Deuticke eBook
Die Süße des Lebens
Roman
Deuticke
ISBN 978-3-552-06214-6
Alle Rechte vorbehalten
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2006
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Da aber der Hauptgrund der Furcht bei Kindern der Schmerz ist, besteht das Mittel, Kinder gegen Furcht und Gefahr abzuhärten und zu wappnen, darin, sie an das Ertragen von Schmerzen zu gewöhnen.
John Locke
Das Kind schiebt den Zeigefinger langsam über den Rand der Tasse, bis die Fingerkuppe die gekräuselte Oberfläche berührt. Es beschreibt einen winzigen Kreis, hebt, sobald es sicher ist, dass die Haftung ausreicht, den Finger hoch, führt ihn vorsichtig an die Tassenaußenseite und streift ihn ab. Es weiß, dass manche Menschen keine Milchhaut mögen, aber das ist ihm egal. Der Kakao schmeckt bitter, genau so, wie es ihn mag, viel Kakao, wenig Zucker. Wenn es die Tasse erst kippt, dann wieder gerade stellt, zieht sich eine dunkelbraune Spur in ihr Inneres.
Der Großvater spielt mit dem Kind ›Mensch ärgere dich nicht‹. Er weiß zwar, dass es allerlei neue Sachen zu Weihnachten bekommen hat, Lego, Bücher, eine Tierfamilie und einen Game Boy, aber seit das Kind zählen kann, spielt er mit ihm ›Mensch ärgere dich nicht‹. Weihnachten, hat er gemeint, sei kein Grund, etwas daran zu ändern. Am Anfang hat er dem Kind beim Zählen geholfen oder sich zu seinen Gunsten verrechnet, aber das ist jetzt alles nicht mehr nötig.
Drei. Das Kind rückt den Stöpsel, der sich im Spiel befindet, Feld für Feld vor. Es hat immer nur einen Stöpsel im Spiel, und es hat immer die Farbe Gelb. Fünf. Der Soldat des Großvaters macht einen Riesensprung über all die Felder hinweg. Die Spielfiguren des Kindes heißen Stöpsel, jene des Großvaters Soldaten. Das war von Anfang an so. Die Soldaten des Großvaters sind blau. Sechs. Der Würfel kollert bis an den Rand der Tischplatte. Auf dem Boden gilt es nicht. Auch das war von Anfang an so. »Noch einmal«, sagt der Großvater. »Noch einmal«, sagt das Kind. Zwei. Schade. Manchmal wirft es zwei Sechsen hintereinander und dann noch eine Fünf. Der Großvater zieht die Augenbrauen hoch. »Acht«, sagt das Kind. Seit September besucht es die erste Klasse Volksschule. Neben ihm sitzt Anselm mit der Schielbrille. Der hat keine Ahnung von sechs oder acht. Der gelbe Stöpsel steht jetzt unmittelbar vor dem Eingang zum Stall. Wenn der Großvater eine Vier wirft, ist er tot. Die Finger des Großvaters sind knotig. Auf der Kommode steht ein winziger Christbaum mit drei silbernen Kugeln und einigen Lamettafäden. »Etwas Größeres zahlt sich für mich nicht aus«, hat der Großvater gesagt, und, als ihn das Kind gefragt hat, warum er keine Kerzen aufgesteckt hat: »Wenn ich einschlafe, ist das gefährlich.« Vier.
Es läutet an der Tür. Der Großvater steht auf. Er wirft einen Blick auf das Spielfeld. Am Schluss hängt seine Hand für eine Sekunde an der Tischkante fest. Das Kind sieht nicht, wer in der Tür steht. Der Großvater spricht. Der andere spricht. Der Großvater wendet sich noch einmal um. »Vier«, sagt er, »ich hab dich.« Dann zieht er seine Jacke über und geht.
Das Kind klettert die Bank entlang, zur Nische, schiebt die linke Hälfte des Vorhangs zur Seite. Draußen ist es Nacht. Um Weihnachten ist es immer sehr früh dunkel, was nichts macht, wenn der Mond scheint. Gegenüber mit erleuchteten Fenstern das Haus, in dem die Eltern wohnen, die Schwester, der Bruder, Emmy, der Hund, Gonzales, die Springmaus, die dem Bruder gehört, obwohl er sie nicht füttert, der weiße Delphin, das Rentier und die eine Puppe, von der sonst niemand den Namen kennt. Schräg hinter dem Haus die schwarzen Bäume, zwischen die man treten kann, und man ist trotzdem nicht im Wald. Wenn Emmy dabei ist, ist es überhaupt leicht, und man kann gehen und gehen, von Stamm zu Stamm, so weit, bis man das Himbeergebüsch sieht, und man hat immer noch keine Angst. Emmy ist ein Border-Collie, das sind die klügsten Hunde der Welt.
Manchmal stellt sich das Kind vor, ganz woanders zu wohnen, unten in der Stadt, in einem winzigen Hinterzimmer der Trafik, in der die Mutter die Zeitungen kauft und die Zigaretten für den Großvater, oder in einer Wildfütterung oben in der Mühlau, wo die Straße nicht mehr asphaltiert ist und durch zwei Felstunnels führt, weil sie neben dem dahinstürzenden Bach keinen Platz hat. Es stellt sich vor, dass der Mond am Himmel steht und dass Emmy dabei ist und dass es Kastanien essen kann und Heu und dass es draußen ein wenig kalt ist und innen drin ganz warm, und es stellt sich vor, dass es irgendwann nach Hause kommt und die Mutter die Tür aufmacht und ganz überrascht schaut.
Vier. Der gelbe Stöpsel steht da, ruht sich aus und ist beinah schon in Sicherheit. Der blaue Soldat steht auch da und ruht sich aus. Eigentlich könnte es so sein, dass beide nichts von dem wissen, was sie erwartet. Eigentlich könnte man die zwei nehmen, einen links, einen rechts, mit ihnen auf den Hügel hinter dem Haus steigen und auf die Stadt hinabschauen. Dann könnte man eine Schneehöhle graben, mit vorne einem Guckloch, und drin Tee kochen und Weihnachtskekse essen, aber nur die winzigen Musikinstrumente aus Blätterteig mit Staubzucker obendrauf.
Es wird den Stöpsel und den Soldaten wieder auf ihre Felder stellen, versprochen, den Stöpsel genau vor den Stall und den Soldaten vier Schritte dahinter, so als wäre nichts gewesen; der Großvater wird die Jacke ablegen, ihm dabei den Rücken zukehren, und es wird die beiden hinstellen, ganz leise und geschwind.
Das Kind klettert von der Bank, die rechte Hand um die Spielfiguren geschlossen, geht schräg durchs Zimmer, nimmt die neue grüne Steppjacke mit den Eichhörnchen drauf vom Hocker neben der Kommode und schlüpft hinein.
Draußen ist es kalt. Der Mond leuchtet so hell, dass die Schneefläche zwischen der Haustür und dem Vogelkirschbaum aufstrahlt wie die Milchglaskugel im Badezimmer. Der Pfad zum Haus hinüber ist breit ausgetreten wie immer. Nach links führen andere Spuren weg; die sind neu. Das Kind steigt in die Fußstapfen. Sie liegen nicht so weit auseinander, wie wenn der Großvater alleine vor ihm hergeht.
Ein blaues Pferd kommt über die Kuppe hinter der Scheune galoppiert. Der gelbe Stöpsel sitzt drauf und lacht. Er streckt dem Kind seinen glatten Stöpselarm entgegen und hilft ihm hinauf. Sie reiten über die dreieckige Wiese, geradeaus bis zur Spitze, wo der große Wacholderbusch steht, vorbei an dem alten Stapel aus Fichtenscheiten bis zu jenem Punkt, an dem der Weg frei ist, nach links in die Stadt hinab und nach rechts in die Berge. Der Schnee stiebt auf. Der gelbe Stöpsel hinter dem Kind fühlt sich warm an wie ein Heizkörper.
Die Spur führt das Haus des Großvaters entlang bis zur Buchsbaumhecke. Das Kind bohrt einen Finger in die Schneehaube, die obenauf liegt. Eine Raupe könnte kommen, in das Loch kriechen und sich schlafen legen. Das Kind schnuppert. Im Winter stinkt der Buchsbaum nur ganz wenig. Ein Rest von Kakao liegt ihm im Rachen. Das ist gut. Wo die Spur zu einem flachen Bogen nach rechts ansetzt, wird etwas anders. Ein Motorengeräusch brummt auf. Das Kind schaut nach oben, denn es ist sicher, dass sich gleich ein Hubschrauber über die Scheune erheben wird. Es wird mit beiden Armen winken, das macht man so. Der Hubschrauber kommt nicht, und das Geräusch entfernt sich wieder. Das Kind stapft noch einige Schritte, dann steht es vor einer ausgefahrenen Doppelspur, die von einem Auto stammt oder von einem Traktor. Es nimmt die rechte Furche und geht auf das schwarze Viereck der Scheune zu. Seitlich davon tauchen im Mondlicht das Schneekind und der Schneehund auf, die sie gemeinsam vor zwei Tagen gebaut haben. Alles ist noch da, die Mütze, der Besen, die Kastanie, die als Schnauzenspitze vorne drauf hockt. Das Kind stellt sich dazu, eng neben den Hund, reckt den Arm zur Seite, als hätte es auch einen Besen in der Hand. »Jetzt sind wir zu dritt«, sagt es. Es dreht sich herum und herum und fühlt sich zufrieden, so als würde die ganze Welt es betrachten. Dann weiß es plötzlich, dass es noch ein Stück gehen muss. Vor ihm, auf der sanft geneigten Auffahrtsrampe zum Scheunentor, befindet sich etwas. Es ist kein Schneemann.
Es liegt da wie jemand, der im Schnee den Adler macht, die Arme breit wie Flügel. Es schluckt das Mondlicht. Das Kind stellt einen Fuß neben den anderen. Dann bückt es sich. Die schwarzen Schnürstiefel sehen aus wie jene des Großvaters. Die Hose ist dunkelgrün, wenn man die Augen ganz nahe ranrückt. Die Hose ist unten eine Handbreit aufgekrempelt. Die Jacke aus dem groben hellbraunen Stoff, der hundert Jahre lang hält. Fast alles passt. Keine Handschuhe. Fast alles. Die Arme, die Schultern, der Kragen. Wo der Kopf hingehört, ist er nicht. Selbst ein Stöpsel hat dort einen Kopf. Das Kind beugt sich tief hinunter. Es ist nicht so, dass der Kopf fehlt. Wo er sein sollte, rund und aus dem Boden ragend, ist etwas Flaches. Das Flache liegt in einer Grube und ist ganz schwarz. Das Kind streckt den Zeigefinger vor und tupft in die Mitte, dorthin, wo es ein wenig silbrig schimmert. Das Kind erschrickt. Das Silbrige fühlt sich feucht und zugleich hart an. Das Kind richtet sich auf und geht zurück.
Erst die Wagenspur, dann die Fußstapfen. Das Schneekind, die Kastaniennase, die Buchsbaumhecke. Das Loch, in dem die Raupe schläft. Das Pferd kommt diesmal nicht. Die Dinge verändern sich.
Die Wand entlang, dann nach links, auf das Haus der Eltern zu.
Im Türlicht verschwindet der Mond. Der Bruder steht da und schaut auf die Hand des Kindes. »Was hast du da«, fragt er. Das Kind öffnet die Faust. Ein gelber Stöpsel und ein blauer Soldat. Es hätte sie zurückstellen müssen, den Stöpsel genau vor den Stall und den Soldaten vier Schritte dahinter. Das Kind rührt sich nicht. »Vier«, sagt es, »vier. Ich hab dich.« Der Zeigefinger ist vorne ganz rot. Der Stöpsel hat seinen Kopf noch, der Soldat auch.
Der Hund ist plötzlich da. Er schnüffelt erst an den Beinen des Kindes herum, dann an seiner Hand. Er duckt sich, legt die Ohren flach und stößt einen singenden Laut aus. Das Kind macht einen Schritt auf ihn zu. Der Hund robbt rückwärts und starrt zur Tür, gerade so, als habe er dort ein Gespenst gesehen.
Er öffnet das Fenster. Kälte fällt in den Raum. Zuerst ist es still, dann hört man in der Ferne das Starten eines Autos. Sonst rührt sich nichts.
An der Wand das Plakat mit der Regel. Er spürt, wie er auseinanderbricht. Die Sätze.
Höre mein Sohn auf die Weisung des Meisters.
Es beginnt in der Mitte. Eine Bruchlinie, die er nicht orten kann. Er schluckt zwei braune Dragees.
Er steht da. Das Brennen auf der Haut. Nur die Fingerspitzen sind frei davon. Von draußen kommt ein wischendes Geräusch. Vermutlich der Fuchs, der über den Hof schleicht. Eine Luft ohne Geruch. Der Mond ist längst weg. Alles eine Täuschung. Langsam spannt er die Oberschenkel. Die Regel. Worte, die er zusammenführt.
Willig durch die Tat.
Er tut alles wie immer. Am Anfang isometrisch eine Muskelpartie nach der anderen. Beine, Arme, Nacken, Rumpf. Kontrahieren, entspannen. Kontrahieren, entspannen. Danach ein paar Dehnungsübungen. Die Hüfte zuerst. Kniebeugen. Strecksprünge, locker, ohne jede Anstrengung. Die Arme pendeln lassen, dann in die Höhe ziehen.
Ab vierzig nimmt die Gefahr von Muskelfasereinrissen eklatant zu. Er hat das knapp nach seinem Geburtstag gelesen, in der Wochenendbeilage einer Zeitung. Die Dinge, die einem Angst machen, erfährt man immer im richtigen Moment. Allmählich wird er an den Flanken warm. Er breitet die Arme zur Seite aus. Von den Schläfen her schiebt sich diese wilde Klarsichtigkeit vor seine Augen. Der Riss beginnt zu verschwinden. Die Furcht bleibt. Er weiß, dass er dagegen nichts tun kann.
Er schlüpft in die graue Baumwollgarnitur, in die Socken, in die Laufschuhe. Dem Sweater geht an der rechten Schulter die Naht auf. Er wird ihn Irma geben. Sie wird zwar über die Schwierigkeiten mit dem Schleimbeutel an ihrem Ellbogen jammern, andererseits wird sie weiterhin Wert darauf legen, dass sich keiner von ihnen seine Sachen selber flickt. Ihre Augen sind inzwischen noch schlechter geworden und sie näht daher noch grauenhafter als früher, aber es sagt ihr keiner.
Den iPod an den Bund, die Knöpfe in die Ohren. In dieser Situation immer dasselbe. Nummer sechs. Father of Night. Dauerschleife.
Den Gang entlang, ohne Licht, siebenundzwanzig Schritte. Die Treppe hinunter, nach links in den Wirtschaftskorridor, durch die schmale Tür in den Hintergarten. Festgetretener Schnee unter den Füßen, der Weg ist freigeschaufelt. Bernhard war am Werk, der Mann, der manchmal wochenlang kein Wort spricht.
Er startet los. Die Nacht ist schwarz wie das Innere eines Samtsackes. Das treibt ihn an. Am Abend war der Himmel noch sternenklar. Er hat an den kleinen Ort an der Salzach gedacht mit seiner seltsamen Verheißung. Für eine Weile war er unbesiegbar. Jetzt ist die Hölle hinter ihm her.
Er hält schräg über die freie Fläche auf die Platane zu, die nahe der Mauer steht, schlüpft durch das Lanzengittertor, das nur angelehnt ist, obwohl es aussieht, als sei es seit Jahrhunderten versperrt. Er ist draußen.
Sie nennen ihn ›Läufer‹, manche auch ›Integral‹, wegen seiner Gestalt, er weiß das, und Ngobu, der Hospitant aus Nigeria, sagt überhaupt seit einigen Wochen nur noch ›LDR‹ zu ihm, ›Long Distance Runner‹. Das wird sich durchsetzen, er spürt es, alle werden ihn so nennen. Es klingt zwar wie eine besonders gefährliche Art von Cholesterin, aber so etwas setzt sich immer durch.
Er trabt die nordseitige Begrenzungsmauer entlang. Es ist windstill und hat schätzungsweise ein, zwei Grad unter null. Er überquert die Weyrer Straße und biegt in die Abt Reginald ein. Die eingeschossigen Siedlungshäuser. Schmiedeeiserne Zäune, die so alt sind wie er, cremefarbene Außenjalousien, in den Vorgärten Buchsbaum und Säulenthujen. Am Haus des Steuerberaters der Bewegungsmelder, der auf eine viel zu große Distanz eingestellt ist und die Lampe an der Eingangstür aufleuchten lässt, sooft jemand vorübergeht. Das Schild, zirka einen Quadratmeter groß, Goldschrift hinter dickem Acrylglas: ›Magister Norbert Kossnik, gerichtlich beeideter Steuerberater und Wirtschaftstreuhänder‹. Treuhänder: Ein Gauner, der Finanzbeamte besticht und seine Kunden erpresst, das ist die Wahrheit. Der dann dasteht im Lodengilet, die schwer versilberte Uhrkette quer über den Wanst, Dreitagesbart, genagelte Schuhe und die Lesebrille an der Kordel. Knall ihm eine, denkt er, hau ihm die Faust gegen die Schneidezähne.
Der Kindergarten, die Volksschule. Fensterbilder, im Garten eine Schneeburg, die Inordnungwelt. Friedegund Mayerhofer, die als Kindergartenleiterin demnächst in Pension gehen wird und in Lea Wirth eine designierte Nachfolgerin hat, die ihr ganzes bisheriges Leben lang von der Angst geplagt wurde, ein Kind könne ihr irgendwo runterfallen. Schneidet die Bäume um und tragt alle mehrstöckigen Gebäude ab! Kinder in die Ebene! So reden manche Väter.
Am Ende der Straße rechts ab in jene unbenannte Sackgasse, die hinter dem Abstellplatz für den gemeindeeigenen Fuhrpark direkt am Fluss endet. Unter dem Flugdach zwei riesige Schneefräsen, die bei Licht dunkelrot sind, mehrere kleinere Schneepflüge für die Nebenstraßen. Dahinter der Streukieshaufen, hoch wie ein Haus. Der Winter war bis jetzt eine Lachnummer, sagen alle. Aber er kann ja noch kommen.
Der schmale Verbindungsweg, der die Uferpromenade genau an der Stelle erreicht, an der sie in den Auwald eintaucht. Die Passage, die er immer laut mitsingt: Father of night, Father of day, Father, who taketh the darkness away. Hochstämmige Erlen und Weiden. Gegen den Boden hin sieht er beinahe nichts. An einem frühen Morgen im Oktober ist er hier einem Dachs begegnet. Ein enormes torpedoartiges Tier, das sich unter lautem Schmatzen und Pfauchen ins Gebüsch verzog.
Er merkt jetzt eindeutig die Wirkung des Laufens, spürt, wie in ihm, ausgehend von den Beinen und den Ohren, dieses Gerüst wächst, das ihn stützt. In Windeseile hat es Ausläufer gebildet, winzige blanke Drahtgeflechte, die sich um seine Nervenbahnen legen. In kurzer Zeit wird er für eine Weile keine Erinnerung daran haben, dass es das andere gibt, den schwarzen Schlund, in dem der Satan sitzt, der alles zu Trümmern zerschlägt. Father of day, Father of night, Father of black, Father of white.
Er kennt hier jeden Quadratmeter und schließt kurz die Augen. An der Sicherheit seiner Schritte ändert sich nichts. Die wiederkehrende Vorstellung, in einem gigantischen Schneepflug durch die Straßen zu fahren. Zuerst wirft er die geparkten Autos zur Seite, als wären sie Spielzeug, dann reißt er links und rechts eine Schneise in die Außenfassaden der Häuser.
In weiten Schritten läuft er dahin, stößt sich mit den Ballen kräftig ab. So beginnt Fliegen, er kennt das aus manchen Träumen. Locker geradeaus laufen, sich dazwischen immer wieder abstoßen. Irgendwann einmal verlierst du den Kontakt zum Boden und schwebst zehn, zwanzig Meter weit, dann setzt du wieder auf, in zwei, drei leichten Landeschritten. Es gibt Menschen, die haben überhaupt keine Bodenberührung. Clemens ist zum Beispiel einer dieser Permanentschweber. Wie auf einem Luftkissen gleitet er über Treppen, Schotter, Grashalme, ständig einen Fingerbreit über Grund, im Gesicht dabei diese nach innen gekehrte Arroganz, diese Überheblichkeit von Amts wegen. Irgendwann einmal wird er ihm eine knallen, einfach so, nicht brutal, sondern eine mittelfeste, flach gehaltene Ohrfeige, eher eine kleine politische Kundgebung als ein Gewaltakt. Überhaupt ist das kontrolliert Brachiale eine chronisch vernachlässigte Angelegenheit in der Darstellung weltanschaulicher Positionen. Dabei geht es nicht primär um Zerstörung, sondern um dort und da eine Handlung mit muskulärem Nachdruck. Amtsautoritäten gehörten zum Beispiel regelmäßig ein wenig geprügelt, Schuldirektoren, Polizisten, Politiker sowieso, dagegen ließe sich doch nun wirklich nichts sagen. Und Clemens. Mit seinem zurechtgemachten Kinnbart, seinen Zwirnsocken und seinem Siegelring.
Nach einer Minute zwischen den Bäumen merkt man, wie viele Abstufungen die Farbe Schwarz hat. Sogar die Ränder des Weges sind auszumachen, die kahlen Zweige vor dem Himmel sowieso. In den Linden und Kastanien des Parks sitzen um diese Zeit die Krähen und schlafen.
Father of cold and Father of heat. Ständig, denkt er, ununterbrochen. Heiß und kalt. Das ganze Leben lang. Er wird sie zu sich holen, beide, irgendwann einmal, und keiner wird es wagen, etwas dagegen zu sagen. Es wird ein sonniger Tag sein, sie werden mit der Bahn kommen, und wenn er sie abholt, werden sie ihm entgegenfliegen, direkt in die ausgebreiteten Arme.
Laternenhelligkeit. Links die Holzbrücke, über die man zu den Spazierwegen nördlich des Flusses gelangt. Sie ist nachts durchgehend beleuchtet, seit vor einigen Jahren der alte Schöffberger ihren Beginn verfehlt hat und über die Böschung in den Fluss gestürzt ist. Geradeaus das Rafting-Camp, vielleicht zweihundert Meter weit weg. Das flache Satteldach des Schuppens hebt sich ein wenig vom Hintergrund ab. Der Anbau mit Büro und Umkleideräumen ist nicht auszumachen.
Er schwenkt nach rechts. Die Imhofstraße, benannt nach einem früheren Bürgermeister. Die Fahrbahn ist geräumt. An der Nordwestecke des Friedhofes beginnt ein Gehsteig, der dicht mit Kies bestreut ist. Friedhöfe werden zu jeder Jahreszeit besucht. Father of minutes, Father of days. Winterbegräbnisse. Den rot-weißen Minibagger hat Weinstabel, der Totengräber, zu Hause in seiner Garage stehen. Er liebt es, sich durch die Schicht gefrorener Erde zu graben, und führt Aufzeichnungen über ihre Dicke. Linierte Hefte mit orangerotem Umschlag. Manche Leute behaupten, er verfertige jeweils links seine Listen und beschreibe auf den Seiten gegenüber den Verwesungszustand von Leichen; darüber hinaus besitze er eine riesige Sammlung knöcherner Schädel, aber derartige Geschichten existieren vermutlich über jeden Totengräber.
Das Plakat neben der Tür. Die Regel. Die Stunde ist da, vom Schlaf aufzustehen. Der Nachtläufer. Das wäre ein Name. Der zentrale Satz, der eindringt und einen am Leben erhält. Ab einem bestimmten Zeitpunkt geht er dann am Bewusstsein vorbei.
Er überquert die Hauptstraße, nimmt die Bahnunterführung, läuft die riesigen Hallen des Sägewerks entlang, dann durch eine Reihenhaussiedlung. Hinter zwei Fenstern ist das blaue Flimmern von Fernsehapparaten zu sehen. In der Grafenaustraße kommt ihm nach einigen hundert Metern ein Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen. Er hebt die Hand vor die Augen und reckt den Mittelfinger hoch, als der Fahrer nicht reagiert. Der Motor klingt wie von einem Panzer. Im Hinterherblicken meint er zu erkennen, dass es sich um ein Abschleppfahrzeug gehandelt hat. Eine alte Type, eine ganz alte Type. Auch in der Nacht passieren Pannen, denkt er.
Die Fleischerei, der Secondhandshop, der Esoterik-Laden mit den gelb-grünen Spiralen an der Fassade. Der Kastenwagen von Marlene Hanke, der Secondhandshop-Besitzerin. Zwei Motorräder, die er nicht zuordnen kann. Kurz vor dem Bahnübergang die Vorstellung, die Signalleuchte beginne plötzlich zu blinken, der Schranken gehe runter, und dann brause ein rätselhafter Zug daher, riesig und eisverkrustet, wie aus einem dieser Filme über Sibirien oder Alaska.
Wenn links vor ihm schemenhaft die Kronen der Rathausplatzlinden auftauchen, fühlt er sich besser, es ist immer das Gleiche.
Father of white, Father of black.
Wenige Dinge weiß ich sicher, denkt er: Ich heiße Joseph Bauer. Ich lebe in einer verworrenen Welt. Ich habe ein Gelübde abgelegt. Ich sage auswendig Sätze auf. Ich laufe.
Die Tage, an denen sich schon am Morgen der Nebel über die Stadt schob, verliefen in der Regel eigenartig. Die Leute waren angespannt, die Autofahrer vergaßen die Scheinwerfer einzuschalten, und man hatte absurde Déjà-vu-Erlebnisse. Die Luft fühlte sich kälter an, als sie war. Die Stämme der Bäume glänzten schwarz. Der See lag da und gab keinerlei Geräusch von sich. Das irritierte, ohne dass es einem bewusst wurde.
Horn war zu Fuß unterwegs. Üblicherweise nahm er das Rad, doch Martin Schwarz, sein Nachbar, war am Vortag mit dem Schneepflug gefahren und hatte die Fahrbahn spiegelglatt abgezogen. Er hatte es gut gemeint und vermutlich keine Sekunde an die Haftfähigkeit von Fahrradreifen gedacht.
In den abschüssigeren Passagen rutschte Horn trotz der Profilsohle seiner Winterstiefel immer wieder weg. Er wich ins Gelände aus, sooft er konnte. Der Schnee schob sich ihm unter die Hose. Er trug lange Socken und hatte die Stiefel fest geschnürt, daher machte es ihm nichts. An der Stelle, an der die Straße nach Westen schwenkte und über einem Kiefernwäldchen die Türme der Stiftskirche auftauchten, dachte er seit zehn Jahren immer das Gleiche: Warum bin ich hierher gezogen? Natürlich hatte er inzwischen hundert verschiedene Antworten gefunden: Irene, die es so gewollt hatte, weil sie zweimal bei den Symphonikern abgeblitzt war, oder die Kinder, für die man sich bessere Entwicklungsmöglichkeiten ausmalte, oder die Luft, die Berge, die fixe Idee, die Landbevölkerung sei weniger psychopathisch, oder natürlich die Sache mit Frege – wirklich zufrieden stellte ihn das alles nicht. Die übliche Flucht aus der Großstadt? Der Hang zur Idylle? Das breitere Spektrum im Beruf? Egal. Er formte einen Schneeball und warf ihn in die Baumkronen.
Er nahm die Abkürzung über jene weite, sanft gegen Süden geneigte Fläche, die im Sommer ein Mais- oder Rübenfeld war, und erreichte die Bundesstraße nahe der Abzweigung zur biologischen Beobachtungsstation. Ihm war warm. Er schlüpfte aus den Handschuhen und steckte sie beidseits in die Jackentaschen. Nach dem Ortsschild begann der Gehsteig. Horn stampfte ein paarmal kräftig auf, sodass der ärgste Schnee von seinen Hosenbeinen fiel. Der Eintritt in die zivilisierte Welt, dachte er.
Die Pappelallee, die in spitzem Winkel abzweigte, wurde nach ein paar hundert Metern zur Siedlungsstraße. Ein Satteldachhaus aus den siebziger Jahren neben dem anderen. In den Vorgärten standen erleuchtete Weihnachtsbäume. Da und dort rauchte ein Schornstein. Er stellte sich vor, wie drinnen die Leute aus den Badezimmern kamen und an halbleeren Kekstellern vorbeigingen.
Irene saß vermutlich mit dem Cello und probierte ihren neuen Bogen aus, Tobias schlief und Michael war mit seiner Freundin am Vortag gleich wieder abgereist. Er geriet mit seiner Mutter nach wie vor in Konflikt, sobald er sie sah, und auch Irene gelang es nicht, aus dem alten Schema auszusteigen. Immerhin hatte er die Geschenke mitgenommen. Ein dunkelgrauer Wollpullover von Timberland und das neue Album von Nick Cave; der Rest fiel Horn nicht ein. Gabriele, Michaels Freundin, war nett. Dunkles, borstiges Kurzhaar, ein wenig grobknochig, ruhig, keine sichtliche Konkurrenz für Irene. Sie hatte ihm ein Moleskine-Notizbuch geschenkt. Er trug es bei sich und war immer noch überrascht, wie sehr sie damit den Punkt getroffen hatte.
Die Gaiswinklerstraße nach rechts, bis zum Fluss. Der Blick auf die langgezogene Schotterbank am anderen Ufer, auf die groben Felsblöcke des Dammes und auf die Hausfassaden darüber. Ein Stück flussabwärts, knapp vor der Straßenbrücke, war an der Böschung das Pegelmaß zu sehen. Das letzte Hochwasser hatte es vor zweieinhalb Jahren gegeben, damals im August, als in Niederösterreich der Kamp aus den Ufern getreten war und ein Stück nordöstlich die Enns die ganze Stadt Steyr unter Wasser gesetzt hatte. Hier hatten lediglich einige Kühltruhen dran glauben müssen, und die Computeranlage einer Handelsfirma, die man dummerweise im Kellergeschoss installiert hatte. Sonst war nichts passiert. Das Krankenhaus lag auf einem Hügel, dreißig Meter oberhalb des Wasserspiegels, absolut sicher, so hieß es.
Horn überquerte den Parkplatz und nahm wie immer den Nebeneingang. Wenn ihn jemand fragte, warum er das tat, sagte er: »Ich ertrage am Morgen den Anblick des Portiers nicht«, aber in Wahrheit stand vermutlich irgendein blöder Zwang dahinter.
Hinter den Türen des Zentrallabors surrten die Zentrifugen, dann lachten mehrere Leute gleichzeitig. Eine der Deckenleuchten am Gang flackerte nervös. Er stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Vor dem Eingang zur Kinderabteilung traf er Elfriede, die unterwegs zur Stationsschwesternbesprechung war. Sie sah rund und rotwangig aus wie immer und stolperte über die Worte, als sie ihm im Nachhinein frohe Weihnachten wünschte. »Der Nebel legt sich über die Stadt«, sagte er, »das heißt, der See wird auch in den nächsten Tagen nicht zufrieren.« Sie rief ihm über die Schulter etwas von ›eislaufen‹ zu, dann war sie weg.
Horn hatte sein Dienstzimmer im hintersten Winkel von K 1, der allgemeinen Pädiatrischen Station. Das bedeutete, dass es im Allgemeinen sehr ruhig war, lediglich zur Besuchszeit hörte er auf dem Gang die aufgeregten Mütter oder quengeligen Geschwister der Patienten. Ab und zu knallte ein Ball gegen die Tür oder ein Dreirad, aber das hatte ihn noch nie gestört.
In der Früh stand er in der Regel für eine Weile am Fenster: Der Blick über den Fluss und den Schilfgürtel hin zum Abflussbereich der Ache, dahinter der See und die Felswände. ›Darum bin ich hierher gezogen‹, dachte er, ›genau darum.‹ Er hängte die Jacke in den Schrank, stellte die Stiefel vor die Heizung und schlüpfte in seine Arbeitsschuhe. Die Kollegen hatten ein wenig gegrinst, als er zum ersten Mal mit den blauen Adidas Rekord gekommen war. »Es gibt sie wieder«, hatte er gesagt, »ich war damals sechzehn, und das ist die einzige Zeit im Leben, in der man die innere Sicherheit hat, etwas bewegen zu können.« Einige hatten zugestimmt, und Sellner, der Oberarzt von I 21, hatte erzählt, dass er seinerzeit zur Puma-Fraktion gehört habe, und wenn er recht überlege, sei es längst fällig, die Sache wieder aufleben zu lassen.
Zur Morgenbesprechung auf der Internen gab es Kaffee und Kekse. Das war sonst nie so. Außerdem kam Leithner, der Primarius, fünf Minuten zu spät. Das war sonst auch nie so. Er murmelte eine Entschuldigung, die niemanden interessierte, und pauschale Weihnachtswünsche. Dann stellte ihm Inge Broschek, seine Sekretärin, einen Teller mit Christstollen vor den Bauch. Einige lachten. Leithner aß üblicherweise im Stehen, und es gab jede Menge blöde Witze über die Mahlzeiten bei ihm zu Hause.
Cejpek hatte Oberarztdienst gehabt. Er berichtete über eine junge Frau, die mit wilden Herzrhythmusstörungen eingeliefert worden war und die Mannschaft den Nachmittag und die halbe Nacht über in Atem gehalten hatte. Dann hatte ihr Lebensgefährte zwei leere Packungen von einem alten Antidepressivum dahergebracht, und es war alles klar gewesen. So oder so wäre sie auf der Intensivstation gelandet. Horn nickte nur, als Cejpek und Leithner ihn vielsagend anschauten. Er würde sich mit der Frau beschäftigen, sobald sie so weit war. Darüber hinaus hatte es einen Diabetiker gegeben, der immer wieder in Hypoglykämien verfallen war, weil er die Insulintypen verwechselt hatte, eine sechzigjährige Frau mit einem frischen Hinterwandinfarkt und einen hundertdreißig Kilo schweren Mann mit einem Gichtanfall im rechten Großzehengrundgelenk, für den von Anfang an niemand auch nur die Spur von Mitleid gehabt hatte. Zwei Patienten waren verstorben, ein Mann, der schon längere Zeit im Lungenödem gelegen war, und eine siebenundneunzigjährige Frau. Die Menschen mit den grippalen Infekten hatte man mit Aspirin und guten Wünschen wieder nach Hause geschickt, und auf den Stationen hatte tatsächlich Weihnachtsruhe geherrscht.
Einige von Horns Patienten waren vorzeitig aus der Beurlaubung zurückgekehrt, unter anderem Caroline Weber. Sie hatte sich nach eineinhalb Monaten immer noch nicht vollends von ihrer Wochenbettpsychose erholt und war am Abend des fünfundzwanzigsten Dezember von ihrem Gatten ins Spital gebracht worden, weil sie wieder begonnen hatte zu glauben, ihre neugeborene Tochter sei der Teufel. Horn wusste bereits davon, denn man hatte ihn zu Hause angerufen und um eine Medikationsvorschreibung gebeten. Caroline Weber war achtundzwanzig Jahre alt, ihr Mann war ein geduldiger Baggerfahrer, und auf die Frage, wie viele Kinder sie insgesamt wollten, hatte er gesagt: »Na, schon noch ein paar.«
Sie bereitete ihm Sorgen. Ihre Mutter war vor einigen Jahren auf einen abgestellten Güterzugwaggon geklettert und hatte beide Arme über das Kabel der Oberleitung gelegt. Danach hatte man in der Wohnung mehrere Zettel gefunden, auf denen die Frau endlos lange Bußgebete notiert hatte. Ihr Mann, Carolines Vater, war wenig später zu einer pummeligen weißblonden Frau gezogen. Caroline sprach kaum jemals über ihn. Einmal sagte sie: »Es ist wurscht, ob man über meinen Vater etwas weiß oder nicht.« Mutter tot, Vater gewissermaßen auch tot, das Kind der Teufel – da gab es gnädigere Schicksale.
Horn ertappte sich dabei, wie er sich sich selbst mit einem kleinen krähenden Mädchen auf dem Arm vorstellte und Michael und Gabriele dazu als strahlende Eltern. Irene würde sich im Hintergrund halten und etwas von den Männern murmeln, die sich in Wahrheit immer eher ein Mädchen wünschen. Alle wären ziemlich entspannt. Ein neues Element, dachte er, führe ein neues Element ein, und die Dinge verändern sich. Außerdem fragte er sich, ob er mit achtundvierzig fürs Großvaterwerden nicht ein wenig zu jung war.
Lili Brunner, die kleine runde Assistenzärztin, stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite. Er schreckte auf. Die anderen starrten ihn an. »Entschuldigung, ich hatte gerade einen komischen Gedanken«, stammelte er. »Einen Tagtraum«, sagte Cejpek ein wenig süffisant. Cejpek wurde nicht müde zu behaupten, er selbst sei ein hundertprozentiger Naturwissenschafter und die Psyche eine höchst absurde Organisationsform von Materie. Andererseits wies er Horn jeden zweiten seiner Patienten zur Begutachtung zu. »Ein höherer Beamter in der Landesstraßenverwaltung«, erzählte er, »ich war so stolz, dass wir seine Hypertonie in den Griff bekommen haben, und jetzt wird er von Tag zu Tag depressiver.«
»Das gibt es«, sagte Horn.
»Da bin ich aber froh«, ätzte Cejpek und griff sich ein Stück Lebkuchen.
Horn grinste. »Es ist immer besser, die Leute haben etwas, das man kennt«, sagte er. Lili Brunner schaute missbilligend. Sie war in der ärztlichen Kollegenschaft so was wie die Fahnenträgerin der Ernsthaftigkeit. Dazu passte, dass sie sich seit mehr als einem Jahr mit dem Aufbau einer Hospizstation befasste – obwohl sie in Hinblick auf den Tod keine traumatischen Kindheitserlebnisse vorzuweisen habe, wie sie Horn gegenüber immer wieder betonte. Man fühlte sich von ihr jedenfalls ständig moralisch überprüft, und manchmal fragte er sich, ob sie nicht irgendeinem geheimen Orden angehörte.
Der Rest war Geplänkel. Weihnachtsmenü hin, undankbare Kinder her. Wir haben heuer eine Blautanne, und du kannst dir nicht vorstellen, wie schnell so ein runtergefallener Sternspritzer ein Loch in den Teppich frisst. Unter anderem versuchte man aus Inge Broschek herauszukriegen, ob sie das pelzbesetzte Prada-Täschchen, von dem sie seit ewig schwärmte, bekommen hatte oder nicht. Ohne Erfolg. Am Ende stand sie auf, wischte ein paar Brösel von ihrem Rock, warf den Kopf zurück und verließ mit einem sphinxischen Lächeln das Konferenzzimmer. Horn war ziemlich sicher, dass Leithner ihr das Ding gekauft hatte; er sagte jedoch nichts.
In seinem Fach im Sekretariat lag ein kleiner Stapel Zuweisungen. Er rollte sie ungelesen zusammen. Nur nichts überhasten, dachte er, eins nach dem anderen, zu Weihnachten ganz besonders.
Er schaute durch Inge Broscheks Fenster auf den Fluss hinaus. Der Nebel kroch den Hügel hoch. »Und da soll man nicht depressiv werden«, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. Die Broschek reagierte nicht. Er war froh. Irgendwas fehlte. Er kam nicht drauf.
Der Wartebereich der Ambulanz war locker besetzt. Eine magere Frau, die offensichtlich schlecht Luft bekam. Ein älterer Mann, der im Sitzen eingeschlafen war. Reisberger, der Drogist, der seine Hand an die linke Brustseite krallte und ziemlich sicher wieder keinen Herzinfarkt erlitten hatte. Ein Elternpaar links und rechts von einem Knaben, um dessen Unterarm anscheinend ein ganzes Arsenal elastischer Binden gewickelt worden war. Einige Menschen, die er nur aus den Augenwinkeln wahrnahm. Von seinen üblichen Verdächtigen war nur Schmidinger darunter, rotgesichtig, mit einem deutlichen Fettglanz auf der Stirn. Nein, ich lasse mir die Laune nicht verderben, dachte Horn.
Linda saß am Empfang. Sie trug einen naturweißen Pullover aus Merinowolle und verströmte auch sonst Festtagsfreude. »Das Tragen solcher Pullover sollte man Krankenschwestern verbieten«, sagte Horn. Sie lächelte und streckte ihm die Schulter hin. »Weihnachten. Sie dürfen ihn angreifen«, sagte sie.
»Trau ich mich nie.«
»Warum nicht?«
»Dann kommt womöglich Ihr Reinhard mit der Kettensäge.« Sie lachte. Lindas Freund arbeitete als Referatsleiter in der Gebietsforstverwaltung und war in Wahrheit ein extrem sanfter Mensch. »Der weint jedes Mal, wenn er einen Baum zum Fällen freigeben soll«, hatte Reiter, der Assistent auf der Unfallchirurgie, geätzt. Jeder wusste, dass Reiter Linda gern abgeschleppt hätte, mit all seinen schwarzen Locken und neonfarbenen Hugo-Boss-Hemden jedoch nicht die Spur einer Chance hatte. Linda war eine dieser Rothaarigen, bei denen jede einzelne Sommersprosse ein Stück Selbstsicherheit repräsentierte. Horn dachte kurz an Irene. Sie wirkte in letzter Zeit erschöpft und ein wenig distanziert. Vielleicht lag es auch nur an der Sache mit Michael.
Linda drückte ihm drei Karteikarten in die Hand. »Schmidinger, ein Neuer und Heidemarie. Sie ist noch nicht da, hat aber angerufen.« Horn freute sich. Heidemarie, die Studentin mit der nettesten Depression der Welt. »Ich hätte sie so oder so als Letzte drangenommen«, sagte er, »am Schluss soll man sich etwas Gutes tun.« Linda legte die Stirn in Falten.
Im Ambulanzzimmer stand ein kleines Fichtenreisiggesteck auf dem Tisch. Eine dunkelrote Kerze mit goldenen Sternen. Die superkitschige Idylle war in Wahrheit eine der wenigen Angelegenheiten, die das Leben erträglich machten. Er hatte auch einige Zeit gebraucht, um sich das einzugestehen. Man soll sich etwas Gutes tun, dachte er. Am Schluss immer etwas Gutes und die Kacke nach Möglichkeit gleich am Anfang. Die volle Kacke. Er ließ Schmidinger aufrufen.
Ein unsägliches Rasierwasser, dahinter der Geruch von Fußschweiß. »Ich sage Ihnen, ich bin am Ende!« Horn hatte gewusst, dass so etwas kommen würde. Am Ende. Am Boden. Zerstört. Kaputt. Vollkommen fertig. Der Mann saß in seinem karierten Sakko mit den Lederflecken auf den Ellbogen da, hatte vorne die Fingerspitzen unter den Gürtel geschoben und leckte sich ständig die Lippen. »Inwiefern am Ende?«, fragte Horn.
»Meine Frau … Sie wissen schon.«
»Provoziert sie Sie wieder?«
Diese Augen, dachte Horn, diese kleinen bösen Augen, die herumrollen wie zwei rot marmorierte Murmeln. Die Nase, vorne ein wenig hochgedreht, und die aufgeworfenen Lippen, über die in einem fort die Zungenspitze wanderte. In manchen Momenten ertrage ich meinen Beruf nicht, dachte Horn.
Norbert Schmidinger hatte die Nutzbarkeit der Psychiatrie vor einiger Zeit kennen gelernt, kurz nachdem er die damals eineinhalbjährige Melanie erstmals gegen die Wand geworfen hatte. Ein Nervenarzt aus Linz hatte ihm in einem Gefälligkeitsgutachten eine vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit attestiert und auf diese Weise das Gefängnis erspart. Ab diesem Zeitpunkt war Schmidinger regelmäßig beim Psychiater aufgetaucht, jeweils knapp nachdem seine Frau oder eine seiner drei Töchter Kontakt mit der Unfallchirurgie oder der Polizei gehabt hatten. Horn selbst hatte ihn im Zuge eines Berufungsverfahrens gegen eine gerichtliche Wegweisung kennen gelernt und letztlich nicht umhin können, ihm eine gewisse Behandlungsbereitschaft zu bestätigen. Er hatte sich danach über mehrere Wochen hinweg elend gefühlt.
»Meine Frau … Sie wissen schon … wie immer.«
»Ich wette, sie hat Sie sogar unter dem Weihnachtsbaum provoziert.«
»Wer das nicht erlebt hat …«
»Zum Beispiel mit einem Geschenk, von dem sie sicher sein konnte, dass Sie es hassen?«
»Sie können sich nicht vorstellen …«
»Die Töchter haben vermutlich schon am Vortag begonnen. Beim Schmücken des Baumes.«
»Ich bemühe mich so!«
Wen hat es diesmal erwischt?, dachte Horn – Renate, seine Frau, oder wieder einmal Birgit, die Jüngste? Sie war gerade erst fünf.
»Wen hat es diesmal erwischt?«
Die rot geäderten Murmeln blieben für eine Sekunde hängen. Dann sog Schmidinger die Luft durch die Zähne ein. »Sie wissen, wie das ist«, sagte er, »Sie haben selbst diese gescheiten Sachen über meine Impulskontrolle geschrieben.«
Warum hat man so eine verdammte Scheu, die Dinge hinzuschreiben, wie sie sind, fragte sich Horn, warum schreibt man nicht ›schwerer Psychopath‹ und unterstreicht es doppelt, wenn jemand vor einem sitzt, auf den das ohne Zweifel zutrifft?
»Es gibt Leute, hab ich gelesen, die können nicht auf einem Bein stehen, so sehr sie es auch üben«, sagte Schmidinger, »und wenn man so ein Defizit hat wie ich, ist es auch nicht anders, denke ich.«
»Wen hat es erwischt?«, fragte Horn, »wer hat dieses Defizit zu spüren bekommen?« Schmidinger gab keine Antwort, sondern knetete sein Bauchfett und leckte sich die Lippen.
»Sie sehen, ich bin hergekommen. Ich drücke mich nicht. Ich möchte mich ja behandeln lassen«, sagte er dann und grinste schief.
Horn spürte einen winzigen Schwindel. Es reicht, dachte er, es reicht absolut. Außerdem versaut mir keiner die Weihnachtstage, keiner, am allerwenigsten so jemand!
»Nehmen Sie Ihr Medikament noch?«
Schmidinger schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich habe schon nach einer Woche Gleichgewichtsstörungen bekommen.«
Hautausschlag, dachte Horn, ich hätte auf Hautausschlag getippt. Das steht auf dem Beipackzettel in der Rubrik ›häufige Nebenwirkungen‹ noch vor den Gleichgewichtsstörungen. Die Provokation durch das Nächstliegende war ihm immer schon speziell zuwider gewesen. Er verordnete Schmidinger zweimal eine halbe Tablette Clozapin und bestellte ihn zur Kontrolle in einer Woche. »Und wenn Sie nicht kommen, bestätige ich Ihnen gar nichts mehr«, sagte er. Schmidinger faltete das Rezept, steckte es ein und erhob sich. »Danke«, sagte er, »ganz herzlichen Dank.« Als er ging, grinste er immer noch schief.
Horn riss das Fenster auf. Draußen fuhr ein Container-LKW mit aufgemalten Karotten vor. Schmidinger würde vermutlich nicht kommen. Er hatte das Rezept und würde damit seine Behandlungswilligkeit nachweisen, wenn es irgendjemand von ihm verlangte.
Er macht mich rasend, dachte Horn, als er hinausging, ich versuche mich dagegen zu wehren, aber er macht mich wirklich rasend. »Wenn die Polizei nach ihm fragt«, wies er Linda an, »kriegen sie ausnahmsweise jede Auskunft.« Linda war damit hundertprozentig einverstanden. »Dafür gibt’s nachher Kekse«, sagte sie. Wonach es Horn in diesem Moment am allerwenigsten gelüstete, waren Kekse. Jetzt würde ich sie gerne angreifen, dachte er.
Der Neue wirkte panisch. Vielleicht dreißig Jahre alt, blass, in Hemd, Sakko und einer Cordhose, die nicht dazupasste. Er setzte sich erst, als Horn ihm versicherte, es werde ihm unter Garantie nichts passieren. Er erinnerte ihn an jemanden. Horn kam nicht drauf. »Sind hier drin Tiere?«, fragte der Mann, »sagen Sie mir bitte, ob in diesem Raum Tiere sind!« Horn schüttelte den Kopf. Manche Dinge entschlüsselten sich rasch. »Wie lange haben Sie keinen Alkohol mehr getrunken?«, fragte er. Der Mann zuckte zusammen, dann schaute er Horn direkt an. Mit einem Mal wirkte er ziemlich entlastet. »Wie kommen Sie drauf?«, fragte er. »Wenn das Elend groß genug ist, glauben die Leute immer, sie sind damit allein«, sagte Horn. Dann erzählte er von den jungen Herren, die den Stress vom Arbeitsplatz mit nach Hause nehmen und erst loslassen können, wenn sie sich ein paar Gramm Alkohol genehmigt haben, die, sobald mit der Position der Druck steigt, auch untertags auf dieses bewährte Mittel zurückgreifen und sich zeitlich gut verteilt die Schnäpse hinter die Binde gießen, die schließlich während des Weihnachtsurlaubes, weil auch das Spielen mit den Kindern und das Schlafen mit der Frau entspannt, auf die Zufuhr dieser paar Gramm Alkohol vergessen. »Und schon schickt ihnen das Hirn die weißen Mäuse vor die Kamera«, sagte Horn. Er holte ein Fläschchen Diazepam-Lösung aus dem Schrank und zählte fünfundvierzig Tropfen in einen kleinen Becher. »Sie schlucken das jetzt und setzen sich noch einmal für zwanzig Minuten in den Warteraum«, sagte er, »dann sehen wir weiter.« Der Mann machte den Eindruck, als wäre er auch bereit gewesen, zwanzig Minuten lang die Luft anzuhalten, wenn man es von ihm verlangt hätte. Er zitterte zum Gotterbarmen, als er hinausging.
»Er erinnert mich an jemanden«, sagte Horn und steckte sich ein Aniskeks in den Mund. »Pippin«, sagte Linda.
»Wie bitte?«
»Er sieht aus wie Pippin, dieser eine Hobbit aus dem ›Herrn der Ringe‹. Eine Spur größer vielleicht.« Ein Bild erhob sich vor Horns innerem Auge. Ein kleiner Mann mit einem ziemlich verzweifelten Lächeln. Linda hatte recht, ohne Frage. Er selbst hatte den dritten Teil gemeinsam mit Tobias im Kino gesehen. Am Ende war Tobias bei weitem frischer gewesen, obwohl er sich den gesamten Marathon reingezogen hatte. Zehn Stunden am Stück.
»Säuft Pippin?«, fragte er. »Sicher«, sagte Linda, »jeder Hobbit säuft. Würden Sie nicht saufen, wenn Sie ein Hobbit wären?« Darauf wusste Horn nichts zu sagen. Außerdem wehte soeben Heidemarie herein. Sie trug einen grauen Webpelzmantel und ein dunkelrotes Stirnband. »Eine Elbenprinzessin«, murmelte Linda. Er hatte keine Ahnung, ob sie eifersüchtig war. Den Spruch von den väterlichen Gefühlen konnte man sich bei ihr jedenfalls sparen, das stand fest.
Heidemarie sah verweint aus. Es stellte sich heraus, dass sie einige schlaflose Nächte hinter sich hatte, voll von Stunden, in denen ihre Gedanken am Ende immer um Fragen der Zuverlässigkeit diverser Selbstmordmethoden gekreist waren. Zu Weihnachten hatte sie von ihren Eltern Geld bekommen, eine mittlere Summe, in einem fleckigen Briefkuvert, begleitet von dem Kommentar, so sei es am einfachsten, bei ihr müsse man sowieso immer damit rechnen, dass sie die Dinge, die man ihr schenke, ablehne. »Sie können nicht anders«, sagte sie, »gegenseitig schenken sie sich gar nichts.« Schon vor Jahren hätten sie das so ausgemacht. Wahrscheinlich fußen die meisten Beziehungen in Wahrheit auf der Übereinkunft, nichts miteinander zu tun haben zu müssen, dachte Horn.
Sie sprachen über die Weihnachten ihrer Kindheit, über die Leere des riesengroßen Wohnzimmers und über die mit Lametta behängten Christbäume. Die Musik sei natürlich von der Schallplatte gekommen und das Essen sei ausnahmslos fürchterlich gewesen. Einzig von einer Großtante, die man zehn, zwölf Jahre lang am Heiligen Abend für ein paar Stunden in der Familie geduldet habe, habe sie sich verstanden gefühlt. Als die Tante schließlich an den Folgen einer Herzmuskelentzündung gestorben sei, habe ihre Mutter gesagt: »Na, Gott sei Dank, jetzt ist Ruhe!« Vielleicht habe damals dieses Gefühl der Einsamkeit begonnen, genau wisse sie es nicht. Ich möchte sie in den Arm nehmen, dachte Horn, und zugleich wusste er, dass eben das im Grunde schon die Diagnose war. Man schreibt ›Depression‹ hin, dachte er, verordnet ein Medikament und weiß, dass es immer mit dem Wunsch zu tun hat, in die Arme genommen zu werden.
»Wissen Sie, was das Schlimmste ist?«, sagte sie nach einer Weile, »das Schlimmste ist, wenn man merkt, wie man sich selbst verloren geht; wie das, von dem man gemeint hat, es mache einen aus, aus einem heraussickert. Am Ende ist das, was von einem übrig bleibt, ein leerer Sack, sonst nichts.« Horn wusste dazu nichts zu sagen. Mit zunehmendem Alter weiß man zu gewissen Dingen nichts mehr zu sagen, dachte er.