Die Klasse
Hermann Ungar
Inhalt:
Hermann Ungar – Biografie und Bibliografie
Die Klasse
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
Die Klasse, H. Ungar
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849615871
www.jazzybee-verlag.de
admin@jazzybee-verlag.de
Mährisch-jüdischer Schriftsteller, geboren am 20. April 1893 in Boskowitz, Mähren, verstorben am 28. Oktober 1929 in Prag. Ungar wurde 1893 im mährischen Boskowitz als Sohn eines Branntweinfabrikanten und Bürgermeisters geboren. Er studierte ab 1911 in Berlin Orientalistik, danach Rechtswissenschaften in München und Prag. 1913 absolvierte er die juristische Staatsprüfung in Prag. Von 1914 bis 1916 war er Soldat und erlitt eine schwere Kriegsverletzung. Danach arbeitete er als Rechtsanwalt und Theaterregisseur. 1922 wurde er Legationsrat an der tschechoslowakischen Botschaft in Berlin. Danach Ministerialkommissar in Prag. Er galt als Einzelgänger des Prager Kreises um Franz Kafka, Ernst Weiß und Max Brod. Hermann Ungar starb, sechsunddreißig Jahre alt, 1929 an einem zu spät behandelten Blinddarmdurchbruch in einem Prager Krankenhaus.
Wichtige Werke:
(Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike“ verfügbar; zusätzliche Bedingungen können anwendbar sein. Der Text ist zu finden unter http://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Ungar)
Er wußte, daß die Blicke der Knaben ihn umlauerten, daß jede Blöße, die er sich gab, sein Verderben werden konnte. Es waren in diesem Jahr achtzehn Knaben, denen er gegenübergestellt war. Sie saßen zu zweien vor ihm auf den Bänken und sahen ihn an. Er wußte, daß das Verderben so kommen würde. Er mußte sich damit abfinden, grausam zu scheinen. Er wußte, daß er es nicht war. Er verteidigte sein Brot, er kämpfte um jeden Tag Aufschub. Seine Härte war ein Glied des Systems, das Ende zu verzögern. Er mußte Zeit gewinnen. Jeder Tag konnte seine Rettung sein, denn gerade an diesem gewonnenen Tag konnte er, der Lehrer Josef Blau, vielleicht durch Sammlung aller seiner Kräfte die Milderung dessen erzielen, was er verwirkt hatte.
Er kämpfte mit allen Mitteln, die Zucht aufrechtzuerhalten. Es war alles verloren, wenn sie sich einmal gelöst hatte. Wenn der erste Stein gelockert war, stürzte das Gebäude. Er wußte, es würde ihn unter seinem Schutt begraben. Er kannte Beispiele, aus denen er gelernt hatte, daß Milde und Nachgiebigkeit nicht die Mittel waren, Knaben in Zaum zu halten. So waren andere Lehrer gescheitert. Der Mensch, sagte man, sei mit Güte und Mitleid begabt; wenn dem so war, waren vierzehnjährige Knaben keine Menschen. Ihre Herzen waren grausam. Wenn die Schranke der Zucht gefallen war, wußte er, war alles vergeblich, der Hinweis auf die bedrohte Stellung des Lehrers wie das Flehen um Gnade. Sie würden keine Frist geben, wenn sie einen Augenblick gefühlt hatten, daß sie die Stärkeren waren. Der Lehrer wußte, daß ihr höhnisches Gelächter ihn einst verfolgen würde, wenn er fliehen würde, gedemütigt, gesenkten Hauptes, um sein Brot gebracht.
Die Schule lag in einem Viertel der Stadt, in dem der wohlhabendere Teil der Bevölkerung wohnte. Die Knaben waren wohlgenährt und gut gekleidet. Er selbst war armer Herkunft. Er fühlte, wie sehr Wohlhabenheit, wenn man sie von Geburt an genießt, Freiheit der Bewegung und Vertrauen zu sich selbst gewährt, und wie sie nicht durch Mittel der Erziehung, selbst nicht durch Bildung und Weisheit zu ersetzen ist. Er fürchtete, daß sie von hier aus den Knaben die erste Blöße bieten könne. Es schien ihm, als ruhten die Blicke der Knaben prüfend auf seinen Bewegungen und auf seiner Kleidung.
Er stand der Klasse unbeweglich gegenüber, den Rücken an die Wand gelehnt. Sein Blick hielt sie einzeln und in ihrer Gesamtheit. Er wußte, daß ihm kein noch so heimlich aufflackerndes Lächeln auf einem der Gesichter, die ihm zugekehrt waren, entgehen durfte. Es konnte ein Lächeln der Überhebung sein und der Anfang der Empörung. Wenn er es rechtzeitig sah, konnte er es durch seinen Blick auslöschen. Er konnte auch unter einem Vorwand strafen. Das Wesentliche war, während der Stunde jeden Augenblick auf das Ziel gesammelt zu sein, die Zucht unter keiner Bedingung wanken zu lassen. Lehrer Blau vermied schon aus diesem Grund das Auf- und Abschreiten in der Klasse, das bei anderen Lehrern in Gewohnheit war. Es durchbrach die Spannung, es verwandelte die Unbewegtheit in Bewegung, es war lösend und löste auf. Es verwischte die Grenze zwischen dem Übergeordneten und der Einheit der Untergeordneten, das System war nicht mehr starr, die Bewegung machte es biegsam. Die beiden Gewichte durften sich auch räumlich nicht verschieben, ohne das Gleichgewicht zu gefährden. Er wußte, bei dem ersten Schritt würde ein Atem durch die Klasse gehen, die Gestrafftheit der Körper würde sich lösen. Die eigene feste Stellung bot zudem weniger Anlaß, seine Bewegungen der Beobachtung der Knaben preiszugeben, als es im Schreiten der Fall sein mußte. Trotz der drohenden Gefahr des Einschwätzens fragte er die Knaben in der Bank ab und ließ sie nicht an die Tafel treten. Auch hierdurch wäre, ähnlich wie durch eigene Bewegung, eine neue durch den Wechsel aufreizende Gruppierung entstanden. Die Zweiteilung in der Ordnung wäre der Dreiteilung gewichen und die Gradlinigkeit des Blickes von ihnen zu ihm und von ihm zu ihnen wäre durch den dritten Punkt, das dritte Gewicht, abgelenkt worden.
Die Tür des Klassenzimmers befand sich in der Höhe der ersten Bankreihe gegenüber der Fensterwand. Die Fenster sahen nach dem Schulhof. Drei Schritte vor den Bänken, vor der Querwand, an der die Tafel hing, stand das Podium mit Josef Blaus Pult. Das Pult stand an dem Rande der Erhöhung, die den Fenstern zugekehrt war. Wäre Josef Blau, wie andere Lehrer, in dem schmalen Gang zwischen Podium und Bänken, quer durch den Raum zur Fensterwand gegangen, um dort in der Ecke zwischen Pult und Wand seinen Hut an den Kleiderrechen zu hängen, der für die Lehrer bestimmt war, hätte er während dieses Ganges die Augen immer eines Teiles der Schüler in seinem Rücken gehabt. Er vermied dies, indem er von der Tür aus sogleich das Podium bestieg und über dieses hinweg an seinen Platz trat. Er beschrieb hierbei einen Halbkreis, nicht nur in der Vorwärtsbewegung, sondern zugleich um die eigene Achse, so daß er die Knaben nicht aus den Augen lassen mußte. Er machte seine Eintragung in das Klassenprotokoll und stellte sich dann so an das erste Fenster, daß der Rücken durch die Wand gegen Sicht von außen geschützt war. Er verharrte so, den Knaben gegenüber, bis an das Ende der Stunde. Er verließ den Raum in derselben Art, wie er ihn betreten hatte.
Wie die Bewegung, wenn nicht in höherem Maße, konnte die Kleidung den Knaben Anlaß zu Spott über ihn werden. Nichts, fühlte Josef Blau, war den Wohlhabenden verächtlicher als Armut. Selbst in ihrem Mitleid lag Überhebung. Er wußte, daß er auf gute Kleidung nicht verzichten durfte, selbst wenn sie nur unter Opfern zu beschaffen war. Jedes Jahr zu Schulbeginn ließ er sich einen neuen Anzug anfertigen. Aber trotz peinlicher Pflege der Kleidungsstücke wurde ihm, sowie er in die Klasse trat, die Dürftigkeit seines Anzugs beschämend bewußt. Die Befürchtung, daß der Hosenboden und der Stoff an den Ellbogen schon glänzten, belästigte ihn derart, daß er die Ärmel etwas nach innen verdrehte und dann während der Stunde die Arme an den Leib gepreßt hielt.
Die Knaben trugen fast ausnahmslos blaue Matrosenkleidung mit freiem Hals und weitem, gegen den Magen spitz zulaufendem Ausschnitt. Der Ausschnitt ließ einen Teil der Brust und die weiße, unbehaarte Haut des Körpers sehen. Sie waren mit enganliegenden Hosen bekleidet, die bisweilen hoch über dem Knie endeten, während die Beine in kurzen Strümpfen steckten, so daß wieder das Fleisch hervortrat. Diese Kleidung der Knaben erfüllte den Lehrer Blau mit Widerwillen. Ihm war, als lehnte diese Art, sich zu kleiden, ihn, seine Existenz ab, als sei sie gegen ihn gerichtet, als liege in ihr die Absicht, ihn herauszufordern. Er war klein und mager. Er trug weil alles Flatternde ihn beunruhigte und aus Ordnungssinn den Rock fest verschlossen. Seine Beine waren dürr und er verdeckte selbst die Haut des Halses durch einen hohen, gestärkten Hemdkragen. Er litt wachend an der so peinlichen wie quälenden Vorstellung, daß er selbst in Matrosenkleidung stecke, von den Schülern entdeckt und nicht zuletzt wegen der Behaarung seiner Brust tödlich gehöhnt und beschämt werde.
Er sah in den Augen der Knaben das gierige Verlangen, die Schranken zu übersteigen und ihm nahezukommen. Da es nicht mit Gewalt ging, solange die Zügel seinen Händen nicht entglitten, versuchten sie es mit List. Sie verfolgten ihn auf der Straße. Keine Vorsicht konnte genügen, auf die Dauer zu verhindern, daß sie Selma sahen. Sie mußten von ihrer Existenz wissen, und während sie ihn, den Lehrer, mit dem gespannten Blick gehorsamer Aufmerksamkeit ansahen, gingen ihre Gedanken vielleicht wollüstig um seine Ehe. Sie entblößten ihn vielleicht bis auf den hageren Körper der Hülle der Kleider, um sich ihn mit Selma in jenen Situationen vorzustellen, die ihn dem Hund auf der Straße gleich machten. Kannten sie Selma, hatte einer von ihnen sie in den anliegenden Kleidern erblickt, die die runden, gefüllten Formen erkennen ließen, dann wurden solche Vorstellungen erst wirklich, bekamen Gestalt. Sie durften Selma nicht sehen. Er mußte, wie der Befehlshaber einer belagerten Festung, weit und breit das Land, selbst fruchtbares, zu einer Wüste machen, um die Annäherung des Feindes mit allen Mitteln zu erschweren.
Es durfte keine Beziehung als die berufliche zwischen ihm und den Knaben bestehen. Die berufliche Beziehung hatte ihr festes Geleise, hatte ihre Normen. Hatte er einmal den Boden verlassen, auf dem diese Normen galten, war eine Rückkehr unmöglich. Das Unpersönliche, von den Trägern der Rolle des Lehrers und des Schülers Unabhängige, war dem Persönlichen, Relativen für immer gewichen. Er mußte unerbittlich sein, wenn die Knaben bisweilen versuchten, ihn in ein privates Gespräch wie den Fisch in den Maschen eines Netzes zu verwickeln. Wenn sie auf ihn zutraten, in der Pause zwischen den Unterrichtsstunden, während er auf dem langen Korridor in eine Ecke gelehnt stand, wies er sie mit barschen Worten ab. Die Arbeiten der Jugendfreunde über das Verhältnis von Schüler und Lehrer waren ihm nicht fremd.
Aber es gab keine Wahl. In den Knaben war die Überhebung der Satten, die Sicherheit der Gutgekleideten, ihr Gelächter hätte ihn vernichtet, wenn sie seine Schwäche, die sie ahnten, hätten greifen können. Es war einer unter ihnen, der keinen Matrosenanzug trug. Er hieß Bohrer Johann. Sein Vater war Schreiber bei einem Anwalt. Bohrer trug einen braunen Rock und lange Hosen. Die Ärmel hatten an den Ellbogen glänzende Flecken. Seine Hände waren nicht weiß wie die der anderen Knaben. Sie waren rot, wie von Frost geschwollen. Josef Blau vermied es, diesen Knaben anzusehen oder eine Frage an ihn zu richten. Ihm war, als könnte Bohrer plötzlich von seinem Platz aufstehen, auf ihn, den Lehrer Josef Blau, zutreten und ihm unter dem tosenden Gelächter der Klasse auf die Schulter klopfen. Er fürchtete die Möglichkeit, daß die Knaben ihn, den Lehrer, mit Bohrer verglichen, mit dem sie aus Mitleid ihr Frühstück teilten. Keiner konnte wie Bohrer seine Angst durchschauen. Trotzdem Josef Blau die Antwort ahnte, fragte er Bohrer, einem stärkeren Willen gehorchend, der ihn an den Rand des Abgrunds führte, welchen Beruf er ergreifen wolle. Bohrer hob die Augen nicht, als er leise, als begriffe er Blaus Beschämung, erwiderte, er wolle Lehrer werden. Für einen Augenblick verlor Blau die Fassung. Er griff hinter sich nach der Wand. Er schloß die Augen. Aber schon erhob sich das Rauschen der Bewegung in der Klasse und schlug an sein Ohr. War das das Ende, begriffen die Knaben nun, daß es kaum einen anderen Beruf für den studierenden Sohn eines Schreibers gab, als den Beruf des Lehrers? Daß Josef Blaus Beruf ein Beruf war für arme Leute? Sahen sie sie nun für immer beieinander, Josef Blau und Johann Bohrer mit den frostgeschwollenen Händen? War er nun für immer beschämt? Er raffte sich auf, sein Blick verwandelte die Unruhe zurück in Starre. Er begriff, daß er zu härteren Mitteln greifen müsse, die Autorität fester zu begründen. Er dachte an die Möglichkeit, die die Lehrer früherer Jahre gehabt hatten, als sie über körperliche Zuchtmittel verfügten. Man hätte die körperliche Züchtigung durch einen Knaben an den anderen ausüben können und so nebenbei die Knaben uneinig machen, gegeneinander ausspielen können, wie das Schicksal, dem sie alle unterworfen sind, die Menschen gegeneinander ausspielt. Die körperliche Züchtigung war mehr als das Strafen durch Tadel, schlechte Noten, Nachsitzen, Strafarbeiten. Das waren Strafen, die nicht verletzten, die die Überhebung der Knaben mit einem Lächeln von sich abtun konnte. Die Züchtigung hätte den Schülern ihre körperliche Unterworfenheit unter die Macht des Lehrers augenfällig gemacht. Lehrer Blau würdigte die Grundsätze, die zur Abschaffung dieser Strafen geführt hatten. Er hätte sie trotzdem in Anwendung gebracht, wenn es erlaubt gewesen wäre, weil auch die Knaben gewiß jedes Mittel angewandt hätten, ihn zu vernichten. Er hätte nicht gezögert, da es um sein Brot ging. Er mußte die Anwandlungen der Milde unterdrücken, wenn er diesen Kampf nicht von Anfang an verloren geben wollte. Josef Blau wußte, daß das Ende über ihn hereinbrechen würde, aber er kämpfte um jede Stunde Verzögerung. Er wußte nicht, wo das Entsetzen seinen Anfang nehmen würde. Die Gefahren drohten von vielen Seiten, in der Welt der Schule und in der anderen, die nicht zur Schule gehörte. Die Berührung dieser beiden Welten hätte die Gefahr vergrößert, die Katastrophe beschleunigt. Er war sich dessen bewußt, daß er sich an Strohhalme klammerte, wenn er den Kampf gegen sein Geschick führte. Aber es gab nichts als Strohhalme gegen das Gesetz, das in seiner grausamen Härte gegen ihn war.
Er verließ die Klasse mit achtzehn, in blaues Papier eingeschlagenen Heften unter dem Arm. Er hörte das Gewirr der Stimmen, das sich erhob, sowie die Tür hinter ihm ins Schloß fiel. Josef Blau sah die Knaben nicht mehr, aber er wußte, daß sie von ihren Plätzen sich erhoben hatten und die Bank umdrängten, in der Karpel saß. Karpel war der älteste, fünfzehnjährig. Blau fühlte, daß in Karpel sich die Feindschaft der Schüler gegen ihn vereinigte und vervielfachte. Wenn das Ende kommen, und wenn es hier und nicht zu Hause seinen Anfang nehmen würde, würde es von Karpel mit den schwarzen, gescheitelten Haaren ausgehen. Karpels Gesicht war nicht mehr glatt und frauenhaft wie die Gesichter der anderen Knaben. Es war schmal und bleich, die Nase war vorspringend, um die Augen lagen blaue Schatten. An den Wangen schien es unrein von sprossenden, wolligen schwarzen Haaren. Der Gedanke, daß auch der Körper dieses Schülers schon männliche Behaarung zeige, war beunruhigend, zumal auch Karpel die ausgeschnittene Kleidung der Mitschüler trug, beunruhigend, wie etwa der Anblick eines als Weib verkleideten Mannes für einen schamhaften Menschen, da man befürchten konnte, daß unversehens eine männlich behaarte Stelle des Körpers sich entblöße.
Josef Blau fühlte die Überheblichkeit dieses Knaben, der ihn verachtete, wenn auch er seiner Verachtung noch keinen lauten Ausdruck gab. Gewiß, er sammelte seine Kräfte und seinen Haß gegen den Lehrer, um ihn losbrechen zu lassen, wenn die Zeit gekommen sein würde, den anderen das Zeichen zu geben, sich auf die Beute zu stürzen. Der Schüler hatte nichts zu verlieren. Wenn er die Schule verlassen mußte, würde sein reicher Vater andere Möglichkeiten für ihn finden. Aber der Lehrer war gerüstet. Es sollte ihnen nicht leicht werden unter seinen Augen, die er nicht von ihnen wandte, und unter seinem Blick, der sie hielt und durchschaute. Karpel senkte den Kopf, wenn Blaus Blick ihn traf. Er verbarg die Finger unter dem Pult, wenn des Lehrers Augen auf ihnen ruhten. Warum ließ er die Hände mit den glänzenden, sorgsam polierten Nägeln nicht liegen, aus welchem Grund entzog er sie dem Blick des Lehrers, wenn nicht deshalb, weil er wußte, daß Blaus Nägel nicht poliert waren, daß der Anblick seiner Hände den Lehrer beschämte und daß die Zeit, Blau zu beschämen, noch nicht gekommen sei?
Josef Blau beschleunigte seinen Schritt. Er hörte über sich auf der Treppe schon den Lärm der sich nähernden Knaben. Er trat auf die Straße in das nächste Haustor. Er wollte die Schüler an sich vorüber lassen. Nun kamen sie aus dem Haus. Sie sahen ihn nicht, der im Dunkel des Torbogens stand. Aber er konnte sie sehen, wie sie die Stufen, die vom Schultor zur Straße führten, herabsprangen, sich reckten und dehnten. Sie schwenkten die in den Riemen geschnallten Bücher. Sie standen ihm gerade gegenüber, in ihrer Mitte Karpel. Karpel sagte etwas und Blau hörte das vielstimmige Lachen an seinem Platz auf der anderen Straßenseite. Karpel stand da, die Hände lässig in den Hosentaschen, die Bücher sorglos unter den linken Arm geklemmt. Dieser Knabe war schon erfahren. Er kannte die verbotenen Lüste. Vielleicht auch kannte er schon die Frau. Blau schämte sich der Erfahrung des Schülers. Karpel schämte sich nicht. Karpel zog ein Blatt Papier aus der Tasche. Es ging von Hand zu Hand. Die Knaben lachten. Kein Zweifel, daß es eine anstößige Zeichnung war, die Karpel zeigte. Am Ende stellte sie ihn, den Lehrer Blau, vom erfahrenen Karpel gezeichnet, unter Umständen dar, die ihn dem Hohn preisgaben. Josef Blau konnte nicht vortreten, mitten unter die Knaben, das Bild mit Beschlag zu belegen. Er wäre von allen Seiten umdrängt gewesen. Jetzt war Hohn und Überhebung in allen. Sie hätten ihn jetzt mit Gelächter empfangen, da sie ihn, das Urbild der Zeichnung, in diesem Augenblick noch sehen mußten, wie Karpel ihn dargestellt hatte. Hier war keine Ordnung gegeben, der sie unterworfen waren, die Ordnung, in der der Platz den Knaben gegenüber für ihn bereit war. Hier, zwischen Menschen, Häusern, Wagen, im Lärm der Straße, hätte er sie erst schaffen müssen. Sie standen, ihre Ordnung war aufgelöst, sie waren in Bewegung. Hier war ihr Sieg leicht. Er wollte sich ihn so nicht abringen lassen.
Josef Blau wartete. Als die Knaben gegangen waren, trat er aus dem Dunkel des Torbogens auf die Straße.
Er mußte die Stadt durchqueren, um zu seiner Wohnung zu gelangen. Er bewohnte mit Selma und deren Mutter eine gemeinsame Wohnung im obersten Stockwerk eines Mietshauses. Das Haus war schwarz vom Ruß des gegenüberliegenden Bahnhofs. Nur dort, wo der Mörtel sich von den Wänden gelöst hatte, war das Dunkel von hellen gelben Flecken durchbrochen.
Die ganze Straßenseite entlang standen Häuser wie dieses. Jedes Stockwerk war von mehreren Familien bewohnt. Aus den Fenstern hing rotes Bettzeug. Dicke hutlose Frauen mit zerrauftem, spärlichem Haar, die Blusen lose um die Hüften flatternd, standen mit Kannen und Taschen vor den Türen. Josef Blau betrat den dunklen Hausflur. Ein Geruch von Feuchtigkeit und Speisen durchzog das ganze Haus. Aus den Wohnungen, an denen er vorbeiging, drang der Lärm von Stimmen, übertönt von langgezogenem Gewinsel von kleinen Kindern und Hunden.
Selma und die Mutter waren nicht zu Hause. Josef Blau nahm die Mahlzeit im Wohnzimmer. Die siebzehnjährige Magd, Martha, klein und flachbrüstig, die Tochter eines Nachbarn, trug die Speisen auf. An das Wohnzimmer stieß von der einen Seite die Küche. Hinter dem Schlafzimmer lag das Zimmer der Mutter, ein einfenstriger schmaler Raum mit besonderem Ausgang in das Treppenhaus. Das Wohnzimmer war zweifenstrig. Vor einem Fenster stand Selmas Nähtisch, an dem sie vor dem Weggehen gearbeitet hatte. An den Wänden hingen Bilder, ein Farbendruck, darstellend eine große Versammlung von Männern, einen Reichstag oder ein Konzil, und einige Familienfotografien, ein Jugendbildnis von Selmas Mutter und ein Bild ihres verstorbenen Vaters, eines stattlichen Mannes mit struppigem Schnauzbart. Die Gardinen waren weiß, die Wände mit einem bunten, auf den Kalk gemalten Muster geschmückt. Trotzdem schien das Zimmer nicht hell. Der Ruß des Bahnhofs drang durch die Fenster, er hatte alles mit einer feinen Schicht bedeckt, die den Farben den Glanz genommen, sie matt, grau und ineinander verschwimmend gemacht hatte. Es war, als seien die Farben ohne Leben, unter dieser Schicht gestorben. Sie erwachten nicht, auch wenn die Rußschicht von den Möbeln, Bildern und Wänden unter dem Staubtuch gewichen war. Die Fenster lagen nach Norden. Das Licht brach sich erst in den Hallen, Gleisen, Schuppen und Kohlenlagern des Bahnhofs, bevor es in die Wohnung drang.
Nachdem Josef Blau gegessen hatte, breitete er die Hefte der Knaben auf dem Tisch aus. Er holte rote Tinte und Federhalter von einem Holzregal zwischen den beiden Fenstern und setzte sich. Er putzte die Feder sorgfältig an einem kleinen hierfür bestimmten Tuchlappen und schlug das Heft des Schülers Blum auf, des ersten in der alphabetischen Ordnung.
In der Wohnung war Ruhe. Josef Blau hörte nichts, als von Zeit zu Zeit ein Klirren, wenn Martha in der Küche einen Teller auf den andern setzte, und den gleichmäßig verworrenen Lärm des Hauses. Er wollte nicht an Selma denken, die auf ihn zutrat, auf ihren Leib weisend, der täglich schwerer wurde, ihm ein Wort zu entreißen, das er nicht sprechen wollte. Sie begriff nicht, daß es gut war, nichts zu sprechen als das Vorgesehene, da man nicht wußte, ob die Worte nicht zu Flüchen wurden. Er wollte die Zeit nützen, ehe Selma mit der Mutter zurück war. Er wollte ruhig die Arbeiten der Schüler durchgehen, Heft um Heft, Fehler um Fehler, alles andere ausschalten, nur an das Vorgesehene, von der Pflicht Aufgetragene denken, an die lateinischen Sätze und sonst an nichts. Er saß über den Heften und zog rote Striche unter den von den Schülern geschriebenen Text. Es waren sechs einfache Sätze. Aber der Unaufmerksame mußte sich in den Fallen verstricken, die der Lehrer gelegt hatte, eine Falle in jeden Satz. Verwundert bemerkte Josef Blau, daß die Knaben fast ausnahmslos den Fallen entgangen waren. Sein Erstaunen steigerte sich, als er bemerkte, daß eine bestimmte Falle im dritten der Sätze allen in gleicher Art zum Verderben geworden war. Er ordnete die Hefte nach der Reihenfolge der Sitzordnung. Er erschrak. Die Übereinstimmung war unzweifelhaft. Hatten die Knaben, unter seinem Blick, der nicht von ihnen wich, einen Weg gefunden, sich gegen ihn zu verschwören, und diesen Weg betreten? Er begriff, daß sie ihn in ihrem Innern verhöhnten. Er hatte sich schwächer gezeigt als ihre List. Sie saßen da, nur äußerlich unter ihn gebeugt, äußerlich ihm unterworfen. Ihre List war nicht erdacht, ihn zufriedenzustellen durch die fehlerlose Arbeit, sei es auch mit Hilfe eines Betrugs. Sie war erdacht, ihn, seine Stärke, seinen Blick zu prüfen. Er hatte die Prüfung nicht bestanden. Ihr Mut mußte nun wachsen. Es war zweifelhaft, ob Josef Blau sich noch retten, die drohende Meuterei ersticken konnte, wenn er das Komplott morgen zerriß und durch neue wohlerwogene Maßnahmen die Knaben wieder unter sich zu zwingen suchte.
Es war eine unterirdische Verschwörung, eine Verschwörung unter den Bänken, eine Verschwörung der nackten Waden bei geduckten, gehorsamen Oberkörpern. Es gab keine andere Möglichkeit als diese: die Knaben brachten die Beine aneinander, vorwärts, seitwärts. In den kurzen Strümpfen und in den Schuhschäften wurden die Mitteilungen zugesteckt und empfangen. Die Starre und Unbeweglichkeit war nur über den Bänken, unter der Oberfläche war Bewegung und Anarchie. Unter den Bänken hatte sein Blick keine Gewalt. Während die Köpfe und Rümpfe gehorchten, hatten die nackten Beine sich empört. Es war der Anfang. Die Zucht löste sich von unten, während er da war, sie fest begründet glaubte, glaubte, daß kein Zeichen der Bewegung ihm entging. Sie fürchteten ihn nicht, wenn er ihnen gegenüberstand. Was geschah, wenn sie seinem Blick entzogen waren?
Josef Blau erhob sich. Er trat ans Fenster. Das Gewirr der Schienen, das sich zum Bahnhof verengte, breitete sich vor ihm aus. Er hatte auf dem Heimweg keinen der Schüler gesehen. Sie verfolgten seinen Schritt nicht. Aber vielleicht umlauerten sie das Haus. Vielleicht lauerten sie auf Selma, hatten Selma schon überfallen, ihr zugeflüstert, daß er einen lächerlichen Schimpfnamen habe, daß er die Schüler fürchte, daß die Schüler aber ihn vernichten würden ohne Erbarmen, wenn die Zeit so weit sei. Sie hatten ihr vielleicht Bilder in die Hand gedrückt, auf denen er, Josef Blau, verzerrt, ein armseliges behaartes Gerüst von Knochen dargestellt war, vielleicht mit ihr, die von ihm unförmig war. Gewiß fühlten sie, daß er mit seinem Leben an ihr hing. Sie machten vor Selma nicht halt. Die Lüsternheit der Knaben, gestachelt vom Anblick der Schwangerschaft, wühlte in Vorstellungen von Selmas Gemeinschaft mit ihm, deren Folgen an ihr sichtbar waren. Karpel, der in den Lüsten erfahren war, flüsterte Selma vielleicht zu, daß andere Männer stärker seien in ihrer Männlichkeit, und daß sie, Selma, schön sei, prächtigen Leibes und verdorren müsse neben ihm.