Barbara Honigmann
Ein Kapitel
aus meinem Leben
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24238-8
© 2004/2012 Carl Hanser Verlag München Wien
Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur
Es war grausam, Ethel und Julius Rosenberg hinzurichten, aber unschuldig waren sie nicht«, sagte meine Mutter, während sie vor dem Spiegel ihre wilde Frisur in irgendeine Ordnung zu bringen versuchte; und obwohl das, was sie da sagte, im Gegensatz zu allem stand, was ich um mich herum hörte, was sie in der Schule lehrten und wie es sonst überliefert wurde, ließ meine Mutter gar keinen Zweifel daran, daß sie es besser wußte, und deswegen fragte ich auch nicht nach. Statt dessen fragte ich sie nach ihrer ursprünglichen Haarfarbe, weil sie sich, soweit ich überhaupt zurückdenken kann, die Haare färbte, natürlich nur in dunklen Tönen, denn sie war ja ein »dunkler Typ«, in diesen Tönen allerdings schöpfte sie das ganze Spektrum von Dunkelblond bis Tiefschwarz über Rostbraun und Feuerrot voll aus. Sie antwortete mir, das weiß ich nicht mehr, ich hab’s wirklich vergessen.
An ihre ursprüngliche Haarfarbe konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber daß Ethel und Julius Rosenberg nicht unschuldig hingerichtet worden waren, das wußte sie genau.
Wir wohnten in einer Villa im Berliner Stadtteil Karlshorst, in dem am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation Deutschlands unterzeichnet worden war, natürlich nicht in unserer Villa, aber ganz in der Nähe davon, ein großer Teil von Karlshorst war seitdem zur sowjetischen Garnisonsstadt geworden, mit einer riesigen Kaserne für die Soldaten und abgesperrten Gebieten für die militärischen Übungen, aber es gab auch einen zivilen Teil mit Geschäften, Kino und Kultursaal und, noch näher bei uns, einige Wohnblöcke, in denen Offiziere mit ihren Familien wohnten. Ihre Kinder spielten in den Innenhöfen zwischen den Wohnblöcken, und ich ging manchmal hin, um mitzuspielen, doch ich blieb all die Jahre das einzige deutsche Kind, das auf den Russenspielplatz ging. Unser Hund Poldi allerdings, der von einer »undressierbaren Promenadenmischung stammte und Folgen nicht gelernt hatte«, wie mein Vater erklärte, verlief sich beim Spazierengehen regelmäßig in das militärische Sperrgebiet hinein, aus dem man tagsüber und manchmal auch nachts gefährliche Geräusche wie Schüsse hörte und in das man natürlich keinen Fuß zu setzen wagte, was ja auch allerstrengstens verboten war; wir mußten dann in der Kommandantur anrufen und fragen, ob ihn die Militärbehörde irgendwo aufgegriffen hatte, dann konnten wir ihn später auf der Kommandantur abholen. Mit der Zeit kannten sie ihn schon und brachten ihn uns entgegen: Wot waschji Poldi!
Als eines Tages an unserer Tür in Karlshorst ein Mann klingelte und mit starkem englischem Akzent nach Mrs. Hannnigmänn fragte, waren die Rosenbergs seit über zehn Jahren hingerichtet und meine Mutter seit fast 20 Jahren aus dem englischen Exil zurückgekehrt. Eigentlich war sie nicht »zurückgekehrt«, da sie Berlin in ihrem ganzen Leben vorher noch nie betreten hatte, sondern sie war meinem Vater gefolgt, der in Berlin an ein früheres Leben als Journalist bei der Vossischen Zeitung anknüpfen konnte, während meine Mutter den Bruchstükken ihres Lebens nur ein neues hinzufügte. Meine Eltern sprachen noch oft englisch miteinander und mit ihren Freunden, die ebenfalls aus der Emigration zurückgekehrt waren und von denen sich einige Ehefrauen aus England oder den USA mitgebracht hatten, die natürlich kein Deutsch sprachen und sich auch keine besondere Mühe gaben, es zu lernen, und das Englischsprechen war wohl auch eine Art, sich der Zusammengehörigkeit und des Zusammenhalts zu versichern und gegen die Ablehnung derer zu schützen, die sie als fremd und als privilegierte Parteielite ansahen, was keine ganz falsche Wahrnehmung war. Sie waren als Juden fremd geworden und waren mehr oder weniger privilegiert, weil sie zur Parteielite gehörten oder wenigstens eine höhere Stufe in der Kulturhierarchie einnahmen. Ihre Privilegien, ihr Kosmopolitismus und ihr Status als überlebende Juden und als Kommunisten waren ihre Stigmata.
Die Villa in Karlshorst stammte aus den 20er oder 30er Jahren und war jetzt in mehrere Wohnungen unterteilt. Wir bewohnten die Wohnung im Erdgeschoß mit großen hellen Zimmern, deren Böden mit glänzendem Parkett ausgelegt waren, einem Wintergarten zur Straße hinaus und einem kleinen Garten hinter dem Haus, in dem meine Mutter im Sommer in einem Liegestuhl unter dem Apfelbaum die Zeitung las. Im ersten Stock war die Wohnung in zwei geteilt, und in jeder wohnte eine Mutter mit einer Tochter, deren Väter wohl im Krieg gefallen waren. Unter dem Dach wohnten Lomi, Brauni und Waldtraud. Lomi sah aus wie hundert, Brauni sah aus wie achtzig und Waltraud war achtzehn. Brauni war die Tochter von Lomi und Waltraud war die Tochter von Brauni, und auch ihre Männer und Väter mußten in den verschiedenen Kriegen gefallen sein, es gab sie nicht, und sie wurden eigentlich auch nie erwähnt. Dafür sprachen die beiden Witwen um so mehr vom Treck, von den Bomben und von den Russen, denen sie auf dem Weg von Ostpreußen ausgeliefert gewesen waren, und dabei rollten sie das R noch härter, als meine Mutter das R rollte, die ihre österreichisch-ungarische Herkunft genausowenig verbergen konnte wie die Frauen aus Ostpreußen die ihre. Lomi heizte und kümmerte sich um unseren kleinen Garten, Brauni räumte die Wohnung auf, kochte, wusch und bügelte für uns, während meine Mutter bei der DEFA arbeiten ging, die Hausangestellten großzügig bezahlte und freundlich behandelte und sich damit ein für allemal eine unüberbrückbare Distanz erkaufte. Vielleicht erzählten Lomi und Brauni auch deshalb so viel von den Leiden des Krieges, vom Treck und von den Bomben, damit meine Mutter gar nicht erst anfing, von ihrem Leben zu erzählen. Sie schlug sowieso nur die Augen zum Himmel über ihre Lamentiererei, die Engländer jedenfalls hätten sich auch in den schlimmsten Zeiten nicht so unwürdig beklagt.
Lomi war eine stadtbekannte Wunderheilerin, jedenfalls in den Straßen um uns herum war sie dafür sehr bekannt; mein Vater, der sie sonst durchaus respektierte, nannte sie einfach »die Hexe«, wegen ihres Buckels, ihrer Winzigkeit und ihrer behaarten Warzen; vielleicht wollte er sich mit dieser Bezeichnung auch dafür rächen, daß man ihn früher selbst sooft »Affe« genannt hatte, wegen seiner dichten schwarzen Behaarung bis zu den Fingerspitzen; erst in England hatte niemand mehr »Affe« zu ihm gesagt. Sogar von Karlshorster Ärzten wurden Lomi Patienten geschickt, die sie dann in Vollmondnächten durch Besprechen, Handauflegen und Zaubertränke heilte. Im Winter heizte sie und kümmerte sich um die Holz- und Kohlenlieferung für das Haus, in dem wir in den vier Zimmern des Erdgeschosses wohnten.
Meine Mutter war die einzige Frau im Haus, die keine Witwe war, dafür war sie zum dritten Mal geschieden und lebte seit der letzten Scheidung, der von meinem Vater, mit einem Mann zusammen, den ich Onkel Wito nannte. Onkel Wito war also der einzige Mann im Haus, allerdings nur während der Woche, denn das Wochenende verbrachte er meistens mit seiner früheren Familie in Karolinenhof, dafür kam dann mein Vater zu Besuch nach Karlshorst. In dem Haus der Frauen und Töchter war ich die Jüngste, und während die Mütter vom Treck und den Bomben sprachen, weihten mich die Töchter in die wichtigen Liebesangelegenheiten ein, die sie gerade erlebten, und ließen sich dazu herab, mich gleichzeitig aufzuklären, was allerdings überflüssig war. Denn wie alle »orientalischen Mädchen«, wie mein Vater sich ausdrückte, war ich frühreif und hatte mit meiner Freundin, die ebenfalls ziemlich »orientalisch« war, schon in der ersten Klasse Jungen, die uns gefielen, in den nahe gelegenen Wald, ins Gras gelockt, eskortiert vom Dackel Poldi, der die Heiners und Reiners wegbiß oder wenigstens wegkläffte, wenn sie uns heimlich nachgeschlichen kamen, obwohl sie auf der Warteliste für die Waldstunde noch ganz weit hinten standen.
Meine Mutter glaubte wohl, Lomi, Brauni und die anderen Frauen im Haus wüßten gar nichts über ihre Herkunft und wo sie die Zeit des Krieges verbracht hatte, aber sie wußten es ganz genau, denn mir gegenüber machten sie manchmal Andeutungen und Bemerkungen, doch das Wort Jude nahmen sie dabei nicht in den Mund, dieses Wort sprachen sie nie aus, es existierte überhaupt nicht, auch in der Schule kam es nie vor. Nur einmal, als ich bei Lomi und Brauni unterm Dach irgend etwas holen oder ausrichten sollte, sagte Brauni, und Lomi nickte dazu, »wenn es wieder passiert, werden wir dich hier irgendwo unter dem Dach verstecken«. Genauso sagten sie es, und ich schäme mich heute noch dafür.
Lomi wischte gerade im Hausflur und Brauni räumte in unserer Wohnung auf, während ich wahrscheinlich Schulaufgaben machte, als der sehr westlich wirkende Mann mit starkem englischem Akzent nach Mrs. Hannnigmänn fragte und wir ihm antworteten, sie sei nicht da. Wann sie wieder zurück sei, fragte er. Wann er wiederkommen könne. Das alles mit dem starken englischen Akzent. Mrs. Hannnigmänn, hier wohne sie doch? Ja, hier wohne sie. Ob ich die Tochter sei. Ja, das sei ich.
Er kam abends oder am nächsten Tag wieder und folgte meiner Mutter ins Wohnzimmer, sie schloß die Tür fest hinter sich zu; dann ging er wieder und war eigentlich nicht sehr lange geblieben.
Danach wurden Lomi, Brauni und ich zur Krisensitzung beordert. Nie wieder eine Auskunft geben. Nichts sagen. Kein Wort zu jemandem, der nach Mrs. Hannnigmänn fragt. So lautete die Order, und wir wußten noch nicht einmal, worüber wir nichts sagen durften. Meine Mutter beeilte sich nicht, es uns mitzuteilen.
In den nächsten Wochen kamen immer mehr westlich wirkende Männer, die mit starkem englischem Akzent nach Mrs. Hannnigmänn fragten. Meine Mutter hat sie wieder weggeschickt und denen, die sie doch zu einem Gespräch überredeten, jede Aufklärung verweigert, so daß in den zahlreichen Artikeln und Büchern, die diese Männer dann in der Folge veröffentlichten, immer wieder »die Hausangestellte« auftaucht, zu der sie Lomi und Brauni zusammenfaßten, die ihnen doch überhaupt nicht hatten weiterhelfen können, da sie nicht einmal Englisch verstanden. Und in Ermangelung auch nur der geringsten Spur eines Hinweises auf das, was sie suchten, auf den Anfang einer Geschichte nämlich, die gerade ans Licht gekommen war, eines großen Skandals, einer Sensation, an der meine Mutter offensichtlich einen Anteil hatte, erfanden sie einfach Details ihres Lebens, die ich dann später in den Büchern und Artikeln dazu fand und deretwegen mein Vater meinte, meine Mutter müsse gegen alle diese Veröffentlichungen klagen, so unverschämt und obszön seien sie, da könnte sie außerdem noch zu einer Menge Geld kommen, du weißt doch, in England kannst du mit solchen Klagen Millionär werden!
Meine Mutter wirkte, wenn sie die englisch sprechenden Herren verabschiedet hatte, aufgeregt und verschlossen zugleich, aber sie gab weiter keine Erklärungen über diese Unruhe, die nun in unser Haus eingezogen war. Immer wieder nur die Order, nicht über das zu sprechen, worüber ich sowieso nichts wußte.
Ein Name aber war gefallen, der mir fremd und vertraut war, ich kannte ihn als Schriftzug, hatte aber vorher noch nie seinen Klang gehört. Bei meinen Forschungen in unserer Bibliothek, die ich oft unternahm, weniger auf der Suche nach Lektüre, als um Bücher in die Hand zu nehmen und anzuschauen, die, in Englisch oder Französisch, offensichtlich aus einer anderen Zeit und einem anderen Leben meiner Mutter stammten, war ich auf diesen Namen gestoßen. In einer zweibändigen Shelley-Ausgabe stand neben dem Vorsatzblatt mit den Shelley-Worten »Poets are the trumpets, which sing to battle. / Poets are the unacknowledged legislators of the world« in sehr kleiner, feiner Schrift: H.A.R. Philby, Trinity. In anderen Büchern stand derselbe Name, aber in der wilden, unverwechselbaren Schrift meiner Mutter: Litzy Philby. Das war ihr Name, jedenfalls teilweise war es ihr Name, Litzy war einer der Namen, mit denen sie genannt wurde, den anderen Teil des Namens aber kannte ich nicht und wußte nichts mit ihm anzufangen, und deshalb betrachtete ich den Schriftzug immer wieder, als könnte er vielleicht eines Tages zu sprechen anfangen und mir sein Geheimnis preisgeben. Regelmäßig zog ich deshalb die Bücher immer von neuem aus dem Regal, damit sie einmal den Mund aufmachten, und so konnte mir nicht entgehen, daß irgendwann einige der Seiten, auf denen der Name geschrieben stand, herausgerissen waren, aber nicht systematisch alle, denn systematisch konnte meine Mutter überhaupt nicht handeln, das sah man ja schon an der Schrift. Eigentlich ist das die Schrift einer Verrückten, sagte mein Vater manchmal.
Meine Mutter hatte, trotz all dieser Geheimnisse, gar keinen verschwiegenen Charakter, sie redete viel und gerne und war eine Meisterin der Konversation, also der Kunst, das Gespräch von der einen in eine andere Richtung zu wenden. So wendete sie auch meine Fragen nach den Fotos ab, auf denen ein interessanter junger Mann mit Pfeife zu sehen war und die ich zwischen all den anderen Fotos gefunden hatte, die sie in wildem Durcheinander in einem Schuhkarton aufbewahrte, obwohl diese Art der Aufbewahrung eher der Zerstörung nahekam; jedenfalls wurden in dieser Sammlung keine Zeugnisse der Erinnerung gepflegt, nichts wies auf die Herkunft der Fotos hin, eine Beschriftung auf der Rückseite etwa, wie man das bei ordentlichen Menschen findet. Fotos völlig nebensächlicher Leute und Gruppenbilder vom Betriebsausflug lagen neben denen ihrer verstorbenen Eltern und alter Freunde und denen von dem jungen Mann mit der Pfeife. Natürlich fragte ich meine Mutter, wer ist das, ein Freund von früher? was macht er? Aber sie hatte die Fähigkeit, diese Fragen immer ganz beiläufig und ohne, daß ich es richtig merkte, in ein Gespräch über meine Angelegenheiten umzulenken, über die Schule, über meine Freundinnen, über die Ballettstunde oder über die Sommer- oder Wintermode. Sie stellte immer viele Fragen, aber Antworten gab sie nie.
Kurze Zeit, bevor die englischen Journalisten auftauchten, war Onkel Wito ausgezogen. Ein paar Jahre hatten wir in der Karlshorster Villa zusammengelebt, unter einem Dach, wie man so sagt, fast wie eine richtige Familie. Wir verstanden uns gut, Onkel Wito und ich, obwohl wir nicht viel miteinander sprachen; mein Vater sagte etwas abfällig von ihm, er schreibe Gedichte über die Natur, deswegen spreche er so wenig. Fast jeden Abend tauschte er mir Schokolade gegen Hals- und Nackenkraulen ein, erst kraulte er mir eine Viertelstunde den Hals und Nacken, und dann bekam ich die Schokolade. Westschokolade, die er wiederum von seiner Sekretärin aus dem Betrieb geschenkt bekam, er mochte sie aber gar nicht, die Schokolade, deshalb gab er sie an mich weiter. An den Wochenenden nahm er mich und Poldi manchmal mit zu seinen Söhnen nach Karolinenhof oder uns alle zusammen auf einen Ausflug, und dann kam es mir schon fast so vor, als hätte ich große Brüder, denn sie waren beide älter als ich. Der ältere lehrte mich die Schauspielkunst, und dem jüngeren durfte ich beim Experimentieren mit dem Chemiebaukasten assistieren, dazu füllten wir ein bißchen Benzin aus dem Kanister ab, der im Kofferraum von Onkel Witos Auto lag, und die Flammen schlugen bei unseren Experimenten manchmal ziemlich hoch, wir konnten sie gerade noch mit den Sofakissen löschen.
Dann, als ich einmal am letzten Schultag vor den Sommerferien unerwartet früher aus der Schule nach Hause kam, fand ich Onkel Wito, der ja sonst genau wie meine Mutter tagsüber auf der Arbeit war, plötzlich inmitten eines großen Durcheinanders vor, das einem Auszug ähnelte. Sämtliche Schranktüren offen, alle Schubladen herausgezogen, Koffer und Taschen auf Tischen und Betten, offensichtlich packte er. Ich fragte, was los sei, und er erklärte, daß er mit seinen beiden Söhnen in die Ferien fahre, diesmal für den ganzen Sommer, und auch Poldi mitnehmen wolle, damit er sich mal in einem richtigen Wald auslaufen könne und nicht bloß auf dem militärischen Sperrgebiet der Russen nebenan. Diese Ferien waren offenbar als ein Herrenvergnügen geplant, denn von meiner Begleitung oder auch nur einem Besuch war nicht die Rede. Er schien mir verlegen, und so zog ich mich lieber zurück. Nahm einen Apfel und ging wie jeden Nachmittag zu meiner Freundin Bettina. Na, tschüß dann, mach’s gut, bis nach den Ferien, und paß gut auf Poldi auf!
Den Hund habe ich nie mehr wiedergesehen, und dabei hieß es immer, er sei »mein« Hund, schließlich hatte er doch in meinem Zimmer geschlafen. Am Abend dieses Tages, als ich schon im Bett lag, hörte ich vom anderen Ende des Flurs, im Wohnzimmer, meine Mutter weinen und meinen Vater, der wohl nicht zufällig vorbeigekommen war, auf sie einreden, ich selber weinte in meinem Bett auch, und dann kamen sie vom anderen Ende der Wohnung als Komitee in mein Zimmer anmarschiert und überbrachten mir die Nachricht, daß Onkel Wito ausgezogen sei und mich und meine Mutter verlassen habe, was ich inzwischen längst begriffen hatte, nachdem ich Zeugin seines Auszugs geworden war, ihn beim Packen erwischt und er mir »schöne Ferien« gewünscht hatte.
Wir weinten nun gemeinsam, meine Mutter und ich, und mein Vater redete uns gut zu, und meine Mutter sagte beim Tränenabwischen, es wird schon gehen, ach, es wird schon gehen. Es war ja auch nicht das erste Mal.
Von diesem Tag an gab es dann wirklich nur noch Frauen in der Karlshorster Villa, keinen einzigen Mann mehr und nicht mal mehr einen Hund.
Poldi soll wenig später in seiner neuen Heimat in Klein-Machnow, wo Onkel Wito nun mit der Sekretärin wohnte, die ihm immer die Schokolade gebracht hatte, an einer Vergiftung gestorben sein, nachdem er an einem frisch gestrichenen Zaun geleckt hatte, aber das konnte ich nicht glauben, so dumm war doch Poldi nicht, daß er an einem frisch gestrichenen Zaun geleckt hätte – kein Hund kann so dumm sein! Nach dem Tod des Hundes bekamen Onkel Wito und die Sekretärin ein Kind, haben mir viele Jahre später Leute aus Klein-Machnow erzählt. Ich habe es aber meiner Mutter nicht weitergesagt, obwohl sie es sicher schon irgendwoher erfahren haben wird; seit dem Abend jedoch, als wir beide wegen Onkel Witos Auszug geweint hatten und sie »ach, es wird schon gehen« gesagt hatte, haben wir ihn in unseren Gesprächen nicht wieder erwähnt, seinen Namen nie mehr ausgesprochen. Er war ausgelöscht, der Name, als ob er nie existiert hätte, und auch die anderen Frauen im Haus, die Hexe Lomi, Brauni, Waltraud und die übrigen Witwen mit ihren Töchtern aus der geteilten Wohnung über uns haben Onkel Wito, der doch in ihren Augen jahrelang so etwas wie der »Chef« des Hauses gewesen war, nie wieder erwähnt, genausowenig, wie sie je über ihre eigenen Männer sprachen, die wir nie gesehen hatten.
Einige Wochen nach dem Auszug hat mich Onkel Wito noch manchmal von meiner Ballettstunde abgeholt, um mich danach zum Eis- oder Kuchenessen einzuladen, aber dann wußten wir nicht, was wir uns sagen sollten, von seinen Söhnen sprachen wir nicht, nicht von Poldi und von Karlshorst und von meiner Mutter schon gar nicht, und diese vielen Auslassungen machten, daß wir auch nicht recht wußten, wie wir uns ansehen sollten, wir waren diesem intensiven Einander-Gegenübersitzen gar nicht gewachsen, weil wir uns bis dahin ja immer nur im gewöhnlichen Nebeneinander des Familienlebens, des Tür-an-Tür-Wohnens begegnet waren. Vielleicht tolerierte auch seine neue Frau aus Klein-Machnow diese Treffen nicht, oder er hatte Angst, dabei irgendwann einmal meiner Mutter wiederzubegegnen, denn die Eisdiele, in die er mich führte, war nicht ganz nah, aber wohl auch nicht weit genug entfernt von unserem Haus, in dem wir so viele Jahre zusammengelebt hatten. Bald gab er die Treffen wieder auf, eine Weile sah ich mich nach der Ballettstunde noch auf dem Weg zur Straßenbahn nach seinem blauem Wartburg um, bis ich begriff, daß ich ihn nicht mehr zu erwarten brauchte, und auch die Ballettstunden gab ich kurz danach auf, weil die Ballettlehrerin, die eine Palucca-Schülerin war und uns deshalb sowohl klassischen Tanz als auch Ausdruckstanz lehrte, mir immer wieder zu verstehen gab, daß ich eigentlich für den Tanz, selbst für den modernen, ungeeignet sei, zu kurze Beine, keinen hohen Spann hätte, und mich in allen Aufführungen immer nur in der Rolle als Baum besetzte, was eine dauernde tänzerische Unterforderung und Entmutigung für mich war.
Fast gleichzeitig also verschwanden aus unserem Haus mit Onkel Wito und seinen Sachen auch die Poldi-Sachen, sein Napf, sein Spielzeug, seine Decke, und auch die Ballett-Sachen warf ich dann weg, Tutu, Schläppchen, Spitzenschuhe, und ging auch nicht mehr in die Staatsoper, um mir Schwanensee anzusehen, und nicht einmal zum Gastspiel von Maurice Béjarts Sacre du printemps, das in Berlin Furore machte.