image

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

www.residenzverlag.at

Band I © 1995
Band II © 2012

© 1995 Residenz Verlag

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

ISBN ePub:

Wendelin Schmidt-Dengler

Bruchlinien

Vorlesungen zur österreichischen Literatur
1945 bis 1990

image

Inhalt

 

Ein kleines Avant-propos

I

1945–1966

1.

Einleitung

2.

Politische Entwicklung

3.

1945 bis 1948

 

3.1. Die Verlage

 

3.2. Die Autoren

 

3.3. Zeitschriften: Der Plan

 

3.4. Ernst Fischer: Die Entstehung des österreichischen Volkscharakters (1945)

 

3.5. Fritz Hochwälder: Das heilige Experiment (1941/42)

 

3.6. Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung (1948)

 

3.7. Zeitschriften: das silberboot

 

3.8. Zur Spezifikation der Situation in Österreich

4.

1948 bis 1955/56: Die Phase der Restauration

 

4.1. Im Niemandsland

 

4.2. Okopenko, Kräftner, Bachmann

 

4.3. Zeitschriften: Stimmen der Gegenwart

 

4.4. Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege (1951)

 

4.5. Gerhard Fritsch

 

4.6. Ernst Jandl

5.

1955/56 bis 1966

 

5.1. Zeitschriften: Wort in der Zeit

 

5.2. Hans Lebert: Die Wolfshaut (1960)

 

5.3. Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr (1961)

 

5.4. H. C. Artmann

 

5.5. Die Wiener Gruppe

 

5.6. Albert Paris Gütersloh: Sonne und Mond (1962)

 

5.7. Doderers Romantheorie und Die Wasserfälle von Slunj (1963)

 

5.8. Thomas Bernhard: Frost (1963)

 

5.9. Marlen Haushofer: Die Wand (1963)

 

5.10. Graz – Forum Stadtpark und manuskripte

 

5.11. Peter Handke: Die Hornissen (1966)

II

1970–1980

1.

Einleitung

2.

Literatur nach dem Tod der Literatur

3.

Umorientierung 1968

 

3.1. Lyrik

 

3.2. Drama

 

3.3. Erzählende Prosa

4.

Zwischenbilanz

5.

Ingeborg Bachmann: Malina (1971)

6.

Peter Handke: Wunschloses Unglück (1972)

7.

Wolfgang Bauer: Gespenster (1973)

8.

Umorientierung: Ein Intermezzo

9.

Franz Innerhofer: Schöne Tage (1974)

10.

H. C. Artmann: Aus meiner Botanisiertrommel (1975)

11.

Thomas Bernhard: Der Keller (1976)

12.

Elias Canetti: Die gerettete Zunge (1977)

13.

Identitätsprobleme – Zur österreichischen Identität der österreichischen Schriftsteller

14.

Gernot Wolfgruber: Niemandsland (1978)

15.

Josef Winkler: Menschenkind (1979)

16.

Österreichs Autoren und die Geschichte – ein kurzer Ausblick

III

1980–1990

1.

Einleitung

2.

Zum Status quo von 1979/80

3.

Eine notwendige Vorgeschichte

4.

Ernst Jandl: Aus der Fremde (1979)

5.

Gerhard Roth: Der Stille Ozean (1980)

6.

Gernot Wolfgruber: Verlauf eines Sommers (1981)

7.

Im Zeichen des Kreuzes. Josef Winkler: Muttersprache (1982)

8.

Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin (1983)

9.

Thomas Bernhard: Ritter, Dene, Voss (1984); Alte Meister (1985)

10.

Josef Haslinger: Der Tod des Kleinhäuslers Ignaz Hajek (1985)

11.

Marianne Fritz: Dessen Sprache du nicht verstehst (1985)

12.

Peter Handke: Die Wiederholung (1986)

13.

Friedrike Mayröcker: Reise durch die Nacht (1984)

14.

Christoph Ransmayr: Die letzte Welt (1988)

15.

Werner Kofler: Hotel Mordschein (1989)

16.

Ein kurzer Ausblick

 

Bibliographie

 

Personenregister

Ein kleines Avant-propos

Diesem Buch liegen Vorlesungen zu Grunde, die ich in der Zeit von 1982 bis 1994 an der Universität Wien gehalten habe; an dem Text des Vortragsmanuskripts wurden kaum Änderungen vorgenommen: Was hier zu lesen ist, war bestimmt für den Alltag der Lehre, gedacht als Diskussionsgrundlage und Information vor allem für jene, die später als Lehrer an Schulen gerade über diese Epoche der österreichischen Literatur Auskunft geben müssen oder zumindest sollen. Damit ist auch eine gewisse Distanz zu einer wissenschaftlichen Zielsetzung im engeren Sinne angedeutet; obwohl ich mich bemüht habe, Ergebnisse der jüngeren Forschung einzuarbeiten, so war doch eine eingehende Darstellung des Forschungsstandes weder möglich noch angestrebt. In vielen Fällen sah ich mich auf oft nur wenige Rezensionen angewiesen; wo es mir möglich war, habe ich versucht, dem Rezeptionsprozeß in der Literaturkritik und in der Literaturwissenschaft Konturen zu geben. Ältere Texte habe ich mit Absicht nicht überarbeitet, und dies vor allem deshalb, weil ich – und man verzeihe die Hartnäckigkeit – meine Auffassung im gewählten Genre des Vortrags für nach wie vor vertretbar hielt. So sei der Leser auch gebeten, den jeweiligen zeitlich begrenzten Horizont des Vortragenden zu berücksichtigen, aber es schien mir im nachhinein nicht angebracht, kosmetische Korrekturen vorzunehmen. Der älteste Text behandelt die Zeit von 1970 bis 1980; diese Vorlesung wurde im Sommersemester 1982 gehalten; die Zeit von 1980 bis 1990 habe ich im Wintersemester 1991/92 und die Zeit von 1945 bis 1966 im Wintersemester 1993/94 behandelt. Die vier Jahre zwischen 1966 und 1970 fallen freilich nicht unter den Tisch – und auch das Jahr 1968 nicht. Auf diese Phase, die vor allem in Österreich im innerästhetischen Bereich eine große Bedeutung hatte, komme ich mehrfach im einschlägigen Zusammenhang zu sprechen. Dies als Aviso, um die unterschiedliche Stillage der einzelnen Texte zu erläutern. Im ursprünglichen Manuskript gab es – naturgemäß – einige Doubletten; diese habe ich getilgt, habe sie aber in ganz wenigen Fällen belassen, wo eine Entfernung aus dem Zusammenhang sich allzu störend ausgewirkt hätte. Der »Beobachtungszeitraum« ist mit 1990 begrenzt, eine Zäsur, die freilich einer eingehenderen Rechtfertigung bedürfte; ich möchte jedoch auch hier das »annalistische Prinzip« in Rechnung stellen, das sich für eine solche Nah-Sicht der Literatur und der Geschichte am ehesten bewährt. Im Jahre 1989 ist Thomas Bernhard gestorben, und Peter Handke meinte 1992 in einem Gespräch, er würde es vorziehen, nicht von einer »Ära Waldheim« zu sprechen, sondern – bei allem, was ihn von diesem Autor trenne – von einer »Ära Bernhard«, ein bedenkenswerter Hinweis.

Wie problematisch der Umgang mit neuerer Literatur auf akademischem Terrain ist, ist jedem Einsichtigen einsichtig. Walter Benjamins berühmte und sehr ernst zu nehmende Warnung vor dem fragwürdigen Ehrgeiz der Wissenschaft (und im besonderen wohl der Germanistik), »an Informiertheit es mit jedem hauptstädtischen Mittagsblatt aufnehmen zu können«, erörtere ich auch zu Beginn der dritten Vorlesung und versuche, das Unternehmen zumindest einmal für die didaktische Praxis zu rechtfertigen. Hier sei auch die kritische Gegenfrage zur Äußerung Benjamins erlaubt, ob der Ehrgeiz der Literaturwissenschaft dahin gehen solle, es an Uninformiertheit mit dem »hauptstädtischen Mittagsblatt aufnehmen zu können«. In seiner Rede über die Dummheit hat Robert Musil »die würdige Gestalt eines Professors der Literaturgeschichte« beschworen, »der, gewohnt, auf unkontrollierbare Entfernungen zu zielen, in der Gegenwart unheilstiftend danebenschießt« – auch dies ein Bild, das seinen Schrecken noch nicht verloren hat, vor allem – und das ist gewiß bei Musil mitgemeint – bei dem Gedanken, daß auch die Weitschüsse weit danebengehen müssen, wenn schon das Nahziel so eklatant verfehlt wird.

Auch scheint mir für die Praxis des Literaturwissenschaftlers die Alternative hie moderne, dort alte Literatur völlig falsch zu sein; nur für den, der sich auf die Literatur seiner Zeit nach Kräften einläßt, wird auch die ältere Literatur große Leuchtkraft erhalten, was wohl auch andersherum gelten dürfte.

Die Schwierigkeiten der Auswahl, der Wertung, der Methode der Interpretation – das alles kann und will ich nicht ausbreiten; manchmal habe ich das Gefühl, daß ein solcher Textkörper wie der einer Vorlesung nur aus Achillesfersen besteht – was den Kritikern die Arbeit leichtmachen dürfte. Ich habe viel weniger Autoren berücksichtigen können, als mir lieb ist; viele, deren Werk ich sehr schätze, habe ich nicht oder nur am Rande behandeln können. In einem Essayband, den ich vorbereite, möchte ich wenigstens einige dieser Lücken schließen. Wertungen bin ich grundsätzlich nicht aus dem Weg gegangen, vor allem aber habe ich Texte behandelt, deren Lektüre mir nach wie vor wichtig zu sein scheint; noch nie zuvor hat die Literatur so zu einer differenzierten Bestimmung der österreichischen Identität beigetragen wie in der Zeit nach 1945, nie zuvor war die Besonderheit der österreichischen Literatur so sehr Gegenstand kontrovers geführter Debatten. Die produktiven Ansätze zur Beschreibung der österreichischen Literatur, wie sie vor allem Claudio Magris, Ulrich Greiner, Walter Weiss und Robert Menasse vorgelegt haben, sind mitbedacht; auch die Institutionengeschichte der Literatur habe ich berücksichtigt, wenngleich nicht so einläßlich, wie dies Klaus Zeyringer in seinem Buch über die Literatur der achtziger Jahre unter dem Titel Innerlichkeit und Öffentlichkeit besorgt hat. Im Rahmen dieser Vorlesungen ist es mir aber mehr darauf angekommen, von den einzelnen Texten auszugehen und sie nicht auf ein – wie auch immer beschreibbares – Österreichisches festzulegen. Es kommt mir eher auf die Differenzen an, auf die Risse, auf die Verwerfung und auf die Übernahme von Traditionen, auf die Widersprüche in den Werken und in der Rezeption, kurzum auf die Bruchlinien, an denen Neues sichtbar wird. Doderer meinte in dem Traktat Die Ortung des Kritikers, daß den »Kunstleistungen« das, »was sie voneinander unterscheidet, ihr Einzigartiges und Unvergleichbares, kurz, das Ungemeine, weit wesentlicher [sei] als alles, was sie gemeinsam haben«. Und es ist die Crux des Literaturhistorikers, stets das Unvergleichliche vergleichen zu müssen.

Viele haben bei diesem Buch geholfen; vor allem will ich dem Verlag, und da besonders Jochen Jung danken, da er ebenso beharrlich wie freundlich nach dem Manuskript fragte und mich mit guten Worten ermutigte. Mit Rat und Tat haben mich in der Schlußphase Maximilian Kaiser, Andrea Portenkirchner, Johann Sonnleitner, Juliane Vogel und Martin Weinberger unterstützt. Danken möchte ich schließlich noch jenen Kolleginnen und Kollegen, ohne deren Publikationen und freundliche Mitteilungen ich die Vorlesungen nie hätte halten können, darunter vor allem auch jenen Studenten, mit denen ich viele der Texte in Konversatorien diskutiert habe.

Das Buch ist meiner Frau gewidmet.

Wien, im August 1995
Wendelin Schmidt-Dengler

I

1945–1966

1. Einleitung

Die Frage, ob es eine österreichische Literatur gebe, ist schon in die Jahre gekommen und daher verdientermaßen auch schäbig geworden; sie wird in bezug auf mangelnde Präzision lediglich von der Frage: »Was sind die Besonderheiten der österreichischen Literatur?« übertroffen. Die Frage war früher so etwas wie ein Dauerbrenner bei Symposien, und der Reiz, den sie vermittelte, lag wesentlich in der Gereiztheit der Disputanten. Schließlich war es nicht einzusehen, warum sich die Österreicher so beharrlich aus der deutschen Literatur hinauskatapultieren wollten, waren sie doch gerne gesehene Gäste in jenem großen Wirtshaus, das die deutschen Kritiker und Literaturhistoriker seit der Jahrhundertwende (des 20. Jahrhunderts) betreiben. Die Frage hatte auch ziemlich viel mit der Identität Österreichs nach dem Krieg zu tun, und sie ist in dieser Intensität vorher auch nie gestellt worden.

Wissenschaftstheoretisch kann man diese Fragestellung sehr wohl aber auch als obsolet abtun. Einerseits ist eine Literatur, die von solchen Verfassern geschrieben wird, die österreichische Staatsbürger sind, sehr wohl eine österreichische Literatur. Das ist genauso banal wie über jeden Zweifel erhaben, denn eine Aussage über diese Literatur stellt sich dadurch fürwahr nicht ein.

Die Standardfrage: »Was ist das Österreichische in der österreichischen Literatur?« vermag sogar die zu beschäftigen, die sich nicht hauptamtlich mit Literatur befassen, und es mag immerhin didaktisch ganz sinnvoll sein, das Problem überhaupt einmal als ein methodisches Problem in das Bewußtsein zu heben: Warum sollte man die österreichische Literatur von der deutschen abheben, warum sollen wir von einer »Eigenständigkeit« sprechen, warum soll überhaupt von der österreichischen Literatur als einer österreichischen die Rede sein? Geht es nicht mehr um die Qualitäten einer Literatur, die sich mit dem wie immer aufgefaßten Nationalen nicht verrechnen lassen? Ist es nicht jeder Literaturbetrachtung abträglich, ihren Gegenstand national zu definieren? Steckt in der Frage nach der Existenz und Besonderheit einer österreichischen Literatur nicht ein gefährliches Residuum eines nicht ausgelebten Nationalismus? Diese Fragen lassen sich allesamt als rhetorische erklären und auch bejahen. Zum andren wiederum verstört doch – und das wäre auch als ein deutscher Nationalismus »à rebours« zu deuten –, wenn da plötzlich Thomas Bernhard oder Peter Handke oder Ingeborg Bachmann schlicht als deutsche Dichter figurieren und fraglos in den Zusammenhang der »deutschen Literatur« eingebunden werden. Ich kann und will in diesem Kontext nicht auf die schier endlose Pathographie dieser Frage eingehen, die nun schon seit Jahren die Gemüter in Atem hält und von deutscher Seite gerne bagatellisiert wird, möchte sie aber doch nicht nur en passant behandeln.

Es geht mir darum, zu zeigen, auf welcher Ebene diese Frage diskutabel ist; sie ist auf jeden Fall nicht diskutabel auf der Ebene eines naiven Patriotismus, der meint, daß wir Österreicher endlich uns klarmachen sollten, etwas andres als die Deutschen zu sein, und zwar in dem Sinne, daß uns die Abgrenzung als die Besseren herausstellen würde, etwa als die besseren Deutschen – ein Konzept, das gerade in der Zeit des österreichischen Ständestaates (1934–1938) Karriere machte. Zum anderen wiederum scheint es mir durchaus angebracht, diese Abgrenzungen ernst zu nehmen. »Unterschiedenes ist gut«, heißt es bei Hölderlin, und über die Möglichkeiten dieser Unterscheidung zu reflektieren ist etwas, das sich durchaus auch wissenschaftlich rechtfertigen läßt.

Ich versuche zwei Punkte hervorzuheben, die mir für diese Unterscheidung von vordringlicher Relevanz zu sein scheinen:

1. Die österreichische Geschichte ist in ihrer Besonderheit zumindest seit 1806 von der allgemeinen deutschen Geschichte leicht trennbar. Es ist daher eine Tatsache, daß die historischen Grundlagen der österreichischen Literatur doch auch andere sind als die der deutschen. Um es an einer plakativen Beispielserie kundzutun: Die Jahre 1866, 1914, 1918, 1933, 1934, 1945 und 1955 haben für die österreichische Geschichte und damit auch für die österreichische Mentalitäts- und Literaturgeschichte eine ganz andere Funktion als dieselben Daten in der deutschen Geschichte. Sowohl die Existenz der Habsburger-Monarchie als auch die Existenz der Ersten und Zweiten Republik ist unbestreitbar, und diese politischen Gebilde haben in der Literatur auch unbestreitbar andere Folgen gehabt. Ich meine, daß damit zwar nur ein außerliterarisches Faktum berührt ist; finden wir uns aber dazu bereit, Literatur in einem Kontext mit ihren Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen zu beschreiben, so müssen wir davon ausgehen, daß die Literatur in Österreich hier von der deutschen geschieden werden kann.

2. Diesem Umstand hat die Literaturgeschichtsschreibung allerdings kaum oder nur selten Rechnung getragen. Die Geschichte der deutschen Literatur wird meist aus der Sicht Weimars, Hamburgs, Leipzigs, Berlins und neuerdings aus der Frankfurts geschrieben. Tatsache ist, daß die österreichischen Schriftsteller auf den deutschen Markt angewiesen sind; Tatsache ist, daß die österreichischen Schriftsteller oft erst auf dem Umweg über die Rezeption in Deutschland auch in Österreich wahrgenommen werden; Tatsache ist ferner, daß die österreichische Literatur eine Literatur in deutscher Sprache ist und daß sich diese Sprache in Österreich, nach den Einsichten der Sprachwissenschaftler, nur unwesentlich von dem in Deutschland normierten Deutsch unterscheidet. Und damit sind wir schon bei dem nächsten wichtigen Aspekt, nämlich beim Aspekt der Norm: Die Sprachnorm wird in Österreich meist mit Rücksicht auf die in Deutschland herrschende Norm vorgegeben, wie ja der jüngste Stand der Rechtschreibdebatte anzeigt, demzufolge auf die »gemäßigte Kleinschreibung« deswegen verzichtet wird, weil Deutschland mit der Wiedervereinigung so befaßt ist, daß für solcherlei Fragen keine Zeit und kein Geld vorhanden sei. Daß in Österreich deutsch gesprochen wird, ist kein Nachteil für die Autoren, die damit für ihre Werke ein Leserpotential haben, das etwa zehnmal so groß ist wie das Österreichs. Österreichische Autoren sind also nicht so sehr auf Übersetzungen angewiesen wie etwa die Autoren der Niederlande, Schwedens oder Dänemarks; ähnlich günstig ist ja die englische Sprache zum Beispiel für irische, kanadische, neuseeländische und australische Autoren. Dieser Vergleich möge übrigens auch die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur stützen helfen.

Nun aber ist, und das ist für die folgende Argumentation entscheidend, dieser Entwicklung der österreichischen Literatur in den Literaturgeschichten kaum in angemessener Form Rechnung getragen worden. Die meisten Literaturgeschichten werden in Deutschland konzipiert und auch dort geschrieben, und so wird der durchaus unterschiedliche Ablauf der österreichischen Geschichte nicht bei der Beschreibung der österreichischen Literatur mitberücksichtigt. Darauf aber kommt es in der Folge sehr wohl an, wenn wir versuchen, die Entwicklung der österreichischen Literatur zu beschreiben. Denn sosehr auch das literarische Werk seinen eigenen Gesetzen gehorcht, so sehr ist doch dieses Werk in einer von Fall zu Fall näher zu bestimmenden Weise mit der historischen Entwicklung in Relation zu setzen. Die politische Geschichte arbeitet sehr wohl auch mit Zäsuren, mit Periodisierungen, mit Epochenbezeichnungen. Jede Geschichte, auch jede Kunstgeschichte kennt solche Periodisierungen; sie sind nicht nur der Forderung nach einem Überblick zu verdanken, sie entspringen auch der Einsicht in Zusammenhänge, die über das je individuelle Werk hinausgehen.

Festzuhalten ist, daß die Autoren aus Österreich nicht in das Periodisierungsschema passen, das die deutsche Literaturgeschichtsschreibung bereithält, ein Periodisierungsschema, das die Abfolge von Klassik, Romantik, Vormärz (oder Biedermeier), Realismus, Naturalismus, Symbolismus, Impressionismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit vorsieht und dann plötzlich in die Antithese (oder Scheinantithese) Moderne oder Postmoderne ausweicht.

Die österreichischen Autoren werden fast durchgehend zu Verlegenheiten der deutschen Literaturgeschichte; Grillparzer ist nicht der echte Klassiker, Raimund ist nur bedingt ein Romantiker, Lenau kein so rechter Vormärzdichter, Stifter kein Realist, Anzengruber zu früh ein Naturalist und dann wieder zu sehr Realist, Trakl kein Expressionist vom Schlage eines August Stramm usw. So werden österreichische Autoren in den Literaturgeschichten marginalisiert oder – wie das bei den Autoren des Jung Wien (Schnitzler, Bahr, Hofmannsthal) der Fall ist – als Sonderentwicklung abgehandelt.

Gegenüber der österreichischen Literatur vermisse ich in der Praxis der deutschen Literaturgeschichten (Hanser, Rowohlt, Reclam, UTB) nicht selten eine faire Sensibilität, die man hingegen mit Bezug auf die DDR sehr wohl zu wahren pflegte – das allerdings ist ein Fall, der sich auch für die deutsche Literaturgeschichtsschreibung 1990 erledigt hat. Und es soll angemerkt werden, daß die DDR sehr darauf bedacht war, die eigene literarische Entwicklung hervorzuheben und Österreich in der Hervorhebung seiner Eigenständigkeit zu unterstützen, ein argumentativer Zusammenhang, der nun weggefallen ist, ein Zustand übrigens, der sich zunehmend in einschlägigen Publikationen spiegelt.

Ich meine, daß die Debatte um die österreichische Literatur sehr wohl auf dem Felde der Literaturgeschichtsschreibung, und da primär einmal auf dem Felde der Institutionengeschichte zu führen ist. Darüber hinaus läßt sich gewiß spekulativ sehr viel vorbringen, was sich sehr gut zur Kennzeichnung einer besonderen österreichischen Literatur eignet, und ich möchte Sie mit einigen solcher Thesen in der Folge vertraut machen, soferne sie zum zeitlichen Rahmen dieser Vorlesung passen.

So gibt es immer wieder Versuche, etwas als das spezifisch Österreichische aus den Texten herauszuschälen, was indes mehr in anthropologischen Kategorien beheimatet ist denn in literaturwissenschaftlichen. Ich will nicht leugnen, daß es auch hier Möglichkeiten gibt, Trennungen vorzuführen, aber der »österreichische Mensch« ist ein typisches Konstrukt der Ära des Ständestaates, das vor allem dazu diente, die aktuelle Krise des Österreichischen durch ein wie immer geartetes Humanum aus der Welt zu schaffen. Ich stehe nicht an, in bezug auf die deutsche Literaturkritik immer noch von einem geheimen Nadlerismus (Nadler war Ordinarius für deutsche Literatur in Wien von 1931 bis 1945) zu sprechen, der alles, was daran nicht ins kritische Schema paßt, rundweg als das österreichische Abnorme – sagen wir: das Barocke oder das Groteske – bezeichnet und dies als wenig befragte Erklärung für die Besonderheit dieser Literatur geltend macht. Dieses Verfahren verzichtet darauf, die besonderen politischen, sozialen, mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen jener Autoren zu berücksichtigen, die aus Österreich kommen, und begnügt sich mit einem hanebüchenen Pauschalverweis auf die Herkunft aus einer – und da hat man gewiß recht – kuriosen Alpenrepublik.

Meine Polemik gegen die Praktik der Literaturgeschichten und der Literaturkritik, die sich in oberflächlicher Weise mit dem Österreichischen befassen, muß ich durch meine Interpretation legitimieren. Ich werde dies tun, indem ich auf die verschiedenen Bedingungen der Literaturproduktion in Österreich und in der Bundesrepublik eingehe, vor allem aber dadurch, daß ich die Möglichkeiten einer Interpretation in einem literarhistorischen Kontext sichtbar zu machen versuche. Kein vernünftiger Mensch zweifelt daran, daß die österreichische Literatur (oder die Literatur aus Österreich) zur deutschsprachigen Literatur gehört; daß sie differenziert werden kann oder werden muß, geht aus der unterschiedlichen Voraussetzung in politischer oder sozialer Hinsicht hervor, vielleicht auch aus der Tatsache, daß im Zusammenhang mit Österreich ja auch darauf zu verweisen wäre, daß es hierzulande eine in slowenischer oder kroatischer Sprache geschriebene Literatur gibt und daß die Möglichkeiten für fremdsprachige Literatur in Deutschland andre sind als in Österreich. Das sind Faktoren, mit denen ich mich in dieser Vorlesung leider nicht genauer befassen kann; sie sollten Gegenstand einläßlicher Erörterungen in anderen Zusammenhängen sein.

2. Politische Entwicklung: der politische Hintergrund für den literarischen Vordergrund

Ich habe bereits betont, daß das Jahr 1918 für Österreich etwas anderes bedeutete als für Deutschland; das gilt auch für 1945. Es scheint mir wichtig, auf diesen Umstand in den gegebenen Fällen einzugehen. Für einen Überblick sei verwiesen auf ein bereits älteres Werk, nämlich auf das von Erika Weinzierl und Kurt Skalnik 1972 herausgegebene Buch Das neue Österreich. Geschichte der Zweiten Republik (Weinzierl/Skalnik 1972), wo in übersichtlicher Form die wichtigsten Daten versammelt sind.

Ich muß auch die Grenzdaten für diese Vorlesung begründen; es handelt sich dabei sowohl um politische wie auch um literarische Zäsuren. 1945 ist als Wahl verständlich; auch wenn dieses Jahr nicht unbedingt in jeder Hinsicht das Jahr Null war, so war es doch für viele das Datum einer neuen Zeitrechnung, für Politiker wie Literaten, vor allem aber für den Alltag. Im Jahre 1966 endete mit den Wahlen vom 1. März die Ära der ersten Großen Koalition, es folgte für vier Jahre die Zeit der Alleinregierung der Österreichischen Volkspartei unter der Kanzlerschaft von Josef Klaus. Am 23. Dezember dieses Jahres starb auch Heimito von Doderer, der vielen als der Repräsentant dieser Epoche galt. Natürlich sind solche Epochengrenzen auch immer willkürlich, ich wüßte aber nicht, ob diesem Datum 1966 eine andere und verbindlichere Zäsur entgegengehalten werden könnte.

Weitere Unterteilungen empfehlen sich: für diese möchte ich auch immer die Werke nennen, die mir für die jeweilige Epoche repräsentativ erscheinen, wobei ich mir bewußt bin, daß diese Unterscheidungen nicht allein gültig sein müssen.

1. Zunächst einmal ist es die Zeit von 1945 bis 1948, also etwa die Zeit, die vom Kriegsende bis zur sogenannten großen Währungsreform von 1947 reicht. Davon später, vor allem zu den verheerenden Folgen für den österreichischen Buchhandel und das österreichische Verlagswesen.

Für diese Epoche möchte ich neben anderen zwei Werke namhaft machen, und zwar das Drama von Fritz Hochwälder (1911–1986) Das heilige Experiment (1943 in Zürich uraufgeführt, mit großem Erfolg 1947 im Wiener Burgtheater gegeben) und Ilse Aichingers (* 1921) Roman Die größere Hoffnung (1948), das erste Werk einer Autorin, die der Generation angehört, die nach 1945 zu veröffentlichen begann. Diese Phase ist in etwa deckungsgleich mit dem Erscheinen der Zeitschrift Plan von Otto Basil (1901–1982).

2. Die zweite Phase währt von 1948 bis 1955/56, die Phase des Wiederaufbaus; sie ist begrenzt durch den österreichischen Staatsvertrag, durch die Wiedereröffnung von Burgtheater und Staatsoper: Dieses damals außerordentlich gefeierte Faktum markiert symbolisch denn auch das Ende der Wiederaufbauphase. Diese Phase ist in etwa deckungsgleich mit dem Erscheinen des Jahrbuchs Stimmen der Gegenwart, herausgegeben von Hans Weigel (1908–1991).

Für diese Epoche wäre beispielhaft der Roman von George Saiko (1892–1962), Auf dem Floß (1948), vor allem sind es die beiden großen Romane Doderers (1896–1966), und zwar Die Strudlhofstiege (1951) und Die Dämonen (1956). Hervorzuheben ist das Auftreten einer jüngeren Generation, die auch späterhin beispielhaft die österreichische Literatur vertreten sollte, allerdings sind die meisten Autoren in der Rezeption auf Österreich beschränkt, sieht man einmal von Ingeborg Bachmann (1926–1973), Ilse Aichinger und Herbert Eisenreich (1925–1986) ab.

Aber in dieser Phase machen sich viele neue Stimmen bemerkbar; ich möchte nur auf H. C. Artmann (1921–2000), Ernst Jandl (1925–2000), Friederike Mayröcker (* 1924) und Thomas Bernhard (1931–1989) verweisen. Allerdings haben sie in dieser Epoche noch keine literarische Öffentlichkeit.

3. Die dritte Phase von 1955/56 bis 1966 bringt das Wechselspiel von Konsolidierung der Tendenzen und dem Einsetzen der neuen experimentellen Literatur mit sich. Für diese Phase sind repräsentativ:

H. C. Artmann (1921–2000): med ana schwoazzn dintn (1958)

Hans Lebert (1919–1993): Die Wolfshaut (1960)

Ingeborg Bachmann (1926–1973): Das dreißigste Jahr (1961)

Heimito von Doderer (1896–1966): Die Wasserfälle von Slunj (1963)

Thomas Bernhard (1931–1989): Frost (1963)

Marlen Haushofer (1920–1970): Die Wand (1963)

Peter Handke (* 1942): Die Hornissen (1966)

Diese Phase ist in etwa deckungsgleich mit dem Erscheinen der von Rudolf Henz (1897–1987) und Gerhard Fritsch (1924–1969) betreuten Zeitschrift Wort in der Zeit (1955–1965), die dann in der Folge durch die von Fritsch und Henz betreute Zeitschrift Literatur und Kritik abgelöst wurde.

Nebenbei möchte ich kurz auf einige Autoren und Werke eingehen, die mir für die jeweilige Epoche wichtig erscheinen – so wird natürlich auch von der Wirksamkeit der Wiener Gruppe die Rede sein müssen, desgleichen auch von Autoren, die – wie Johannes Mario Simmel (1924–2009) – unbeirrbar durch Österreich in die Weltliteratur marschierten.

3. 1945 bis 1948

3.1. Die Verlage

Die Situation in Österreich nach 1945 bedarf in bezug auf die Verlagssituation noch einer ausführlichen Untersuchung. Heinz Lunzer (Lunzer 1984) und Hans Peter Fritz (Fritz 1989) haben diesbezüglich zwar einige erhellende Untersuchungen angestellt, aber es könnten weitere Detailstudien wertvolle Aufschlüsse bringen.

Wie in vielen Fällen, die das Nachkriegsösterreich betreffen, hat man den Eindruck der vertanen Chance: In Österreich waren, zum Unterschied vom Deutschen Reich, die meisten Druckereien intakt geblieben. Manche hofften, daß Wien nun nach 1945 die Rolle würde einnehmen können, die vor dem Krieg Leipzig als Verlags- und Buchhandelsstadt gespielt hatte. Dies hatte auch zahlreiche Verlagsneugründungen zur Folge, vor allem meldeten sich jene, die während des Krieges verboten waren, in Österreich und im besonderen in Wien wieder zu Wort, also Otto Müller, Paul Zsolnay, Ullstein und Bermann-Fischer. Problematisch war allerdings die unter alliierter Aufsicht erfolgende Papierzuteilung; die Papierindustrie kam den Anforderungen der Verlage nicht nach: Es war eine gute Zeit für Bücher, weil es überhaupt an Waren mangelte, vor allem in der Unterhaltungsindustrie. Das Papier war schlecht, aber das Geschäft ging gut: Auf dem Gabentisch lagen Bücher, die dem Inhalt nach nicht erregend waren, aber viel andres gab’s einfach nicht. Zudem wurden aus dem Ausland kaum Bücher eingeführt. »Der vergleichsweise starke Anteil nicht-österreichischer Autoren ist sowohl durch den ›Aufhol-Trend‹ als auch mit der Isolation des österreichischen Marktes zu erklären.« (Lunzer 1984, 31)

Die zweite Währungsreform bereitete dieser Verlagskonjunktur ein schnelles Ende: Durch das Währungsgesetz vom 19. November 1947 wurde der Banknotenumsatz gesenkt, und damit konnten auch andere Maßnahmen zur Beschränkung der Inflation in Kraft treten. Die Folgen für die Verlage allerdings waren verheerend; die Überproduktion konnte infolge der Preissteigerungen nicht abgesetzt werden, und im internationalen Vergleich waren die Preise zu hoch angesetzt: »Die Auswirkungen waren groß: Die Verlage, die nicht über kurz oder lang zusperrten, konsolidierten ihr Programm auf erfolgssichere Produktionen und ließen sich kaum noch auf größere Risiken ein. Andere Verlage setzten ihre Tätigkeit nur als Druckerei, Buchhandlung oder Auslieferung fort.« (Lunzer 1984, 35)

Damit war in kurzer Zeit der Zustand von früher hergestellt: Österreich war wieder von der finanzkräftiger werdenden westlichen Zone Deutschlands, später von der Bundesrepublik abhängig. Die Autoren, die in Österreich schreiben und veröffentlichen wollten, waren von den Möglichkeiten des heimischen Marktes enttäuscht und neuerlich auf Deutschland angewiesen, wie schon seit mehr als fünfzig Jahren: eine Kalamität, deren Ursachen ich hier im einzelnen nicht dartun kann, die aber eine wesentliche Voraussetzung der auch für ihre Identität auf das Medium Buch angewiesenen Schriftsteller darstellt: Sie finden ihre Identität als Schriftsteller nur durch eine Publikation in Deutschland, früher im Altreich, heute in der Bundesrepublik. Das hatte Konsequenzen, vor allem für die jungen Autoren, vor allem nach 1945. Doch davon später.

3.2. Die Autoren

Wen gab es nun, der in Österreich schrieb oder schreiben konnte? Gab es nicht ein erschreckendes Vakuum? Wir betreten das Terrain, auf dem sich die heiklen personalpolitischen Fragen eingenistet haben. Der Aderlaß an Intelligenz hatte das kleine Österreich schwerer getroffen als die beiden Teile Deutschlands: Namen wie Broch, Horváth, Kraus, Musil, Roth, Schnitzler, Werfel oder Zweig waren damals so gut wie vergessen; man wußte von Hofmannsthal, aber auch er war in der Zeit des Dritten Reiches nicht sonderlich beliebt. Der jungen Generation fehlten die Ansprechpartner, es fehlte auch an informativem Material, wie Lexika und Literaturgeschichten. Es muß damals unsäglich schwer gewesen sein, an Texte von Kafka, Musil, Schnitzler oder Karl Kraus heranzukommen; es gab noch keine Taschenbücher, von anderen Verbreitungsformen ganz zu schweigen. Wer um 1945 zu schreiben anfing, hatte es mit der Chance und dem Verhängnis aufzunehmen, in ein Vakuum hineinzuschreiben, das sehr bald gefüllt werden sollte. Gefüllt allerdings von wem?

In einem Punkte besteht Einigkeit: Einige der in Österreich verbliebenen Autoren waren entweder solche, die sich zum inneren Widerstand zählten oder zählen zu dürfen meinten. Sie konnten unbelastet zu schreiben beginnen, etwa der bekannte patriotische, katholische, im Ständestaat als mächtiger Mann im Rundfunk und weniger als Dichter, für den er sich hielt, bekannte Rudolf Henz (1897–1987); es gab aber auch unzählige andere, in der Nazi-Zeit parteipolitisch engagierte Schriftsteller, die vorläufig Schreibverbot oder besser: Publikationsverbot hatten. Ich will mich hier nicht auf eine umfassende Darstellung dieser Situation einlassen, wichtig für uns ist, daß die meisten Autoren (Mirko Jelusich, Max Mell, Robert Hohlbaum, Bruno Brehm) ziemlich bald – so um 1948/49 – wieder veröffentlichen konnten, ja in den fünfziger Jahren kamen sie, so als ob nichts gewesen wäre, wieder zu Preisehren. Bis heute ist der Name des als Verfasser blumiger Gedichte und hamsunartiger Romane beliebten Karl Heinrich Waggerl (1897–1973) nicht aus der Geschichte wegzudenken (vgl. Müller 1992). Von diesem Komplex wird später noch zu handeln sein.

In jedem Falle ist festzuhalten: In der Bemühung, die Folgen der NS-Vergangenheit bei einzelnen Individuen vergessen zu machen, waren sich die meisten Parteien einig, und so und nicht anders verfuhr man auch bei den Autoren, die nun wirklich nicht mehr in Anspruch nehmen dürften, sich als das Gewissen der Nation zu fühlen.

Über die Vorgeschichte dieses Neubeginns haben wir durch Arbeiten aus der jüngeren Zeit verläßlichere Kunde erhalten. Es ist vor allem auf die Studien des Klagenfurter Germanisten Klaus Amann und des Salzburger Germanisten Karl Müller zu verweisen, die sich mit diesen nicht immer appetitlichen Fällen auseinandergesetzt haben. Bleiben wir kurz bei der Institutionengeschichte. Hier ist es vor allem die Studie Amanns über den P.E.N.-Club, die einiges erhellt. Kurz zur Vorgeschichte: Beim P.E.N.-Kongreß in Ragusa (Mai 1933) trat eine Gruppe von Schriftstellern aus dem P.E.N.-Club aus, weil sie sich dem Protest gegen die Bücherverbrennung in Hitlerdeutschland nicht anschließen wollte. Diese Autoren (nicht alle) fühlten 1938 ihre Stunde gekommen, sie behaupteten 1945, von der Berliner Kulturpolitik überrollt worden zu sein, und adelten sich in dieser Stunde zu Widerstandskämpfern. Als Präsident des P.E.N.-Clubs fungierte der aus der Emigration zurückgekehrte Franz Theodor Csokor (1885–1969), ein Autor, dessen Drama 3. November 1918 ein Schlüsselstück für das österreichische Selbstverständnis in der Zeit des Ständestaates (und auch darüber hinaus in der Zweiten Republik) geworden war. Csokor selbst war ein entschiedener Nazi-Gegner; er hatte sich hier keiner opportunistischen Haltung schuldig gemacht. Was seine literarische Produktion für die Zeit nach 1945 betrifft, so wird man diese nicht als sonderlich bedeutend ansehen müssen.

Der P.E.N.-Club kann nicht als die Organisation gewertet werden, die über den tatsächlichen Zustand der österreichischen Literatur und ihre Qualitäten verläßlich Auskunft gibt, unerläßlich aber ist die Kenntnis der Vorgänge im P.E.N. zur Bestimmung der literatur- und kulturpolitischen Situation nach 1945. Das Verfahren des P.E.N. bei der Rehabilitierung der nationalsozialistisch belasteten Autoren charakterisiert Amann wie folgt:

Das Verhalten des P.E.N.-Clubs gegenüber den durch den Nationalsozialismus kompromittierten Autoren ist durch auffällige Inkonsequenz gekennzeichnet. Dabei mögen persönliche Bekanntschaften und Rücksichten ebenso eine Rolle gespielt haben wie mangelnde Information; wahrscheinlich dürften […] in manchen Fällen die Unterlagen nicht ausgereicht haben, um Entscheidungen zu treffen, die den Auflagen des internationalen Verbandes adäquat […] waren. (Amann 1984, 96)

Was die literarischen Institutionen betrifft, so läßt sich für diese dasselbe ausmachen wie für die Beamten im öffentlichen Dienst, die gegen Ende der vierziger Jahre ja auch allmählich – je nach Bedarf und Belastung – der österreichischen Berufswelt reintegriert wurden und ganz schön Karriere gemacht haben. Ich möchte diese Parallele auch aus methodischen Gründen hervorheben, weil sich zeigt, daß die öffentliche Organisationsform der Autoren in Analogie zu den politischen Organisationen gesehen werden kann.

Im wesentlichen dominierte im P.E.N.-Club so etwas wie ein großkoalitionäres Verhalten, das alle in ihren Rechten beließ. In der Tat verstanden sich die meisten Autoren auch als Fortsetzer jener Österreich-Idee, die mit ihren Vertretern im Ständestaat nicht immer gute Figur gemacht hatte. Daß es für die Neuorientierung einer differenzierteren Entwicklung bedurft hätte, wurde selbst den exponiertesten Köpfen kaum bewußt. Alexander Lernet-Holenia (1897–1976), einer der erfolgreichsten Schriftsteller auch dieser Epoche, meinte:

In der Tat brauchen wir nur dort fortzusetzen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben, in der Tat brauchen wir nicht voraus-, sondern nur zurückblicken […] wir sind, im besten und wertvollsten Verstande, unsere Vergangenheit. (Zit. nach Amann 1984, 80)

Mit solchen Äußerungen ist einmal ein Grundakkord vorgegeben, der in der Literatur der ersten zehn Jahre nach 1945 oft zu vernehmen ist. Es geht um die Wiedergewinnung einer Tradition, auch einer im besonderen österreichischen Tradition, die durch einen »Irren« – daß er Österreicher war, wird selten weiter thematisiert – unterbrochen worden sein soll. Die neuere Forschung hat hier viel eher die Kontinuität betont: über 1945 hinaus hätten sich Tendenzen erhalten, und zwar ungebrochen. Ich meine, daß wir heute etwas sorgfältiger vorgehen sollten; überdies scheint mir wichtig, daß die meisten Autoren nach 1945 sich zwar entschieden von den Nazis distanzierten, aber, und das möchte ich besonders hervorheben, nicht von dem, was der Nazi in ihnen war: Der Umgang mit der eigenen Haltung wurde doch eher marginalisiert.

In jedem Falle sollte festgehalten werden, daß die Entlastung Österreichs und seiner Literaten mitunter auch durch die erfolgte, die nichts mit den Nazis gemein hatten, sowie selbst durch jene, die von den Nazis verfolgt worden waren. Damit wurde Österreich in jene Situation hineinmanövriert bzw. ließ sich in sie nicht ungerne manövrieren, die dem Land dann während der Jahre 1986 bis 1992 sehr viel zu schaffen machte. (Vgl. dazu Pelinka/Weinzierl 1986, passim)

Die zweite österreichische Republik ist angetreten unter der segnenden Geste der Versöhnung, sie hat sich euphemistisch zurechtgelegt, was als Kritik, als Selbstkritik hätte formuliert werden müssen, hätte man der Wahrheit die Ehre erwiesen. Die kritischen Stimmen, die Stimmen jener, die nicht unbedacht am Aufbau mitmachen wollten, wurden kaum gehört, oder nur von wenigen gehört.

So wichtig die Auseinandersetzung mit dem »Großen Tabu« ist, so wenig gibt jener Titel, der vielleicht etwas zu volltönend für das kleine Österreich ist, Auskunft über die literarischen Leistungen, die zum guten Teil auch gegen diese Voraussetzungen erbracht wurden, von denen hier die Rede ist. Ich wende mich daher im folgenden auch der Arbeit an den Texten zu, die obengenannten Voraussetzungen jedoch immer mitdenkend.

Repräsentativ scheint mir für diese kurze Epoche die Zeitschrift Plan zu sein, die symptomatisch für diese Nachkriegszeit und auch symptomatisch für die Hoffnung auf einen Neuansatz ist.

3.3. Zeitschriften: Der Plan

Diese Zeitschrift ist in der letzten Zeit nicht ohne Grund intensiv »beforscht« worden. Otto Basil (1901–1982) war der Herausgeber jener beiden Hefte, die mit demselben Titel vor dem Einmarsch der Nazis 1938 erschienen. Wer heute die Hefte des Plan zur Hand nimmt, erkennt, wer Vorbild war und woran das Maß genommen werden sollte, nämlich Karl Kraus. Schon die Farbe (rot) wollte und sollte an dessen Fackel erinnern. Otto Basil wollte eine Plattform für die ausländische Literatur, aber auch die eigene, von den Nazis verschüttete Tradition errichten. Diese Zeitschrift richtete sich gegen die Reaktion, sie richtete sich aber auch gegen einen konservativ besetzten Traditionsbegriff. Otto Basil formulierte in der ersten Nummer das Programm dieser Zeitschrift:

[S]ie [sc. die Zeitschrift, WSD] möchte zum Kristallisationspunkt aller jener Kräfte werden, die im Kunst- und Kulturleben unserer Heimat für die Festigung des demokratisch-republikanischen Staatsgedankens und für die Wiederaufrichtung eines geistigen Österreichertums von europäischem Zuschnitt und weltbürgerlicher Fülle eintreten.

Die Parole heißt: Arbeit, Aktivität, positive Leistung! (Zum Wiederbeginn. Plan 1 [1945/46], H. 1, 1 f.)

Die Tendenz war eindeutig antinationalsozialistisch, und die Herausgeber gaben sich alle Mühe, jene zu kritisieren, die wieder in Amt und Würden sein wollten und sich während der Nazizeit sträflich exponiert hatten. So wurde im Plan der Fall Josef Nadler wie auch der Fall Josef Weinheber diskutiert. Hinter alledem stand – ganz im Gegensatz zu den sonst meist christlich getönten Organen, wie zum Beispiel Der Turm – eine materialistische Geschichtskonzeption.

Vor allem war es Franz Kafka, auf den aufmerksam gemacht wurde. Das ist ganz im Gegensatz zu der damals offiziellen kommunistischen Ästhetik zu sehen, die es ja auch einem Brecht schwergemacht hat, die auf dem Realismus als Programm insistierte und alles verwarf, was gegen die realistische Mimesis die avantgardistische Konstruktion setzte. Berühmt ist der Essay des französischen Kommunisten Roger Garaudy geworden, der die Ansicht vertrat, daß ein Kommunist keine festgeschriebene Ästhetik zu haben habe und jeder Kommunist das Recht haben müsse, ein Werk von Picasso oder das eines Anti-Picasso zu lieben (Künstler ohne Uniform. Plan 1 [1945/46], H. 12, 947 f.). Die ästhetischen Implikationen dieser Polemik waren damals auch realpolitische, weil die Zensur der sowjetischen Besatzungsmacht auch in diesen Fragen ein waches Auge hatte.

Dem Plan wurde trotz seiner im ästhetischen Bereich so liberalen Haltung Linkslastigkeit vorgeworfen, vor allem von einem, der später zu einem der prominentesten Kritiker Österreichs und auch zu einem Buhmann der Linken wurde; ich meine den nach Österreich aus dem Schweizer Exil zurückgekehrten Hans Weigel (1908–1991), der in dem vielbeachteten Essay Das verhängte Fenster einen Umstand ansprach, der damals die Gemüter beschäftigen mußte: das Verhältnis zu Deutschland (Plan 1 [1945/46], H. 5, 397–399). Weigel befürchtete, daß sich Österreich von Deutschland infolge der Vergangenheit allzusehr kulturpolitisch isoliere; Pointe bei Weigel: Österreicher würden den Ausdruck »Deutscher« so diffamierend verwenden wie zuvor die Nazis das Wort »Jude«.

Weigels Essay stieß auf heftigen Widerspruch; er selbst hatte eingeräumt, daß dieser Aufsatz zu früh käme, und ein wackerer junger Kommunist, Otto Horn (1923–1989), widersprach Weigel mit der Begründung, daß in Deutschland der Schoß, der den Nationalsozialismus geboren habe, noch fruchtbar sei – in Österreich wäre dem nicht so. Ich meine, daß gerade jetzt diese Auseinandersetzung nicht ganz uninteressant ist; aufschlußreich ist für uns die kompromißlos austrophile Note, gerade bei den Kommunisten. Vor allem irritiert die bedenkliche Unbedenklichkeitsbescheinigung, die da den Österreichern ausgestellt wurde (vgl. ebda, 489).

Im allgemeinen war man gegen Weigels Haltung eingestellt. Johann Muschik etwa meinte, daß die Schranke zu Deutschland bestehen bleiben müßte, weil die Österreicher nur so ihr eigenes Nationalbewußtsein zu entwickeln imstande wären. Die Abtrennung von Deutschland müsse radikal sein, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, da sich die Österreicher selbstbewußt verhielten. Heute wirkt diese Auseinandersetzung unfreiwillig komisch, und es ist skurril, daß Hans Weigel, gerade ihm, von Otto Horn »Pangermanismus« unterstellt wurde! Weigel war, und das lehrt die Folgezeit, Realist, denn Österreich blieb für die Verbreitung seiner literarischen Produktion auf Deutschland angewiesen.

Das Fenster, das sich zum Nachkriegsdeutschland im Plan hätte öffnen lassen, blieb verhängt. Geöffnet wurde es vor allem in Richtung Tschechoslowakei und Frankreich, wobei vor allem Paul Valéry, Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Saint-John Perse, Jean Anouilh, Louis Aragon, François Mauriac und Tristan Tzara zu Ehren kamen. Geöffnet wurde das Fenster für die jungen Autoren, und viele, die heute einen guten Namen haben, konnten ihre ersten Veröffentlichungen dort unterbringen; etwa Ilse Aichinger, Friederike Mayröcker, Herbert Eisenreich, Walter Toman, Milo Dor, Hermann Friedl, Hans Heinz Hahnl, Peter Toussel (alias Peter Demetz), Reinhard Federmann und Heinz Politzer. Im letzten Heft (1948) veröffentlichte Basil Gedichte von Paul Celan, der damals in Wien auf seinem Weg nach Paris Station machte. Auch Erich Fried (1921–1988) hat seine Spuren im Plan hinterlassen; sein Gedicht Genügung schließt mit den Zeilen:

[…]

Getan sind die Taten.

Eingenügt sind die Toten.

Sie baden im Boden

und haben genug getan.

Und haben genug:

Eingepflügt mit dem Pflug

umgepflügt.

Eingefügt ohne Fug

ungefügt

in die Fugen der Zeit

in des Unfugs Gefüge.

Das ist genug.

Das genügt.

Aber es tut nicht Genüge.

(Genügung. Plan 2 [1947/48], H. 4, 223–228, hier: 228)

Dieser Lapidarstil läßt offen, ob es auf die Nazis zu beziehen ist, was da genügen soll.

Mit den jüngeren Autoren hat der Plan sicher einen guten Griff getan. Diese Texte beweisen, daß die österreichische Literatur dieser Tage nicht nur in den Händen jener ruhen mußte, die sie sich vorher schmutzig gemacht hatten. Wirksamkeit in einem landläufigen Sinne allerdings konnten sich die jungen Schriftsteller von diesem Publikationsorgan nicht versprechen: Anfang 1948 erschien Heft 6 des zweiten Jahrganges, und das war auch die letzte Nummer. Das war genug. Die Gründung der Zeitschrift müßte noch einmal ausführlich dargestellt werden; die bislang zu diesem Thema erschienenen Arbeiten geben darüber leider zu wenig Auskunft (Gross 1982; Wischenbart 1983).

Daß der Plan eingestellt wurde – welche konkreten (finanziellen) Gründe dabei auch mitgespielt haben mögen –, ist symptomatisch: Mit 1948 endet auch diese Zeit, in der die Hoffnung auf eine Umorientierung, auf eine fundamentale Änderung noch möglich schien. Die Hoffnungen und Konzepte, die im Plan zu finden sind, ließen sich offenkundig nicht realisieren.

Ich erlaube mir nun, ein paar Beispiele kurz zu analysieren, die mir für das in sich höchst divergente kulturpolitische Konzept des Plan aufschlußreich zu sein scheinen. Von der Einleitung von Otto Basil habe ich bereits gesprochen, auch von der Vorbildfunktion, die Karl Kraus innehatte: Kraus als Polemiker, Kraus als Ethiker, Kraus als Kriegsgegner. Interessant ist, daß hier doch auch einige Punkte unterschlagen werden, die zum Verständnis der Persönlichkeit und der politischen Position von Kraus unumgehbar sind. Viktor Matejka (1901–1992) führt Karl Kraus in seiner Gedenkrede zum 10. Todestag als den Garanten der »österreichischen Solidarität« an: »Es lebe Karl Kraus! Es lebe die österreichische Solidarität!« (Gedenkrede auf Karl Kraus. Plan 1 [1945/46], H. 2, 86–90, hier: 90) Es nimmt wunder, wenn Kraus zum Schutzherrn dieser neuen österreichischen Solidarität angerufen wird, hatte gerade er doch – trotz seiner Unterstützung der Sozialdemokratie unmittelbar nach 1918 und trotz seiner früheren Freundschaft mit dem Chefredakteur der Wiener Arbeiter-Zeitung, Friedrich Austerlitz – nach den Ereignissen des Februar 1934 für Dollfuß optiert. Dieser Mangel, der Kraus in jedem Falle im Kreise seiner linken Bewunderer anhaften mußte, erscheint im Plan nur marginal. Selbst die Äußerungen Friederike Manners sind in diesem Falle von Wohlwollen überwölbt: »Welch eine tragische Schuld: der alte Kämpfer beugt sein Haupt vor dem Unrecht, weil er es für das kleinere Übel hält.« (Karl Kraus. Zum zehnten Todestag am 12. Juni; Plan 1 [1945/46], H. 6, 507–512, hier: 511)

Ich will damit nicht unterstellen, daß damit die Vergangenheit im Plan nicht reflektiert worden und – um ein modisch zu Tode getrampeltes Wort zu verwenden – die »Trauerarbeit« nicht geleistet worden wäre. Ich meine, daß es damals darum ging, die Basis für den gesamtösterreichischen Konsens möglichst groß zu gestalten. Zwar fehlen nicht kritische Hinweise auf die Ära des Ständestaates, aber von einer radikalen Abrechnung mit dieser Epoche kann keinesfalls die Rede sein. Die Distanzierungsversuche von den Nazis machen den Eindruck unerschütterlicher Redlichkeit. Da ist die Tendenz ziemlich deutlich; da wird etwa mit Josef Nadler ziemlich sachlich, doch gründlich ins Gericht gegangen. Sehr aufschlußreich ist auch ein Aufsatz des Wiener Physikers Hans Thirring über Oswald Spengler (»Anti-Spengler«; Plan 1 [1945/46], H. 8, 649–653, H. 9, 728–736).

Plan