elemente eines amerikanischen Raketenabwehrsystems zu stationieren, wurden die Beziehungen zu Russland weiter belastet. Russland sieht sich in seiner Sicherheit bedroht; und es wäre ein schwerer Fehler, nähme der Westen das russische Sicherheitsbedürfnis nicht ernst.

Wie sich die Beziehungen mit Russland künftig entwickeln, ist für Deutschland, die Nato und die EU von vorrangigem Interesse. Die EU spricht von einer »strategischen Partnerschaft«, Außenminister Steinmeier erfand die »Modernisierungspartnerschaft«, und Bundeskanzlerin Merkel benutzt den Begriff »Innovationspartnerschaft«. Doch das sind bisher weitgehend inhaltslose Formeln geblieben. Die EU verhandelt gegenwärtig mit Russland über einen neuen Vertrag über Partnerschaft und Zusammenarbeit, denn das noch geltende Abkommen blieb weitgehend blutleer. Eine gemeinsame Strategie ist wegen zu unterschiedlicher Auffassungen der Mitgliedstaaten bisher nicht zu erkennen.

Wäre es nicht sinnvoll, ein besonderes Vertragsverhältnis zwischen der Europäischen Union und Russland anzustreben? Man könnte zum Beispiel mit einer gemeinsamen gesamteuropäischen Freihandelszone beginnen. Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hatte diesen Plan Präsident Putin schon einmal vorgeschlagen, die Idee dann aber nicht weiterverfolgt. Wenn Deutschland und die Staaten in Nord- und Mitteleuropa bei der Gestaltung der Beziehungen mit Russland nicht die intellektuelle Führung übernehmen, wird es niemand tun. Frankreich, Großbritannien oder Spanien sind an Russland nicht sonderlich interessiert, und Italien hat nur wirtschaftliche Interessen.

Russland versteht sich selbst als Teil Europas. Wie also könnte es in die vorhandenen Strukturen eingebunden werden? Der amerikanische Präsident Clinton hatte Präsident Jelzin schon schriftlich und mündlich eine Mitgliedschaft in der Nato angeboten. Für Jelzin kam dieses Angebot zu früh, und inzwischen gibt es den Nato-Russland-Rat. Bundeskanzlerin Merkel hat mehrfach vorgeschlagen, die Beziehungen zwischen der Nato und Russland weiterzuentwickeln, bisher aber offengelassen, wie das geschehen soll. Mittelfristig könnte eine Mitgliedschaft das Ziel sein.

Wenn Russland jedoch nicht stärker in die vorhandenen europäischen Strukturen eingebunden werden soll, muss über Alternativen nachgedacht werden. Von den Vereinigten Staaten sind Initiativen dazu gegenwärtig kaum zu erwarten. Präsident Obama sieht sich gewaltigen innenpolitischen Problemen gegenüber, und in der Außenpolitik stehen nicht die EU oder Russland im Mittelpunkt des Interesses, sondern Afghanistan, Pakistan, Iran, der Nahe und Mittlere Osten und vor allem China. Vizepräsident Biden scheute sich unlängst nicht, Russland als »schwach« zu bezeichnen. Also müssen sich die europäischen Staaten um ihre Interessen in Europa, und zwar in Gesamteuropa, selbst kümmern.

Was ist eigentlich aus der »Pariser Charta für ein neues Europa« und dem KSZE-Prozess geworden? Am 1. Januar 1995 entstand aus der »Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« die OSZE, eine Organisation mit gemeinsamen Gremien und Organen der 56 Teilnehmerstaaten. Sie sollte zu einer regionalen Organisation werden, wie die UN- Charta es vorsieht, ein System kollektiver Sicherheit in Europa entwickeln und im Auftrag der UN auch in Konfliktfällen eingreifen. Heute hat die OSZE einen jährlich tagenden Außenministerrat, einen Außenminister als ständig wechselnden Generalsekretär, ein Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte, einen Hohen Kommissar für nationale Minderheiten, einen Beauftragten für die Freiheit der Medien und anderes mehr. Damit liegt der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf den Menschenrechten. Daher ist die OSZE aus der Sicht Russlands in erster Linie ein Instrument der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedstaaten geworden. Diese Klagen mag man missachten. Dennoch gibt es Anlass zur Besorgnis, dass Europa dem eigentlichen Ziel einer gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung nicht näher gekommen ist.

So überrascht es nicht, dass der russische Präsident Medwedjew im Juni 2008 in Berlin eine »Europäische Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok« vorschlug. Seither hat Russland einige bewusst vage bleibende Grundsätze für einen entsprechenden Vertrag genannt. Auf diese Weise wollte die russische Führung verhindern, dass ihre Initiative vom Westen sofort »vom Tisch geschleudert« würde, wie ein russischer Politiker sagte. In der Tat reagierten die westlichen Regierungen lange überhaupt nicht oder nur zögerlich. Immerhin haben Präsident Obama und Präsident Medwedjew inzwischen eine gemeinsame Arbeitsgruppe zu diesem Thema eingerichtet. Doch die Europäer warten ab und bringen sich damit in die Lage, vielleicht vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Anstatt auf eine weitere Konkretisierung der Vorschläge aus Moskau zu warten, wäre es klüger, in der EU oder in der Nato selbst Konzepte zu erarbeiten, wie eine solche europäische Friedens- und Sicherheitsordnung aussehen sollte. Und wer, wenn nicht Deutschland, wäre besser geeignet, dabei die Initiative zu ergreifen?

Die deutsche Außenpolitik ist bemüht, mit allen Partnern weltweit ein gutes Einvernehmen zu suchen und unterschiedliche Interessen zusammenzuführen, vor allem in der EU. Das alles ist ehrenvoll und nicht zu kritisieren, ähnelt aber nicht selten einer Außenpolitik, die sich durch »verlässliche Harmlosigkeit« auszeichnet. Jeder Stillstand enthält jedoch die Gefahr des Rückschritts: Die Chancen und Perspektiven, die sich 1989 und 1990 in Europa eröffnet hatten, scheinen fast vergessen zu sein.

In einer Entschließung des Europäischen Rates über die Ernennung Helmut Kohls zum Ehrenbürger Europas findet sich der Satz, »dass der Lauf der Geschichte durch das engagierte Wirken einzelner Menschen oft entscheidend gestaltet werden kann«. Europa wartet auf solche Persönlichkeiten. Es gab sie glücklicherweise vor zwanzig Jahren.

Horst Teltschik war als Abteilungsleiter für Außen- und Deutschlandpolitik im Bundeskanzleramt einer der engsten Berater Helmut Kohls. Von 1999 bis 2008 leitete er die Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.10.2010

Volle Souveränität: Die außenpolitischen Weichenstellungen

Volle Souveränität?

Deutschland und seine besondere Rechtslage.

Von Reinhard Müller

Amerikanische Sonderrechte und deutsche Souveränität – wie passt das zusammen? Natürlich kann jedes Land Abkommen schließen. Jeder völkerrechtliche Vertrag, jedes Bündnis schränkt schließlich den eigenen Handlungsspielraum ein, und zwar ganz bewusst. In der Möglichkeit, sich vertraglich zu binden, liegt gerade ein Ausdruck staatlicher Souveränität. Staaten sind freilich nur formal gleich, und gerade in Abkommen zur Stationierung von Truppen kommt diese machtpolitische Ungleichheit zur Geltung.

Deutschlands Rechtsstellung, ja, seine Existenz ist nicht erklärbar ohne einen Blick auf das Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Kriegsende bedeutete das Ende des NS-Regimes, aber nicht den Untergang des deutschen Staates. Die Kapitulation war eine militärische. Zwar übernahmen die Alliierten bald die »oberste Gewalt«, sie machten aber zugleich deutlich, dass sie Deutschland nicht annektieren wollten. Auch das berüchtigte Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 ging vom Fortbestand Deutschlands aus. Mit der Bundesrepublik Deutschland und DDR wurden 1949 zwar deutsche (Teil-)Staaten gegründet, doch behielten die Siegermächte ihre Sonderrechte »in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes«. Diese Vorbehalte wirkten fortan wie eine Klammer. Der Fortbestand Deutschlands, eines Deutschlands, das rechtlich nicht nur aus Bundesrepublik und DDR bestand, wurde auch in den Ostverträgen anerkannt und durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt.

Mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag kam es 1990 dann zu der »abschließenden« Regelung in Bezug auf Deutschland als Ganzes. Hier wurde wieder offenbar: Obwohl das Besatzungsstatut seit 1955 nicht mehr gegolten hatte und beide deutschen Staaten 1973 Mitglied der Vereinten Nationen wurden, war die Wiedervereinigung eben nicht allein Sache der Deutschen. Bundesrepublik und DDR mussten mit den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich verhandeln, bis jener Vertrag unter Dach und Fach war, der die Vereinigung Deutschlands und den Verlust der Ostgebiete besiegelte, die Stärke der Streitkräfte auf höchstens 370 000 festlegte und den – ohnehin schon festgeschriebenen – Verzicht auf atomare, biologische und chemische Waffen bekräftigte.

Seitdem hat Deutschland »volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten«. Was heißt das? Hat Deutschland nun wirklich – wie der Zwei-plus-vier-Vertrag verspricht – die »volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten«? Zum einen gibt es noch immer die Feindstaatenklauseln in der UN-Charta. Demnach sind »Maßnahmen« nicht untersagt, »welche die hierfür verantwortlichen Regierungen als Folge des Zweiten Weltkriegs in Bezug auf einen Staat ergreifen oder genehmigen, der während dieses Krieges Feind eines Unterzeichnerstaats dieser Charta war«. Das mag man heute für praktisch bedeutungslos halten, und die meisten Staaten würden sich wohl dieser Ansicht anschließen – aber es handelt sich um förmliches Recht der UN-Charta.

Zum anderen gibt es auch heute noch fortgeltendes Besatzungsrecht. Es handelt sich um Bestimmungen des Überleitungsvertrages aus dem Jahr 1953. In Kraft bleiben demnach alle Maßnahmen, die für »Zwecke der Reparation oder Restitution oder aufgrund des Kriegszustandes« gegen das »deutsche Auslands- oder sonstige Vermögen durchgeführt worden sind«. Gegen diese Maßnahmen darf Deutschland keine Einwendungen erheben. Klagen gegen Personen, die aufgrund solcher Maßnahmen Eigentum erworben haben, sowie Klagen gegen internationale Organisationen oder ausländische Regierungen »werden nicht zugelassen«. Dieser Klageausschluss ist noch heute gültig – wie sich zuletzt anhand eines Bilderstreits mit dem Fürstentum Liechtenstein vor dem Internationalen Gerichtshof gezeigt hat. Früher dienten die Vorschriften dazu, Forderungen von Bürgern abzuwehren, deren konfisziertes Vermögen wieder auf dem deutschen Markt auftauchte. Diese Bestimmungen wurden im Zuge der Wiedervereinigung auf die neuen Bundesländer erstreckt, ohne dass der deutsche Gesetzgeber daran mitgewirkt hätte.

Auch das Nato-Truppenstatut, das mit seinen Zusatzabkommen aus den sechziger Jahren im Zusammenhang mit der aktuellen Datenaffäre wieder in Erinnerung gerufen wurde, ist schon früher als eine Art Besatzungsrecht bezeichnet worden – wenn etwa nach Flugkatastrophen Aufklärung verlangt wurde. Oder wenn es um die Todesstrafe ging. Die durfte nämlich nach dem Truppenstatut in Deutschland zwar nicht vollstreckt, wohl aber verhängt werden.

Die deutschen Regierungen haben freilich früh darauf hingewiesen, dass diese Rechte zugunsten ausländischer Soldaten gerade der Souveränität Deutschlands dienten. So hieß es in einer Antwort auf eine Frage der Grünen von 1984 zu »Souveränität der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf Sicherheitskontrollen von Gefahrguttransporten der US-Stationierungsstreitkräfte«, die Anwesenheit von Streitkräften der Allianzpartner in Deutschland diene »der gemeinsamen Bewahrung von Frieden und Freiheit und damit der Bewahrung der Souveränität unseres Staates«. Nach dem Nato-Truppenstatut müssten die im Bundesgebiet stationierten verbündeten Streitkräfte das deutsche Recht beachten. Die hier stationierten Streitkräfte hätten, ebenso wie die Bundeswehr im Ausland, teil an dem besonderen Status, der den Entsendestaaten in den Aufnahmestaaten nach dem Völkerrecht zusteht. Fragen, die sich aus der Durchsetzung des Rechts des Aufnahmestaats gegenüber den Streitkräften eines Entsendestaates ergeben, »sind im Wege der Zusammenarbeit durch Verhandlungen zu lösen«.

Das war vor der Wiedervereinigung. Es muss heute erst recht gelten. Wobei die Verhandlungsposition des souveränen Deutschlands stärker sein müsste.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.07.2013

Grenzfragen

Der Zwei-plus-vier-Vertrag ist 20 Jahre alt. Er ist ein Friedensvertrag. Doch auch die »abschließende Regelung in bezug auf Deutschland« konnte nicht alles klären.

Von Reinhard Müller

Es hätte auch ganz anders kommen können. Mitte März 1991 trat der Zwei-plus-vier-Vertrag in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt hinterlegte die Sowjetunion ihre Ratifikationsurkunde. Wenige Monate später überstand Gorbatschow einen Putschversuch. Der letzte russische Soldat verließ Deutschland Ende August 1994.

Vor zwanzig Jahren endete der Zweite Weltkrieg, auch wenn die Waffen schon seit Jahrzehnten ruhten. Der »Vertrag über die abschließende Regelung« regelte die äußeren Aspekte der deutschen Einheit. Was hat er abgeschlossen? Der »Deutschlandvertrag« von 1955 beendete für die Bundesrepublik zwar formell das Besatzungsregime und gab ihr die »volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten«. Doch war das nur die halbe Wahrheit. Denn die Alliierten hielten fest an den von bisher ausgeübten »Rechten und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung«. Die Rechte der Alliierten in Bezug auf Deutschland als Ganzes sicherten damit wie eine Klammer den Fortbestand Deutschlands.

An diese Sonderrechte knüpfte der Zwei-plus-vier-Vertrag an. Schon am 11. Dezember 1989 hatten sich die Botschafter der vier Mächte in West-Berlin erstmals seit 18 Jahren getroffen. Als Bundeskanzler Kohl im Januar 1990 davon erfuhr, dass die Sowjetunion angesichts der geplanten Vertragsgemeinschaft zwischen den beiden deutschen Staaten den Amerikanern ein Vier-Mächte-Treffen vorgeschlagen hatte, äußerte er: »Wir brauchen keine vier Hebammen.« Er verlangte eine enge Abstimmung mit den Deutschen, schließlich gehe es um deren Selbstbestimmungsrecht. Die britische Premierministerin Thatcher hatte immerhin in einem Telefonat mit Bush deutlich gemacht, dass Deutschland das Japan Europas sei, nur schlimmer als Japan. Und: Die Deutschen würden nun im Frieden das erhalten, was Hitler im Krieg nicht bekommen habe.

Der Zwei-plus-vier-Vertrag heißt aus guten Gründen nicht Friedensvertrag. Doch der Sache nach war er einer. Er ist jene friedensvertragliche Regelung, bis zu der die alliierten Vorbehaltsrechte gelten sollten. Dass auch eine »abschließende Regelung« Fragen offenlässt, erstaunt nicht.

Das Zeitfenster für die Wiedervereinigung war klein, aber der Preis für die schnelle Einheit war nicht gering. Immerhin gingen viele Jahre nicht nur alle wesentlichen deutschen Parteien und das Bundesverfassungsgericht, sondern auch zumindest die West-Alliierten davon aus, dass die lange Zeit unzweifelhaft zu Deutschland gehörenden Gebiete jenseits von Oder und Neiße nach dem Zusammenbruch von 1945 nur (zeitweise) unter polnische beziehungsweise sowjetische Verwaltung gefallen waren. Einem Memorandum des britischen Außenministeriums vom März 1990 ist eine Karte von Deutschland in den Grenzen von 1937 beigefügt (»Zones of Occupation«). Die Gebiete östlich von Oder und Neiße sind als »under Polish administration« beziehungsweise »under Soviet administration« markiert. Das alles kam noch einmal hoch, als im Bundestag über den deutsch-polnischen Grenzvertrag abgestimmt wurde. 18 Abgeordnete stimmten dagegen, 10 enthielten sich. Ein Grund für viele waren widersprüchliche Angaben der Bundesregierung: Zum einen hieß es, der endgültige Verzicht auf die Oder-Neiße-Gebiete sei Conditio sine qua non für die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR gewesen. Zum anderen wurde gesagt, es sei keinerlei Druck ausgeübt worden, was wiederum mancher nicht glaubte. Einer fragte gar, ob nicht die Gefahr bestehe, »dass eine derartige, auf Druck von außen zustande gekommene Grenzanerkennungserklärung als „Super-Versailles“ wieder auf Jahrzehnte die europäische Politik belasten könnte«.

So ist es nicht gekommen. Die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze war jedoch verbunden mit einem Gebietsverlust, der freilich politisch schon lange Wirklichkeit war. Angesichts der allgemeinen Tendenz, den Einzelnen an Gebietswechseln zu beteiligen und ihn auch sonst an der Willensbildung zu beteiligen, ist allerdings die Art und Weise des Wechsels der territorialen Souveränität über die Gebiete jenseits von Oder und Neiße bemerkenswert. Die Menschen wurden nicht gefragt, weder Vertriebene noch die Wohnbevölkerung. Zwar gab es keine völkerrechtliche Pflicht, bei einem Wechsel der territorialen Souveränität über ein Gebiet dessen Bewohner dazu zu befragen. Doch war die erst mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag besiegelte Abtrennung der Oder-Neiße-Gebiete verknüpft mit der gewaltsamen Vertreibung von Millionen von Deutschen aus ihrer Heimat – auf die es ein Recht gibt. Das ändert nichts an der Gültigkeit der Regelung. Doch hatten offenbar auch die Beteiligten ein Gefühl für die besondere historische Lage. Warum sonst wäre, abgesehen vom Grenzvertrag, ein deutsch-polnischer (und auch ein deutsch-russischer) Nachbarschaftsvertrag geschlossen worden? Erstmalig wird die Existenz einer deutschen Minderheit erwähnt und damit anerkannt. Es hat sich allerdings als schwierig erwiesen, auch nur zweisprachige Ortsschilder zuzulassen – obwohl Polen das damals zumindest prüfen wollte. Als am 12. November 1989 zahlreiche Deutsche an einem Versöhnungsgottesdienst mit Kohl und Mazowiecki in Kreisau teilnahmen, hielten einige Transparente mit der Aufschrift hoch: »Helmut, Du bist auch unser Kanzler«. 20 Jahre später ist es für diejenigen, die sich in Polen noch als Deutsche bekennen, nicht leicht, ihre Identität zu wahren. Eigentlich geht es hier wie auch beim Heimatrecht um das Selbstbestimmungsrecht der Ostdeutschen (im ursprünglichen Sinne), dass im Zuge des Zwei-plus-vier-Vertrages nicht ausreichend beachtet wurde. Es besteht in seinen verschiedenen Ausprägungen fort.

Unter den Betroffenen weiterhin für Unmut sorgen zudem die Enteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone von 1945 bis 1949. Im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Vertrages sandten die beiden deutschen Außenminister einen gemeinsamen Brief an die Außenminister der Alliierten. Darin wird wiederum auf die gemeinsame Erklärung der beiden deutschen Regierungen zur Regelung offener Vermögensfragen Bezug genommen. Demnach waren sich beide Seiten einig, dass Enteignungen auf besatzungshoheitlicher Grundlage nicht mehr rückgängig zu machen sind. Vor dem Bundesverfassungsgericht hat die Bundesregierung vorgetragen, die Sowjetunion hätte der Wiedervereinigung ohne diesen sogenannten Restitutionsausschluss nicht zugestimmt. Andere haben dem später widersprochen, darunter sogar Gorbatschow. Eine Rückgabe ist möglich, aber es fehlt der politische Wille.

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Nicht alle Grenzen wurden durch den »Zwei-plus-vier-Vertrag« abschließend bestimmt. Illustration © Greser & Lenz

Hat Deutschland nun wirklich die »volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten«? Zum einen gibt es noch immer die Feindstaatenklauseln in der UN-Charta. Demnach sind »Maßnahmen« nicht untersagt, »welche die hierfür verantwortlichen Regierungen als Folge des Zweiten Weltkriegs in Bezug auf einen Staat ergreifen oder genehmigen, der während dieses Krieges Feind eines Unterzeichnerstaats dieser Charta war«. Man kann das mit guten Gründen längst für obsolet halten, doch ist diese Regelung weiterhin Bestandteil der Charta der Vereinten Nationen – eine formelle Diskriminierung.

Zum anderen gibt es auch heute noch fortgeltendes Besatzungsrecht. Es handelt sich um Bestimmungen des Überleitungsvertrages aus dem Jahr 1953. In Kraft bleiben alle Maßnahmen, die für »Zwecke der Reparation oder Restitution oder aufgrund des Kriegszustandes« gegen das »deutsche Auslands- oder sonstige Vermögen durchgeführt worden sind«. Gegen diese Maßnahmen darf die Bundesrepublik Deutschland keine Einwendungen erheben. Klagen gegen Personen, die aufgrund solcher Maßnahmen Eigentum erworben haben, sowie Klagen gegen internationale Organisationen oder ausländische Regierungen »werden nicht zugelassen«. Dieser Klageausschluss ist noch heute gültig – wie sich zuletzt am Bilderstreit mit dem Fürstentum Liechtenstein vor dem Internationalen Gerichtshof gezeigt hat. Früher dienten die Vorschriften dazu, Forderungen von Bürgern abzuwehren, deren konfisziertes Vermögen wieder auf dem deutschen Markt auftauchte. Diese Bestimmungen wurden durch die Regierungen sogar gleichsam auf die neuen Bundesländer erstreckt – ohne dass der deutsche Gesetzgeber daran mitgewirkt hätte.

Der Zwei-plus-vier-Vertrag war eine diplomatische Meisterleistung. Es ist freilich keinesfalls ausgeschlossen, dass die eine oder andere Frage dereinst wieder für Zündstoff sorgen wird.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.04.2011

Preis und Prestige

Präsident Bush und Kanzler Kohl teilten sich die Aufgaben im Wiedervereinigungsprozess

Von Rainer Blasius

Am 10. Februar 1990 hatte Generalsekretär Gorbatschow im Kreml gegenüber Bundeskanzler Kohl das Ja zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen signalisiert. Zwei Tage später trafen sich die Außenminister der Nato- und der Warschauer-Pakt-Staaten zur ersten und einzigen gemeinsamen Konferenz in Ottawa. Eigentlich standen Fragen des »offenen Himmels« (Kontroll-Überflüge auf festgelegten Routen) auf der Tagesordnung. Noch wichtiger war jetzt die »am Rande« der Konferenz erzielte Verständigung über den Zwei-plus-vier-Prozess zur Klärung aller äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung auf der Ebene der Außenminister der beiden deutschen Staaten sowie der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Frankreichs und Großbritanniens. Italien forderte in Ottawa ein Mitspracherecht, was Bonns Außenminister Genscher mit der Bemerkung zurückwies: »You are not part of the game!«

Kohl sagte am 15. Februar vor dem Bundestag: »Nie waren wir unserem Ziel, der Einheit aller Deutschen in Freiheit, so nahe wie heute.« Am Abend flog er nach Paris. Staatspräsident Mitterrand gab vor, »dass ihm die Perspektive eines geeinten Deutschlands keine Schwierigkeiten mache«. Mitterrand brachte jedoch viel Verständnis für die Position des Kreml auf, dem die DDR als »ein vorgeschobenes Glacis« diene: »Es sei für die Sowjetunion schwieriger, wenn die Ostdeutschen in das westliche Bündnis einbezogen würden. Er glaube nicht, dass Gorbatschow dem zustimmen könne, ohne sich selbst zu gefährden.« Hierzu heißt es in der 1998 publizierten Aufzeichnung im Band »Deutsche Einheit« der Reihe »Dokumente zur Deutschlandpolitik«: »Der Bundeskanzler stimmt letzterem zu.« Es folgen Auslassungszeichen und die Fußnote: »Zwei Sätze nicht freigegeben.«

Mitterrand sprach sich für eine »politische« Bestätigung der Oder-Neiße-Grenze aus, wenn auch Kohl »juristisch« im Recht sei, dass erst ein wiedervereinigtes Deutschland seine Grenzen bestätigen könne. Und er vertrat mit Blick auf die Europäische Gemeinschaft die Auffassung, »die Entwicklung müsse im Wirtschafts- und Währungsbereich sowie im Blick auf die politische Union vorangetrieben werden«. Dazu schrieb Kohl in seinen Memoiren: »Als ich in der Nacht nach Bonn zurückflog, wusste ich, dass Mitterrands Einwilligung zur Wiedervereinigung nur über den Weg zu einer weiteren engen Zusammenarbeit und Stärkung der EG zu bekommen war.«

Für das Wochenende vom 24./25. Februar 1990 hatte Präsident Bush den Kanzler und Frau Hannelore auf den Landsitz Camp David eingeladen. Außenminister Baker – in rotem Flanellhemd, Cowboystiefeln, Cowboyhut – hieß die Gäste aus Bonn willkommen. Anschließend reiste man weiter in Hubschraubern der Präsidentenstaffel. In Camp David gab es ein herzliches Wiedersehen, das Kohl in lebhafter Erinnerung blieb: »Mit kaum einer anderen Politikergattin verstand sich meine Frau so blendend wie mit Barbara Bush. Sie zeigte ihre großen Sympathien für die Deutschen, und das war von nicht geringer Bedeutung.« Von 14.30 Uhr bis 17.00 Uhr fand der erste Meinungsaustausch zwischen Kohl und Bush statt. Auf deutscher Seite nahmen Ministerialdirektor Horst Teltschik und zwei Diplomaten aus dem Bundeskanzleramt teil, auf amerikanischer Seite Baker, Sicherheitsberater Brent Scowcroft und ein Botschafter. »Hans-Dietrich Genscher fehlte in Camp David. In Bonn war von amerikanischer Seite zuvor mitgeteilt worden, US-Außenminister Baker werde ebenfalls nicht dabei sein. Zu meiner Überraschung war er dann aber doch anwesend«, erläuterte Kohl später: Washington sei offenbar über Äußerungen Genschers verstimmt gewesen, dass das Atlantische Bündnis nicht auf das Gebiet der DDR ausgedehnt werden dürfe. Überhaupt habe damals in Washington das Wort vom »Genscherismus« die Runde gemacht, worunter die Amerikaner eine »weiche Haltung gegenüber der Sowjetunion« verstanden hätten. Daher sei Genscher in Camp David nicht erwünscht gewesen: »Dagegen konnte ich nichts ausrichten.« Inzwischen gibt es eine weitere Lesart. Die Kohl-Biographen Heribert Schwan und Rolf Steininger machen darauf aufmerksam, dass Baker ursprünglich Genscher hatte einladen wollen, um die »für ihn manchmal etwas verwirrenden Kommunikationskanäle – Bush-Kohl, Baker-Genscher, Scowcroft-Teltschik – zu bündeln. Daraus wurde nichts.«