Norbert Gstrein

DAS HANDWERK DES TÖTENS

Roman

Carl Hanser Verlag

Die Erstausgabe erschien 2003

im Suhrkamp Verlag.

ISBN: 978-3-446-24236-4

© 2010/2012 Carl Hanser Verlag München

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Inhalt

Erstes Kapitel
DAS HANDWERK DES TÖTENS

Zweites Kapitel
STORIES & SHOTS

Drittes Kapitel
TRAUMSTRASSEN IN JUGOSLAWIEN

Viertes Kapitel
MISS SLAVONSKI BROD

Fünftes Kapitel
EINE SCHÖNE GESCHICHTE

zur Erinnerung an
Gabriel Grüner

(1963 – 1999)
über dessen Leben und dessen Tod
ich zu wenig weiß
als daß ich
davon erzählen könnte

i za Suzanu

Erstes Kapitel

DAS HANDWERK DES TÖTENS

Ich hatte Paul für einen Schwätzer gehalten, der unentschieden war, wie er seine Tage herumbringen sollte, und mir auflauerte, sich aus nie ganz klar gewordenen Gründen an mich hängte. Er war schon länger Mitarbeiter der Zeitung gewesen, aber erst seit wenigen Monaten in der Stadt, und später erinnerte ich mich genau daran, wie er eines Nachmittags, als ich selbst gerade dort zu tun hatte, in der Redaktion aufgetaucht war, um sich vorzustellen, und niemand recht wußte, was mit ihm anfangen, weshalb er schnell wieder verschwand. Drei Tage danach hatte er mich in meinem Frühstücks-Café in Ottensen angesprochen, und ein oder zwei Wochen war ich zurückgeschreckt, wenn ich ihn durch das Fenster entdeckte, offensichtlich schon Stammgast, hatte mich vorbeigedrückt und irgendwo anders meinen Kaffee getrunken oder war nach einer halben oder dreiviertel Stunde wiedergekommen, in der Hoffnung, daß er das Warten aufgegeben hatte, eine müßige Hoffnung, wie ich bald einsehen mußte. Die Tür im Auge, saß er immer am selben Platz, im Aschenbecher eine Zigarette, die er nach dem Anzünden verglimmen ließ, ohne noch ein einziges Mal daran zu ziehen, und er begrüßte mich wie einen guten Bekannten und deutete auf den Stuhl neben sich, als ich mein Versteckspiel schließlich zu kindisch fand und es aufgab.

Er schrieb für den Reiseteil, Berichte, die er auch an andere Blätter verkaufte, und weil ich mir nichts davon jemals ansah, hatte ich vorher kaum seinen Namen gekannt. Der Vergleich war vielleicht schief, aber es bestand eine Hierarchie unter den Ressorts, wie es sie ganz ähnlich in Gefängnissen geben mußte, je nach dem Verbrechen, das man begangen hatte, und demnach stand er im Rang eines Kinderschänders oder knapp darüber. Nicht daß meine Position eine viel bessere gewesen wäre, als sogenannter fester Freier, der einmal da, einmal dort einsprang, aber wenn man etwas hatte, worauf man hinunterschauen konnte, wie er später selbst irgendwann sagte, schaute man darauf hinunter.

Sein österreichischer Akzent war mir nicht entgangen, und obwohl ich das sonst eher verschweige, erzählte ich ihm, daß meine Eltern aus Wien stammten. Dann fragte ich ihn, was ihn nach Hamburg geführt hatte, die Arbeit wohl kaum, war doch keine Stelle für ihn in Aussicht, und ich erinnere mich, wie er zusammenzuckte, als hätte ich wissen wollen, warum er überhaupt auf der Welt war. Alles an ihm schien mir auf eine bestürzende Weise vorläufig zu sein, er selbst wie auf Abruf bereit, neu anzufangen, von vorn zu beginnen, erlösungsbedürftig geradezu, und die Antwort klang dann so dramatisch, daß sie sich fast nicht niederschreiben läßt, ohne Zweifel an ihrer Richtigkeit hervorzurufen.

»Mein Todesengel.«

Zwar brach er im selben Augenblick in ein schnell wieder verebbendes Lachen aus, aber ich weiß bis heute nicht, ob nicht doch eine Spur Ernst dabei war, so, wie er das sagte, als gehörte es zu seinem alltäglichen Vokabular.

»Bemüh dich nicht, es schönzureden«, fuhr er fort, ohne daß ich überhaupt die Gelegenheit gehabt hätte, etwas zu erwidern. »Du hast mich schon richtig verstanden.«

Ich mochte es, wenn einer es schaffte, sich mit einer einzigen Wendung zum Narren zu machen, aber ob ich es wollte oder nicht, auf seine Art hatte er uns nach ein paar weiteren Sätzen in die Rolle von zwei Schwerenötern gedrängt, in ein Gespräch über die ersten und letzten Dinge, als wäre nicht klar, daß dabei nichts herauskommen konnte und daß es ohnehin viel zu viele Leute gab, die sich mit den gleichen Worten in die gleichen Binsenweisheiten verirrten.

Er hätte mir nichts anvertrauen müssen, allein die Verlorenheit, die er ausstrahlte, brachte mich darauf, daß seine Frau ihn verlassen hatte und daß er jetzt angeschlagen dastand und versuchte, sich zurechtzufinden, in der Mitte des Lebens, wie es hieß, als hätte er die Wahl, vor- oder zurückzugehen, und die Richtung wäre nicht ein für alle Mal festgelegt. Etwas an ihm erinnerte mich an eines der Kinder mit viel zu dicken Brillen, die ich immer instinktiv bemitleidet hatte, gerade imstande, sich selbst die Schuhe zu schnüren, und schon überfordert, sobald sie mehr tun sollten. Für mich war er einer von denen, die in einem bestimmten Alter anfingen, über Abzweigungen nachzudenken, hilflose Ausbruchsversuche inszenierten und die Welt nicht mehr verstanden, wenn sie sich plötzlich vor verschlossenen Türen wiederfanden. Es war die alte Geschichte, die er erzählte, und eigentlich langweilte sie mich, ich hatte sie in meinem Bekanntenkreis in allen möglichen Variationen gehört, und das Ende war immer, daß sich einer während einer Einladung bei Freunden auf die Straße stahl und zu einer Prostituierten ging, als würde ihm das alle Revolutionen ersetzen, die er versäumt hatte, oder auf einmal tauchte an seiner Seite ein Mädchen auf, das ihn aus unerfindlichen Gründen anhimmelte, und er glaubte, er könnte mit ihm seine Galgenfrist verlängern.

Die Neue, die Paul mit seiner sarkastischen Bemerkung gemeint hatte, hieß Helena, und natürlich konnte es nicht so einfach sein, wie es war, und es gab die entsprechenden Anekdoten dazu, die er mir auftischte, als wollte er in einem fort bestätigt haben, wie einzigartig, noch nie dagewesen selbst die lächerlichsten Kleinigkeiten auf mich wirken mußten. Auch ohne Verabredung war es nach unserem ersten längeren Gespräch schnell zur Regel geworden, daß wir uns am Morgen in dem Café trafen, und ich ließ mich darauf ein, manchmal länger bei ihm sitzen zu bleiben, wenn ich nichts Dringendes zu tun hatte, oder folgte seiner Aufforderung, mit ihm weiterzuziehen, und wußte, irgendwann kam er immer auf sie. Einmal gingen wir sogar zum Wasser hinunter, schlenderten am Fischereihafen und an den Landungsbrücken vorbei und gelangten schließlich in die Innenstadt, ohne daß er aufgehört hätte, von ihr zu reden, und vielleicht stimmte es sogar, wenn ich später zu ihr sagte, daß ich mich über der Mischung aus Leichtigkeit und Schwere, die er dabei anschlug, zu guter Letzt für sie zu interessieren begann.

Offenbar hatte er sie fünfzehn Jahre zuvor zum ersten Mal getroffen und danach nicht mehr gesehen und auch nichts von ihr gehört, außer bei einer Handvoll Telephonate, wenn es ihn in ihre Gegend verschlug. Der Anfang war in seinem Dorf in den Bergen gewesen, und es hatte etwas Rührendes und Lächerliches zugleich, wie er sich jetzt aus den paar Bruchstücken, die er hatte, eine Notwendigkeit zusammenbastelte, eine Bestimmung, wenn schon nicht füreinander geschaffen, so doch schicksalhaft verstrickt zu sein. Dabei war es nicht viel, was er noch wußte, ein Spaziergang im Schnee, ohne daß er zu sagen vermocht hätte, ob sie es war, an die er sich erinnerte, oder eines der anderen Mädchen von damals, mit denen er Hand in Hand durch die Dunkelheit gestapft war, ein Lachen, das in der Kälte verflog, ein paar Sätze, aber auch gesprochen hatte man immer das gleiche, die keuschen Brüste einer Sechzehnjährigen, in einer Dachkammer mit nervösen Fingern entblößt, ihre Traurigkeit, wenn das nicht nur sein absurder Wunschtraum war, um sich verlieben zu können, und daß sie große Füße hatte. Sie mußte mehr davon behalten haben oder behauptete es wenigstens, und wie gebannt von der Möglichkeit, etwas von dem vergangenen Glück zu erhaschen, konnte er jetzt Stunden damit zubringen, sich von ihr die Details wiederholen zu lassen, konnte sie fragen, ob er ihr mit seinen Großspurigkeiten in den Ohren gelegen war, was er alles machen würde, wenn er endlich aus dem Kaff wegkäme, die ganze Welt bereisen oder Schriftsteller werden, als wäre das ein und dasselbe, konnte nachhaken, ob er versucht hatte, sie mit seinem Gerede zu beeindrucken, bis er am Ende immer wissen wollte, ob er so weit gegangen war, ihr seine Liebe zu gestehen, und sie kopfschüttelnd verneinte und lachend herausplatzte, daß er dafür viel zu feig gewesen sei.

Ich weiß nicht, ob es Zufall war, daß er auf mich verfallen ist, und er sonst jemand anderen gewählt hätte, der sich noch weniger gegen ihn wehrte, ob es an meiner Herkunft lag, die uns für ihn zusammengehörig erscheinen ließ, oder er hatte Zutrauen gefaßt, weil er ahnte, ich war vom gleichen Übel gepackt wie er, von dem Traum, irgendwann einen Roman zu schreiben, der einem das Leben erträglich machen sollte, einen entschädigen, ohne daß ich sagen könnte, wofür.

Natürlich war es ein Klischee, in jedem Journalisten einen verhinderten Schriftsteller zu sehen, aber mir war es allzu oft passiert, daß einer nach ein paar Gläsern Wein plötzlich damit herausrückte, was ihn eigentlich umtrieb, und ich mir gerade noch einmal auf die Lippen beißen konnte, erleichtert, nicht selbst damit angefangen zu haben, bis ich mich auch mit Paul in einem Gespräch wiederfand, bei dem wir uns über die vielen verkannten Genies in den Redaktionen ausließen.

Das war am Morgen, nachdem ich in der Halle des Reichshofs eine geschlagene Stunde auf ein Interview mit einer Regisseurin vom Schauspielhaus gewartet hatte, bevor sie überstürzt hereinkam und mich mit einer Handbewegung wegscheuchte, die ich nie mehr vergessen werde, und er versuchte, mir darüber hinwegzuhelfen, als er mich in den zwielichtigen Kreis aufnahm.

»Du willst doch dein Leben nicht mit solchen Lappalien vergeuden«, begann er, nachdem ich ihm davon erzählt hatte. »Wenn du genau hinschaust, ist alles nur eine Frage der Behauptung.«

Was er dann sagte, meinte er, wenn schon nicht als Ritterschlag, so zumindest als eine Art Freispruch, aber dem Ton nach hätte es genauso gut eine Verdammung sein können.

»Für mich bist du ein Schriftsteller.«

Dabei beließ er es, und gerade weil es da an der Zeit gewesen wäre, wagte ich nicht auszusprechen, daß ich mich nach unseren Treffen zu Hause oft hinsetzte und aufschrieb, was er erzählt hatte, ohne daß ich heute sagen kann, ich erwartete mir von meinen einmal zu forschen, einmal zu zaghaften Versuchen allzu viel. Für mich war nichts brauchbar, und ich würde lügen, wenn ich behaupten wollte, ich hätte ihn nur an mich herangelassen, weil er so verzweifelt wirkte und mir aufging, was auch immer er tun würde, am Ende müßte auch für mich etwas abfallen. Denn obwohl er mir manchmal wie ein Spieler erschien, der noch nicht zum Zug gekommen war oder eine Pechsträhne gehabt hatte und bei der ersten Gelegenheit seinen Einsatz so lange verdoppeln würde, bis nicht das Geringste von ihm übrig blieb, brauchte ich zu Beginn unserer Bekanntschaft nur meine Notizen durchzulesen, um einzusehen, daß sich daraus einzig und allein ein Melodrama machen ließe und sonst nichts.

Bei einer Reise nach London, jedenfalls, hatte er vor sechs Monaten Helena wieder getroffen, und allein wie er sagte, daß das kein Zufall gewesen sein konnte, machte mir nur ein weiteres Mal klar, welche Art von Geschichte er sich wünschte. Es erschreckte mich, wie nötig er solche Hirngespinste hatte, es war eine regelrechte Elegie für sie, als wüßte er nicht, daß man überall auf der Welt entlang der ausgetretenen Pfade früher oder später jemandem in die Arme liefe, den man kannte, ohne daß einen das so sehr aus der Bahn werfen müßte wie ihn. Er hätte sich nur selbst zuhören sollen, um mein Kopfschütteln zu verstehen, meine Verwunderung über seine Bemerkung, zuerst habe er sie gar nicht erkannt, habe nicht reagiert, als sie in der Paddington Station vor ihm stehen geblieben sei, eine junge Frau, die in einem fort seinen Namen wiederholte, habe sie angestarrt und erst glauben können, daß sie es war, als sie sich in einem Lokal in der Nähe gegenübersaßen, über den Tisch hinweg an den Händen hielten, einander in die Augen schauten und die ersten gemeinsamen Erinnerungen zusammenzubuchstabieren begannen.

Wahrscheinlich war ich neidisch, aber ich mochte die Anbetung nicht, sein Schwärmen, wie schön sie war, mochte nicht sehen, wie er die Augen schloß, sobald er damit anfing, nicht in sein Glück hineingezogen werden, in diese Kinderei, mochte nicht mitspielen, ihn anstarren und mir vorstellen müssen, was sie gesagt haben könnte.

»Fünfzehn Jahre, Paul, kaum zu fassen.«

Das war eine Möglichkeit, unverbindliche Sätze, um die erste Verlegenheit zu überbrücken, das erste Schweigen, während dem sie ihn vielleicht schon zu mustern begann.

»Was hast du die ganze Zeit getan?«

Ich weiß nicht, ob er zögerte, ob er den Film kannte, in dem der Held auf die gleiche Frage nur erwiderte, er sei früh schlafen gegangen, und man vermochte sich aufgrund dessen sein ganzes Leben auszumalen, aber ich nehme an, daß er weniger poetisch war.

»Ich habe auf dich gewartet.«

Die Reaktion konnte nicht ausbleiben.

»Was redest du da?«

Die Abfolge der Städte, in denen sie sich in den Wochen danach trafen, nahm sich aus wie ein Europaprogramm für amerikanische Touristen, und mir kam es vor, als könnte er nicht genug Trophäen sammeln, als hätte er Kilometer um Kilometer zurücklegen wollen, um endlich an den Anfang zu gelangen, von dem er nicht aufhörte zu glauben, er habe ihn mit ihr versäumt. Zu jeder Station hatte er eine Episode parat, aber darum ging es gar nicht, wichtiger war die Aufzählung, an all den Plätzen gewesen zu sein, als wäre allein der Aufwand, den sie trieben, ein Beweis ihrer Liebe, allein der Klang der Namen, der Klimbim, der sie umgab, und doch war es immer zu spät, zumindest behauptete er das, es war immer zu spät, er war nicht mehr jung, und wenn ich hörte, wie ihn die Möglichkeit quälte, sich in den Jahren davor irgendwann einmal mit ihr am gleichen Ort aufgehalten zu haben, ohne es zu wissen, eine Straße hinauf- oder hinuntergegangen zu sein, und sie war auf der anderen Seite an ihm vorbeigelaufen, oder sie irgendwo nur um ein paar Minuten verfehlt zu haben, tat es auch mir weh. Er war so versessen auf all die verpaßten Gelegenheiten, daß ihm nicht zu helfen war, es wirkte auf mich wie ein Wettlauf, den er nur verlieren konnte, dazu noch wie einer im Zickzack, der auf der Landkarte ein wirres Gekritzel abgegeben hätte, Striche, die alles auslöschen sollten, was davor gewesen war, und mit ihrer ständigen Gegenwart überschreiben. Wenn er damit anfing, er sei gerade in die Schule gekommen, als sie geboren wurde, und mich verwundert ansah, weil mich das nicht weiter beeindruckte, schwieg ich, und er ließ sich nicht bremsen, bevor er in dem Pariser Hotel angelangt war, ohne das eine solche Geschichte nicht auskam, hörte nicht auf, von einem Abendessen im Marais zu schwärmen, und wie er sie dabei nicht aus den Augen gelassen hatte, so fremd war sie ihm erschienen. Dazu paßte die Zigarre, die er mit ihr gemeinsam geraucht hatte, und wie er sich selbst ertappte, daß er die Blicke der Kellner genoß, ohne einen Anflug von Scham, oder wie sie ihn dann festgehalten hatte im Bett, fast über den Rand gedrängt, und ihre kräftigen Schultern, und wenn er auch klischeehaft, in festen Schablonen erzählte, konnte ich mir vorstellen, wie er mitten in der Nacht am Fenster gestanden war und hinausgeschaut hatte, ich konnte den Regen hören, die eiligen Schritte einer Frau drunten auf dem Pflaster, die in der Ferne verklangen, konnte den Mann im Haus gegenüber sehen, der im Unterhemd auf dem Badewannenrand gesessen war, und wußte, was er mit seinen Beschwörungen meinte, es hätte alles stehen bleiben sollen, in dem Augenblick, stehen bleiben und nicht mehr weitergehen, nur ihr Atem in der Tiefe des Zimmers, das kaum hörbare Ein und Aus, und wie sie nach ihm gerufen hatte, ein weißer Schatten in der Dunkelheit, wie er sagte.

Die nächste Station war dann schon Hamburg gewesen, weil sie dort lebte, und vielleicht lag es an seiner widerstandslosen Hingabe, seiner Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, sich nur treiben zu lassen, daß ich mich fragte, was er wohl den ganzen Tag tat, nachdem wir uns trennten. Es hatte nicht den Anschein, als würde er an etwas arbeiten, und ich erkundigte mich nie, erschienen jedenfalls war in den Wochen, in denen wir uns regelmäßig sahen, nichts von ihm, zumindest nicht daß es mir aufgefallen wäre, und er war auch kein einziges Mal weggefahren. Dabei hieß das allein nichts, hatte er mir doch erklärt, daß er längst viele seiner Reiseberichte zusammenstellte, ohne sich vom Ort zu bewegen, weil er es leid war, sich sagen zu lassen, es sei zu trist, was er schrieb, niemand wolle das lesen, und sich auf die gängige Formel beschränkte, freundliche Leute, sonnige Länder und ein bißchen Exotik, ein bißchen Folklore, die er immer und überall anwenden konnte, mochte der Weltuntergang bevorstehen oder nicht.

Für mich kam es trotzdem nicht unerwartet, daß er schließlich ein paar Tage ausblieb. Ich dachte schon, damit hatte es sich, er war genauso unangekündigt verschwunden, wie er aufgetaucht war, und ich konnte in Zukunft am Morgen wieder ungestört die Zeitungen lesen, ertappte mich dann jedoch dabei, wie ich auf die Uhr schaute und wartete, ob er sich vielleicht doch noch einfinden würde. Nicht daß ich ihn wirklich vermißt hätte, aber als er schließlich bei mir anrief, ging ich ohne zu zögern auf seinen Vorschlag ein, uns noch am selben Abend zu treffen, und da war es, daß ich Helena zum ersten Mal sah.

Wir hatten uns in einem Lokal am Neuen Pferdemarkt verabredet, und ich war vor ihnen da. Ich hatte einen Fensterplatz gewählt und entdeckte sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und mir fiel sofort ihre Ähnlichkeit auf, sie hätten Geschwister sein können, ein Eindruck, der später nicht nur einmal bestätigt wurde, wenn ich gemeinsam mit ihnen unter Leuten war, die gleichen Augen, hieß es, der gleiche Blick, das gleiche offene Gesicht, was auch immer das bedeuten mochte. Obwohl es gerade zu nieseln begann, blieben sie stehen, während die Fußgängerampel mehrmals umschaltete und die Leute links und rechts an ihnen vorbeieilten, und ich hatte Zeit, sie zu beobachten. Es war nicht zu erkennen, ob sie sich stritten, doch sie schienen nicht miteinander zu sprechen, und ihre Haltung wirkte abweisend auf mich, er schaute auf die Uhr, und sie verlagerte ständig ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, bis sie ein paar Schritte davonlief und er sie zurückholte und auf sie einredete. Mehr als ein Aufbrausen war es nicht, aber ich starrte hin und hatte Angst, ich könnte zu lange gezögert haben, mich wieder abzuwenden, und von ihnen dabei bemerkt worden sein, als sie sich näherten.

Damit mochte es zusammenhängen, daß sie mir den ganzen Abend nervös erschien und kaum etwas sagte, während er noch redseliger war, als ich ihn kannte, ständig das Thema wechselte und tatsächlich vom Hundertsten ins Tausendste geriet. Er ließ sie nicht zu Wort kommen, die paar Fragen, die ich an sie richtete, beantwortete er, und als ihr Telephon klingelte und sie in der Tasche danach zu kramen begann, warf er ihr nur einen Blick zu, und sie schaltete es aus. Die ein oder zwei Mal, die sie mich ansprach, siezte sie mich, und weil er von Anfang an viel direkter gewesen war, kam das für mich so unerwartet, daß ich aufschrak, sie ansah und seine Anwesenheit augenblicklich vergaß, mich zurückhalten mußte, nicht dem Impuls zu folgen und nach ihrer Hand zu fassen.

Ich weiß nicht, ob in ihrer Stimme Spott war, oder sie langweilte sich, auf jeden Fall zog sie Wort für Wort in die Länge und hatte offensichtlich ihren Genuß daran.

»Sie sind also Pauls Freund?«

Es klang schülerhaft, wie ich ja sagte, aber ich hätte genauso gut nein sagen können, so wenig achtete sie darauf.

»Dann müssen Sie von ihm alles über mich wissen«, fuhr sie fort. »Ich hoffe, es ist nicht nur Unsinn, was er Ihnen erzählt.«

Er hatte nie etwas davon erwähnt, daß er sie in unsere Gespräche einweihte, und ich war überrumpelt, lachte verlegen und sah ihn an, bis sie es von neuem versuchte.

»Bin ich so, wie Sie es sich vorgestellt haben?«

Ich kam nicht dazu, ihr zu antworten, weil Paul sie barsch unterbrach, mich mit ihrem Kokettieren in Frieden zu lassen, und dann zusah, daß sie sich nicht mehr an mich wandte. Es wurde ein unerquicklicher Abend, weil er gereizt war und weil ich tatsächlich zu viel über sie wußte und mich daran stieß, daß sie mir als Protagonistin einer Erzählung entgegentrat, die ich nicht steuern konnte. Zumindest störte es mich, daß er ihr vorgeworfen hatte, sie versuche, allen zu gefallen, sie habe sich, kaum mit ihm allein, jedesmal erkundigt, wie sie war, wenn sie ein paar Stunden in Gesellschaft verbracht hatten, habe seine Vorschläge, dies oder das zu tun, immer mit dem gleichen schön quittiert, auch schön, in ihrer unschuldigsten Stimme, und voraussehbar gefragt, ist sie jung, ist sie hübsch, ist sie klug, in dieser Reihenfolge, sooft er von einer anderen Frau gesprochen hatte. Das alles wollte ich nicht wissen, wollte ich nicht ausgerechnet von ihm gehört haben, noch wie sie nach dem Duschen ein Handtuch turbanartig um ihr nasses Haar schlang und nackt durch die Wohnung spazierte, wie sie ihre Handrücken eincremte, traumwandlerisch entrückt, und ihre Mundbewegungen dabei die einer konzentriert Schreibenden waren, wie sie auf dem Bauch einschlief, ein Bein gestreckt, das andere abgewinkelt, und auf dem Rücken liegend wach wurde, die Arme über dem Kopf verschränkt, als wäre ihr Vertrauen in die Welt ungebrochen, und es könnte ihr nichts geschehen. Vielleicht hatte sie einmal zu ihm gesagt, du kannst alles mit mir machen, wie er mir nicht vorenthalten hatte, aber wenn ich sie ansah in ihrem weißen Kleid, wünschte ich mir, er wäre ein Hochstapler, hätte sich das nur ausgedacht, um mich auf eine verquere Weise zu beeindrucken, und bekam gleichzeitig den Satz nicht aus dem Kopf, den ich irgendwo gehört hatte, das Bonmot, man solle nur nicht den Fehler machen und Kinder mit Engeln verwechseln.

Sein Umgang mit ihr war auf eine Weise ironisch, daß ich ihn am liebsten gepackt und gerüttelt hätte, ihm gesagt, er habe es mit einem Menschen zu tun und nicht mit einer Figur in einem Spiel. Wenn er zum wiederholten Mal mit ihr anstieß oder ihr Feuer gab, wirkte es auf mich wie ein Zitat, als wollte er damit zeigen, daß er wußte, er verhielt sich nicht anders als irgendein Narr, funktionierte, wie er funktionieren mußte, sobald er ihr dann in die Jacke helfen würde, die Tür öffnen und sie nach Hause begleiten. Es irritierte mich, daß sie sich so behandeln ließ, und immer wenn mein Blick zwischen ihnen hin- und herschweifte und ich keine Reaktion bei ihr bemerkte, fragte ich mich, ob er sich nicht auch auf meine Kosten unterhielt.

Am Ende blieb nicht viel von diesem Abend, ihre wasserhellen Augen, das glatte, schwarze Haar, das sie von Zeit zu Zeit aus der Stirn strich, ein glucksendes Lachen, und wie sie sich von mir verabschiedete, ihre Stimme vor Überschwang hell.

»Ich hoffe, ich sehe Sie wieder.«

Sie waren aufgestanden, und ich ärgerte mich, als ich sah, daß Paul nickte. Er hatte ihr eine Hand auf die Schulter, die andere um die Hüfte gelegt und dirigierte sie Richtung Ausgang, als sie sich noch einmal nach mir umdrehte, wie wenn sie unschlüssig wäre, ob sie nicht noch etwas hinzufügen sollte. Ich bildete es mir sicher ein, aber bevor er sie dann endgültig mit sich fortzog, schien für einen winzigen Moment ein flehender Ausdruck in ihrem Blick zu liegen.

»Ich komme schon«, sagte sie. »Ich komme schon.« Dann war sie kaum noch zu hören.

»Warum drängst du denn so?«

Es gab jetzt keinen Zweifel mehr, draußen stritten sie, und ich schaute ihnen nach, wie sie sich entfernten und sie dabei mit steifen Schultern neben ihm herging, während er gestikulierend auf sie einsprach. Längst hatte es aufgehört zu regnen, der Asphalt, soweit ich sah, begann gerade zu trocknen, und in der Dämmerung wirkte es, als würden einzelne Bilder fehlen, in dem Film, der vor mir ablief, schienen ihre Umrisse doch einen Augenblick zu stehen und waren dann ein Stück weitergerückt, faßte er einmal nach ihrem Arm und hatte ihn schon wieder losgelassen. Es war nicht mehr lange bis zur Tag- und Nachtgleiche, und ich konnte mich nicht gegen einen Anfall von Melancholie wehren, wenn ich daran dachte, wie sie sich wieder versöhnen würden und dann über mich sprechen oder auch nicht, und es wäre ihr Leben, zu dem ich keinen Zugang hatte. Außer mir waren im Lokal keine Gäste, ich brauchte gar nicht hinzublicken und wußte, daß die Kellnerin hinter der Theke mich beobachtete, aber wenn ich hinausginge, würde es riechen, wie es nach Erschaffung der Welt gerochen haben mußte, nach Frühling und nach Meer, und ich wäre ihnen am liebsten gefolgt, hinter ihren Schatten hergelaufen, bis ich sie eingeholt hätte und schwer atmend vor ihnen gestanden wäre, ohne zu wissen, was ich wollte.

Ich habe weder sie noch ihn jemals auf ihren Streit angesprochen, schon gar nicht das nächste Mal, wo ich ihn sah, zwei oder drei Tage später, als Berichte vom Tod Allmayers in allen Zeitungen standen und er aufgeregt in das Café in Ottensen kam, einen ganzen Stapel vor mich auf den Tisch legte, darin herumsuchte und auf ein Photo von ihm deutete. Worauf er hinauswollte, wußte ich zuerst nicht, aber ich schaute pflichtschuldig das Bild an, das ich schon kannte, eine Aufnahme, die ein lachendes Gesicht zeigte, halb in der Sonne, halb im Schatten, einen Schnappschuß, der natürlich nichts von einem Schicksal verriet und den ich trotzdem daraufhin abzusuchen begann, den ich ansah, als wäre eine ganze Geschichte darin eingeschrieben, während er mich nicht aus den Augen ließ. Er setzte mehrmals dazu an, etwas zu sagen, schwieg dann aber doch, und als er schließlich eine Hand auf das Blatt legte und den Kopf vollständig abdeckte, blickte er an mir vorbei und wiederholte nur ein und denselben Satz.

»Sieh dir das an«, begann er stets von neuem, und er wurde von Mal zu Mal lauter in seiner Erregung. »Sieh dir das an, bitte, sieh dir das an.«

Auf der ganzen Seite sprangen mich einzelne Wörter regelrecht an, Ausdrücke, die eher an den Anfang als an das Ende des Jahrhunderts gehörten, und während ich mir zwischen seinen Fingern ein weiteres Mal die Überschrift zusammenbuchstabierte, Balkanexperte im Kosovo ermordet, und nicht sicher war, ob ich auch Kriegsberichterstatter gelesen hatte, wollte er nicht und nicht aufhören.

»Sieh dir das an.«

Er hatte recht, es mußte einem elend werden, wenn man sich vorzustellen versuchte, auf welche Weise es passiert war, Schüsse aus einem Hinterhalt, aber ich wußte nicht, warum er sich nicht beruhigen konnte, bis er endlich damit herausrückte.

»Er ist mein Freund gewesen«, sagte er auf einmal ganz leise. »Ich habe kurz davor noch mit ihm telephoniert.«

Es war drei Tage nach Beginn des Einmarsches von internationalen Truppen in die serbische Provinz, alle sprachen über das Unglück, und da stand er, umklammerte seine Schultern, sog den Atem laut ein, stieß ihn gedrosselt aus und brüstete sich, Allmayer nahe gewesen zu sein, was ich ihm zuerst nicht recht glaubte.

»Dein Freund?«

Es mußte ironischer klingen, als ich wollte.

»Wir haben uns gut gekannt«, korrigierte er sich. »Meinst du, ich will mich an ihn heranschmeißen, nur weil er tot ist?«

Er schien Wert auf die Unterscheidung zu legen.

»Was heißt schon Freund?«

Dann erzählte er, daß alles eine Weile zurücklag und er ihn während seines Studiums in Innsbruck etwa ein Jahr lang immer wieder getroffen hatte und danach, bevor er nach Hamburg gekommen war, nur mehr ein paar Mal, und ich dachte, noch ein Wiedersehen nach so langer Zeit, noch eine Geschichte, die ihr Gewicht daraus bezog, und hätte ihn am liebsten gefragt, ob er darauf spezialisiert war, aber er ließ mich gar nicht zu Wort kommen.

»Er stammt aus der gleichen Gegend wie ich«, sagte er. »Wahrscheinlich sind es über die Berge keine zwanzig Kilometer von einem Ort zum anderen.«

Ohne Übergang kam er im nächsten Augenblick auf sein letztes Telephonat mit ihm zurück, und ich beobachtete ihn, wie er dabei mit der einen Hand an den Fingern der anderen zog, bis die Gelenke knackten. Offenbar hatte er sich mit ihm verabreden wollen und ihn zufällig in Skopje erreicht, angerufen, kurz bevor sich der dort in einer Hotelhalle versammelte Journalistentroß an der makedonischen Grenze zum Kosovo dem vorrückenden Militärzug anschloß, und ich war froh, daß er sich nicht wichtig zu machen versuchte, seine Äußerungen nicht mit seinem späteren Wissen von dem Unglück vermischte. Tatsächlich erinnerte er sich kaum noch, was er mit ihm gesprochen hatte, lauter Banalitäten, wie er selbst meinte, und ich merkte, es plagte ihn, daß er nicht mehr von ihm zu sagen vermochte, als daß er über Langeweile geklagt hatte, über die Ödnis, die sich unter seinen Kollegen beim Warten unmittelbar vor dem Aufbruch ausgebreitet haben mußte, die Nervosität in dem verrauchten Raum, in dem an allen Tischen Karten gespielt wurde und die Wetten sich halbstündlich übertrafen, wann es endlich losginge. Es rührte mich, zu hören, daß er ihm vorgeschlagen hatte, zusammen einen Tag an die Ostsee zu fahren, keine Rede von bedeutungsschwangeren Gesprächen, die dem bevorstehenden Ende seinen perversen Sinn verleihen sollten, nichts von dunklen Ahnungen, drohenden Gefahren oder gar der Angst, nicht mehr zurückzukommen.

Die einzige Sentimentalität, die er sich mir gegenüber erlaubte, war, daß er nicht von der Behauptung abging, Allmayer habe nach dieser Reise aufhören, sich nicht mehr rund um die Welt in alle möglichen Kriegsgebiete schicken lassen wollen wie in den vergangenen Jahren und darauf hingearbeitet, etwas Ruhigeres in seiner Redaktion zu ergattern oder sich eine Zeitlang überhaupt ganz anderen Dingen zu widmen.

»Allem Anschein nach hatte er die Schnauze voll«, sagte er mit einer Derbheit, die ich sonst nicht von ihm gewohnt war. »Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er schon lange nichts mehr damit zu tun gehabt.«

Das war mir zu billig, als daß ich es einfach hingenommen hätte, ausgerechnet bei seinem allerletzten Einsatz zu sterben, zu sehr nach der Dramaturgie des Schlimmstmöglichen aufgebaut, die einem zu Herzen gehen soll, und ich versuchte, ihm das zu erklären.

»Vielleicht wird man auch süchtig danach und kann nicht jahrelang die größten Sauereien sehen und dann wieder in sein altes Leben zurückkehren, als wäre nie etwas geschehen.«

Dabei hatte ich selbst kaum mehr darauf geachtet, wenn in den Zeitungen Tag für Tag die Angriffsziele in Serbien aufgezählt wurden, seit zweieinhalb Monate davor die Bombardements begonnen hatten, und war kaum noch von Berichten über Massaker im ganzen Kosovo zu erschüttern gewesen, wie ich mir sagen muß, hatte mich von ihrer Wiederholung nicht beeindrucken lassen. Es mag makaber klingen, doch sobald in Belgrad ein öffentliches Gebäude oder in Novi Sad eine Brücke getroffen worden war oder irgendwo anders eine Fabrik oder eine Raffinerie und dann Dörfer rund um Priština genannt wurden oder im Westen der Region, an der Grenze zu Montenegro, und die Anzahl der dort in ihren Häusern oder auf der Flucht von Sondereinheiten der Regierung abgeschlachteten Leute, mußte ich mich dagegen wehren, darin nicht nur ein schreckliches Spiel mit einer noch viel schrecklicheren Punktewertung zu sehen. Wenn ich jetzt auf meine Karte mit den albanischen Begriffen schaue, die ich mir in der Universitätsbibliothek kopiert habe, und auf Ortsnamen wie Krusha e Madhe, Hoça e Vogël oder Malisheva stoße, könnten das genauso gut Zahlwörter sein und ihre Bedeutung, hier so und so, hier so, hier weiß der Teufel wie viele Menschen ermordet.

Das alles war an dem Tag aber kein Thema, kam Paul doch immer wieder auf Allmayer zu sprechen und versuchte, das Wenige, das in den Zeitungen stand, zu ordnen, die Bruchstücke über den Anschlag auf ihn und seinen Begleiter, den ihm zugeteilten Photographen, der mit einem Oberschenkeldurchschuß davongekommen war.

»Es will mir nicht in den Schädel, warum das ausgerechnet zwei so erfahrenen Leuten passiert ist«, konnte er von einem Augenblick auf den anderen loslegen. »Sie müssen auf dem Weg vom Kosovo zurück nach Skopje gewesen sein, als sie unterhalb einer Paßhöhe auf eine Straßenblockade gestoßen sind.«

Die beiden waren offenbar aus ihrem Auto gesprungen und beim Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, ins Sperrfeuer geraten, und er sprach davon wie ein Fachmann, geradeso, als hätte er mehr als nur das, was er gelesen hatte, parat, oder es lag an mir und meinem Schweigen, daß er wieder und wieder damit begann.

»Angeblich sind sie im Laufen von hinten getroffen worden«, sagte er. »Es hätte wahrscheinlich auch nichts genützt, aber es ist doch verwunderlich, daß ihr Wagen nicht gepanzert war und sie keine kugelsicheren Westen getragen haben.«

Obwohl die Straße bereits freigegeben worden war, mußte es in der Gegend immer noch zu Schießereien gekommen sein, hatten sich Gerüchte über marodierende Truppen verbreitet und lag sie darüber hinaus am Rand einer Abzugszone, aus der sich die letzten regierungstreuen Einheiten erst ein paar Tage später entfernen sollten, war der Stand seines Wissens, und er geriet richtiggehend ins Dozieren, als er es vor mir ausbreitete, um sich zu guter Letzt nur selbst zu unterbrechen.

»Das ist alles nicht wichtig.«

Ich schaute an ihm vorbei, während er nach meiner Tasse griff und, ohne daß ihm das aufgefallen wäre, den Kaffee verschüttete, und war mir sicher, es konnte nicht auf Effekt angelegt sein, als er wiederholte, daß Allmayer noch ein paar Stunden gelebt haben muß. Ihn von dessen Kampf reden zu hören, allein schon das Wort, schnürte mir die Kehle zu, denn die Art, wie er die Vergeblichkeit beklagte, hatte nichts Theatralisches. Ein Ärzteteam, das an der Unglücksstelle aufgetaucht war und nach der Logik noch des dümmsten Drehbuchs rechtzeitig gekommen wäre, wie er sagte, die Notversorgung am Straßenrand, der Transport mit einem Hubschrauber in ein Lazarett in Makedonien, über all das sprach er, als machte es das Ende um so sinnloser, als hätte es bereits lange davor festgestanden, und deshalb würden die Bemühungen nur zynisch wirken, die Frage, durch welchen Zufall man ihn überhaupt so schnell gefunden hatte, wie ein Schlag ins Gesicht, oder daß eine belgische Krankenschwester keinen Augenblick von seiner Seite gewichen war, wenn man den Berichten glauben durfte.

Das klang nach dem alten Vorurteil, daß man den Balkan nehmen sollte, wie er war, die Katastrophen dort als etwas Naturgegebenes, wenn keine Erklärung mehr ausreichte, und ich weiß nicht, warum, aber auf einmal erinnerte ich mich daran, daß ich als Student mit einer Freundin im Auto nach Griechenland gefahren war. Mir fiel ihre Aufgeregtheit wieder ein, die ganze Strecke entlang der Küste, von Rijeka bis irgendwo hinter Kotor, eine künstliche Aufgeregtheit, in der sie ein weißes Band an der Antenne befestigt hatte, als wären wir eines dieser bekenntniswütigen Paare auf Flitterwochen, eine Kinderei, und meine anhaltende Beklommenheit, die ich nicht mehr zu erklären vermag. Ein Bild hatte sich mir eingegraben, eine schlecht beleuchtete Hotelterrasse, so viel kann ich sagen, schmalzige Musik aus scheppernden Lautsprechern, und wir die einzigen Gäste, von einem Trupp Kellnerinnen nicht aus den Augen gelassen, die in ihren Gesundheitsschuhen wie die Wärterinnen einer geschlossenen Anstalt wirkten, eine Vorstellung, die mir später immer als triftig erschien, von der ich damals aber kaum ahnte, welchen Hintergrund es dafür gab.

Etwa das dürfte ich auch Paul erzählt haben, und während er mich nur ansah, als wunderte er sich, wie ich darauf kam, bemühte ich mich, umgänglich zu sein, indem ich noch einmal von der Unglücksstelle zu sprechen begann.

»Ich weiß nicht genau, wo sie liegt«, sagte ich. »Aber wenn mich nicht alles täuscht, muß ich ganz in der Nähe vorbeigekommen sein.«

Wie ich es erwartet hatte, biß er an.

»Du warst im Kosovo?«

Natürlich brauchte ich ihm darauf nichts zu erwidern. Ohne auf ein Wort von mir zu warten, hob er abwehrend die Hände und lachte laut auf, als ich zu einer Erklärung ansetzte. Dann wollte er wissen, wann das gewesen war, aber ehe ich etwas sagen konnte, besann er sich auch schon, daß nur vor dem Krieg in Frage kam.

»Also kann man es nicht vergleichen.«

Das stellte er erleichtert fest.

»Früher ist das Kosovo noch nicht das Kosovo gewesen«, fuhr er nach einer Pause fort. »Es hätte genauso gut ein ganz anderes Land sein können.«

Dann schwadronierte er über das dunkle Herz des Kontinents, vor Pathos regelrecht weinerlich, und als er mich nach meiner Freundin fragte, sprach ich davon, wie wir damals ohne Pause unterwegs gewesen waren, als wir die Küste verlassen hatten, und wie sie auf einmal still geworden war, ihre Hand auf meinem Schenkel, den Blick vor sich auf die Straße gerichtet, als hätte sie Angst. Je mehr ich ihm erzählte, um so mehr erinnerte ich mich wieder daran, wie sie sich in diese Bangigkeit hineingesteigert hatte, kaum waren wir ins Landesinnere vorgestoßen, und daß ich fuhr, als ginge es um Leben und Tod, während sich hinter uns eine Staubfahne in Zeitlupe auf die Hügel niedersenkte. Vielleicht hatten sie die am Straßenrand stehenden Leute irritiert, sagte ich mir, waren für sie der Grund, mich zu bitten, bloß weiterzufahren, sobald ich anhalten wollte, und ich versuchte, ihm die mitten in der Einöde auftauchenden Gestalten zu beschreiben, die aus dem Gebüsch treten konnten, ohne daß weitum eine menschliche Ansiedlung zu sehen war, Figuren, wie man sie sonst nur auf Bildern aus den Anfängen der Photographie fand, die gleiche Schwermut, die gleiche Art, wie zusammengerückt zu wirken, als wäre es ihnen verwehrt, mehr Platz in Anspruch zu nehmen, selbst wenn sie allein waren, der gleiche Eindruck, sie hätten gerade erst den Hut abgenommen und hielten ihn untertänig vor sich, mochten ihre Hände auch leer sein.

Es war schwer, sich gegen derlei Gedanken zu wehren, aber gleichzeitig hatte dieser Blick etwas Unheimliches für mich, diese fast schon mystisch zu nennende Sichtweise, und ich war froh, daß er nicht weiter darauf einging und einfach wieder auf Allmayer kam. Längst war es später Vormittag geworden, und ich hätte an meinen Schreibtisch sollen, war jedoch geblieben und hörte ihm zu, wie er noch einmal alles von vorn erzählte. Die Gäste hatten gewechselt, und vor dem Café auf dem Gehsteig waren die Bänke besetzt, die Sonne schien hin, und ich hatte den Eindruck, er sprach, als hätte er sein ganzes Leben verbracht, nur um eines Tages mit mir hier sitzen und auf mich einreden zu können. Mir wurde schwindlig davon, und ich hätte ihn gern unterbrochen, hätte sein Monologisieren am liebsten abgetan wie das Brabbeln eines Kindes, so sehr gingen für mich Fiktion und Wirklichkeit durcheinander, als er auch noch anfing, er werde etwas darüber schreiben, sei sich ganz und gar sicher, es solle endgültig sein erster Roman werden.

»Das ist meine Geschichte«, sagte er, als müßte er sie gegen mich verteidigen. »Wer sonst soll sie erzählen, wenn nicht ich?«

Für mich klang es, als wollte er sich damit Mut machen, und obwohl es etwas Abgeschmacktes hatte, Allmayers Tod so zu betrachten, sein Unglück im Hinblick auf eine spätere Verwertbarkeit zu sehen, noch bevor er begraben war, widersprach ich nur zaghaft. Er räusperte sich, als ob ihm selbst nicht wohl damit wäre, und ich ließ ein paar Augenblicke verstreichen und beobachtete, wie draußen zwei Männer Abfall in einen stehen gebliebenen Müllwagen kippten und dabei, vom Wind aufgewirbelt, Papierfetzen und Asche auf die Bänke vor dem Café geweht wurden und die Leute dort aufsprangen und ihre Kleider abklopften. Als ich merkte, wie er meinen Blicken folgte, starrte ich ihn an, und obwohl er zustimmend nickte, ahnte ich, er hätte sich nicht gewundert, wenn mir entfallen wäre, wovon wir gerade noch gesprochen hatten.

»Du glaubst doch nicht an das Gerede von einem Plot«, sagte ich schließlich. »Ginge es wirklich nur darum, wäre es einfach.«

Das Lachen, das er unterdrückte, traf mich mehr, als wenn er laut losgeprustet hätte, und ich wartete auf eine Bemerkung von ihm, die mir zeigen würde, wie sehr ich danebengegriffen hatte.

»Hast du wirklich Plot gesagt?«

Ich fühlte mich ertappt und schwieg.

»Wenn ich dich Plot sagen höre, kommt es mir vor, als würdest du von einem Brocken sprechen, der dir im Hals stecken geblieben ist und dich würgt.«

Ich hatte ihm nach wie vor nichts von den Notizen erzählt, an die ich mich setzte, sobald ich allein war, und hätte ihn am liebsten darauf hingewiesen, wie wenig man in der Hand hatte mit der Behauptung, etwas sei nach einer wahren Geschichte konstruiert, oder noch schlimmer, das Leben selbst habe es geschrieben, was auch immer das bedeuten mochte, aber die Aussage, zu der ich mich statt dessen hinreißen ließ, war eine von den Banalitäten, auf die man im ersten Augenblick stolz ist, die einen später dafür so lange verfolgen, bis man den Wunsch hat, sie nie von sich gegeben zu haben.

»Ein Toter macht noch keinen Roman.«

Zum Glück schüttelte er nur müde den Kopf und ging nicht auf mich ein. Überhaupt hatte er plötzlich allem Anschein nach kein Interesse mehr, darüber zu reden, und er begann von neuem, die Zeitungen durchzublättern, schien die Seiten absichtlich laut umzuschlagen und bemühte sich, mich nicht ansehen zu müssen, warf mir höchstens über den Rand hinweg dann und wann einen Blick zu. Die Kommentare, die er sonst immer abgab, wenn er las, blieben aus, aber bevor er aufstand und sich verabschiedete, glaubte ich dieses Lächeln in seinem Gesicht zu entdecken, das wohl Überlegenheit signalisieren sollte, ein kaum merkliches Heben der Mundwinkel, das ihm stets unterlief, wenn ich nur die geringsten Bedenken gegen sein Vorhaben äußerte.

Auf jeden Fall war er so besessen davon, etwas aus der Geschichte machen zu wollen, daß nun auch Helenas Familie eine Rolle spielte, und wenngleich ich nicht mehr weiß, wann er mir zum ersten Mal gesagt hat, ihre Eltern kämen aus Kroatien, erinnere ich mich genau, daß er es fortan bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erwähnte. Als würde sie sonst für ihn nicht existieren, konnte er auf einmal mit der größten Selbstverständlichkeit vom dalmatinischen Hinterland reden, vom Karst oder vom Velebit, und eine zwingende Kette von Ursache und Wirkung herstellen, so abstrus sie mir heute erscheint, eine unausgegorene Begründung, die ihn allein schon ihretwegen auserkor, sich mit dem Balkan zu beschäftigen. War er vorher gar nicht auf die Idee gekommen, damit etwas anzufangen, konnte er sie plötzlich allen Ernstes Jugo nennen, das Schimpfwort in eine Koseform verwandeln, und dazu hatte er sich ihren alten Paß schenken lassen, der längst ungültig war, ihre sozialistische Identität, wie er sich ausdrückte, konnte er sie als Einwandererkind bezeichnen oder von der zweiten Generation und deren Marotten sprechen, um sie zu ärgern, sooft sie sich für etwas Alltägliches begeisterte, oder es nur ins Lächerliche ziehen, wenn sie ihm irgendwann doch scharf widersprach, und über ihre Aufregung spotten, ihr seid ein Kriegsvolk, wie ich ihn nicht nur einmal daherplappern gehört habe. So harmlos das vielleicht alles gemeint war, ich ärgere mich dennoch, daß ich nicht stärker aufgetreten bin und sie in Schutz genommen habe, obwohl es wenig half, wenn ich halbherzig versuchte, ihn zu bremsen, er machte einfach unter dem Deckmantel der Ironie oder mit der Entschuldigung weiter, sie würde es schon richtig verstehen. Eigenartigerweise ließ sie ihn gewähren, und wenn ich mich nicht täusche, sah ich nur ein einziges Mal, wie sich ihre Augen verengten, wie sie aufhörte zu lachen, wie sie mitten im Gespräch innehielt und ihn mit einem Blick anschaute, vor dem er zurückschrak, und zwar als er ihre Backenknochen zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, slawisch, slawisch sagte und mir den Kopf zuwandte, wie wenn ich ihm dafür auch noch applaudieren sollte.

Das war absurd, und in meiner Erinnerung ist immer gegenwärtig, daß er irgendwann begonnen hatte, sie den ersten Verbindungsoffizier zu seiner Romanwirklichkeit zu nennen. Auch das war natürlich nur Unfug, allein schon die Bezeichnung, und doch wird mir zunehmend klarer, wie sehr es womöglich zutraf, wie sehr er sie am Anfang benutzte, wenn sie über ihre Herkunft sprach, über ihre ersten Jahre bei der Großmutter in der Nähe von Zadar, die Sommer am Meer, oder was sie noch aus den Erzählungen ihrer Eltern wußte. Es irritiert mich, in welchem Ausmaß er die beiden Ebenen vermischte, ihr Leben und sein Schreiben durcheinanderbrachte, sobald er sich einmal an die Arbeit gemacht hatte, und wenn ich daran denke, wie sicher er sich war, auf dem richtigen Weg zu sein, als er die Verbindung zwischen ihr und dem Unglück im Kosovo hergestellt hatte, erscheint mir alles davor wie bloßes Geplänkel, unsere Gespräche über sie wie ein allzu langer Vorspann zu seiner Geschichte.

Allmayer und Helena hatten sich ein einziges Mal ein paar Wochen vor seinem Tod getroffen, und was Paul mir davon erzählte, war nicht erhebend. Offenbar hatte er ihn mit ihr in seiner Redaktion aufgesucht, und sie waren irgendwo im Hafen etwas trinken gegangen, in einem Lokal, von dem er mir mehrmals versicherte, daß er sich nicht an seinen Namen erinnerte, als käme es darauf an. Es war kaum mehr als eine Stunde gewesen, die sie zusammen verbracht hatten, und doch lang genug, daß er fast hätte dazwischengehen müssen, wie er sagte, so wenig verstanden die beiden sich, aber wenn ich ihn in diesem Ton reden hörte, erschien es mir, als wollte er seine eigene Rolle in den Vordergrund stellen.

Vielleicht war der Anlaß eine Banalität, die Tatsache, daß Allmayer ihn als erstes auf seine Frau angesprochen haben muß, gefragt, ob er sie noch sah oder ob er seit der Trennung keinen Kontakt mehr zu ihr hatte, während Helena auf der Toilette war, und das nur, um ihn im nächsten Augenblick als Weiberhelden hinzustellen.

»Du kannst es nicht lassen.«

Natürlich war das eine Boshaftigkeit, auf die er angeblich aber nicht reagierte, sich darauf beschränkte, ihn anzusehen, als wüßte er, was folgen mußte.

»Allem Anschein nach bist du noch immer hinter jedem Rock her«, bekam er dann an den Kopf geworfen. »Zum Glück hast du wenigstens ein ganz besonders schönes Exemplar an Land gezogen.«

Ich habe Paul sonst selten so erregt gesehen, aber kaum hatte er den Satz zitiert und hinzugefügt, ob der Gute tot war oder nicht, das sei zu viel, verwahrte er sich auch schon dagegen, Helena habe diesen Umgang nicht verdient.

»Du kennst sie«, sagte er, als wäre er plötzlich unsicher geworden. »Sie ist doch nicht jemand, den man einfach beleidigt.«