Hanser Berlin eBook
Wild leben
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Martin Hielscher
Hanser Berlin
Die Originalausgabe erschien 1990
unter dem Titel Wildlife bei The Atlantic Monthly Press, New York
ISBN 978-3-446-24248-7
© Richard Ford 1990
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2012
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KRISTINA
Ich möchte meinen Freunden Carl Navarre und Gary Taylor danken, deren besondere Großzügigkeit mir geholfen hat, dieses Buch zu schreiben.
Richard Ford
Im Herbst 1960, als ich sechzehn war und mein Vater eine Zeitlang nicht arbeitete, lernte meine Mutter einen Mann namens Warren Miller kennen und verliebte sich in ihn. Das geschah in Great Falls, Montana, zur Zeit des Gypsy-Basin-Ölbooms, und mein Vater hatte uns in diesem Jahr von Lewiston, Idaho, dorthin gebracht, weil er glaubte, daß Leute – kleine Leute wie er – in Montana anständig Geld verdienten oder es bald tun würden, und er wollte seinen Teil vom Glück, bevor alles wieder zusammenbrach und mit dem Wind verwehte.
Mein Vater war Golfspieler. Golflehrer von Beruf. Er war auf dem College gewesen, aber nicht im Krieg. Und seit 1944, dem Jahr, in dem ich geboren war, und zwei Jahre, nachdem er meine Mutter geheiratet hatte, war das seine Arbeit gewesen – Golfunterricht – in den kleinen Country Clubs und auf den öffentlichen Golfplätzen in den Orten der Gegend, wo er aufgewachsen war, in der Nähe von Colfax und den Palouse Hills im Osten Washingtons. Und in dieser Zeit, in den Jahren, in denen ich aufwuchs, hatten wir in Cœur d’Alene gelebt und in McCall, Idaho, und in Endicott und Pasco und Walla Walla, wo meine Mutter und er auf dem College gewesen waren, wo sie sich kennengelernt und geheiratet hatten.
Mein Vater war der geborene Sportler. Sein Vater hatte ein Bekleidungsgeschäft in Colfax gehabt und viel Geld verdient, und er hatte Golfspielen auf Plätzen gelernt, auf denen er es später unterrichtete. Er beherrschte jede Sportart – Basketball und Eishockey und Hufeisenwerfen, und auf dem College hatte er Baseball gespielt. Aber Golf liebte er, weil es ein Spiel war, das andere Leute schwierig fanden und das ihm leichtfiel. Er war ein stets lächelnder, gutaussehender Mann mit dunklen Haaren – nicht groß, aber mit feinen Händen und einem kurzen, runden Schwung, der wunderbar anzusehen war, aber nie stark genug, um als Profi bei den großen Turnieren mitspielen zu können. Aber er konnte den Leuten das Golfspielen wirklich gut beibringen. Er wußte, wie man in aller Ruhe über das Spiel sprach, so daß man das Gefühl bekam, ein Talent dafür zu haben, und die Leute waren gern mit ihm zusammen. Manchmal spielte er auch mit meiner Mutter, und ich ging mit und zog den Caddywagen, und ich wußte, daß er wußte, wie sie wirkten – gutaussehend, jung und glücklich. Mein Vater war zurückhaltend, gutmütig und optimistisch, aber nicht glatt, wie man annehmen könnte. Und wenn es kein gewöhnliches Leben sein mag, Golfprofi zu sein und davon zu leben, wie andere Leute, die Verkäufer oder Arzt sind, so war mein Vater in gewisser Weise auch kein gewöhnlicher Mann: er war unschuldig und ehrlich, und es kann sein, daß er für das Leben, das er gewählt hatte, perfekt geeignet war.
In Great Falls arbeitete mein Vater zwei Tage die Woche am Stützpunkt der Luftwaffe, auf dem Golfplatz dort, und den Rest der Zeit in dem exklusiven Club auf der anderen Seite des Flusses, dem Wheatland Club. Er machte Überstunden, weil die Leute in guten Zeiten, wie er sagte, ein Spiel wie Golf lernen wollten, und gute Zeiten dauerten selten sehr lange. Er war zu der Zeit neununddreißig, und ich glaube, er hoffte, jemanden dort kennenzulernen, jemanden, der ihm einen Tip geben oder ihm ein gutes Geschäft beim Ölboom vermitteln oder ihm einen besseren Job anbieten würde, eine Chance, daß er, meine Mutter und ich es einmal besser haben würden.
Wir wohnten in einem Haus an der Eighth Street North zur Miete, in einer älteren Wohngegend mit einstöckigen Holz- und Backsteinhäusern. Unser Haus war gelb mit einem niedrigen Jägerzaun davor und einer Trauerweide im Garten. Diese Straßen sind nicht weit von den Bahngleisen entfernt und liegen der Raffinerie auf der anderen Seite des Flusses gegenüber, wo die ganze Zeit eine leuchtende Flamme auf dem Rohr über den Stahltanks stand. Ich konnte früh am Morgen die Pfeifen zum Schichtwechsel hören, wenn ich erwachte, und spät am Abend das laute Dröhnen der Maschinen, die Rohöl von den Wildcat-Feldern1 nördlich von uns verarbeiteten.
Meine Mutter hatte keinen Job in Great Falls. Sie hatte als Buchhalterin in einer Molkerei in Lewiston gearbeitet, und in den anderen Städten, in denen wir gewesen waren, hatte sie als Aushilfslehrerin Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtet – die Fächer, die ihr Spaß machten. Sie war eine hübsche, kleine Frau, die Sinn für Humor besaß und einen zum Lachen bringen konnte. Sie war zwei Jahre jünger als mein Vater, hatte ihn 1941 auf dem College kennengelernt und ihn gemocht und war einfach mit ihm gegangen, als er einen Job in Spokane angenommen hatte. Ich weiß nicht, was in ihren Augen die Gründe meines Vaters waren, seinen Job in Lewiston aufzugeben und nach Great Falls zu gehen. Vielleicht merkte sie ihm etwas an – daß es eine seltsame Zeit in seinem Leben war, als ob die Zukunft sich ihm plötzlich anders darzustellen begann, als ob er sich nun nicht mehr darauf verlassen könne, daß sich alles schon von allein regeln würde, so wie es bislang gewesen war. Oder vielleicht gab es auch andere Gründe, und weil sie ihn liebte, ging sie mit ihm. Aber ich glaube nicht, daß sie je nach Montana kommen wollte. Sie mochte den Osten Washingtons, mochte das bessere Wetter dort, wo sie ein Mädchen gewesen war. Sie dachte, in Great Falls würde es zu kalt und zu einsam sein und nicht leicht, Leute kennenzulernen. Und dennoch muß sie damals gedacht haben, daß sie ein ganz normales Leben führte, sie zog um, sie arbeitete, wenn sie konnte, hatte einen Mann und einen Sohn, und daß es so gut war.
Der Sommer jenes Jahres war eine Zeit der Waldbrände. Great Falls liegt dort, wo die Ebenen beginnen, aber südlich, westlich und östlich der Stadt ist es bergig. An klaren Tagen konnte man die Berge von den Straßen der Stadt aus sehen – hundert Kilometer entfernt die hohe östliche Flanke der Rocky Mountains selbst, blau und wie gestochen, die sich nach Kanada hinüberzog. Früh im Juli brachen Brände in den bewaldeten Canyons hinter Augusta und Choteau aus, Städten, die mir nichts bedeuteten, die aber in Gefahr waren. Die Brände begannen aus rätselhaften Ursachen. Sie brannten weiter und weiter den ganzen Juli und August hindurch und bis in den September hinein, als man hoffte, daß ein früher Herbst Regenfälle und vielleicht Schnee bringen würde. Aber das geschah nicht.
Der Frühling war trocken gewesen und blieb trocken bis zum Sommer. Ich war ein Stadtjunge und wußte nichts von Getreide oder Holz, aber wir alle hörten, daß die Farmer glaubten, Trockenheit sage Trockenheit voraus, und wir lasen in der Zeitung, daß selbst stehende Bäume trockener waren als Holz, das man verheizte, und daß Farmer, wenn sie klug waren, ihr Getreide früh abernteten, um Verluste zu vermeiden. Sogar der Missouri sank auf einen niedrigen Stand ab, und Fische starben, und trockene Lehmbänke traten zwischen den Ufern und dem trägen Strom zutage, und niemand fuhr dort mehr mit dem Boot hindurch.
Mein Vater brachte einer Gruppe von Männern der Air Force und ihren Freundinnen jeden Tag Golf bei, und im Wheatland Club spielte er Vierer mit Ranchern und Ölleuten und Bankern und ihren Frauen, deren Spiel er zu verbessern suchte – dafür wurde er bezahlt. Abends nach der Arbeit saß er in diesem Sommer immer am Küchentisch, hörte sich im Radio irgendein Spiel aus dem Osten an, trank ein Bier und las die Zeitung, während meine Mutter das Essen bereitete und ich im Wohnzimmer Schularbeiten machte. Er redete manchmal über die Leute aus dem Club. »Die sind alle ganz in Ordnung«, sagte er zu meiner Mutter. »Wir werden zwar nicht reich, wenn wir für die Reichen arbeiten, aber vielleicht haben wir Glück, wenn wir uns in ihrer Nähe halten.« Er lachte darüber. Er mochte Great Falls. Er meinte, daß es jedem seine Chance ließ und noch unentdeckt war, daß keiner daran dachte, einen zurückzuhalten, und daß es eine gute Zeit war, dort zu leben. Ich weiß nicht, was er sich damals eigentlich erhoffte, aber er war ein Mensch, der – mehr als die meisten anderen – glücklich sein wollte. Und damals muß es so ausgesehen haben, daß er endlich, zumindest für den Augenblick, genau am richtigen Ort war.
Auch Anfang August waren die Waldbrände westlich von uns noch nicht gelöscht, und ein Dunst lag in der Luft, so daß man die Berge manchmal nicht sehen konnte oder den Horizont, wo Land und Himmel aufeinanderstießen. Es war ein Dunst, den man nicht ausmachen konnte, wenn man mittendrin steckte, sondern nur, wenn man auf einem Berg oder in einem Flugzeug war und Great Falls von oben sehen konnte. Abends, wenn ich am Fenster stand und nach Westen in das Tal des Sun River bis zu den hellglühenden Bergen schaute, schmeckte und roch ich Rauch und glaubte, Flammen und brennende Hügel zu sehen und Männer, die sich bewegten, obwohl ich das gar nicht sehen konnte, sondern nur ein Leuchten, breit und rot und flach über der Dunkelheit zwischen dem Feuer und uns allen. Zweimal träumte ich sogar, daß unser Haus Feuer gefangen hatte, einen Funken, der kilometerweit vom Wind getragen worden und auf unser Dach übergesprungen war und alles auffraß. Obwohl ich selbst in diesem Traum wußte, daß die Welt sich weiterdrehen, wir überleben würden und das Feuer nicht allzuviel bedeutete. Ich verstand natürlich nicht, was es bedeutete, nicht zu überleben.
Solch ein Brand veränderte natürlich alles, das war unvermeidlich, und in Great Falls entwickelte sich eine Stimmung, eine allgemeine Haltung, die wie Mutlosigkeit wirkte. In den Zeitungen tauchten Geschichten auf, wilde Geschichten. Es hieß, daß Indianer die Brände gelegt hätten, damit sie den Job bekamen, sie wieder zu löschen. Man hatte einen Mann gesehen, der eine Holzfällerschneise hinuntergefahren war und brennende Scheite aus dem Lastwagenfenster geworfen hatte. Man beschuldigte Wilderer. Ein Gipfel weit hinten in den Marshall Mountains war angeblich hundertmal in einer Stunde von Blitzen getroffen worden. Mein Vater hörte auf dem Golfplatz, daß Häftlinge die Brände bekämpften, Mörder und Vergewaltiger aus Deer Lodge, Männer, die sich freiwillig gemeldet, sich aber dann davongemacht hatten, um ins normale Leben zurückzukehren.
Keiner dachte, glaube ich, daß Great Falls brennen könnte. Zu viele Kilometer lagen zwischen uns und dem Feuer, zu viele andere Städte waren vorher dran – zu viele unglückliche Umstände mußten da zusammenkommen. Aber die Leute machten die Dächer ihrer Häuser naß, und niemand durfte Gräben abbrennen. Jeden Tag starteten Maschinen mit Männern, die über den Flammen absprangen, und westlich von uns stieg Rauch wie Gewitterwolken auf, als ob das Feuer selbst Regen machen konnte. Wenn der Wind am Nachmittag heftiger wurde, dann wußten wir alle, daß der Brand einen Graben übersprungen hatte oder vorgestoßen war oder auf eine bislang unberührte Stelle übergegriffen hatte und daß wir alle irgendwie betroffen waren, auch wenn wir nie Flammen sahen oder die Hitze spürten.
Ich war damals gerade in die elfte Klasse der Great-Falls-Highschool gekommen und versuchte, Football zu spielen, ein Spiel, das ich nicht mochte, in dem ich auch nicht gut war und nur mitzuspielen versuchte, weil mein Vater dachte, daß ich so ein paar Freunde finden könnte. Aber es gab Tage, an denen wir unser Footballtraining aussetzten, weil der Arzt sagte, daß der Rauch unsere Lungen schädigte, ohne daß wir es merkten. An solchen Tagen ging ich zum Wheatland Club, um meinen Vater zu treffen – der Golfplatz am Luftstützpunkt war wegen der Brandgefahr geschlossen –, und schlug mit ihm am späten Nachmittag ein paar Bälle. Mein Vater arbeitete an immer weniger Tagen, je weiter der Sommer voranschritt, und war häufiger zu Hause. Die Leute kamen wegen des Rauchs und der Trockenheit nicht mehr in den Club. Er gab weniger Stunden und sah nur noch wenige der Clubmitglieder, die er kennengelernt und mit denen er sich im vergangenen Frühjahr angefreundet hatte. Er arbeitete mehr in dem Proshop, verkaufte Golfausstattung und Sportkleidung und Zeitschriften, verlieh Golfkarren und verbrachte mehr Zeit damit, Golfbälle am Flußufer neben den Weiden auf zusammeln, dort, wo die Driving Range aufhörte.
An einem Nachmittag im September, zwei Wochen, nachdem die Schule begonnen hatte und die Brände in den Bergen westlich von uns für immer anzudauern schienen, ging ich mit meinem Vater mit Drahtkörben auf die Driving Range hinaus. Ein einzelner Mann schlug Bälle von der Abschlagslinie, weit entfernt und links von uns. Ich konnte das »Zwock« des Schlägers hören und dann das Zischen, als der Ball in hohem Bogen in das Zwielicht flog und auf uns zusprang. Zu Hause hatten er und meine Mutter am Abend zuvor über die kommenden Wahlen gesprochen. Sie waren Demokraten. Ihre beiden Familien waren Demokraten gewesen. Aber an dem Abend sagte mein Vater, daß er nun überlegte, die Republikaner zu wählen. Nixon, sagte er, war ein guter Rechtsanwalt. Er war keine angenehme Erscheinung, aber er würde es den Gewerkschaften zeigen.
Meine Mutter lachte ihn aus und hielt sich die Augen zu, als ob sie ihn nicht sehen wollte. »Oh, nicht auch noch du, Jerry«, sagte sie. »Willst du jetzt auch anfangen, auf die Gewerkschaften zu schimpfen?« Sie machte Witze. Ich glaube nicht, daß es ihr wichtig war, wen er wählte, und sie redeten nicht über Politik. Wir waren in der Küche, und das Essen stand schon auf dem Tisch.
»Ich hab so’n Gefühl, als wär alles zu weit in eine Richtung gegangen«, sagte mein Vater. Er legte die Hände neben den Teller. Ich hörte ihn atmen. Er hatte immer noch seine Golfsachen an, grüne Hosen und ein gelbes Nylonhemd, mit einem roten Clubabzeichen darauf. In diesem Sommer hatte es einen Eisenbahnstreik gegeben, aber er hatte nicht über die Gewerkschaften geredet, und ich glaubte nicht, daß uns das irgendwie betroffen hatte.
Meine Mutter stand noch am Spülbecken und trocknete sich die Hände. »Du bist der Arbeiter, nicht ich«, sagte sie. »Ich will dich bloß daran erinnern.«
»Ich wünschte, wir hätten einen Roosevelt zu wählen«, sagte mein Vater. »Er hatte ein Gefühl für das Land.«
»Das war ’ne andere Zeit«, sagte meine Mutter und setzte sich ihm gegenüber an den Metalltisch. Sie trug ein blau-weiß kariertes Kleid und eine Schürze. »Alle hatten damals Angst, wir auch. Jetzt ist alles besser. Das hast du vergessen.«
»Ich hab überhaupt nichts vergessen«, sagte mein Vater. »Aber jetzt denk ich an die Zukunft.«
»Na, dann«, sagte sie. Sie lächelte ihn an. »Das ist gut. Das hör ich gern. Joe hört das sicher auch gern.« Und dann aßen wir.
Aber am nächsten Nachmittag, am Ende der Driving Range bei den Weiden am Fluß war mein Vater in einer anderen Stimmung. Er hatte in der Woche keine Stunde gegeben, aber er war nicht angespannt und schien auch nicht auf irgend etwas böse zu sein. Er rauchte eine Zigarette, etwas, das er normalerweise nicht tat.
»Es ist eine Schande, bei gutem Wetter nicht zu arbeiten«, sagte er und lächelte. Er nahm einen der Golfbälle aus dem Korb, holte aus und schleuderte ihn durch die Weidenzweige zum Fluß hinunter, wo er in den Schlamm fiel, ohne ein Geräusch zu machen. »Was macht dein Football?« fragte er mich. »Wirst du der neue Bob Waterfield?«
»Nein«, sagte ich. »Ich glaub nicht.«
»Ich werde auch kein neuer Walter Hagen«, sagte er. Er mochte Walter Hagen. Er besaß ein Bild von ihm, auf dem er einen breitkrempigen Hut und einen dicken Mantel trägt und in die Kamera lacht, während er auf irgendeinem Platz, wo Schnee auf dem Boden liegt, den Ball abschlägt. Mein Vater hatte das Bild an die Türinnenseite des Schlafzimmerschranks geheftet.
Er stand da und schaute dem einsamen Golfspieler zu, der Bälle auf den Fairway hinaus schlug. Wir konnten seine Silhouette sehen. »Das ist ein Mann, der einen guten Schlag hat«, sagte er und schaute zu, wie der Mann locker mit dem Schläger ausholte und dann durchschwang. »Er riskiert nichts. Schlag den Ball in die Mitte des Fairways, damit du noch Platz für die Streuung hast. Laß deinen Gegner die Fehler machen. Genauso hat’s Walter Hagen gemacht. Er war der geborene Golfer.«
»Ist das bei dir nicht genauso?« fragte ich, denn das hatte auch meine Mutter gesagt, daß mein Vater nie hatte trainieren müssen.
»Ja, das stimmt«, sagte mein Vater und rauchte. »Ich hab’s immer als leicht empfunden. Aber wahrscheinlich stimmt da irgendwas nicht.«
»Ich mag Football nicht«, sagte ich.
Mein Vater blickte mich an und starrte dann nach Westen, wo das Feuer die Sonne verdunkelte, sie purpurn färbte. »Ich mochte es«, sagte er verträumt. »Wenn ich den Ball hatte und das Feld hochrannte und den Leuten auswich, das machte mir Spaß.«
»Ich weich nicht genug aus«, sagte ich. Ich wollte ihm das erzählen, weil ich wollte, daß er mir sagte, ich sollte mit Football aufhören und was anderes machen. Ich mochte Golf und wäre froh gewesen, wenn ich es hätte spielen können.
»Aber mit Golfspielen wollte ich nicht aufhören«, sagte er, »obwohl ich dafür wahrscheinlich nicht raffiniert genug bin.« Er hörte mir jetzt nicht richtig zu, aber ich nahm ihm das nicht übel.
Weit entfernt am Abschlag hörte ich ein »Zwock«, als der einsame Mann einen Ball in die Abendluft schlug. Schweigend warteten mein Vater und ich darauf, daß der Ball aufschlug und absprang. Aber tatsächlich traf der Ball meinen Vater, traf ihn an der Schulter über dem Saum seines Ärmels – nicht hart, nicht mal hart genug, um ihm weh zu tun.
Mein Vater sagte: »Na so was. Himmel noch mal. Schau dir das an.« Er schaute auf den Ball neben ihm auf dem Boden hinunter, dann rieb er sich den Arm. Wir konnten sehen, wie der Mann, der den Ball geschlagen hatte, zum Clubhaus zurückging und den Schläger neben sich schwang wie einen Spazierstock. Er hatte keinen Schimmer, wo seine Bälle runterkamen. Er hätte nicht im Traum gedacht, daß er meinen Vater getroffen hatte.
Mein Vater stand da und schaute zu, wie der Mann im langen weißen Clubhaus verschwand. Er stand für eine Weile da, als ob er horchte und etwas hören konnte, was ich nicht hören konnte – Gelächter, möglicherweise, oder Musik aus der Ferne. Er war immer ein glücklicher Mensch gewesen, und ich glaube, daß er vielleicht ganz einfach auf etwas wartete, daß ihm dieses Gefühl wieder verschaffte.
»Wenn du Football nicht magst« – und plötzlich sah er mich an, als habe er vorher vergessen, daß ich da war –, »dann laß es einfach bleiben. Versuch’s statt dessen mal mit Speerwerfen. Das gibt einem das Gefühl, etwas geschafft zu haben. Ich hab’s mal gemacht.«
»In Ordnung«, sagte ich. Und ich dachte über das Speerwerfen nach – wie schwer so ein Speer wohl sein mochte und woraus er gemacht war und wie schwierig es wohl war, ihn richtig zu werfen.
Mein Vater starrte dorthin, wo der Himmel schön und dunkel und voller Farben war. »Das ist ein richtiges Feuer da draußen, was? Ich kann’s riechen.«
»Ich auch«, sagte ich und sah hinaus.
»Du hast einen klaren Kopf, Joe.« Er sah mich an. »Dir wird nichts Schlechtes passieren.«
»Ich hoffe nicht«, sagte ich.
»Das ist gut«, sagte er, »das hoffe ich auch.« Und dann sammelten wir weiter Golfbälle ein und gingen zurück zum Clubhaus.
Als wir zum Proshop zurückgekehrt waren, brannte drinnen Licht, und durch die Glasscheiben konnte ich einen Mann sehen, der allein auf einem Klappstuhl saß und eine Zigarre rauchte. Er trug einen Geschäftsanzug, hatte allerdings das Jackett über den Arm gelegt, und braun-weiße Golfschuhe. Als mein Vater und ich mit unseren Körben voller Golfbälle eintraten, stand der Mann auf. Ich konnte seine Zigarre riechen und den sauberen Geruch neuer Golfausrüstung.
»Hallo, Jerry«, sagte der Mann lächelnd und hielt meinem Vater die Hand hin. »Wie hab ich von da draußen ausgesehen?«
»Ich hab nicht gemerkt, daß Sie das waren«, sagte mein Vater und lächelte. Er schüttelte dem Mann die Hand. »Sie haben einen Schwung nach Maß. Damit können Sie angeben.«
»Ich streu sie ’n bißchen wild in der Gegend rum«, sagte der Mann und steckte die Zigarre wieder in den Mund. »Damit haben wir alle zu kämpfen«, sagte mein Vater und zog mich an seine Seite. »Das ist mein Sohn Joe, Clarence. Das ist Clarence Snow, Joe. Er ist der Präsident dieses Clubs. Er ist der beste Golfspieler hier draußen.« Ich schüttelte Clarence Snow die Hand, er war in den Fünfzigern und hatte lange Finger, knochig und kräftig, wie die von meinem Vater. Er hatte keinen sehr festen Händedruck. »Haben Sie noch Bälle draußen gelassen, Jerry?« fragte Clarence Snow, fuhr sich mit der Hand durch sein dünnes schwarzes Haar und warf einen Blick auf den dunklen Golfplatz.
»’ne ganze Menge«, sagte mein Vater. »Wir konnten nichts mehr sehen.«
»Spielst du auch Golf, mein Junge?« Clarence Snow lächelte mich an.
»Er ist gut«, antwortete mein Vater, bevor ich irgend etwas sagen konnte. Er setzte sich auf den anderen Klappstuhl, unter dem seine Straßenschuhe standen, und begann, seine weißen Golfschuhe aufzuschnüren. Mein Vater trug gelbe Socken, die seine blassen, haarlosen Knöchel freiließen, und er starrte Clarence Snow an, während er seine Schnürsenkel aufmachte.
»Ich muß mit Ihnen reden, Jerry«, sagte Clarence Snow. Er sah mich an und zog durch die Nase hoch.
»In Ordnung«, sagte mein Vater. »Hat’s bis morgen Zeit?«
»Nein«, sagte Clarence Snow. »Kommen Sie mit rauf ins Büro?«
»Aber natürlich«, sagte mein Vater. Er hatte seine Golfschuhe ausgezogen, hob einen Fuß und rieb ihn, drückte dann die Zehen nach unten. »Die Werkzeuge der Torheit«, sagte er und lächelte mich an.
»Es dauert auch nicht lange«, sagte Clarence Snow. Dann ging er durch die Eingangstür hinaus und ließ meinen Vater und mich allein im hell erleuchteten Shop.
Mein Vater setzte sich in seinem Klappstuhl zurück, streckte die Beine aus und wackelte mit den Zehen in den gelben Socken. »Er wird mich feuern«, sagte er. »Darum wird’s gehen.«
»Warum glaubst du das?« fragte ich. Und es schockierte mich.
»Das verstehst du nicht, mein Junge«, sagte mein Vater. »Ich werd nicht das erste Mal gefeuert. So was spürt man einfach.«
»Warum sollte er das tun?« sagte ich.
»Vielleicht denkt er, ich hätte seine Frau gevögelt«, sagte mein Vater. Ich hatte ihn so etwas noch nie sagen hören, und es schockierte mich ebenfalls. Er starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit. »Ich weiß natürlich gar nicht, ob er überhaupt eine Frau hat.« Mein Vater begann, seine Straßenschuhe anzuziehen, es waren schwarze Mokassins, glänzend und neu und mit dicken Sohlen. »Vielleicht habe ich einem seiner Freunde beim Spielen Geld abgenommen. Außerdem muß er überhaupt keinen Grund haben.« Er schob die weißen Schuhe unter den Stuhl und stand auf. »Wart hier drinnen«, sagte er. Und ich wußte, daß er wütend war, aber nicht wollte, daß ich es merkte. Er machte einem gerne weis, daß alles in Ordnung wär, und er wollte immer, daß alle glücklich und zufrieden waren, wenn es irgend ging.
»Ist das okay?« sagte er.
»Das ist okay«, sagte ich.
»Denk an ein paar hübsche Mädchen, solang ich weg bin«, sagte er und lächelte mich an.
Dann ging er fast schlendernd aus dem kleinen Golfshop und zum Clubhaus hoch und ließ mich allein mit den Ständern voller silberner Golfschläger, den neuen Ledertaschen, Schuhen und Schachteln mit Bällen – all dem anderen Handwerkszeug meines Vaters, bewegungslos und still um mich herum wie Schätze.
Als mein Vater nach zwanzig Minuten zurückkam, ging er schneller als vorhin. In seiner Hemdtasche steckte ein gelbes Stück Papier, und sein Gesicht war angespannt. Ich saß auf dem Stuhl, auf dem Clarence Snow gesessen hatte. Mein Vater nahm seine weißen Schuhe vom grünen Teppich und stopfte sie sich unter den Arm, ging dann zur Kasse und begann, Geld aus den Fächern zu nehmen.
»Wir sollten gehen«, sagte er mit leiser Stimme. Er steckte sich Geld in die Hosentaschen.
»Hat er dich gefeuert?« fragte ich.
»Ja, das hat er.« Er stand einen Augenblick still hinter der offenen Kasse, als ob seine Worte für ihn seltsam klangen oder irgendeine andere Bedeutung hätten. Er sah aus wie ein Junge in meinem Alter, der etwas tat, das er nicht tun sollte, und der versuchte, es gleichmütig zu tun. Obwohl Clarence Snow ihm vielleicht gesagt hatte, er sollte die Kasse leeren, bevor er ging, so daß das Geld ihm wirklich gehörte. »War wohl ein zu gutes Leben, schätz ich«, sagte er. Dann sagte er: »Sieh dich hier mal um, Joe. Guck, ob du irgendwas davon haben willst.« Er blickte um sich auf die Schläger und ledernen Golftaschen und Schuhe, die Sweater und Kleidungsstücke in den Glasschaukästen. Alles Sachen, die viel Geld kosteten, Sachen, die meinem Vater gefielen.
»Nimm’s einfach«, sagte er. »Es gehört dir.«
»Ich möchte nichts«, sagte ich.
Mein Vater sah mich von der Kasse aus an. »Du willst nichts? Von all diesem teuren Zeug?«
»Nein«, sagte ich.
»Du hast ’nen guten Charakter, das ist dein Problem. Nicht, daß es ein großes Problem wär.« Er schob die Lade der Kasse zu. »Pech hat einen sauren Geschmack, findest du nicht?«
»Ja«, sagte ich.
»Willst du wissen, was er zu mir gesagt hat?« Mein Vater lehnte sich, die Handflächen durchgedrückt, auf den gläsernen Tresen. Er lächelte mich an, als fände er es komisch.
»Was denn?« fragte ich.
»Er sagte, ich bräuchte darauf nicht zu antworten, aber daß er glaubte, ich würde stehlen. Irgendein Einfaltspinsel hat auf dem Platz sein Portemonnaie verloren, und sie konnten auf keinen anderen kommen, der es genommen hat. Also haben sie sich auf mich geeinigt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Dieb. Weißt du das? Das bin ich nicht.«
»Ich weiß das«, sagte ich. Und ich glaubte nicht, daß er einer war. Ich dachte, daß ich eher stehlen würde als er, und ich war auch kein Dieb.
»Ich war zu beliebt hier draußen, das ist das Problem«, sagte er. »Wenn du Leuten hilfst, mögen sie dich nicht. Sie sind wie die Mormonen.«
»Ist wohl so«, sagte ich.
»Wenn du älter bist«, sagte mein Vater. Und dann schien er mit dem innezuhalten, was er gerade sagen wollte. »Wenn du die Wahrheit wissen willst, hör nicht auf das, was die Leute sagen«, war alles, was er dann sagte.
Er kam um die Kasse herum, trug seine weißen Schuhe, die Hosentaschen voller Geld. »Laß uns jetzt gehen«, sagte er. Er knipste das Licht aus, als er an der Tür war, hielt sie für mich auf, und wir gingen hinaus in den warmen Sommerabend.
Als wir über den Fluß zurück, nach Great Falls hinein und die Central Avenue hochgefahren waren, hielt mein Vater vor dem Supermarkt einen Block von unserem Haus entfernt, ging hinein, kaufte eine Dose Bier, kam zurück und saß bei offener Tür auf dem Fahrersitz. Es war kühler geworden, da die Sonne untergegangen war, und es war ein Gefühl wie ein Herbstabend, obwohl es trocken war und der Himmel ein lichtes Blau und voller Sterne. Ich konnte das Bier im Atem meines Vaters riechen und wußte, daß er an das Gespräch dachte, das er mit meiner Mutter führen mußte, wenn wir nach Hause kamen, und wie das wohl sein würde.
»Weißt du, was passiert«, sagte er, »wenn genau das passiert, was du am wenigsten wolltest?« Wir saßen im Lichtschein des kleinen Supermarkts. Hinter uns bewegte sich der Verkehr auf der Central Avenue, Leute, die von der Arbeit nach Hause fuhren, Leute, die an irgendwas dachten, was sie jetzt gern täten, irgend etwas, worauf sie sich freuten.
»Nein«, sagte ich. Ich dachte in dem Augenblick daran, wie es war, den Speer zu werfen, im hohen Bogen in die klare Luft, worauf er wie ein Pfeil herunterkäme, und daran, daß mein Vater speergeworfen hatte, als er in meinem Alter war.
»Überhaupt nichts«, sagte er, und er war mehrere Sekunden still. Er hob die Knie und hielt die Bierdose mit beiden Händen. »Wir sollten wahrscheinlich ’ne kleine Tour mit ’n paar Brüchen machen. Den Laden hier ausrauben oder so was. Bis alles über uns zusammenbricht.«
»Das will ich nicht«, sagte ich.
»Ich bin wahrscheinlich ein Idiot«, sagte mein Vater und schüttelte das Bier, bis es leise in der Dose zischte. »Im Augenblick ist es nur ein bißchen schwer, irgendwelche Chancen für mich zu sehen.« Eine Weile sagte er gar nichts mehr. »Liebst du deinen Dad?« sagte er mit normaler Stimme, nachdem einige Zeit vergangen war.
»Ja«, sagte ich.
»Glaubst du, daß ich gut für dich sorgen werde?«
»Ja«, sagte ich. »Das glaube ich.«
»Das werd ich auch«, sagte er.
Mein Vater schlug die Wagentür zu und saß einen Moment da und blickte durch die Windschutzscheibe auf den Supermarkt, in dem Leute waren, die sich hinter den großen Fenstern hin und her bewegten. »Manchmal hat man die Wahl, was man tun kann, und es kommt einem so vor, als hätte man gar keine Wahl«, sagte er. Dann ließ er den Motor an, und er legte die Hand auf meine, wie man es bei einem Mädchen machen würde. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Ich hab mich schon wieder beruhigt.«
»Ich mach mir keine Sorgen«, sagte ich. Und das tat ich auch nicht, weil ich dachte, daß sich alles schon regeln würde. Und obwohl ich mich irrte, ist das keine schlechte Art, dem Unbekannten zu begegnen, wenn es einem plötzlich vor Augen steht.
Nach diesem Abend im frühen September begann sich alles in unserem Leben immer schneller zu bewegen und zu verändern. Unser Leben zu Hause änderte sich. Das Leben, das meine Mutter und mein Vater lebten, änderte sich. Die Welt, die ich bisher ohne Nachdenken und ohne Plan hingenommen hatte, änderte sich. Wann man sechzehn ist, weiß man nicht, was die Eltern wissen, auch nicht sehr viel davon, was sie verstehen, und noch weniger, was sie fühlen. Das kann einen davor bewahren, zu früh erwachsen zu werden, das eigene Leben davor bewahren, bloß eine Wiederholung von ihrem zu werden – was ein Verlust wäre. Aber sich abzuschotten – was ich nicht tat – scheint ein sogar noch größerer Irrtum zu sein, denn was verlorengeht, ist die Wahrheit über das Leben der Eltern und was man davon halten soll, und darüber hinaus, wie man die Welt einschätzen soll, in der man gerade zu leben beginnt.