EBERHARD
STRAUB

Wagner und

Verdi

Zwei Europäer im 19. Jahrhundert

Klett-Cotta

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Printausgabe: 978-3-608-94612-3

E-Book: 978-3-608-10329-8

Inhalt

Einleitung
Das Geheimnis der Contemporaneität

Mailand
Der junge Verdi und die Legende von den patriotischen Gesängen

Leipzig und Dresden
Die Geburt des radikalen Antibürgers Richard Wagner

Kampf um Paris
Erfolge und Niederlagen

Die Kaiserstadt Wien
Der populäre Verdi und der umstrittene Wagner

Bologna
Die Hohe Schule des Wagnerismo

Bayreuth
Die verwirklichte Kunstutopie

Ein Tod in Venedig
Der Nachruhm im Europa des Nationalismus

Anhang

Zeittafel

Ausgewählte Literatur

Personenregister

Für Bernhard Vogt

»Nur weil es dem Dank sich eignet,
Ist das Leben schätzenswert.«

Einleitung
Das Geheimnis der Contemporaneität

Hugo von Hofmannsthal prägte die Formel vom »Geheimnis der Contemporaneität«. Altersgenossen können noch so verschieden sein, dennoch sind sie einander verwandt. Als Angehörige der gleichen Generation erleben sie ihre Zeit, in der sie sich zuerst mit ihren Vätern und Großvätern auseinandersetzen müssen und später mit ihren Söhnen und Enkeln. Leben ist immer ein dramatisches Zusammenleben. Richard Wagner, am 27. Mai, und Giuseppe Verdi, am 10. Oktober 1813 geboren, gingen sich aus dem Weg. Sie hätten sich zuweilen begegnen können in Paris, London oder Wien, vor allem in Italien, wo Wagner während seiner letzten Lebensjahre häufig weilte. Überkam ihn gute Laune, dann konnte Wagner am Klavier Verdi recht amüsant parodieren. Wahrscheinlich so, wie dessen Melodien auf der Straße aus dem Leierkasten erklangen oder wie sie von Blaskapellen auf Plätzen und von Salonorchestern in Hotelhallen gespielt wurden. Mit solchen musikalischen Scherzen bereitete er seinen Bayreuther Freunden Vergnügen. Sie vergaßen dabei allerdings, dass einzelne Stücke des »Meisters«, als »Ohrwürmer« längst auf gleiche Weise trivialisiert, ihren Platz in Kurkonzerten gefunden hatten und dort bequem dem Philister die Wonnen der Gewöhnlichkeit verschaffen konnten, nach denen er gemütlich schmachtete und die Wagner als Verbrechen gegen den guten Geschmack kriminalisierte.

Im beharrlichen Schweigen eines polemischen Talents wie Richard Wagner kann sich indirekt durchaus ein gewisser Respekt bekunden. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Verdi hätte ihn genötigt, die eigenen Absichten und Pläne im Vergleich abermals zu überdenken. Das hatte er zwischen 1848 und 1852 ausführlich getan, als Verdi und er den Anspruch erhoben, neben Rossini und Meyerbeer angemessen beachtet zu werden, weil sie die Zukunft bedeuteten und die beiden Älteren eine Vergangenheit repräsentierten, die – wie so oft für ungeduldige Talente – nur sehr allmählich vergehen wollte. Damals war Verdi auf dem Weg, eine europäische Berühmtheit zu werden. Deutsche Journalisten behandelten ihn allerdings als einen vom Publikum schwer überschätzten Schnellschreiber, der mit seinen Machwerken einen rohen Ungeschmack bewies. Seine Massenware, triviale Gassenhauer ohne Grazie und Eleganz, wie es hieß, gefielen allerdings den Massen, den musikalisch Ungebildeten, die sich durch grelle Effekte und orchestralen Lärm überrumpeln ließen. Ungeachtet solcher Polemik fanden Verdis Opern schnell einen Platz im Repertoire der deutschen Hoftheater und städtischen Bühnen.

Auch Franz Liszt, der »geliebteste«, der »unvergleichlichste Freund« und »Bester der Menschen«, wie ihn sein Herzensjunge, Richard Wagner, anredete, sorgte als korrekter Kapellmeister in Weimar dafür, sein Publikum sofort mit Ernani, Rigoletto oder Il Trovatore bekannt zu machen. Wem Verdi missfiel, der musste keineswegs seine Hoffnungen auf Wagner setzen. Hielten deutsche Kritiker Verdi für geschmacklos, so nutzte dieses harsche Urteil Wagner nichts. Denn er galt den meisten unter ihnen als vollständig verrückt, er, der mit seiner wüsten Krawallmusik schlichtweg gesundheitsschädlich wirke, weil für das Gehör, das Gemüt und die Nerven übermäßig anstrengend. Wagner wurde fürsorglich mit Hilfe der Intendanten oder Kapellmeister dem Publikum möglichst vorenthalten, das in der Regel gar nicht die Nerven verlor, wenn sich die Gelegenheit ergab, Wagners Werke kennen zu lernen. Wagner, ein politisch Verfolgter, der von 1849 bis 1862 im Exil lebte und vom deutschen Musikbetrieb persönlich ausgeschlossen blieb, verdiente entsprechend wenig. Den Erfolglosen unterhielten freilich großherzige Freunde, die an seine Zukunft glaubten. Europäer diskutierten aufmerksam oder erregt über seine Ideen, die er in vielen Aufsätzen variierte, aber nicht über seine Musik. Von der lernten sie nach und nach nur Bruchstücke kennen: Szenen, Höhepunkte, eben »Nummern« wie aus einer beliebigen Oper, die er doch gerade überwinden wollte. Wagner musste sich dem Musikbetrieb mit seinen Bedingungen fügen, um überhaupt bekannt zu werden und Geld zu verdienen. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als in einer auch kulturellen Marktwirtschaft den Markt zu bedienen mit Konzerten, in denen Ausschnitte aus seinen Opern neugierig auf ihn machen sollten.

Die unübersehbare Gegenwart Verdis auf allen Bühnen Europas in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts verleitete Wagner, die Komposition des Rings im Sommer 1857 zu unterbrechen. Als Praktiker des Theaters wusste er, dass die Monstrosität seiner Tetralogie, für die es höchstens in höfischen Festspielen des 17. Jahrhunderts Vorläufer gab, die Möglichkeiten des gewöhnlichen Opernbetriebs überforderte. Er bekämpfte heftig das deutsche Repertoiretheater als geldverschlingenden Hort ästhetischer Verwahrlosung. Übrigens verachtete Verdi den italienischen Opernbetrieb nicht minder leidenschaftlich als eine Lasterhöhle der Korruption und ungeheuerlichster Zumutungen. Doch trotz aller Einwände musste auch Wagner sich mit dieser Einrichtung arrangieren. Tristan und Isolde, eine romantische Liebesgeschichte, und Die Meistersinger von Nürnberg, eine bürgerliche Komödie, sollten ihm, wie er hoffte, zu einem raschen Erfolg auf dem Musikmarkt verhelfen und nicht nur moralischen Gewinn bringen. Er war gern bereit, Tristan und Isolde für den Kaiser von Brasilien und dessen italienische Sänger zu schreiben, um richtig ins Geschäft zu kommen. Er hatte sich freilich wieder einmal falsch eingeschätzt. Tristan und Isolde wurde nicht wie beabsichtigt »ein durchaus praktibles opus«, das »bald und schnell gute Revenuen abwerfen und für einige Zeit mich flott erhalten wird«, wie er am 28, Juni 1857 an Franz Liszt schrieb. Diese Oper galt lange als unaufführbar, als eine verwegene Zumutung für Sänger und Orchestermusiker.

Verdi brauchte Wagner also vorläufig nicht zu fürchten. Ebenso genial wie geschäftstüchtig verfügte er über genug Selbstbewusstsein, je berühmter er wurde, für seine begehrten Werke bislang ungewohnte Honorare zu fordern. Seine finanzielle Selbständigkeit versetzte ihn in die Lage, nur noch zu seinen Bedingungen Opern zu komponieren und aufführen zu lassen. Der Bürger Verdi nahm die Bürger beim Wort, die im Künstler das Genie feierten, den Kulturheros, der sie aus der Prosa des Alltags in das Reich der Ideale entrückte. In diesem Sinne sollten sie das musikalisch-dramatische Kunstwerk nicht weiterhin wie eine beliebige Ware zum raschen Verbrauch betrachten, sondern als einmalige und unvergleichliche »Schöpfung« würdigen, die einen hohen Preis verdient, gerade weil sie unbezahlbar ist. Nicht anders wollte auch Wagner seine Werke verstanden und aufgefasst wissen. Doch vorerst blieb er ein intellektuelles Ereignis. Mit seinen Opern waren selbst unter seinen Anhängern nur wenige vertraut. Es gab für Verdi gar keinen Grund, sich mit Wagner zu beschäftigen. Erst der Skandal um den Tannhäuser 1861 in Paris und dann die Uraufführung von Tristan und Isolde 1865 und der Meistersinger 1868 in München beunruhigten Verdi. Wagner wurde zum Star in Paris, von wo aus Verdi umsichtig seinen Ruhm organisierte. Den Gegnern Napoléons III. gelang es, einen Erfolg des Tannhäusers zu verhindern, der auf Befehl des Kaisers einstudiert worden war. Der politische Skandal machte nun aber erst recht diesen deutschen Sonderling interessant, dessen Nähe in Paris Minister, Fürsten, Botschafter, Journalisten, Schriftsteller, Musiker und Maler suchten.

Wagner war als Komponist, als Intellektueller, Sozialreformer und denkender, deutscher Dichter die Sensation. Sein Scheitern an der Pariser Opéra machte ihn nun überall interessant. Er gab Konzerte in Brüssel, Sankt Petersburg, Moskau, Prag, Wien und Budapest. Mehrere geistreiche Franzosen waren zu den Premieren 1865 und 1868 nach München gereist und erklärten in langen Aufsätzen den Europäern – und unter diesen nicht zuletzt die immer etwas langsamen Deutschen – die Bedeutung Wagners. Sie schrieben als Missionare einer kommenden Kunst, einer musikalischen Avantgarde, die ihr Prophet, der Erlöser aus Routine und verbrauchten Klischees, Richard Wagner, anführte, mit dem sie gemeinsam in eine schönere Zukunft aufbrechen wollten. Wer nicht mitmachte, verweigerte sich dem Fortschritt, dem weiteren Werden aus dem Gewordenen und verspielte als ewig Gestriger seine Zukunft. Verdi wurde neugierig. Er besorgte sich um 1870 die 1861 erschienene französische Übersetzung von vier Dramen Wagners mit einer ausführlichen Einleitung zur »Zukunftsmusik«. Er legte den Band, offenbar bald gelangweilt, beiseite. Denn er hatte die Seiten des Buches nur teilweise aufgeschnitten und es nur bruchstückhaft zur Kenntnis genommen. Die Aufmerksamkeit, die von Paris aus auf Wagner gelenkt wurde, verleitete ihn allerdings nicht dazu, sich mit dessen Partituren zu beschäftigen.

Er beteuerte immer – darin Wagner ähnlich –, Opern nicht über das Lesen, das Studium verstehen zu können, sondern ganz altmodisch über das Hören und Sehen und das sinnliche Erleben des Dramas. Er habe, wie er im März 1861 seinem französischen Verleger Escudier versicherte, noch nie eine Note von Wagner gesehen. Umso mehr musste es ihn verärgern und verletzen, dass ihm Kritiker spätestens seit dem Don Carlos unterstellten, Wagners Einfluss erlegen zu sein. Georges Bizet bedauerte 1867: »Verdi ist kein Italiener mehr. Er macht Wagner … Die Schlacht ist für ihn verloren, und seine Oper liegt nunmehr im Todeskampf.« Von nun an musste sich Verdi immer häufiger sagen lassen, seine Originalität eingebüßt zu haben. Diese Unterstellung empörte ihn, weil er von Wagner nichts wusste außer was er in Zeitschriften über ihn gelesen hatte. Es beleidigte ihn, nach so vielen Opern den Vorwurf, nun auch jüngerer Italiener, wie Arrigo Boito, abwehren zu müssen, Wagner nachzuahmen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Verdi entschloss sich im Dezember 1871, nach Bologna zu fahren, wo der Lohengrin als erste Oper Wagners überhaupt in Italien aufgeführt wurde. Er nahm die Partitur mit und studierte in ihr, während er hörte. »Musik schön; wenn sie verständlich ist, hat sie Gedankentiefe. Die Handlung ist schleppend. Schöne Wirkung der Instrumente. Missbrauch von langen Noten und schwer erträglich. Viel verve, doch ohne Poesie und Feinheit. An schwierigen Stellen immer schlecht.« Insgesamt hatte er sich gelangweilt. Und das ist das Schlimmste, was nicht nur ihm im Theater passieren konnte. 1875 hörte er in Wien den Tannhäuser, ohne viel zu sehen, weil er immer wieder einnickte, wie er später beteuerte. Eine Partitur hatte er diesmal nicht dabei.

Erst 1886, drei Jahre nach dem Tod Richard Wagners, besorgte er sich die Partituren von Tannhäuser, Tristan und Isolde, den Meistersingern, der Walküre und des Parsifal. Ob er darin nur blätterte oder ob er sie genauer las, bleibt ungewiss. Er gab keinen Kommentar dazu, weder privat noch öffentlich. Wie Wagner hüllte er sich in Schweigen. Allerdings war er genug Diplomat, um im Gespräch mit deutschen Journalisten nach Wagners Tod zu betonen, aufrichtige Bewunderung für diesen deutschen Meister zu empfinden. In der Regel beließ er es bei solchen unverbindlichen Wendungen, zuweilen einschränkend, dass er Wagners frühe Opern seiner letzten Manier vorziehe, obgleich er doch im Lohengrin viel gegähnt und Tannhäuser ihn nicht minder schläfrig gemacht hatte. Den zweiten Akt von Tristan und Isolde feierte er 1898 als eine der sublimsten Geistestaten, »wundervoll … ganz wundervoll«. Das berichtete der Schriftsteller und Journalist Felix Philippi allerdings erst im Jubiläumsjahr 1913, wahrscheinlich in der festlichen Absicht, Verdi und Wagner, die geistigen Repräsentanten des miteinander verbündeten Italien und Deutschland, auch ihrerseits irgendwie freundlich miteinander zu verbinden.

An Wagner haftete lange ein anrüchiger Ruhm, als Avantgardist aufzuregen und zu beunruhigen. Nach der Eröffnung der Bayreuther Festspiele 1876 gewannen seine Dramen einen festen Platz im Repertoire sämtlicher Opernhäuser in Europa und Amerika. Er verdiente endlich sogar so gut wie Verdi. Dieser Wohlstand ärgerte den alten Verdi nicht weiter. Ihn verbitterte, nach einer so langen Laufbahn selbst von eigenen Landsleuten als überholt eingeschätzt zu werden, eben der letzte Vertreter einer ehedem großen und nun erschöpften Tradition zu sein. Er fühlte sich verdrängt, missverstanden und um seinen Ruhm betrogen. Wagner war bis in seine letzten Jahre auf Verdi eifersüchtig, zumindest sobald es um Geld ging. Hier nahm er sich Verdi zum Maßstab. »Herr Verdi hat von seinem Verleger Ricordi für das unbedingte Aufführungs- und Eigenthumsrecht seines Requiems circa eine halbe Million Francs erhalten; somit darf es mir erlaubt sein, einen Schluss auf den Werth der Composition eines jetzt berühmten Autors zu ziehen.« Was hieß, ihn für die erbetene Komposition eines Festmarsches zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten angemessen zu bezahlen, wie er am 8. Februar 1876 nach New York schrieb.

Verdi hingegen war seit dieser Zeit eifersüchtig auf moralisches Kapital, auf den Mehrwert von Ruhm, Applaus und festlich-feierlicher Anerkennung. Daran fehlte es ihm überhaupt nicht. Seinen wohl größten Triumph erlebte er in Wien im Juni 1875, als er dort mehrmals sein Requiem und Aida in Muster- oder Festspielaufführungen dirigierte. Selbst der stets zurückhaltende Kaiser Franz Joseph war sehr erfreut, überschüttete den Komponisten mit allen nur möglichen Ehren und war sich mit all den Wienern einig, die nichts von Wagner hören wollten. Diesen hofierte hingegen seine Frau, die kapriziöse und unberechenbare Sisi. Doch das alles nützte wenig, um Verdis schlechte Launen aufzuhellen. Über Wagner wurde gestritten, für ihn wurde gekämpft, er begeisterte die Jungen. Und wer Neues schaffen wollte, berief sich ebenfalls auf ihn, in Paris, in Bologna, in London, in Sankt Petersburg oder New York, und natürlich auch in Wien, wo Verdi zwar ausgezeichnet und stürmisch gefeiert wurde, ohne aber damit die weltweite Epidemie des Wagnerismus abschwächen zu können.

In Venedig war Wagner am 13. Februar 1883 gestorben. Zwei Monate später reiste Angelo Neumann mit seiner überall begeistert verabschiedeten Truppe, die Europa mit dem Ring bekannt machte, nach Venedig. Die Venezianer waren überwältigt. Am Tag nach der Götterdämmerung wurde vom Orchester auf dem Canale Grande vor dem Palazzo Vendramin, wo Wagner seine letzten Monate verbracht hatte, eine Trauermusik veranstaltet. Die Stadt hatte dafür eigens ihre große Prachtbarke den Musikern überlassen. Das Gedenkkonzert war damit zum Staatsakt erhoben. Der gesamte venezianische Adel kam in den eigenen Prunk- und Galaschiffen. Eine unübersehbare, ergriffene Menge zu Wasser, auf den Dächern, auf dem Lande hörte mit entblößtem Haupt Siegfrieds Trauermarsch und die Tannhäuser-Ouvertüre. Noch nie wurden in Venedig einem Komponisten solch eindrucksvolle Ehren erwiesen. Hier hatte mit Monteverdi die Oper ihren Anfang genommen, von hier aus hatte Verdi Italien erobert, und von hier aus versicherten nun Enthusiasten Richard Wagners: Ach, er war unser! Der deutsche Künstler und häufige Gast wurde gleichsam in Venedig eingemeindet, wo er 1858 den zweiten Akt von Tristan und Isolde vollendet hatte.

Verdi äußerte sich nicht zu dem ungewöhnlichen Festakt. Als er am 15. Februar 1883 die Nachricht vom Tode Wagners erhielt, schrieb er an seinen Verleger Giulio Ricordi: »Traurig! Traurig! Traurig! … eine große Persönlichkeit ist nicht mehr! Ein Name, der in der Geschichte der Kunst mächtige Spuren hinterläßt!!!!!!!!« Diese meist aus ihrem prosaischen Zusammenhang gelösten Ausrufe in der Bühnensprache der Oper sollten nicht unbedingt als Ausdruck plötzlicher Erschütterung und herzbezwingender Menschlichkeit gelesen werden. Sie sind – klug kalkuliert – einem reinen Geschäftsbrief als Postscriptum angefügt und sollten belegen, wie der Tod ihm förmlich die Sprache verschlug. Der Austausch mit dem Verleger besaß nie rein privaten Charakter. Denn der Verleger als Agent übernahm auch Aufgaben eines Pressesprechers, der Informationen weiterreichte. Verdi vernachlässigte nie die notwendige Öffentlichkeitsarbeit, für die er vor allem seine Briefe benutzte, um Meinungen und Urteile in Umlauf zu bringen, auch für Ruhm und Nachruhm zu sorgen, überhaupt für das Bild, das sich Welt und Nachwelt von ihm machen sollten. Er konnte sich auf die Schwatzhaftigkeit seiner Freunde verlassen. Insofern durfte er selbstverständlich erwarten, dass dieses inszenierte Gestammel zum Tod Wagners als aufrichtiges Zeichen seiner Ergriffenheit gewürdigt würde, als Dokument eines schlichten Gemüts, dem nichts so fremd ist wie Neid und Missgunst. Als solches wird es seit Menschengedenken zum höheren Ruhm der Mitmenschlichkeit Verdis ehrfurchtsvoll gelesen.

Verdi war allerdings sehr empfindlich, und der Ruhm sowie der üppig anschwellende Nachruhm Wagners verdüsterten das Alter Verdis, der bis 1901 lebte. Er musste noch einmal erfahren, was ihn und den jungen Wagner einst gemeinsam beunruhigt und gequält hatte: im Schatten von Anderen, Erfolgreichen und Berühmteren zu stehen. Beide hatten sich aus allen möglichen Abhängigkeiten befreit und gingen ihren Weg. Beide verwiesen endlich sämtliche Mitbewerber als dekorative Zwerge in den Hintergrund. Doch nun sollte Verdi – die Gefahr witterte er für sich – wie ein Zwerg behandelt werden, der auf den Schultern eines Riesen steht und dennoch nicht weiter sieht. Verdi beanspruchte trotzig und traurig, auch ein Riese zu sein, der anderer Riesen Spielzeug nicht brauchte, um sich wirkungsmächtig ins Spiel zu bringen. In Briefen hob er immer wieder zu Recht hervor, seit Ernani, Macbeth und Luisa Miller nach der Wahrheit im musikalischen Drama gestrebt zu haben. Im Januar 1847 schrieb er einer Sängerin: »Ich habe versucht (…) Musik zu machen, die, so gut ich es vermochte, an das Wort und die Situation gebunden ist; und ich wünsche, dass die Künstler diese meine Ideen genau verstehen, ich wünsche also, dass die Künstler mehr dem Dichter als dem Komponisten dienen.« Genau darin lag auch die Absicht Wagners in seinem Lohengrin, der damals entstand. Beide hatten mit verschiedenen Mitteln das gleiche Ziel vor Augen, dem sie sich unabhängig voneinander auf getrennten Wegen annäherten: das musikalische Drama.

Von dem handelte 1836 ihr Generationsgenosse Giuseppe Mazzini, ein sozialistischer Idealist, der die Jugend Europas vereinen wollte, in einer kleinen, zuerst auf Französisch erschienenen Schrift: Filosofia della musica. Lebhaft beklagte er die »Notenhändler«, also Komponisten, die aus der Kunst ein Geschäft machten, eine gängige Ware, um gelangweilten Müßiggängern die Zeit zu vertreiben. Das hielt er für unvermeidlich in Zeiten des Skeptizismus, des Materialismus und des Egoismus, die alle zusammen verbindliche, eine Gemeinschaft bildende Überzeugungen um ihre bindende Kraft brachten. In solch trüben Epochen finden die sittlichen und sozialen Ideen nicht mehr in der Kunst, vor allem in der Oper, zu herzbezwingender Gestalt. Die Bühne diene nicht mehr als moralische Anstalt, wie sie der »göttliche Schiller« verstand, und verfehle ihre öffentliche Aufgabe, zur sittlich-sozialen Wiedergeburt beizutragen. In einer solchen Atmosphäre des Unernstes müssten die Jungen, wie Mazzini klagte, mutlos werden, weil in einer unübersichtlichen Gegenwart unsicher darüber, welche Wege in eine bessere Zukunft führten, in der es sich wieder zu leben lohne.

Diesen ratlosen, unentschlossenen Jungen will Mazzini Mut machen. Er mahnt sie, sich zusammenzureißen, um nicht vor den kommenden, großen Herausforderungen zu verzagen. Ihr Selbstvertrauen schaffe erst das Vertrauen in den Fortschritt, wie er den Jungen zuruft. Denn ihr entschlossenes Vertrauen in die eigene Kraft sei die notwendige Voraussetzung, dass der Übergang aus der problematischen Zerrissenheit der Gegenwart in eine neue Ordnung gelinge. Eine Ahnung künftiger Harmonie und Eintracht sieht Mazzini in dem Verlangen nach dem musikalischen Gesamtkunstwerk. Wie dort die vereinzelten Künste einem sie zusammenfassenden Willen dienen, werde in dem künftigen Gesamtkunstwerk einer neuen Gesellschaft der Gegensatz von Geist und Leben, Bürger und Mensch, Individuum und Gesellschaft aufgehoben. In der künftigen Einheit der Künste feiert Mazzini die Seele der kommenden gesellschaftlichen Eintracht. Begeistert sieht er »die Kunst« wie im alten Athen als Gesetzgeber und Stifter eines gemeinsamen gesellschaftlichen Glaubens, der den Menschen und Bürgern festen Halt gewährt mitten in der bürgerlichen Gemeinschaft, die zugleich die Menscheit mit sich verkörpert. Dann werde die Musik endlich wieder aus ihrer Vereinzelung erlöst sein und zusammen mit dem Wort zu einer verbindlichen Sprache gelangen und ihrer befreienden sozialen Bestimmung gerecht werden. Vorerst sei sie sprach- und machtlos. Sie spiele mechanisch mit Gezwitscher, Trillern und Koloraturen, nur bemüht um vorübergehende Effekte. Den selbstverliebten Virtuosen rückt daher Mazzini in den Mittelpunkt einer gesellschaftlich verantwortungslosen Kunst. Dessen äußerliche Mittel verweisen nicht auf die Mitte, von der aus die fragmentierten und isolierten Künste auf gemeinsame Zwecke verpflichtet werden könnten.

Im kommenden musikalischen Drama versöhnen sich die beiden vorläufig noch voneinander getrennten Sonderbewegungen: die individualisierte italienische Melodie und die systematische Harmonie der Deutschen. Nord und Süd sind dann keine Gegensätze mehr, sie ergänzen sich. Vielleicht kannte Giuseppe Mazzini das allegorische Gemälde des Deutsch-Römers Friedrich Overbeck, 1828 vollendet, das Italien und Deutschland in schwesterliche Liebe versunken darstellt. In solch inniger Eintracht erwartete er in der künftigen Oper, dass die Musik das Wort zum Vorteil des Dramas dort unterstützt, wo die Poesie an ihre Grenzen stößt. Rossini, der musikalische Napoléon seiner Zeit, regiert, wie Mazzini bewundert und bedauert, in vollkommener Selbstherrlichkeit im Reich der Melodie. Diese schwingt selig in sich selbst, immer glänzend, aber geheimnislos und unvertraut mit Gefühlsdämmerungen im mystischen Zwielicht. Die Deutschen hingegen verstrickten sich bei der Suche nach dem idealen Schönen zunehmend in abstrakten Konstruktionen und Systemen. Dabei verloren sie den Menschen, den Einzelnen, dessen Gefühle und Leidenschaften aus dem Auge. Die Seele lebt, sie bedarf der Erschütterung durch das Unendliche. Aber sie lebt auf Erden, mitten in einer konkreten Welt, in der Welt als Geschichte. Die Melancholie, die Sehnsucht, die erregten Stimmungen, auf die sich die Deutschen verstehen, streben aus dem Endlichen ins Grenzenlose, in übermenschliche Zonen. Die Ausschweifungen der harmonischen Übersteigerung vermenschlichen die italienische Melodie, sie wieder zurückführend auf den unerschöpflichen Einzelnen, der mitten in einer jeweils besonderen historischen Welt steht, ohne die das Leben der wirklichen Menschen gar nicht denkbar ist.

In der Geschichte der vom Menschen gemachten Kultur, die seine Natur ist, nicht im Mythos, erkannte Mazzini den Stoff der kommenden Oper, um mit ihr eine moralische, gesellschaftliche und ästhetische Macht auszuüben. Nur über die Geschichte lernt sich der Mensch in seiner unerschöpflichen Mannigfaltigkeit kennen und verstehen. Unter dem Eindruck einzelner, historischer Vorbilder auf der Bühne werden dem Menschen seine sittlichen Pflichten klar. Die großen Opern errichten Bilder vieler Wirklichkeiten, die nie ganz vergangen sein können, weil sie alle von der Wahrheit, dem Drama und der Würde des in die Geschichte gesetzten Menschen reden. In der Geschichte gibt es keinen Stillstand, immer nur Übergänge. Aber jeder Moment behält wegen des darin handelnden, scheiternden oder sich behauptenden Einzelnen seine stets anschaulich unterrichtende Bedeutung. In diesem Sinne wird die Oper zu einer gesellschaftlichen Einrichtung. In der Kunst und im Künstler verehrt endlich jeder das Gesetz und den priesterlichen Verkünder des gesellschaftlichen Glaubens, der zur sozialen Regeneration führt. Den Vorläufer für das Bündnis von italienischer Melodie mit deutscher harmonischer Kunstfertigkeit erblickte Mazzini in Mozarts Don Giovanni. Die Mitte, um die sich alle Künste scharten, Wort, Musik, Tanz und Bild, war das Drama.

Mazzini hatte seine Schrift dem Ignoto Numini, dem noch unbekannten Genius gewidmet, der die Musik von dem Schmutz und Schlamm reinigt, in dem sie noch darnieder liegt, und der sie wieder auf die Höhe erhebt, die ihr die alten Griechen zugewiesen hatten, von wo aus sie bürgerlichen Geist, das Herz und die Willenskraft der Freien kräftigen und stärken wird. Der italienische Patriot hoffte auf einen italienischen Retter der Musik, da die moderne Musik von den Italienern erfunden worden sei, und deshalb ein Italiener am ehesten die italienische zu einer europäischen Musik erweitern könne. Mazzini dachte dabei an Donizetti, der in Mailand, Paris und Wien triumphierte. Doch der große Dramatiker starb sehr früh, konnte aber noch als kaiserlicher Kapellmeister in Wien dem jungen Verdi den Weg ebnen. In Mailand geriet Verdi, der während seines Studiums keine Oper so gründlich untersuchte wie Mozarts Don Giovanni, die Wagner ebenfalls bewunderte, um 1837 unter den Einfluss der Anhänger des exilierten Mazzini. Ihn, den Gründer der Bewegungen Junges Italien und Junges Europa, lernte Verdi 1847 in London kennen.

Von Verdi wusste dieser wenig. Vielleicht machte ihn der sozialistische Träumer mit seinen musikalischen Spekulationen bekannt, mit denen möglicherweise ein aufmerksamer Zeitschriftenleser und Besucher literarischer Salons wie Verdi ohnehin schon vertraut war.

Wagner schätzte in Mazzini den hochherzigen Republikaner und sozialistischen Freiheitskämpfer. Er bewahrte sich seit seinem politischen Erwachen während der Pariser Revolution 1830 eine nie erlahmende Anteilnahme an der italienischen Einheitsbewegung. 1834 geriet er in Leipzig in die Kreise um Heinrich Laube, einen Vertreter des Jungen Deutschland, das sich an Mazzini anlehnte und ungeduldig auf ein Junges Europa hoffte, wie Laube 1833 einen Roman nannte. Wenn die Musik, wie es damals hieß, die universelle Sprache der Menschheit ist, die von allen verstanden wird, dann erübrigen sich nationale Schulen und der eifersüchtige Wettstreit, einer von ihnen die Vorherrschaft zu verschaffen. Als deutscher Komponist dachte Wagner nicht an einen Italiener, der die Musik und vor allem die Oper erneuert, nicht einmal an einen Deutschen, sondern an einen Europäer, der das Gute nimmt, woher es auch kommen mag. Also auch an einen Deutschen, an einen wie Richard Wagner, der Spontini und Bellini aufrichtig bewunderte und nie verhehlte, welch hohen Respekt die französischen Meister verdienten. Italiener und Franzosen verstanden etwas vom Gesang, dem wichtigsten Element im musikalischen Drama. Deshalb rief Wagner 1837 in einem Artikel: »Gesang, Gesang, Gesang, ihr Deutschen!« Darin war er sich mit Mazzini einig.

Wagner kannte Mazzinis Schrift damals nicht, vielleicht hat er sie nie gelesen. Das war auch nicht notwendig. Denn Mazzinis Überlegungen gehören zum allgemeinen Ideengut seiner beunruhigten Zeitgenossen. Bei der Beschäftigung mit ausgeprägten, eigenwilligen Persönlichkeiten wird meist vernachlässigt, woran ein unerschöpfliches Individuum wie Goethe ein paar Tage vor seinem Tod erinnerte: »Im Grunde sind wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. Denn wie weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen! Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als von denen, die mit uns sind. Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Innern verdanken wollte.« Die politischen und sozialen Folgen der Französischen Revolution, aber auch die geistigen Revolutionen deutscher Philosophen und Romantiker stürzten die alte Welt um, ohne aber eine neue Welt auf festen Fundamenten zu gründen. Eine allgemeine Unsicherheit verbreitete sich, verbunden mit Ängstlichkeit oder mit Trotz und Wagemut, die Revolutionen energisch voranzutreiben und alle zu ermuntern, in eine neue Welt aufzubrechen. Von den Künstlern wurde immer schon erwartet, mit geistreichen Inventionen, also überraschenden Erfindungen, die gewohnten Konventionen zu erweitern. Aber früher geschah das in Abhängigkeit von den Wünschen kenntnisreicher Auftraggeber. Künstler und Künste waren nicht autonom. Sie standen in den weit gefassten Zusammenhängen kirchlicher und monarchischer Repräsentation oder bürgerlich-ritueller Festlichkeit. Über die soziale Funktion der Kunst und die Aufgaben des Künstlers im öffentlichen Leben brauchte deshalb nicht sonderlich nachgedacht zu werden. Sie ergab sich ganz selbstverständlich aus den Aufträgen, die der Herrscher, der Papst und die Kirchenfürsten oder die Ratsherren und Pfarrgemeinden dem dafür von ihnen verpflichteten Personal erteilten.

Die Revolution erschütterte Thron und Altar. Sie entfesselte aber die Originalgenies, die allen Gewalten zum Trotz kämpften und ein pathetisches Beispiel von der Größe des in die Freiheit gesetzten Menschen boten. Der Einzelne, der Held und Befreier, trat nun an die Stelle der antiken Halbgötter oder Kaiser, die sich und ihre Tugend glänzend unter vielen Anfechtungen bewährten. Der große Mann in der Geschichte, ohne Rücksicht auf seine Herkunft, verkörperte jetzt den wahren, erhabenen Menschen, umgeben von seinem Volk oder dessen Soldaten. Der Chor rückte aus dem Hintergrund und wurde selbst zum Protagonisten. Die Revolutionäre brauchten die Journalisten und Dichter, die wortgewandten Propagandisten der Republik und ihre Ideen. Diese konnten aber nur das Herz erreichen und einen gemeinsamen Enthusiasmus übereinstimmender Gemüter entfachen mit Hilfe der Musik, der rein menschlichen Sprache der Seele und der Gefühle. Das gesungene Wort, das Kampflied, vereinigt die längst Begeisterten oder noch Zögernden zu einer pathetischen Willensgemeinschaft. Der Musiker wird zum Künder der Freiheit. Damit hat er eine ganz neue Würde gewonnen und mit ihr die Musik überhaupt.

Solche Vorstellungen widersprachen in keiner Weise den Absichten deutscher Philosophen und Romantiker aller Art, der Kunst und dem Menschen ihre Autonomie zu verschaffen. Es ist die Schönheit, die zur Freiheit leitet. Die äußere politische Freiheit ist auf die innere Selbstbestimmung eines jeden angewiesen. Ohne eine sittliche Unabhängigkeit der schönen Seelen können die bürgerliche Freiheiten rasch wieder willkürlicher Herrschsucht zum Opfer fallen. Das Ideal war das klassische Athen mit seinen Festspielen. Der freie Mensch, die freie Kunst und der freie Staat bedingten einander. Unter dem Eindruck der großen musikalischen Dramen konnte damals jeder Bürger unmittelbar erleben, wie Gott und die Welt in sein Leben eingriffen, welcher Bestimmung zum allgemeinen Wohl er treu und ergriffen zu genügen habe. Das Schauspiel wirkte sittlich erziehend und erhebend auf die Festgemeinschaft der Athener, die im teilnehmenden Genuss tragischer Verwicklungen sich ihrer Menschlichkeit und Staatsbürgerlichkeit versicherte, die noch nicht voneinander getrennt waren. Der tragische Dichter konnte nicht auf die Musik verzichten, die dem Wort mit ihrer Verstärkung eine ganz besondere Macht verlieh. Darauf hofften in Übereinstimmung mit solchen Ideen die beiden Dramatiker der Wahrheit, Verdi und Wagner, voraussetzend, dass die Musik als die Sprache auch der verborgensten Regungen der Seele die Wahrheit an den Tag bringen werde wie sonst nur die Sonne.

Zum ersten Mal galt die Musik als die erste unter allen Künsten und der Musiker als der zuverlässigste Kenner und Dolmetscher des unerschöpflichen und unbegreiflichen Menschen, der Natur und der gesamten Schöpfung. Doch als reine Musik konnte sie auch einen ganz neuen Herzensegoismus wecken, den Selbstgenuss der Seele im Strom der Empfindungen, der sich endlich zur Selbstauflösung im Schönen steigert, die Mazzini so unbehaglich war. Denn die Musik ist auch die zweideutigste aller Künste, weil gar nicht eindeutig ist, was der Symphoniker seinen Zuhörern sagen will. Jeder hört nur, was er will, und zieht die Töne in ein unbestimmtes inneres Reich beliebiger Sehnsüchte oder Erinnerungen. Erst die Verbindung mit dem Wort erlöse die Musik aus ihrer unendlichen Unbestimmtheit, veredele die Gemüter, mache sie frei für die Liebe und Brüderlichkeit ihrer sozialen Bedeutung und politischen Funktion. Das meinten die Kritiker der absoluten Musik, unter ihnen Richard Wagner. Verdi schloss sich ihnen an. Wer Volk und Musik in nähere Beziehung bringen wollte, auf die Erziehung durch Musik vertraute – ob Frühsozialisten, bürgerliche Liberale oder aufgeklärte Pädagogen –, förderte daher das Lied, den gemeinschaftlichen Gesang, die Gesangsvereine, um ihre Ideen über die Melodie werbender und einprägsamer wirken zu lassen. Der evangelische Gemeindegesang war das Vorbild. Die lutherische Kirche war eine im Lied bekennende Kirche, die sich im Gesang ihrer Glaubensgemeinschaft versicherte. Danach trachteten Sozialisten mit Arbeits-, Partei- und Protestliedern, die das Gefühl der Solidarität kräftigen sollten, und der liberale Bürger sang die politischen Reformen und die erwünschte nationale Einheit mit vaterländischen und ideologischen Gesinnungsliedern herbei.

Die Opera seria hatte ihren unumstrittenen Platz in der Gesellschaft eingebüßt. Sie war nie eine zweckfreie Kunstform gewesen, weil sie stets einen besonderen Anlass bedeutungsvoll im höfischen Fest überhöhen sollte. Jetzt allerdings war sie zum zweckfreien Spiel geworden, ein Unterhaltungsstück, ernst und rührend oder einfach sensationell wegen üppiger Ausstattung und durch den Prunk und Pomp virtuoser Stimmen. Interessant war jetzt im anbrechenden Zeitalter des Interessanten die jeweils persönliche Auseinandersetzung mit der Macht des Schicksals im Maskenball des Lebens. Die großen Leidenschaften und die zarten Stimmungen, die Launen der Verliebten, die Verwirrung der Gefühle bis hin zum gemeinsamen Liebestod, das Menschliche und Allzumenschliche weckten nun die Anteilnahme mitfühlender Herzen. Auch bei den öffentlichen Personen ging es hauptsächlich um deren private Verletzungen, ihr kleines Glück am häuslichen Herd, und nicht mehr um die manchmal herzzerreißende Auseinandersetzung des Einzelnen mit seinem Amt, seiner königlichen Würde. Die Protagonisten sollten weiterhin große, auch übergroße Menschen sein – dem normalen Menschen jedoch so nahe, dass dieser mit Seufzern ihm ganz vertraute Schmerzen und Momente seliger Trunkenheit nachempfinden und erschüttert staunen konnte, welch dunkle Kammern es auch in den zuverlässigsten Herzen gibt. Das erweiterte seine Humanität und verfeinerte seine sittlichen Ideen. Darin lag die öffentliche Aufgabe der Schaubühne als Schule der praktischen Weisheit, als Wegweiser durch das bürgerliche Leben und »unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele«, wie Schiller deren Möglichkeiten umriss. In diesem Sinn begann schon vor der Revolution seit Christoph Willibald Gluck eine Opernreform. Zum Ideal wurde das griechische Trauerspiel mit seiner Vereinigung von Wort, Ton und Tanz erhoben, obschon man nichts von der Musik in der klassischen Antike wusste. Doch die vagen Vorstellungen vom griechischen Gesamtkunstwerk erleichterten Entwürfe zu einer umfassenden Opernreform mit dem Ziel, die selbstherrliche Musik als Mittel zu gebrauchen, um den dramatischen Ausdruck zu steigern.

Doch die Musik und überhaupt das Theater, jetzt unabhängig von höfisch-aristokratischer Repräsentation, gerieten in ganz neue Abhängigkeiten: in die vom Markt, einer auf Gewinn achtenden Unterhaltungsindustrie und deren Kunden, die zahlenden Verbraucher. Die Kunst und die Musik wurden wie alles, was mit dem Markt in Berührung kommt, zur Ware. Das empörte die Sozialästheten. Eine Kunst, die Gewinne erwirtschaften soll, die sich nach der Laune eines unberechenbaren Publikums richten muss, um zu gefallen und Popularität zu erringen, wird zur Prostitution gezwungen, wie es immer wieder hieß. Sie verliert das Höchste: ihre Freiheit und Autonomie. Der Markt, die künstlerische Freiheit und die sittlich-politische Bedeutung der Kunst waren miteinander schwer vereinbar. Wagner und Verdi, sämtliche Künstler, die ihrem Ingenium und nicht der Nachfrage folgen wollten, haderten deshalb mit einem Kulturbetrieb, den absetzbare Ware mehr interessierte als das Wahre. Schließlich war der Menschheit Würde dem Künstler in die Hand gegeben, wie seit Schiller immer wieder beteuert wurde. »Bewahret sie! / Sie sinkt mit euch, mit euch wird sie sich heben!«

Die Kommerzialisierung der Kunst und das Kunstwerk als Konsumartikel widersprachen eklatant den volkspädagogischen Hoffnungen auf ein Nationaltheater. Seit die Nation von den revolutionären Franzosen als die Form entdeckt worden war, in der das Volk zu sich in anschaulicher Gestalt findet, wurde vom génie national oder vom Volksgeist geredet. Dieser durchdrang die Nation und verlieh ihr einen unverwechselbaren, sittlich-historischen Charakter. Menschheit und Menschlichkeit gewannen erst in konkreter Erscheinung, in der Nation und der zu ihr gehörenden nationalen Kunst, eine Überzeugungskraft, weil das Allgemeine nur im Besonderen zu erscheinen vermag. »Nationalgeist eines Volks nenne ich die Ähnlichkeit und Übereinstimmung seiner Meinungen und Neigungen bei Gegenständen, worüber eine andere Nation anders meint und empfindet. Nur der Schaubühne ist es möglich, diese Übereinstimmung in einem hohen Grad zu bewirken, weil sie das ganze Gebiet des menschlichen Wissens durchwandert, alle Situationen des Lebens erschöpft und in alle Winkel des Herzens hinunterleuchtet.« Der Weltbürger Schiller nahm sich die alten Athener zum Beispiel. Ihre Nationalbühne mit Stücken vaterländischen Inhalts zog diese unwiderstehlich an, wie er versicherte. Die Nationalbühne schuf die Nation, eine für alle Zeiten bildende und vorbildliche, eine deshalb klassische Nation, denn jeder Mensch erlebt sich im Athener als schönen Menschen. Die Musik als allgemeine Sprache der Menschheit konnte freilich unter solchen Voraussetzungen durchaus in einem nationalen Ton reden, ohne deshalb ihre unmittelbare Verständlichkeit einzubüßen. Alle Völker, die zur Nation werden wollten, strebten nach einer Nationaloper, nach nationaler Musik, ohne Rücksicht auf den internationalen Markt. Dort konnte sich aber nur behaupten, was überall gefiel. Das war die italienische Oper mit ihren Konventionen. Sie galt als mustergültig, und jeder begabte Deutsche von Händel über Hasse, Graun und Mozart bis zu Simon Mayr, Paul von Winter, Otto Nicolai und Giacomo Meyerbeer konnte zu einem anerkannten italienischen Meistersinger werden. Diese ganz selbstverständliche Übernahme eines musikalischen Idioms hörte während der Jugendjahre Verdis und Wagners auf. Die Deutschen suchten umständlich nach einer deutschen Melodie, die Italiener, der Künstlichkeit ihrer Opern überdrüssig, suchten nach dramatischer Situationsmusik, und beide achteten auf die französischen Bemühungen, Drama und Musik einander dienstbar zu machen. Insofern befanden sich die schroff hervorgehobenen nationalen Schulen im regen Austausch und beobachteten einander sehr aufmerksam.

Der erfolgreichste Musikdramatiker neuer Art war vor Verdi und Wagner der Berliner Giacomo Meyerbeer, der deutsche, italienische und französische Traditionen zu einer europäischen Musik verschmolz und damit bestätigte, dass die nationalen Nuancen nicht Gegensätze sind, sondern nur lokale Varianten einer gemeinsamen Hochsprache. Wagner und Verdi verleugneten nie, was sie den Franzosen verdankten. Wagner bekannte oft seine Bewunderung für Spontini und Bellini. Verdi sprach nie öffentlich über sein enges Verhältnis zur deutschen Musik. In der Bibliothek seines Schlafzimmers in seinem Landhaus Sant’ Agata gab es nur von drei Meistern Partituren: von Haydn, Mozart und Beethoven. Der liebste Zeitvertreib für Verdi bestand darin, Fugen zu schreiben, sobald er sich langweilte. Er hatte höchsten Respekt vor Bach, darin Wagner ähnlich, der das Fugenschreiben bei dem Thomaskantor Theodor Weinlig lernte, einem Schüler des Padre Martini in Bologna, damals einer klassischen Autorität. Musikalisch waren Verdi und Wagner Europäer. Sie wurden später von ihren leidenschaftlichen Anhängern zu typischen Repräsentanten einer nationaler Kunstrichtung stilisiert, nachdem sie längst zu einem europäischen Ereignis geworden waren.

Wagner las immer wieder Dante, kannte die großen italienischen Dichter Tasso und Ariost, Gozzi, Goldoni und Alfieri. Er sprach hinlänglich italienisch, obschon er bei seinen ersten Aufenthalten in Italien Schwierigkeiten hatte, sich Milch zum Kaffee zu bestellen, weil latte in den Opernlibretti nicht vorkam, mit deren Lektüre er sich die Sprache aneignete. Er reiste viel durch Italien, im Gegensatz zu Verdi liebte er Süditalien und Sizilien. Im Alter überlegte er mehrmals, endgültig nach Italien zu ziehen und Deutschland zu verlassen. Um Paris kämpfte er wie die Goten um Rom. Dort triumphierte er endlich, von den intellektuellen Franzosen als einer der Ihren wahrgenommen und gefeiert. Verdi kannte gründlich in italienischer Übersetzung Schiller, auch dessen theoretische Gedichte und Aufsätze, Goethe, einiges von Zacharias Werner und Franz Grillparzer; er war vertraut mit August Wilhelm Schlegels Vorlesungen zum europäischen Theater oder mit Madame de Staëls Erläuterungen zum deutschen Theater. Sein Freund Andrea Maffei, der in München studiert hatte, unterrichtete ihn über die literarischen Entwicklungen in Deutschland; die Mailänder Musikjournalisten – unter ihnen der Deutsche Peter Lichtenthal – hielten ihn auf dem Laufenden über das deutsche Musikleben. Verdi besuchte mehrmals Wien, auf der Durchreise nach Belgien oder Russland berührte er Karlsruhe und Mannheim, unternahm die damals noch obligatorische Rheinfahrt bis Köln und hielt sich einige Male in Berlin auf. Als Bildungsbürger wie Wagner beachtete er die empfohlenen Sehenswürdigkeiten und vernachlässigte nicht die Museen und Konzerte.

Kurzum, er war kein bornierter Italiener. Wie Wagner es nicht recht in Deutschland aushielt, so brach Verdi regelmäßig nach Paris auf. Seit 1847 reiste er insgesamt 37 Mal dorthin und blieb oft monatelang. Trotz mancher grämlicher Bemerkungen über die Stadt wegen des Lärms und der schlechten Luft bei den dauernden Bauarbeiten – Paris erstand ja damals überhaupt erst zu der durchkomponierten Metropole – genoss er es, bekannt und gefeiert zu sein oder einfach nur auf den Boulevards zu schlendern oder einzukaufen. Er hatte spät Französisch gelernt, sprach es bald mühelos und gebrauchte diese Sprache als willkommenes Mittel, sich in der europäischen Welt zurechtzufinden. Die beiden Weltbürger Wagner und Verdi sprachen zwar häufig von deutscher Kunst und italienischem Stil, verwendeten aber selten vaterländisch-nationale Sujets als Vorlage für ihre Opern. Die Meistersinger als historische Oper ist bei Wagner die Ausnahme. Bei Verdi liegen die Schauplätze seiner Opern in Deutschland, in Spanien, in Palästina oder in Ägypten. Die Libretti sind in der Regel Bearbeitungen französischer, deutscher, englischer oder spanischer Dramen. Ein nationaler Dramatiker im engen Sinne war Verdi nicht. Beiden ging es um das rein Menschliche in vorzeitlichem oder historischem Gewand. Beide trachteten nach der reinen, nackten Darstellung der allerheftigsten Leidenschaft. Insofern besagt bei Wagner die germanische Maskerade wenig.

Richard Wagners Motive waren altbekannt, teilweise noch lebendig im Wiener Volkstheater seiner Zeit, in Märchen- und Feenstücken, die er gern besucht und gelesen hatte. Ariost und Tasso gehörten zum europäischen Bildungsgut. Situationen, Konflikte, Idyllen, Liebesglück und Liebesleiden aus dem Rasenden Roland oder dem Befreiten Jerusalem sind in zahllosen Opern, nach Tancredi, Armida oder Rinaldo benannt, immer wieder behandelt worden, Opern, die noch in der Jugend Wagners und Verdis zum selbstverständlichen Kulturbesitz gehörten. Das altgermanische, altdeutsche oder nur fremde Kostüm lenkt davon ab, dass Wagner längst Vertrautes nur leicht verfremdet. Der ganz praktische Theatermann wusste, dass er mit völlig neuen, tatsächlich exotischen Motiven sein Publikum nur verwirren würde. Während der Arbeit am Siegfried war es sein Ziel, das Publikum dahin zu bringen, sich auf diese dramatisierte Geschichte so einzulassen wie ein Kind auf die Wirklichkeit des Märchens. Deshalb musste er vertraute Erinnerungen aufgreifen, ohne ihnen stets einen neuen Sinn zu geben. Ein Italiener, der mit Gozzi vertraut war – Verdi gehörte nicht zu ihnen –, verirrte sich nicht in fremdem Gelände, wenn er Rheingold oder Siegfried sah. Ariost, den Verdi ungemein liebte und als dramatisches Vorbild dem Tasso vorzog, hätte ihm dabei helfen können, im unkonventionellen Wagner einen Virtuosen im Spiel mit längst europäischen Konventionen italienischer Herkunft zu würdigen. Die große Kunst Wagners bestand darin, erschöpfte, ausgeschöpfte, ja ausgepresste Themen, denen in Italien keiner mehr traute, in überraschender Umgebung und neuem Kostüm anziehend und aufregend zu machen.

Wagner ist viel italienischer, als die germanische oder altdeutsche Maskerade vermuten lässt, und Verdi viel deutscher, als ihm selbst zuweilen lieb sein konnte. Beide strebten im Einverständnis mit Schiller nach einem Drama, das Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung und Kurzweil mit Bildung zusammenbringt. Das Ziel dieser dramatischen Kunst war erreicht, »wenn Menschen aus allen Kreisen und Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem himmlischen Ursprung sich nähern. Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein.« Das war das Programm des musikalischen Dramas der Zukunft, das Programm Wagners wie Verdis oder Mazzinis.

Mailand
Der junge Verdi und die Legende von den patriotischen Gesängen

Italien und Italianità zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Italien war nie eine politische, immer aber eine kulturelle Idee gewesen. Jeder konnte seine Italianità