Ganz oder
gar nicht
Autobiografie

Ganz oder
gar nicht
Autobiografie
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Werner Irro, Hamburg
Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz
Umschlagmotiv: © Manfred Esser, Bergisch Gladbach
Bildnachweise Tafelteil
Bilder 1-4: privat; Bilder 5-7: ddp images / AP; Bild 8: L’osservatore Romano Citta del Vaticano, Servizio Fotografico, Arturo Mari; Bild 9: WEREK Pressebildagentur Hake-Ulmer GbR; Bild 10: PRESSEFOTO FRED JOCH, Poing; Bild 11: Aldo Martinuzzi, Fotografo Milano; Bilder 12-13: privat; Bilder 14-17: ddp images / AP; Bild 18: ddp images / dapd; Bilder 19-21: ddp images / AP; Bilder 22-25: privat; Bild 26: ddp images / dapd; Bild 27: ddp images / AP; Bilder 28-29: ddp images; Bild 30: ddp images / dapd©AP; Bild 31: ddp images / dapd
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-1978-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Ich danke meinen Fans, die mich über drei Jahrzehnte auf und neben dem Fußballplatz unterstützt haben. Ich danke meinen Trainern, die mich förderten und formten. Ich danke meinen Ärzten, die mich heilten und mir wieder Hoffnung gaben. Und ich danke von Herzen meinen Eltern, die das Fundament legten, das eine solche Karriere erst ermöglichte.
Es ist noch nicht so lange her, da hielt ich mit meinem Auto an einem serbischen Grenzübergang. Ich reichte meinen Pass durchs Fenster und beobachtete den Gesichtsausdruck des Beamten. Er zog die linke Augenbraue hoch, bückte sich, sodass er mir ins Gesicht blicken konnte, und sagte auf Englisch: »Herr Matthäus, ich werde Ihnen Ihren Pass nicht wieder aushändigen können.« Nicht mehr aushändigen? Wie bitte? Ich war entsetzt und fragte nach dem Grund. Da fing er an zu lachen. »Damit Sie das Land nicht mehr verlassen können. Bleiben Sie hier und kümmern Sie sich um unseren Fußball!«
So etwas passiert mir im Ausland.
In Deutschland dagegen würden mir einige am liebsten den Pass wegnehmen, damit ich nicht mehr ins Land reinkomme.
In Italien wiederum interessiert es nicht, welches Auto ich fahre, ob ich als Fünfzigjähriger eine junge Frau habe, viermal geschieden bin oder mich auf einer Pressekonferenz versprochen habe. Es gibt keine Häme, es gibt keinen Spott, es gibt keinen Neid. Ich treffe auf Respekt und Anerkennung.
Selbst heute, zwanzig Jahre nach meinen Erfolgen bei Inter Mailand, werde ich im Giuseppe-Meazza-Stadion immer noch von Tausenden mit Applaus empfangen, wenn ich die Tribüne hochgehe, um mir mal wieder ein Spiel anzuschauen. Diese Achtung ist unglaublich; dieses Gefühl, dass man weiterhin ein Teil dieser Familie ist. Der Verein ist längst umstrukturiert, neue Angestellte arbeiten in den Büros, aber die Fans vergessen dich nicht. Sie erinnern sich, was du für ihren Verein geleistet, welche Momente du ihren Herzen geschenkt hast. Egal, wo ich in Italien hinkomme, ob auf Sizilien, in Rom, in Verona oder selbst beim Italiener in München – ich habe dort einen Spitznamen: Il grande. Der Große. Wer in Italien »grande« sagt, meint »Grande Lothar«. Nur hier, in Deutschland, bin ich »der Loddar«. Das ist schon kurios, denn ich finde eigentlich nicht, dass ich fußballerisch für Italien mehr geleistet habe als für Deutschland.
In diesem Buch will ich sowohl den Fans in meiner Heimat als auch den Leuten, die mich Loddar nennen, zeigen, wer ich wirklich bin. Ich habe es zu lange den Journalisten überlassen, über mich zu schreiben. Journalisten, denen ich mich oft zu schnell anvertraut habe, die meinen Namen missbrauchten. So entstand ein Image von mir – aber wer kennt mich wirklich? Die meisten haben sich ein Bild von mir gemacht über provozierende Schlagzeilen, abstruse Anekdoten und billige Pointen. Aber ist das Lothar Matthäus? Bin das ich? Ich werde klarstellen, vervollständigen und erklären, was mich ausmacht, warum ich der bin, der ich bin, und was sich hinter manchen Entscheidungen verborgen hat, die für Irritationen sorgten.
Natürlich ist mir bewusst, dass ich für mein Image auch selbst verantwortlich bin. Zu oft habe ich vergessen, wie interessant ich für die Öffentlichkeit bin. Vielleicht habe ich zu sehr in mein Privatleben blicken lassen, zu viele Interviews gegeben. Nicht unbedingt, weil ich sie geben wollte, sondern – es mag komisch klingen – weil ich ein höflicher Mensch bin und dazu erzogen wurde, auf Fragen zu antworten. Vielleicht war es aber auch mein Kampf um Anerkennung, der mich zu offenherzig werden ließ, zu blind und zu naiv, um zu bemerken, wenn jemand meine Gutmütigkeit ausnutzen wollte. Das gilt für Journalisten, aber auch für Menschen in meinem Umfeld, in denen ich ursprünglich Freunde vermutete. Ich habe erst später realisiert, dass sie nichts anderes waren als Profiteure.
Ich habe daraus gelernt, und trotzdem wird mir dieser Fehler vielleicht auch zukünftig passieren. Ich will mich nicht verbiegen.
Eines kann ich mir jedoch nicht vorwerfen: dass das, was ich der Öffentlichkeit preisgab, unehrlich oder verfälscht gewesen wäre. Ich bin Ehrlichkeitsfanatiker. Ich bin Gerechtigkeitsfanatiker. Und ich bin ein Herzmensch. Das heißt, ich handele aus dem Herzen – so sehr, dass ich mir manchmal wünschte, mehr das Hirn benutzt zu haben. Aber mein Herz überstimmte regelmäßig den Kopf.
Trotz der vielen unliebsamen Dinge, die ich mit dieser Maxime erlebt habe, stehe ich nach wie vor zur Stimme meines Herzens. Weil ich an das Gute glauben will. Weil ich mich um andere sorgen, weil ich vertrauen will. Deshalb bereue ich auch keine Hochzeit, denn sie kamen alle von Herzen. Sie waren alle ehrlich und folgten meinem inneren Leitsatz: Mache es ganz, oder mache es gar nicht! Natürlich hätte ich auch hier zu mir sagen können: »Lothar, bist du wahnsinnig! Nach vier Monaten heiraten? Kann das gut gehen?« Warum nicht? Ganz oder gar nicht.
Ist man in einer mitunter verlogenen und sinnentleerten Welt auf der Suche und trifft dabei seine Entscheidungen meist aus dem Herzen, läuft man nun mal Gefahr, häufiger zu scheitern als andere. Ich bin häufiger gescheitert. In der Ehe wie im Fußball. Wobei meine privaten Niederlagen die schlimmsten waren, die ich je erlebt habe, schlimmer als jeder verpasste Pokal.
Meine Prinzipien habe ich deswegen nicht geändert. Selbst dann nicht, wenn ich merkte, dass mein Vertrauen ausgenutzt wurde oder Ausgebufftere auf Traumposten gelandet sind. Auch über die Kollision meiner Werte und Prinzipien mit den Regeln dieser Branche und den Ansprüchen mancher Lebensgefährtin werde ich in diesem Buch schreiben.
In den letzten Jahren wurde ich von einer großen Sehnsucht getrieben. Damit meine ich nicht so sehr die Sehnsucht, im Privaten endlich anzukommen, ein letztes Mal zu heiraten, noch einmal Vater zu werden und einen Ruhepol zu finden. Die Sehnsucht hieß, endlich meine Qualitäten als Trainer auch in meiner Heimat zeigen zu können. Im Ausland hatte der Weg meiner Mannschaften ja auf unterschiedlichste Art und Weise meist nach oben geführt. Neben den sportlichen Erfolgen in den Meisterschaften und Pokalwettbewerben und trotz aller unrühmlichen Schlagzeilen habe ich in Österreich, Serbien, Israel und Ungarn vor allem stabile Fundamente hinterlassen. Ich entdeckte viele neue Talente, die heute Nationalspieler sind oder im Ausland unter Vertrag stehen. Die Jungs hatten Respekt vor mir und vertrauten sich mir an, als sei ich ihr Vater. Das macht mich stolz und zufrieden. Ich konnte dabei viel lernen. Auf meinen Trainerstationen begegnete ich den unterschiedlichsten Mentalitäten und entwickelte ein Gespür dafür, wie man mit Spielern individuell umgehen muss. Gerade bei den Multikultimannschaften von heute sind solche Erkenntnisse extrem wichtig. Auch in Deutschland.
Nur hat es in dem Land, in dem ich mit neun Jahren meinen Spielerpass erhielt, mit 18 in die erste Bundesliga wechselte, sieben Meistertitel errang und zweimal den DFB-Pokal hochhielt, für das ich sowohl Weltmeister als auch Europameister wurde, bisher nicht hingehauen. Ich sage nicht, dass es ungerecht ist, in Deutschland noch keinen Trainerjob bekommen zu haben. Vielleicht traut man sich nicht, weil ich zu sehr polarisiere, vielleicht hat man Angst vor dem starken Fokus, der auf mir liegt, oder man ist voreingenommen aufgrund der Geschichten, die aus meinem Leben an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Ich werde in diesem Buch erzählen, wie trotz alledem viele Manager und Präsidenten mit mir redeten und welche Umstände im letzten Moment dazu führten, dass doch nichts daraus wurde.
Inzwischen hat sich meine große Sehnsucht gelegt. Auch weil ich der Bundesliga zumindest zurzeit keine großen Experimente zutraue. Ich habe das Gefühl, dass sich die Liga aus einem Karussell mit 25 Trainern bedient. Fliegt einer raus, kommt direkt der nächste Altbekannte. Man verlässt sich auf die Trainer, die man kennt. Egal wie mittelmäßig oder wie erfolglos. Egal wie oft abgestiegen oder rausgeschmissen. Michael Skibbe wird aus Erfolglosigkeit in Frankfurt entlassen, fünf Monate später ist er Cheftrainer bei Hertha BSC Berlin und überlebt dort gerade mal sechs Wochen. Auf ihn folgt mit Otto Rehhagel ein über Siebzigjähriger, der trotz seiner großen Verdienste auch nicht imstande ist, den Klassenerhalt zu schaffen. Das sind Beispiele einer merkwürdigen Personalpolitik in einem millionenschweren Business, über die nicht nur ich, sondern längst auch Spieler und Fans die Stirn runzeln. Der Fußball kann doch nur profitieren von neuen Leuten, von anderen Gesichtern, von charismatischen Trainern, die auch mal polarisieren. Wenn ich immer nur auf denselben Personalpool zurückgreife, kann sich kaum etwas verändern.
Aus diesen Gründen habe ich meinen Wunsch vielleicht nicht begraben, aber doch losgelassen, damit er meinem Lebensglück nicht mehr im Wege steht.
Klar könnte ich spekulieren: Hätte ich meine Karriere in München beendet, wäre ich heute Trainer vom FC Bayern. Aber ich bin kein Typ, der Dinge aus der Vergangenheit lange mit sich herumschleppt und sein Herz dadurch schwer werden lässt. Ich habe nie lange gefeiert und mir auf Siege etwas eingebildet. Ich habe aber auch Niederlagen oder falsche Entscheidungen nie lange betrauert.
Meine Karriere als Trainer ist bisher nicht so verlaufen, wie ich es mir gewünscht hätte, aber ich kann mich doch nicht hinsetzen und lauthals lamentieren, wie es der Deutsche so gerne macht. Ich habe mein Leben, ich habe meine Freunde, ich bin gesund, ich habe eine gewisse Sicherheit, und ich habe vor allem eines: Freiheit. Und solange ich keinen Trainerjob habe, genieße ich sie. Eine Freiheit, die ein Karl-Heinz Rummenigge vielleicht nicht hat, weil er jeden Tag am Schreibtisch sitzen muss. Daher komme ich auch gut damit zurecht, wenn Karl-Heinz öffentlich äußert, die zweite Lebenshälfte des Lothar Matthäus sei ja bisher nicht so positiv verlaufen. Ich fresse solche Kommentare nicht mehr wie früher in mich hinein, weil ich weiß, dass irgendwann auch wieder andere Zeiten kommen werden.
Ich war immer zufrieden mit dem, was ich hatte. Ich wäre auch als Raumausstatter oder Innenarchitekt glücklich geworden. Vielleicht hätte ich dann längst das warme Zuhause, das ich suche, vielleicht wäre ich nicht viermal geschieden. Vielleicht müsste ich dann nicht immer Koffer packen. Andererseits hätte ich vieles andere nicht erleben können, großartige Momente, wertvolle Begegnungen und lehrreiche Misserfolge.