Michael Moritz, 1968 in Freiburg geboren und am Kaiserstuhl aufgewachsen, schreibt und produziert seit zwanzig Jahren Theaterstücke und Kurzfilme. Als Schauspieler war er an den großen deutschsprachigen Bühnen (Staatstheater Stuttgart, Schauspielhaus Zürich, Burgtheater Wien) engagiert, im Fernsehen gibt er meist den Bösewicht und den üblichen Verdächtigen (»Tatort«, »SOKO Köln«, »Die Sitte«, »Post Mortem«). Am Max Reinhardt Seminar und am Konservatorium der Stadt Wien unterrichtet er Schauspiel. Im Emons Verlag erschienen seine Kriminalromane »Tod in der Rheinaue«, »Roter Regen«, »Weinselig«, »Lost Place Vienna« und »Zürcher Verschwörung«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Außer bei Herrn Schretzmeier und dem Ensemble der »Zwölf Geschworenen«. Die gibt es wirklich.
© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Fotomontage: photocase.de/o-zero
und fotolia.com/Falko Seidel
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-130-5
Originalausgabe
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»Menschen, die sich überall zu Hause fühlen,
wenn sie verreisen, verdienen auch sonst nicht viel Vertrauen.«
George Bernard Shaw
Prolog
Bluhm wusste nicht, wer unter der Fechtmaske ihm gegenüber steckte. Er fing den Degen auf, den ihm sein unbekannter Gegner zuwarf. Bluhm ging davon aus, dass sie eine einstudierte Choreografie fechten würden, so wie er sie die Teilnehmer seines Kurses in den letzten Wochen gelehrt hatte. Aber sein Gegner bevorzugte eigene Kombinationen. Und nicht nur das. Er schlug nicht daneben, wie es beim Bühnenfechten üblich war, sondern zielte direkt auf Bluhms Kopf. Er wollte ihn treffen.
Bluhm reagierte schnell und parierte die Angriffe, so gut er konnte. Doch die Wucht und Entschlossenheit, mit der die Hiebe auf ihn niederprasselten, drängten ihn in die Ecke.
»Was soll der Scheiß?«, rief er und tauchte ab. Die Klinge surrte über ihn hinweg und schlitzte eine dicke Turnmatte, die in der Halle an der Wand lehnte.
Es war keine Bühnenwaffe, die auf ihn eindrosch. Der Degen war scharf.
Bluhm starrte auf die Maske seines aggressiven Gegners, als könne er so das Gesicht dahinter erkennen. Er löste sich aus der Ecke und versuchte sich in der Rückwärtsbewegung zu verteidigen. Wenn es ihm gelang, unverletzt bis in die Umkleidekabine zu kommen, konnte er fliehen.
Er übersah die niedrige Turnbank und stolperte. Der Degen glitt ihm aus der Hand. Der Maskierte holte zum Stoß aus. Bluhm versuchte sich mit den Händen zu schützen und schrie ein lang gezogenes: »Nein!«
Die Degenspitze schnitt ein Loch in sein verschwitztes Shirt und drang bis zu seinem Herzen.
EINS
»Noch irgendwelche Fragen?« Belledin sah auf die Zuhörer hinab, die seinem Vortrag interessiert gelauscht hatten. Eine junge Frau in der hinteren Reihe meldete sich. Belledin nickte ihr zu.
»Ist es denn notwendig, gleich mit tausend Polizisten ein verhältnismäßig kleines Gelände zu räumen? Zieht man da nicht zu viele Leute von anderen Posten ab, die dann dort fehlen?«
Belledin atmete tief durch. Er dachte, dass er diese Frage schon beantwortet hätte. Entweder hatte die junge Kollegin mit ihrem Handy gespielt, als er das Thema behandelt hatte, oder die Sprachbarriere zwischen Baden und Württemberg war eben doch so groß, dass Kommunikationslöcher vorprogrammiert waren.
»Wenn Sie mit einer Übermacht ein klares Zeichen setzen, kommt von den Chaoten gar keiner auf die Idee, Krawall zu machen. Dadurch haben Sie den möglichen Brandherd sofort unter Kontrolle und wieder ausreichend Ressourcen für anderweitige Aufgaben. Wenn Sie allerdings zögerlich und mit einem kleinen Trupp anrücken, wittern die Besetzer eine Chance und trauen sich was. Und wenn das andere mitkriegen, solidarisieren sie sich. Dann kann das Feuer sogar auf sonst passive Bürger überspringen, die darin eine Gelegenheit sehen, sich für einen Strafzettel wegen Falschparkens zu rächen.«
Einige im Auditorium nickten zustimmend. Belledin glaubte, nun genug erklärt zu haben. Sein Mund fühlte sich an wie ausgedörrt; so viel wie bei diesem Vortrag hatte er das gesamte letzte Jahr nicht geredet.
»So eingeschüchtert haben Sie die Rhinos dann aber doch nicht. Immerhin waren sie so mutig, anschließend Dienstfahrzeuge vor dem Regierungspräsidium anzuzünden«, sagte die Frau, die sich in Hochdeutsch mühte, deren Sprachmelodie aber untrüglich die schwäbische Note trug, so wie Belledin den Slang Südbadens nicht leugnen konnte.
»Erstens ist nicht erwiesen, dass es die Rhinos waren, zweitens sind zwei Autos gar nichts gegen unzählige Verletzungen unschuldiger Bürger.« Belledin kam noch mal in Fahrt. »Und drittens haben wir damit im Vorfeld verhindert, dass Fotos wie die des halb blinden Opfers während der Stuttgart21-Demo in allen Boulevardzeitungen für Auflage sorgen.«
Ein Raunen schwappte durch den Saal. Einige applaudierten. Für Belledin war der Vortrag damit beendet.
»Wie gehen Sie aber mit der Situation weiterhin um? Das Thema ist ja noch nicht vom Tisch. Denken Sie daran, einen Mediator einzusetzen?«
Die junge Frau begann zu nerven.
»Ich halte nicht viel von Mediatoren«, sagte Belledin und stieg vom Podium. Den warmen Beifall, der ihn begleitete, nahm er nicht mehr wahr. Er war wütend. Was tat er hier überhaupt? Er hatte von Anfang an nicht hierher wollen. Nach Stuttgart. Ins Regierungspräsidium. Aber sie hatten ihn gedrängt. Der Anfrage aus der Landeshauptstadt müsse man nachkommen, hatte Ammer gesagt. Ammer war Chef der Freiburger Kripo und Belledins direkter Vorgesetzter. Nach der Erfahrung von Stuttgart21 wollte man einen Austausch mit den badischen Kollegen. Und Belledin galt nicht nur seit der erfolgreichen Räumung des Vauban-Geländes in Freiburg als Deeskalationsspezialist. Ammer sagte, dass es gut wäre, mit den Schwaben zu kooperieren. Und Belledin tat ihm den Gefallen. Er hatte sich kurz gefasst, alles gesagt, was gesagt werden musste. Die Pflicht getan. Aber jetzt musste dieses schwäbische Frauenzimmer ihm noch Extrafragen stellen. Schon in der Schule hatte es ihn genervt, wenn die Lehrer Dinge gefragt hatten, die offensichtlich waren. Und er hatte schlechte Noten bekommen, nicht, weil er die Antworten nicht wusste, sondern weil es ihm albern erschien, das Offensichtliche wiederzukäuen, bis es auch der letzte Hinterbänkler begriffen hatte.
Er nahm Hut und Mantel von der Garderobe, wickelte sich den schwarzen Schal um den Hals, den ihm Biggi für diesen Herbst gestrickt hatte, und wollte den Saal verlassen.
Doch Böhnisch, der Leiter der Stuttgarter Kripo, kam auf ihn zu. »Vielen Dank, Herr Belledin. Das war sehr aufschlussreich. Ich hoffe, unsere Kollegen können von Ihrem Vortrag lernen.«
»Kolleginnen«, verbesserte die Frau mit den tausend Fragen ihren Chef. Belledin verdrehte die Augen. Er hätte darauf wetten können, dass sie auch Beifahrerinnensitz sagte.
»Kolleginnen, natürlich«, verbesserte sich Böhnisch. »Darf ich vorstellen –«
Das Klingeln eines Handys unterbrach ihn. Es war das Handy der Kollegin.
»Ja? … Alles klar. Ich bin gleich da.« Sie steckte das Handy ein und sah zu Böhnisch. »Ein Toter im Theaterhaus. Ich muss los.«
Ohne sich von Belledin zu verabschieden, verschwand sie aus dem Saal. Belledin war froh, dass sie weg war. Er hatte keine große Lust, sie näher kennenzulernen. Dazu war sie ihm zu flachbrüstig. Er grinste bei dem Gedanken in sich hinein und dachte an Biggis Rundungen. Gerne würde er sie jetzt packen. Einfach nur anfassen. Das würde ihm genügen. Dann wüsste er, dass er zu Hause war und nicht in Stuttgart.
Er sah auf seine Armbanduhr. Wenn er Gas gab, war er in zweieinhalb Stunden in Merdingen. Da ging sich noch eine Nummer aus. Es müsste ja nicht lange sein, nur ein kurzes Hallo zur Begrüßung, dann könnte jeder wieder seiner Arbeit nachgehen. Biggi könnte aufräumen und er sich noch einen John-Ford-Western angucken. Anschließend würden sie im Bett liegen, und er würde noch ein paar fiese Witze über die Schwaben reißen. Biggi würde lachen, und wenn sie lachte, wäre vielleicht sogar noch eine zweite Runde drin.
»Vielen Dank für die Einladung. Ich hoffe, die Kollegen, Entschuldigung, Kolleginnen konnten damit etwas anfangen.« Belledin empfing den erwarteten kleinen Lacher von Böhnisch und streckte mit süffisantem Lächeln seine Pranke aus. »Wiedersehen.«
Böhnisch schlug ein und hielt dagegen. »Nehmen Sie es ihr nicht krumm. Anna Kälble ist eine gute Polizistin. Noch nicht lange in der Praxis. Kommt direkt von der Schulbank, hat aber sehr gute Zeugnisse. Und gewiss eine erfolgversprechende Zukunft vor sich.«
»Gewiss.« Mehr sagte Belledin nicht. Er wollte nach Hause.
***
Anna bretterte mit ihrem Polizei-Lautsprecherwagen über die Heilbronner Straße Richtung Pragsattel. Sie hatte den VW-Bus mit Hilfe der Polizeimechaniker eigenhändig restauriert. Der grüne Lack glänzte wie neu; die beiden Blaulichter flackerten. Siebzig PS, hundertsiebenundzwanzig Kilometer pro Stunde Spitze. Für eine Verfolgungsjagd reichte das kaum, für die ASU nur mit Sonderstempel: Oldtimer, Baujahr 1978. Fünf Jahre älter als sie selbst.
Sie setzte den Blinker und bog von der Siemensstraße auf das Gelände des Theaterhauses. Vor dem Rolltor der Sporthalle bevölkerten Rettungsdienst und die Kollegen mit den neueren Wagenmodellen in Blau den Tatort. Auch schaulustige Theaterbesucher drängten sich, um etwas vom Reality-Spektakel zu erheischen. Die Kollegen hielten sie nur mit Mühe hinter der Absperrung.
Anna tauchte unter einem rot-weißen Band hindurch und zeigte den Kollegen ihren Dienstausweis. Nicht alle konnten sie kennen. Sie war erst seit einem halben Jahr bei der Kripo. Schirmer hatte sie direkt von der Polizeischule zu sich geholt, und das war ihr erster Mordfall. Anna dachte an den badischen Kommissar. Wie selbstgefällig dieser Macho über das Thema der Geländeräumung referiert hatte. Der glaubte wohl, er wäre Sheriff in irgendeinem Kaff der Südstaaten. Allein wie er sich am Ende seinen Stetson aufgesetzt hatte; als wäre es ein Cowboyhut. Wenn er wenigstens Stiefel aus Schlangenhaut getragen hätte. Aber dazu war er dann doch zu spießig.
Anna wusste, dass man über ihren Spleen mit dem VW-Bus lachte, aber sie stand dazu. Sie mochte die Siebziger, vor allem die Krimiserien aus jener Zeit. Die Kommissare waren harte Hunde, hatten aber trotzdem eine soziale Ader. In den Folgen von damals ging es nicht um die Beziehungskisten der Kommissare, sondern um die Fälle und deren gesellschaftliche Einbettung. Das mochte Anna, so verstand auch sie ihren Beruf. Kein Wunder, dass sie Probleme in ihrer privaten Beziehung hatte. Und wenn schon. Ihr Job war wichtiger. Sie wollte zeigen, dass sie es konnte, gerade als Frau. Und sie wusste, dass sie mit ihrem Emanzengehabe nerven konnte. Aber sie nervte gern. Das war Teil ihres Jobs. Zu nerven, bis die Täter aufgaben.
»Wo ist der Tote?«, fragte sie den Beamten, der sie zum Tatort brachte.
»Liegt noch dort, wo man ihn abgestochen hat. Vor der dicken Turnmatte, neben der Sprossenwand. Wird gerade geknipst fürs Fotoalbum.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Der Hausmeister, er sitzt dort hinten auf der Bank. Er wollte die Halle abschließen. Pawel Lewandowski, ursprünglich aus Polen, eigentlich Ingenieur für Maschinenbau. Schon verrückt, was manche sind und was sie dann tatsächlich tun.«
»Wie heißen Sie?«, fragte Anna.
»Gentner. Wolfgang Gentner. Dienststelle Feuerbach.«
»Ich bin Anna Kälble, die neue Kollegin von Schirmer.«
»Die Frau mit dem Lautsprecherwagen. Schon gehört.«
»So?«
»Aber ich glaube, dass Sie auch die leisen Töne beherrschen.« Gentner lächelte. »Würde Ihnen jedenfalls einiges erleichtern.«
Anna zog die rechte Braue hoch. Eine Angewohnheit, die sie nicht im Griff hatte. Sie wusste, dass es arrogant wirkte, aber wenn sie es registrierte, war es meist schon zu spät.
»Wo ist Schirmer? Der müsste doch schon da sein.«
Gentner zuckte mit den Schultern und wandte sich ab, um zwei Kollegen zu helfen, die sich mit Pressefotografen balgten.
Anna wählte Schirmer an. Es meldete sich nur die Mailbox. Seltsam. Schirmer hatte in Bereitschaft zu sein. Sie sah zu Lewandowski hinüber. Er konnte warten. Erst wollte sie den Toten sehen. Sie durchquerte die Halle und atmete tief durch, als sie vor der Leiche stand. Der große Blutfleck auf seinem T-Shirt und der krampfhaft umklammerte Degen in seiner Hand wirkten unecht. Theatralisch. Gleich würde er aufstehen und sich verbeugen. Aber er stand nicht auf. Dafür erhob sich ein Mann mit dünnem blondem Haar, der neben dem Toten gekniet hatte.
»Sind Sie Frau Kälble?«
Anna nickte.
»Willkommen im Club. Hab schon von Ihnen gehört. Schirmer schwärmt verdächtig. Hüten Sie sich vor ihm. Wenn Sie nicht aufpassen, quetscht er Sie aus wie eine Zitrone. Der Kerl kennt nur Arbeit. Bis zum Umfallen. Und das erwartet er von seinen Lieblingen auch.«
»Und wer sind Sie?«
»Dr. Steiner, der mit den Toten spricht.«
»Und was erzählt er Ihnen?«
»Nicht viel. Recht schweigsamer Kerl. Bisher kann ich nur sagen, dass ihm ein scharfer, spitzer Gegenstand das Herz durchbohrt hat und der Tod sofort eingetreten ist. Ich tippe auf einen Degen wie den, den er in der Hand hält.«
»Wo ist die Waffe? Oder hat er sich selbst mit der eigenen erstochen?«
»Unwahrscheinlich. Erstens ist kein Blut dran, zweitens ist sie stumpf.«
»Die Frage war rhetorisch.«
»Ich weiß.«
»Haben wir die Waffe oder nicht?«
»Nein.«
»Was erzählt Ihnen der Tote noch?«
»Gesprächig werden sie in der Regel erst bei mir zu Hause, wenn wir unter vier Augen sind.«
»Dann wünsche ich noch einen unterhaltsamen Abend.«
»Werde ich haben. Wenn Sie wollen, können Sie gerne noch in der Pathologie vorbeikommen. Aber vermutlich wird sich das Schirmer nicht nehmen lassen.«
»Ist dieser Tote so vielversprechend?«
»Nein, aber mein Wein.«
Anna wusste, dass Schirmer gerne trank. Auch sie hatte schon einiges mit ihm bechern müssen. Das gehörte zu seiner Lebensphilosophie. Sie ließ Steiner arbeiten und ging zu Lewandowski, der noch immer auf der Turnbank hockte.
»Guten Abend, Herr Lewandowski. Ich bin Anna Kälble von der Kriminalpolizei Stuttgart.«
Lewandowski erhob sich von der Turnbank und reichte Anna die Hand.
»Können Sie mir noch mal sagen, was Sie dem Kollegen bereits erzählt haben?«
»Ich wollte die Halle um neun Uhr zumachen. Da habe ich ihn gefunden. Das ist alles.«
»Kannten Sie ihn?«
»Vom Sehen. Er veranstaltet hier öfters Trainings.«
»Was für Trainings? Fechten?«
»Ja, so in der Art. Von oben kann man ganz gut in die Halle gucken. Da habe ich manchmal zugeschaut. Sie fechten nicht wirklich, tun nur so. Wie im Theater. Ich habe nicht verstanden, was die da wirklich machen.«
»Und wer macht das? Woher kommen die Teilnehmer?«
»Irgendwelche Firmen, die Coachings für Führungskräfte brauchen. Wir vermieten die Halle. Das sind Einnahmen fürs Theaterhaus.«
»Verstehe. Haben Sie noch jemanden gesehen hier unten? Vielleicht in den Garderoben?«
»Nein. Da war alles leer. Ich hab mich nur gewundert, dass noch eine Sporttasche in der Umkleide stand. Das waren dann wohl seine Sachen.«
»Kann ich die sehen?«
Lewandowski nickte und ging voran. Anna folgte ihm in die Umkleide. Dort pinselten bereits zwei Spurensicherer nach Fingerabdrücken. Anna nickte ihnen zu.
»Ist Schirmer nicht da?«, fragte einer der Männer, der sichtlich schlecht gelaunt war.
»Nein. Er ist nicht erreichbar. Hab es schon versucht.«
»Scheiße. Das hat uns grade noch gefehlt. Nichts gegen Sie, junge Frau, aber um den Fall sollte sich doch besser ein Profi kümmern.«
Anna nahm es mit einem gespielten Lächeln und fragte entschlossen: »Haben Sie irgendetwas gefunden?«
Der Schlechtgelaunte sah sie finster an. »Wir sind hier nicht im Fernsehen, wo Sie alle Antworten schon bekommen, ehe Sie zu arbeiten begonnen haben. Hier wimmelt es von Fingerabdrücken, Schamhaaren und Fußpilzen. Das ist ein ganzes Universum an Spuren.«
Anna biss sich auf die Lippen und nickte. Eine Kollegin, ebenfalls in weißem Schutzanzug, kam auf sie zu. »Nehmen Sie es dem Schmötzer nicht krumm, er ist so. Sie sollten ihn erst mal sehen, wenn er schlecht gelaunt ist. Sie sind die Neue? Ich bin Beate Meier. Einfach Bea.« Sie streckte Anna ihren Plastikhandschuh entgegen. Anna schlug ein. Das Plastik knisterte.
***
Böhnisch war auf hundertachtzig. »Was soll das heißen, Schirmer ist nicht am Tatort? Wo ist er dann? War schon jemand bei ihm in der Wohnung? Dann schicken Sie jemanden hin. Sofort!«
Er ahnte Schlimmes. Es war nicht das erste Mal, dass Schirmer abgetaucht war. Vor anderthalb Jahren war er eine ganze Woche lang wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Böhnisch hatte es ihm nicht übel genommen. Er wusste, was Schirmer zu verdauen hatte. Der Tod eines Kollegen nagte an ihm. Das steckte keiner so einfach weg. Vor allem dann nicht, wenn man sich schuldig fühlte. Aber Schirmer war nicht schuldig, die Ermittlungen hatten das eindeutig bestätigt. Nur Schirmer selbst pfiff auf das Ermittlungsergebnis. Sein Gewissen biss weiter und nagte am Gemüt, bis nichts mehr davon übrig war. Den Rest erledigten Tabletten und Alkohol.
Das Telefon läutete. Böhnisch wartete kein zweites Klingeln ab. »Ja? … Rütteln Sie ihn wach. Wir brauchen ihn … Was? … Nein, nein, schon in Ordnung. Sie haben richtig gehandelt. Wiederhören.«
Böhnisch legte auf und stierte auf das chinesische Service. Zartes Porzellan. Eine Polizistenseele war nicht weniger zerbrechlich. Dann sah er zu seiner Frau Elvira auf.
»Schirmer ist in der Notaufnahme. Ein Mix aus Alkohol und Tabletten«, sagte er schließlich. »Den können wir vergessen. Ausgerechnet jetzt. Wenn ich die Kälble allein auf den Mord im Theaterhaus ansetze, ist sie die Nächste, die zusammenklappt. Das steht die nicht durch. Nicht in den Zeiten, wo die Presse auf jeden Ausrutscher von uns wartet.«
»Zucker oder Honig?«, fragte Elvira.
»Ich muss Hilfe anfordern. Aber woher? Wir sind schon unterbesetzt. Und die Angelegenheit muss schnell vom Tisch.«
Elvira drehte den Löffel im Honig und tauchte ihn dann gut gefüllt in Böhnischs Tasse ein. Sie rührte für ihn um.
»Oliver will nach Freiburg. Er will dort studieren«, sagte sie.
»Wieso Freiburg? Das kostet nur Geld. Wenn er hier studiert, ist es billiger. Außerdem habe ich ihn dann im Blick.«
»Vielleicht will er gerade deswegen weg.« Elvira leckte den Resthonig vom Löffel und behielt ihn erwartungsvoll im Mund.
Böhnisch sah sie konzentriert an. »Freiburg, das ist eine gute Idee. Eine sehr gute Idee.« Er zog sein Handy wieder heraus und scrollte die letzten Anrufe ab, die er getätigt hatte. Er fand die gesuchte Nummer und wählte sie.
***
Belledin fegte auf der Überholspur alles weg, was es wagte, vor ihm zu schleichen. Der linke Mittelfinger zuckte im Dauereinsatz. Blinker und Lichthupe. Immerhin hatte er darauf verzichtet, sein Blaulicht aufs Dach zu setzen. Er wollte nach Hause. Zu Biggi. Die Ausfahrt nach Pforzheim zog an ihm vorüber. Jetzt wurde der Verkehr allmählich zäh. Eine Baustelle verengte die Fahrbahnen der A 8 und zwang das Tempo auf achtzig Stundenkilometer.
Mürrisch trat Belledin auf die Bremse. Ihm kam der Temposchwund vor, als würde er rückwärts fahren. Sein Handy brummte. Er sah auf das Display: Böhnisch. Belledin hatte die Nummer schon beim ersten Telefonat abgespeichert. Solche Dinge erledigte er sofort. Er wollte immer wissen, wer ihn nervte. Er überlegte kurz, dann entschied er sich, den Anruf entgegenzunehmen. Vermutlich wollte Böhnisch ihm noch ein paar Komplimente zuflöten. Die hörte er sich gerne an.
»Belledin.« Am Ende seines Namens zog er die Silbe fragend nach oben und wartete, bis der Anrufer bestätigte.
Böhnisch tat aber alles andere, als Belledin bloß zu bestätigen. Zwar prasselte es nur so von Komplimenten, aber es ging dabei nicht nur um Belledins Vortrag, sondern auch um seine bisherigen Meriten, die bis ins Ländle gedrungen seien. Und wie selten es solche Kaliber wie Belledin heutzutage noch gäbe. Alte Schule und so weiter. Belledin drehte den Rückspiegel so, dass er sich darin sehen konnte. Er wollte sich überzeugen, ob Böhnisch tatsächlich den Mann mit dem runden Gesicht, der Halbglatze und dem dicken Schnäuzer meinte. Belledins Spiegelbild grinste wie ein Mondkalb im Abendrot. Mehr davon, dachte er, aber er sagte: »Genug. Genug. Sie machen mich ja ganz verlegen.«
Die kurze Pause in der Leitung ließ Belledin skeptisch werden. Er dachte darüber nach, wann er jemandem einen solch üppigen Strauß mit Blumen reichte. Und er kam gleich auf Biggi. Wenn er Biggi sagte, wie toll sie war, wollte er Sex. Was wollte Böhnisch?
»Hallo? Böhnisch? Sind Sie noch dran?« Ein Funkloch. Rauschen in der Freisprechanlage. Der Kontakt brach ab. Böhnisch würde es gleich wieder versuchen. Sonst wäre der Honig, den er ihm um den Bart geschmiert hatte, für die Katz.
Das Handy brummte. Wie erwartet wieder Böhnisch. Belledin zögerte. Warum sollte er nicht so tun, als ob das Funkloch länger anhielte? Oder sein Akku leer sei? Nein, das wäre unprofessionell. Nach allem, was er gerade über sich gehört hatte, war er unmöglich der Typ, dessen Handyakku plötzlich den Geist aufgab. Er ging dran.
»Ja?« Mehr sagte er vorerst nicht mehr. Denn nun kam das, was unter dem Balzteppich lag. Böhnisch sagte: »Zieh dich aus und dreh dich um.« Wenigstens kam es Belledin so vor. Denn was Böhnisch für all den Schmalz, den er von sich gegeben hatte, nun verlangte, war nichts Minderes.
»Das muss ich erst mit meinen Chefs absprechen.« Ein netter Versuch, den Böhnisch sofort niederschlug. Er habe bereits mit Freiburg gesprochen, für Ammer sei das machbar: Die Kollegen könnten den Laden auch eine Weile allein schmeißen. Es stünde nichts Großes an. Er habe volles Verständnis. In solchen Notlagen müsse man sich aushelfen. Und schließlich sei Belledin ein Mann, der keine Ewigkeit an einem Fall kaue. Gerade deswegen wollte man unbedingt ihn für die Sache.
»Ich fahr g’schwind heim und hol ä paar Sache.« Belledin war ins Badische gerutscht. Er brauchte etwas, woran er sich festhalten konnte. Aber Böhnisch bat ihn, sofort umzukehren, damit er noch heute am Tatort sein konnte.
»Ja, klar. Isch au besser so. Ich nehm die negschte Ausfahrt und kehr um. Wo isches genau? Ich kenn mich in Stuttgart nämlich nit so gut aus … Siemensstraße 11, gut.«
Böhnisch hatte aufgelegt. Er wollte wohl nicht warten, bis Belledin es sich doch noch anders überlegte.
»Schissdreck! Hureseich, verdammter!«, schrie er in den Rückspiegel und drehte ihn dann so, dass er seinen rot angelaufenen Kopf nicht mehr sehen musste. Dafür blinkte jetzt eine Lichthupe hinter ihm, da er nun selbst auf der linken Fahrbahn trödelte. Die Baustelle war längst vorbei, er aber fuhr noch immer achtzig.
Belledin setzte das Blaulicht aufs Dach. Die Lichthupe des Dränglers erstarb umgehend. Er gab Gas und fegte auf die nächste Ausfahrt zu.
***
»Sie glauben doch nicht etwa, dass ich die Leute aus den Vorstellungen hole? Die haben bezahlt dafür. Was mache ich, wenn die dann ihr Geld wieder zurückhaben wollen?« Der Mann mit der hohen Stirn und dem langen weißen Haar schüttelte fassungslos den Kopf. »Gute Frau, des isch ausg’schlosse«, setzte er hinterher.
Anna sah sich den Chef des Ladens genau an. Ganz in Schwarz gekleidet. Biker Boots, enge Jeans, ein schwarzes Hemd und eine Motorradlederjacke, die noch aus der Zeit stammte, in der Annas VWBus als Neuwagen galt.
»Herr Schretzmeier, hier wurde ein Mann ermordet.«
»In meinem Stück auch. Gucken Sie sich ruhig mal die ›Zwölf Geschworenen‹ an, da können Sie noch was lernen.« Er hob beschwörend seine rechte Hand. Anna bemerkte, dass ihm zwei Finger fehlten. »Wir haben heute zweitausend Leute hier. Die können Sie gar nicht alle vernehmen. Fangen Sie doch einfach mit denen an, die bereits hier rumstehen. Bis Sie mit denen fertig sind, reiß ich schon wieder Karten ab.« Er sah auf die große Uhr, die im Foyer an der Wand hing, und hatte es eilig. »Ich muss die Ansage machen. Ich hab heut nämlich Abenddienst.«
Schretzmeier ließ Anna stehen und eilte die Stufen des Foyers hinab, um in dem verglasten Kassenhäuschen zu verschwinden. Dort griff er nach einem Mikrofon, um das ein Taschentuch gewickelt war. Er erinnerte Anna an einen Schausteller, der für die nächste Runde im Autoscooter warb. Wenn man Glück hatte, konnte man bei ihm bestimmt auch einen riesengroßen Teddybären gewinnen.
»Liebe Besucher des Theaterhauses, werte Gäschte, in T4 beginnt in wenigen Minuten ›Fußball ist unser Leben‹. Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein.« Eine Rückkopplung durchschnitt das Foyer. Anna sah, wie Schretzmeier verärgert mit einem Angestellten gestikulierte, und ließ dann ihren Blick durchs Foyer schweifen. Schretzmeier hatte recht. Es war unmöglich, alle Leute zu vernehmen. Wie sollte sie auch die neuen Theatergäste von denen unterscheiden, die gerade aus einem Stück gekommen waren? Es war ein Kommen und Gehen. Sie hoffte auf die Spurensicherer und darauf, dass Schirmer endlich antanzte. Entschlossen ging sie auf das Kassenhäuschen zu und fing Schretzmeier ab, der seine Ansage beendet hatte.
»Können Sie mir die Teilnehmerliste des Kurses geben, der in Ihrer Turnhalle veranstaltet wurde?«
»Damit hab ich nichts zu tun. Ich vermiete die Halle nur. Den Rescht mache die Veranstalter.«
»Und wer ist der Veranstalter?«
Er plusterte die Backen auf. »Des weiß ich jetzt nicht aus dem Ärmel. Ich muss zum Einlass. Komme Sie morgen früh im Büro vorbei. Ja?« Er ließ sie stehen. Sie sah ihm nach und merkte, wie ihr die Knie zitterten. Lag es daran, dass sie seit heute Morgen nichts mehr gegessen hatte, oder musste sie sich eingestehen, dass sie sich überfordert fühlte? Sie war noch nicht bereit, einen solchen Fall federführend zu leiten. Wieso konnte es nicht ein Rentner sein, der in seiner Wohnung erschlagen worden war? Warum musste ihre erste Leiche ausgerechnet auf so einem Rummelplatz liegen? Sie fingerte nach einer Zigarette, verließ das Gebäude und rauchte in einem Pulk von Gästen, die sich ebenfalls auf eine Zigarette vor dem Eingang eingefunden hatten.
Unter den Rauchern entdeckte sie Gentner und ging auf ihn zu. »Haben Sie die Personalien?«, fragte sie ihn und war froh, sich über das kleine Einmaleins weiterhangeln zu können.
»Hans Bluhm, fünfundvierzig Jahre, Coach für Persönlichkeitsentwicklung und Kommunikation, NLP-Trainer. Geschieden, zwei halbwüchsige Kinder. Leben beide bei der Exfrau in Bremen.«
»War Bluhm also kein Stuttgarter?«
»Erster Wohnsitz in Hamburg. Sonst viel unterwegs. Hier war er im Hotel Landgraf in Feuerbach untergebracht.«
»Ständig? Das kostet doch.«
»Zahlt vielleicht der Arbeitgeber.«
»Und wer ist das?«
»Führe ich die Ermittlungen?«, fragte Gentner und blickte Anna dabei prüfend an.
»Danke.« Anna drückte ihre Zigarette in dem hüfthohen Metallaschenbecher aus und ließ Gentner rauchend zurück.
»Wenn Sie wollen, sage ich Ihnen in fünf Minuten auch, wer der Täter ist«, rief er hinterher und erntete von den Umstehenden einen Lacher.
Das Gelächter setzte sich in Annas Nacken fest. Er hatte ja recht. Es war ihr Job – und der von Schirmer. Und während Schirmer noch immer nicht hier war, stand sie gelähmt zwischen den Leuten und fragte einen Kollegen nach Dingen, die sie selbst zu ermitteln hatte.
Die Spurensicherer waren noch in der Umkleide zugange.
»Macht ihr die Halle auch?«, fragte Anna und erntete einen missmutigen Blick von Schmötzer.
»Klar, vor allem die Ecke, in der gefochten wurde. Die haben dort einiges an Schweiß verloren. Das bringt uns bestimmt weiter«, sagte Bea. Anna war froh über das Lächeln, das sie ihr schickte.
»Sollen wir nicht warten, bis Schirmer kommt, ehe wir unnötig Pferde bewegen?« Der brummige Bär konnte es nicht lassen. Bea drehte sich zu dem Kollegen um.
»Schmötzer, wenn du keinen Bock hast, dann geh endlich in Pension. Ein Job, der keinen Spaß macht, verkürzt das Leben.«
Schmötzer verdrehte die Augen und pinselte weiter nach Fingerabdrücken. Bea sah Anna an und zuckte mit den Schultern.
»Komm mal mit, ich zeig dir was.« Sie führte Anna zu dem Spind, in dem Bluhm seine Sachen deponiert hatte, und griff in den Fechtsack, der auf dem Boden stand. »Hier, mit diesen Degen wurde normalerweise gefochten. Sportwaffen. Die Spitze ist abgerundet, die Schneiden sind stumpf.«
Sie zeigte Anna einen der Degen, dann legte sie ihn wieder zurück.
»Damit kommst du niemals durch die Kleidung, geschweige denn durch den Brustkorb bis ins Herz. Der Täter muss mit einer scharfen Waffe gefochten haben.«
»Jemand hat also die Waffen ausgetauscht? Und der Täter wusste gar nicht, dass er eine scharfe Waffe in Händen hielt? Ein Unfall?«
»Kann sein. Oder der Täter hat den ganzen Abend den Kurs schon mit der scharfen Klinge gefochten und den richtigen Zeitpunkt abgewartet, um damit zuzuschlagen«, sagte Bea. »Wenn ich die Tatwaffe hätte, könnte ich mehr sagen. Je mehr Kerben die Klinge aufweist, umso länger wurde damit gefochten.«
»Ich muss mit den Kursteilnehmern sprechen. Die können sich doch nicht alle in Luft aufgelöst haben.«
»Gibt es keine Liste?«
»Komme ich jetzt nicht dran.«
»Warum nicht?«
»Der Theaterchef muss gerade Karten abreißen.«
»Und das lässt du dir gefallen?« Bea kam näher an Anna heran. »Ich rate dir eins. Stell dich auf die Hinterbeine, sonst hast du keine Chance. Guck dir Schmötzer an. Was glaubst du, wie der am Anfang mit mir umspringen wollte. Den Zahn habe ich ihm aber sofort gezogen.«
»Danke.«
»Nichts zu danken.« Bea drehte sich zu Schmötzer. »Wie sieht es aus? Können wir in die Halle?«
Annas Handy klingelte. Es war Böhnisch. Sie schluckte, dann ging sie dran. »Ja? … Was? … Ach du meine Güte … Und was mach ich jetzt? … Was? Aber warum? … Haben wir keine eigenen Leute? … Das schaffen wir doch auch so … Hallo? Hallo!«
***
Belledin atmete erschöpft aus. Es fiel ihm kein Fluch mehr ein. Die gesamte Rückfahrt hatte er geschimpft wie ein Rohrspatz. Hatte sich gefragt, was er verbrochen hatte, dass man ihm so etwas antat. War der Vortrag nicht Strafe genug gewesen? Was hatte Ammer gegen ihn? Fürchtete er etwa, Belledin wäre heiß auf seinen Sessel, und wollte ihn deshalb in Stuttgart kaltstellen? Da konnte er beruhigt sein. Belledin liebte seinen Job genau so, wie er war. Er hatte kein Bedürfnis, noch weiter nach oben zu klettern. Er war dort angekommen, wo sich Fähigkeit mit Position verbrüderte. Eine Stufe höher, und er befand sich auf dem Parkett der Diplomatie und der geschmeidigen Hinterzimmerpolitik. Nichts für ihn. Er würde schlittern und dabei Porzellan zerschlagen, bis keine Vase mehr heil war.
Nein, Ammer konnte sich Belledins Loyalität sicher sein. Er musste ihn nicht so demütigen. Wenn er ihm zeigen wollte, wer der Chef im Haus war, sollte er ihn eben wieder Streife fahren lassen. Irgendwo zwischen Bickensohl und Amoltern. Aber doch um Himmels willen nicht nach Stuttgart schicken, um dort mit den Schwaben zusammen einen Mord aufzuklären! Sollten die sich doch gegenseitig umbringen. Ein paar Schwaben weniger, das würde die Welt schon verschmerzen.
Er hupte und brüllte: »Mach Platz, Spätzlefresser!« Dann atmete er noch einmal tief durch und sah aus dem Fenster. Es gab nichts zu sehen. Er stand im Tunnel nach Feuerbach. Wusste der Teufel, warum es hier nicht weiterging. Er würde sein Auto in den Tagen, die er hier war, stehen lassen und öffentlich fahren. Ansonsten hätte er pro Tag entweder drei Schlägereien oder seinen Audi zerbeult. Stuttgart war nicht New York, aber von der Freiheit Kaiserstühler Landstraßen doch weit entfernt.
Er tat nun das, wovor er sich bislang erfolgreich gedrückt hatte. Er rief Biggi an. Sie würde traurig sein, zetern, sich Sorgen machen. Auch sie kannte Stuttgart nur aus Erzählungen, und in Merdingen erzählte man sich nichts Gutes.
»Hallo, Schatz, ich bin’s. Du, ich komm heut nit heim … Die brauche mich hier länger. Ich soll helfe bei ’nem Mordfall.« Belledin lauschte. Am anderen Ende herrschte Stille. »Biggi? Bisch noch dran?« Er sah auf sein Handy. Es zeigte Empfang an. »Hallo? … Ah, jetzt, ich hab scho denkt, dich hätt de Blitz erschlage … Häsch verstande, was ich g’sagt hab? … Gut … Des heißt, ich bleib die Woch über in Stuttgart und komm erscht am Wocheend heim. Es sei denn, mir hän de Täter früher.«
Wieder kein Ton von Biggi.
»Biggi? Sag doch was.«
Endlich redete sie. Aber nicht mit ihm. Sie fragte sich vielmehr selbst, wer ihm denn kochen, die Wäsche machen und putzen würde. Und überhaupt. Wo würde er schlafen? Sie würde ihm ein Päckchen schicken. Auf jeden Fall. Mehr konnte sie erst einmal nicht tun. Sie schien zufrieden mit ihrer Lösung.
Der Stau lockerte sich, der Verkehr floss. Belledin tauchte aus dem Tunnel auf.
»Mir höre uns später.« Er beendete das Gespräch und suchte im Wald der Verkehrsschilder den Wegweiser zum Theaterhaus. Er fand ihn – aber zu spät. Er befand sich auf der falschen Fahrspur. Er blinkte, um sich noch einzuordnen, aber die anderen Autofahrer nutzten die Grünphase und ließen ihn mit seinem flehenden Blinken verhungern. Dafür hupten die anderen, die geradeaus wollten und an Belledin nicht vorbeikamen. Belledin wütete nicht, kein Mucks entglitt seinem sonst so hitzigen Mundwerk. Er atmete tief in seinen Bauch, von dem er viel hatte, und sagte dann leise, aber für die Ewigkeit in Stein gemeißelt: »Ich loss au keine meh nie.«
Dann zog er nach dem letzten Auto rüber und wartete stoisch vor der roten Ampel. Er war angekommen. Nun war er im badischen Zen. Nichts würde ihn mehr aus der Ruhe bringen. Er würde hier seinen Job mit einer Professionalität abziehen, dass man noch Jahre später davon erzählen würde. Die Ampel sprang auf Grün. Er fuhr an und bog auf das Gelände des Theaterhauses.
***
Anna hatte einen Rundgang durch das Theaterhaus gemacht. Es war größer, als sie dachte. Vier bespielbare Säle, die Sporthalle, ein Glashaus und das riesige Foyer. Dann die Werkstätten und Technikräume, im anderen Trakt die Büros. Ein Labyrinth. Und zu allem Übel überall Feuertüren, die ohne Schlüssel nur in eine Richtung zu öffnen waren. Hier konnte man leicht irgendwo stecken bleiben. Für einen Moment hatte Anna gehofft, dass es dem Täter so ergangen war und sie ihn in irgendeinem Teil verzweifelt auffinden würde. Aber ihr waren nur Bühnenarbeiter begegnet, die Kulissen schoben, und Schauspieler, die auf ihren Auftritt warteten. Einen Comedian glaubte sie aus dem Fernsehen zu kennen. Sein Name fiel ihr nicht ein. Sie hatte andere Rätsel zu lösen.
Sogar eine Wohnung für Gäste gab es. »Jetzt haben Sie bis auf den Heizungskeller alles gesehen.«
»Danke. Gibt es einen Plan, den sie mir kopieren können?«
»Klar. Kann ich gleich machen.«
Lewandowski stieg die knirschende Holztreppe in die Etage hinunter, auf der sich sein Büro befand. Er kramte in einem Ordner und zog einen Grundrissplan des Gebäudes hervor. »Der Kopierer steht ein Stockwerk tiefer, beim Chef.«
Schretzmeier selbst stand vor dem Kopierer und zog einige Kopien durch. Er ließ es ruhig angehen. Aus seinem Büro klangen Trötentöne. Anna sah hinein und entdeckte einen Fernseher, der ein Fußballspiel übertrug.
Schretzmeier blickte auf. »Zwei zu eins für Fürth. Fürth führt.« Er brummte zerknirscht über sein Wortspiel. Anna sah die Wiederholung. Ein schönes Tor.
»Und? Erfolgreich?«, fragte er, während er seine Kopien zusammenschob.
»Eine Mordaufklärung dauert länger als ein Theaterstück oder ein Fußballspiel.«
»Beim Columbo net.« Schretzmeier presste die Lippen altklug aufeinander. Dann lachte er das Lachen eines langjährigen Rauchers und drehte sich zu Lewandowski. »Du, Pawel, ich geh rüber an den T1-Tisch. Du machsch des alles hier, ja? Gut.« Es hörte sich an wie das tägliche Kommando eines mild gewordenen Feldwebels. Jetzt drehte er sich wieder zu Anna. »Frau Kommissarin. Ich wünsche erfolgreiche und schnelle Ermittlung. Wär schön, wenn Sie den Mörder schnell fassen täten. Net, dass womöglich noch ein zweiter Mord hinzukommt, dann bleiben mir die Besucher weg. Und des wär eine Kataschtrophe. Gut Nacht.«
Anna versperrte ihm den Weg. Schretzmeier stutzte.
»Der Veranstalter und die Teilnehmerliste. Jetzt sind wir ja im Büro.«
»Gute Frau, ich hab einen langen Tag hinter mir. Irgendwann isch au mal Feierabend.«
Anna wich keinen Deut zur Seite. Schretzmeier presste wieder die Lippen aufeinander, bis sie unsichtbar waren, ging in sein Büro und ließ den Blick über ein Regal schweifen. Er drehte sich zu Anna um und zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, der Ordner isch beim Willi obe, in der Buchhaltung.«
»Gehen wir hoch.«
»De Willi isch scho daheim.«
»Haben Sie keinen Schlüssel?«
Schretzmeier knurrte. Gleich würde er auch beißen. Sie ließ ihn an sich vorbei und folgte ihm die Treppen ein Stockwerk höher.
»Waren Sie den ganzen Abend im Foyer?«, fragte Anna in Schretzmeiers Rücken. Er blieb stehen, drehte sich um und blickte auf sie hinab.
»Wenn ich Abenddienscht hab, hab ich keine Zeit, einen umzubringe.« Er sah sie scharf an. »Außerdem bin ich ein entschiedener Gegner von Gewalt. Schon seit 68.«
»Sie waren also den ganzen Abend über sichtbar?« Anna ließ nicht locker.
»Sichtbar, hörbar, omnipräsent.« Schretzmeier ging voran und öffnete die Tür zur Buchhaltung. Er knipste das Licht an und knöpfte sich die Ordner vor. Es dauerte nicht lange, dann zog er den richtigen aus dem Regal und legte ihn auf ein Stehpult. Er klappte ihn auf, blätterte und zog ein Blatt heraus. »Da isch die Liste. Milton Reloaded. So heißt der Veranstalter.«
Anna streckte die Hand danach aus. Schretzmeier zog das Papier zurück.
»Ich mach Ihne eine Kopie.« Er klappte den Ordner zu, stellte ihn zurück, knipste das Licht aus und verschloss die Tür. Dann stieg er wortlos die Treppe herunter, kopierte die Liste und reichte sie Anna.
»Z’friede?«
Anna sah kurz auf die Liste, faltete sie und steckte sie in ihre Jackentasche. Ihr Blick fiel auf den Fernsehapparat in Schretzmeiers Büro. Experten besprachen die Niederlage des VfB. »Wie war die erste Halbzeit?«
»Furchtbar. Net zum Angucke.«
»Also waren Sie doch nicht die ganze Zeit im Foyer.« Sie merkte, wie sich ihre rechte Braue nach oben zog.
»Mir reiche die erschte zwei Spielzüg, und ich weiß, wie der Rescht der Halbzeit läuft. Schon mal was von Körpersprache gehört? Da kannsch du alles lese.« Schretzmeier reckte sich, als würde er selbst gleich auf den Platz laufen.
Lewandowski kam mit zwei geleerten Papierkörben zurück, die er neben den Kopierer stellte.
Schretzmeier drehte sich zu ihm. Diesmal mit der verkürzten Version seiner Anweisung. »Pawel, alles klar? Gut. Ich bin drübe.«
Lewandowski legte den Plan auf den Kopierer. Er ließ den Apparat blitzen und reichte Anna den Ausdruck. Sie nahm ihn und steckte ihn ein.
»Zum Foyer geht es …?«
»Geradeaus. Ich gehe hoch und mache noch einen Rundgang.«
Anna ging den Gang entlang auf die Feuertür zu, die zum Foyer führte. Aus einem der Büroräume summte Metallica. Sie sah hinein.
Ein tätowierter Fleischberg saß hinter einem Bildschirm unter Kopfhörern und wippte mit langem Haar zur Musik. Anna klopfte mit dem Knöchel ihres Zeigefingers gegen den Türrahmen, wohl wissend, dass sie gegen Metallica nicht ankam. Sie trat ein und winkte. Der Fleischberg nahm nichts wahr. Anna stellte sich neben ihn und sah, dass er in ein Mystery & Crime-Spiel verstrickt war. Sie kannte es: »Belief and Betrayal«. Sie hatte sich während ihrer Zeit auf der Akademie gerne die Nächte damit um die Ohren geschlagen. Jetzt kam sie zu keinem Spiel mehr. Aus dem Spiel war Ernst geworden.
Sie schob dem Spieler ihren Dienstausweis vors Gesicht. Der schrak hoch. »Was? Polizei? I hab nix g’macht! Die von Schalke hen ang’fange.«
Anna zog ihm den Kopfhörer von den Ohren. Der Stecker sprang aus der Buchse. Metallica hämmerte durch den Raum. Der Fleischberg stellte die Musik ab. »Der isch oifach dumm g’falle, des isch alles.«
»Wie heißen Sie?«
Der Mann stand auf und drehte sich um. Auf seiner Jeansjacke, die ihn als Fan des VfB Stuttgart auswies, stand sein Kampfname: »Bulli«.
»Und mit bürgerlichem Namen?«
»Bernd Ulmen.«
»Also, Herr Ulmen, wo waren Sie heute zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr?«
»Ich? An der Abendkasse. Da isch’s meischte los.«
»Zeugen?«
»Schätze, so an die tausend. Der Rescht läuft über Vorbestellungen.«
»Und wie viele Zeugen gab es gegen Schalke?«
»Ausverkauft.« Er grinste breit. »Wenn Sie mal Luscht habet, neben mir isch immer noch ein Stehplatz frei.« Bulli streckte seine Zunge aus dem Mund und wackelte mit der Spitze. Dann lachte er dreckig, sah sich um und kam einen Schritt näher an sie ran. Er roch nach dem Schweiß des Tages und einer Überdosis Knoblauch. »Aber mir könne gern au glei zur Sache kommen. Hier sieht uns keiner.«
Der Kerl nervte. Einen Tritt in die Eier würde tatsächlich niemand sehen. Und Bulli würde auch niemals jemandem davon erzählen, dass ihn eine zierliche Frau niedergeschlagen hatte. Ihr Temperament ließ Anna keine Wahl. Sie stieß Bulli von sich. Er plumpste auf seinen Sessel.
Mit einem Ruck zog sie den Hebel des Bürosessels, sodass der Sitz samt Bulli nach unten schoss. Vor Schreck sprang Bulli in die Höhe und kam genau in die Position, die sich Anna für ihren Tritt gewünscht hatte. Sie zog durch. Vollspann. Die Kugel krachte in den Winkel und zappelte im Netz. Bulli klappte stöhnend zusammen.
»Ich bin Kickers-Fan.«
Sie verließ das Büro und ging durch die Feuertür ins Foyer.
***
Belledin stand vor dem Eingang des Theaterhauses und studierte die Plakatwand, auf der die Spektakel angekündigt waren. Viele lustige Leute traten hier auf. Belledin kannte sie nicht. Er mochte keine Comedians. Bis auf Benny Hill. Über den konnte er lachen. Schon allein, wenn er an ihn dachte.
Er lachte dreckig und dachte daran, wie Benny Hill im Zeitraffer langbeinigen Krankenschwestern in Strapsen hinterherjagte. Benny Hill war tot. Die Comedians auf den Plakaten wirkten nicht lebendiger.
Er löste sich von den Plakaten und ging bis zur Absperrung des Tatorts. Die Leiche hatte man bereits fortgeschafft, nur die Spurensicherer und zwei Uniformierte schwirrten noch herum.
Belledin sah durch das offene Rolltor in die Sporthalle und entdeckte Blut auf dem Hallenboden. Er bückte sich, um unter der Absperrung hindurchzugehen. Eine Frauenstimme hinderte ihn daran.
»Halt. Da dürfen Sie nicht durch.«
Belledin ließ sich davon nicht stören und kam hinter der Absperrung wieder hoch. Eine Hand packte ihn an der Schulter. Er schnellte herum, griff das Handgelenk und drehte der Frau den Arm auf den Rücken. Sie jaulte. Belledin erkannte sie und ließ los.
»Immer ruhig, junge Frau«, brummte er und sah ihr humorlos in die Augen. Die Frau schien verwundert, ihn hier anzutreffen.
»Was machen Sie hier?«, fragte sie.
»Hospitieren Sie etwa bei dem Fall? Wo ist der verantwortliche Beamte?«
»Ich bin die verantwortliche Beamtin, Kommissarin Kälble.«
»Ach du meine Güte.« Belledin gab sich keine Mühe, sein Entsetzen zu verbergen. »Jetzt ist mir alles klar. Darum hat mich Böhnisch gebeten, den Fall zu übernehmen.«
Sie trat zwei Schritte zurück. Dann drehte sie sich zweimal im Kreis und starrte hilfesuchend in die Ferne. Aber dort war nichts, was ihr hätte Beistand leisten können. Ihr Blick landete wieder auf Belledin.
»Damit das klar ist«, sagte sie. »Wir arbeiten zusammen. Sie übernehmen den Fall nicht.«
»Sie können auch gern Urlaub machen, wenn Sie meine Anwesenheit unter Stress setzt. Wäre mir ehrlich gesagt lieber. Ich möchte die Sache schnell hinter mich bringen. Anfänger machen Fehler, und Fehler kosten Zeit. Und die habe ich nicht, weil ich bald wieder nach Hause will.«
»Mobben Sie mich etwa gerade?«
Belledin antwortete nicht, sondern machte sich auf den Weg, um die Halle zu besichtigen. Kälble schlüpfte unter der Absperrung hindurch und blieb dicht an ihm dran.
Belledin lupfte seinen Hut und begrüßte die Frau von der Spurensicherung, die sich gerade um das Blut auf dem Hallenboden kümmerte. Er fand, dass sie in ihrem engen weißen Anzug sexy aussah. »Guten Abend. Kommissar Belledin. Ich soll hier für Herrn Schirmer übernehmen.«
»Der Belledin? Aus Freiburg?« Die Frau zeigte tadellose Zähne und ein Lächeln, das in jede Werbung gepasst hätte. »Beate Meier, gern auch Bea.« Sie streckte ihm ein Paar Plastikhandschuhe entgegen. Belledin griff sie und zog sie sich über.
»Schon viel von Ihnen gehört«, sagte Bea.
»Hoffe, nichts Gutes.«
»Wie man’s nimmt. Man sagt, Sie seien ein bisschen knorrig.«
»So, sagt man das.«
»Und erfolgreich.«
Belledin strich sich mit dem Plastikhandschuh verlegen über den Bart. Er konnte mit Komplimenten schlecht umgehen. Er war es gewohnt, dass es seine Pflicht war, gut zu sein. Nicht geschimpft war genug gelobt.
»Lag hier die Leiche?«, fragte er.
»Ja. Ein glatter Durchstoß. Vermutlich mit einem Degen. Mitten ins Herz. Der Doc kann Ihnen da bestimmt mehr erzählen.«
»Was gibt es an Spuren? Vielleicht die Tatwaffe?«
»Fehlanzeige.«
»Wir hoffen auf Schweiß und DNA. Die können wir dann mit den Teilnehmern des Kurses abgleichen«, drängte Kälble dazwischen.
»Kurs?«, fragte Belledin.
»Ich mach mal weiter.« Bea ging.
»Der Tote heißt Hans Bluhm, war Coach für Personalentwicklung. Er hat hier einen Kurs gegeben. Wir sollten uns bei seinem Auftraggeber mal umhören.«
»Personalentwicklung? Wäre vielleicht auch gut für Sie, so ein Kurs.«
»Hören Sie zu, Belledin: Sie mögen für manche vielleicht eine Legende sein. Für mich sind Sie bisher nur ein eingebildeter Affe, der ein Problem damit hat, mit Frauen zu arbeiten.«
»Haben Sie gerade ein Problem mit Frau Meier und mir gesehen?«
»Sie entspricht Ihrem Rollenklischee. Sie bewundert Sie und arbeitet Ihnen zu.«
»Könnte doch auch für uns ein Anfang sein, was meinen Sie?«
Kälble biss auf ihr Wangenfleisch. Ihr energisches Kinn sprang nach vorne und bezeugte Angriffslust. Sie schluckte und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus ihrer Jackentasche. »Hier. Die Liste mit den Teilnehmern des Kurses. Und die Adresse des Veranstalters.«
Belledin nahm ihr die Liste aus der Hand und las: »Milton Reloaded. Was ist das denn? Hört sich an wie ein neuer Matrix-Film.«
Er drehte sich zu dem weißen Papierengel um, der mit einem der Degen angeraschelt kam, und nahm ihn entgegen.
»So ein Degen könnte es gewesen sein. Im Gegensatz zu diesem hier allerdings spitz und scharf.«
»Danke.« Er besah sich den Degen durch die Plastikfolie.
»Kennen Sie sich mit Stichwaffen aus?«, fragte Bea.
»Nein. Ich schieße lieber. Aber Fechtfilme mochte ich immer. Wegen der Kostüme.« Er sah Bea zweideutig an und stellte sie sich in Rokoko vor: raus aus dem weißen Papier, rein ins gezurrte Mieder und die Brüste hochgeschraubt. Ein Seufzer entglitt ihm. Sein Degen wurde scharf. Die stählerne Stimme mit dem schwäbischen Kneifzangenbiss brachte ihn wieder in die Gegenwart.
»Soll ich den Veranstalter heute noch kontaktieren?«, fragte Kälble.
Belledins Blick sprang zu Kälble. Dann wieder zu Bea. Es war ein Wechselspiel wie Feuer und Eis. Er gab Bea den Degen zurück.
»Ich mach dann mal weiter«, sagte sie und ging mit dem Degen fort.
Kälble wartete noch immer auf Antwort. Sie hatte die rechte Braue nach oben gezogen und verrückte sie um keinen Millimeter, während Belledin sie ansah.
»Glaube nicht, dass Sie da heute noch jemanden erreichen werden. Wo hat Bluhm gewohnt?«, fragte er.
Kälble nahm ihm die Liste aus der Hand und fand Bluhms Adresse vor Ort. »Hier ist er im Hotel Landgraf in Feuerbach abgestiegen. Auf seinem Personalausweis steht Erstwohnsitz Hamburg.«
»Dann schlage ich vor, dass ich mir das Hotel vornehme und Sie nach Hamburg fahren.«
Kälble sah ihn fassungslos an.
»War ein Scherz.« Belledins Augen funkelten diebisch. Kälble verzog keine Miene. Es würde nicht leicht werden. Sein Mitarbeiter Wagner hätte bestimmt gelacht. Oder sich wenigstens einen genehmigt. Wie Kälble aussah, trank sie noch nicht einmal.
ZWEI