Cover
Arno Geiger
Es geht uns gut
Roman
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24230-2
© 2005/2012 Carl Hanser Verlag München
Satz: Greiner & Reichel, Köln
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
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Inhalt

Montag, 16. April 2001
Dienstag, 25. Mai 1982
Mittwoch, 18. April 2001
Samstag, 6. August 1938
Sonntag, 29. April 2001
Dienstag, 1. Mai 2001
Weißer Sonntag, 8. April 1945
Mittwoch, 2. Mai 2001
Dienstag, 12. Mai 1955
Donnerstag, 3. Mai 2001
Montag, 7. Mai 2001
Samstag, 29. September 1962
Dienstag, 22. Mai 2001
Donnerstag, 31. Dezember 1970
Donnerstag, 31. Mai 2001
Freitag, 1. Juni 2001
Freitag, 30. Juni 1978
Freitag, 8. Juni 2001
Donnerstag, 14. Juni 2001
Montag, 9. Oktober 1989
Mittwoch, 20. Juni 2001

Es geht uns gut
  
  

Montag, 16. April 2001

Er hat nie darüber nachgedacht, was es heißt, daß die Toten uns überdauern. Kurz legt er den Kopf in den Nacken. Während er die Augen noch geschlossen hat, sieht er sich wieder an der klemmenden Dachbodentür auf das dumpf durch das Holz dringende Fiepen horchen. Schon bei seiner Ankunft am Samstag war ihm aufgefallen, daß am Fenster unter dem westseitigen Giebel der Glaseinsatz fehlt. Dort fliegen regelmäßig Tauben aus und ein. Nach einigem Zögern warf er sich mit der Schulter gegen die Dachbodentür, sie gab unter den Stößen jedesmal ein paar Zentimeter nach. Gleichzeitig wurde das Flattern und Fiepen dahinter lauter. Nach einem kurzen und grellen Aufkreischen der Angel, das im Dachboden ein wildes Gestöber auslöste, stand die Tür so weit offen, daß Philipp den Kopf ein Stück durch den Spalt stecken konnte. Obwohl das Licht nicht das allerbeste war, erfaßte er mit dem ersten Blick die ganze Spannweite des Horrors. Dutzende Tauben, die sich hier eingenistet und alles knöchel- und knietief mit Dreck überzogen hatten, Schicht auf Schicht wie Zins und Zinseszins, Kot, Knochen, Maden, Mäuse, Parasiten, Krankheitserreger (Tbc? Salmonellen?). Er zog den Kopf sofort wieder zurück, die Tür krachend hinterher, sich mehrmals vergewissernd, daß die Verriegelung fest eingeklinkt war.
Johanna kommt vom Fernsehzentrum, das schiffartig am nahen Küniglberg liegt, oberhalb des Hietzinger Friedhofs und der streng durchdachten Gartenanlage von Schloß Schönbrunn. Sie lehnt das Waffenrad, das Philipp ihr vor Jahren überlassen hat, gegen den am Morgen gelieferten Abfallcontainer.
– Ich habe Frühstück mitgebracht, sagt sie: Aber zuerst bekomme ich eine Führung durchs Haus. Na los, beweg dich.
Er weiß, das ist nicht nur eine Ermahnung für den Moment, sondern auch eine Aufforderung in allgemeiner Sache.
Philipp sitzt auf der Vortreppe der Villa, die er von seiner im Winter verstorbenen Großmutter geerbt hat. Er mustert Johanna aus schmal gemachten Augen, ehe er in seine Schuhe schlüpft. Mit Daumen und Zeigefinger schnippt er beiläufig (demonstrativ?) seine halb heruntergerauchte Zigarette in den noch leeren Container und sagt:
– Bis morgen ist er voll.
Dann stemmt er sich hoch und tritt durch die offenstehende Tür in den Flur, vom Flur ins Stiegenhaus, das im Verhältnis zu dem, was als herkömmlich gelten kann, mit einer viel zu breiten Treppe ausgestattet ist. Johanna streicht mehrmals mit der flachen Hand über die alte, aus einer porösen Legierung gegossene Kanonenkugel, die sich auf dem Treppengeländer am unteren Ende des Handlaufs buckelt.
– Woher kommt die? will Johanna wissen.
– Da bin ich überfragt, sagt Philipp.
– Das gibt’s doch nicht, daß die Großeltern eine Kanonenkugel am Treppengeländer haben, und kein Schwein weiß woher.
– Wenn allgemein nicht viel geredet wird –.
Johanna mustert ihn:
– Du mit deinem verfluchten Desinteresse.
Philipp wendet sich ab und geht nach links zu einer der hohen Flügeltüren, die er öffnet. Er tritt ins Wohnzimmer. Johanna hinter ihm rümpft in der Stickluft des halbdunklen Raumes die Nase. Um dem Zimmer einen freundlicheren Anschein zu geben, stößt Philipp an zwei Fenstern die Läden auf. Ihm ist, als würden sich die Möbel in der abrupten Helligkeit ein wenig bauschen. Johanna geht auf die Pendeluhr zu, die über dem Schreibtisch hängt. Die Zeiger stehen auf zwanzig vor sieben. Sie lauscht vergeblich auf ein Ticken und fragt dann, ob die Uhr noch funktioniert.
– Die Antwort wird dich nicht überraschen. Keine Ahnung.
Er kann auch den Platz für den Schlüssel zum Aufziehen nicht nennen, obwohl anzunehmen ist, daß ihm der Aufbewahrungsort einfallen würde, wenn er lange genug darüber nachdächte. Er und seine Schwester Sissi, der aus dem Erbe zwei Lebensversicherungen und ein Anteil an einer niederösterreichischen Zuckerfabrik zugefallen sind, haben in den siebziger Jahren zwei Monate hier verbracht, im Sommer nach dem Tod der Mutter, als es sich nicht anders machen ließ. Damals war das Ministerium des Großvaters längst in anderen Händen und der Großvater tagelang mit Wichtigtuereien unterwegs, ein Graukopf, der jeden Samstagabend seine Uhren aufzog und dieses Ritual als Kunststück vorführte, dem die Enkel beiwohnen durften. Grad so, als sei es in der Macht des alten Mannes gestanden, der Zeit beim Rinnen behilflich zu sein oder sie daran zu hindern.
Philipp betrachtet zwei Fotos, die links und rechts der Pendeluhr arrangiert sind, ebenfalls über dem Schreibtisch. Johanna öffnet derweil den Uhrenkasten, um hineinzuschauen (wie eine Katze in eine finstere Stiefelöffnung schaut). Hinterher zieht sie am Aufbau des Schreibtischs kleinere Schubladen heraus.
– Wer ist das? fragt sie zwischendurch.
– Das rechts ist Onkel Otto.
Zum linken Foto sagt Philipp nichts, Johanna muß auch so Bescheid wissen. Aber er nimmt das Foto von der Wand, damit er es aus der Nähe betrachten kann. Es zeigt seine Mutter 1947, elfjährig, abseits der Dreharbeiten zum Film Der Hofrat Geiger, wie sie der Donau beim Fließen zusieht. Ein Ausflugsboot steuert flußabwärts, hinter Dieselqualm. Im Off singt Waltraud Haas zur Zither Mariandl-andl-andl.
– Wollte deine Mutter auch später noch Schauspielerin werden? fragt Johanna.
– Ich war zu jung, als sie starb, daß ich mich mit ihr darüber unterhalten hätte.
Und er weiß auch nicht, wen er statt seiner Mutter fragen soll, denn sein Vater schaut ihn großäugig an, und er selbst besitzt nicht die Entschiedenheit, weiter zu bohren, vermutlich, weil er gar nicht bohren will. Zu unangenehm ist es ihm, daß er von seiner Mutter das allermeiste nicht weiß. Jedes Nachdenken Stümperei, beklemmend, wenn er sich den Aufwand an Phantasie ausmalt, der nötig wäre, sich auszudenken, wie die Dinge gewesen sein könnten.
Er wischt den Gedanken weg und sagt, damit Johanna ihn reden hört:
– Mir kommt trotzdem vor, ein wenig waren sie alle Schauspielerinnen. Alle dieser Waltraud-Haas-Typus, blond, nett und optimistisch. Nur die Männer waren nicht wie die Männer im Heimatfilm. Ich nehme an, das war die spezielle Tragik.
– Und weiter?
– Dazu habe ich längst alles gesagt. Die Ehe meiner Eltern war nicht das, was man glücklich nennt. Ein ziemlich lausiges Weiter.
Er macht eine Pause und benutzt die Gelegenheit, seine Hand in Johannas Nacken zu schieben.
– Ich finde es ausgesprochen sinnlos, hier etwas nachholen zu wollen. Da denke ich lieber über das Wetter nach.
Philipp küßt Johanna, ohne auf Widerstand oder Erwiderung zu stoßen.
Über das Wetter vom Tag, das Johanna in ihren Haaren mitbringt, über das Wetter der kommenden Tage, das aus den Ausdrucken, den Tabellen und Computersimulationen in ihrer Tasche zu erschließen sein müßte.
– Über das Wetter statt über die Liebe statt über das Vergessen statt über den Tod.
– Sonst fällt dir nichts ein? fragt Johanna, die Meteorologin, halb lachend, wobei sie ungnädig-gnädig den Kopf schüttelt. Und weil das etwas ist, was Philipp an ihr kennt, fühlt er sich ihr einen Moment lang näher. Ebenfalls halb lachend, aber säuerlich, hebt er die Schultern, wie um sich zu entschuldigen, daß er nichts Besseres anzubieten hat oder anbieten will.
– Aber was rede ich, fügt Johanna hinzu, familiäre Unambitioniertheit ist bei dir ja nichts Neues.
Andererseits hat Philipp schon öfters versucht, ihr beizubringen, daß sie die Sache nicht ganz von der richtigen Seite betrachtet. Schließlich ist es nicht seine Schuld, daß man vergessen hat, ihn in puncto Familie rechtzeitig auf den Geschmack zu bringen.
– Ich beschäftige mich mit meiner Familie in genau dem Maß, wie ich finde, daß es für mich bekömmlich ist.
– Schaut aus wie Nulldiät.
– Wonach immer es ausschaut.
Er hängt das Foto, das seine Mutter als Mädchen zeigt, an den Nagel zurück, als Hinweis, daß er es vorziehen würde, den Rundgang durchs Haus in einem anderen Zimmer fortzusetzen. Er geht zur Tür. Als er sich nach Johanna umblickt, schüttelt sie den Kopf. Mißbilligend? Frustriert? Na ja, er weiß aus eigener Erfahrung, manchmal redet man wie gegen eine Wand. Schluck’s runter, denkt er. Johanna fixiert ihn für einen Moment, dann will sie wissen, ob sie die Pendeluhr geschenkt haben könne.
– Meinetwegen.
– Liegt dir vielleicht doch an dem Zeug?
– Nein. Nur hab ich nicht einmal Lust, es zu verschenken.
– Dann laß es, mein Gott, ich muß die Uhr nicht unbedingt haben.
– Weil du schon eine hast.
– Weil ich schon eine habe, stimmt genau.
Und wieder das Stiegenhaus, Herrenzimmer, Nähzimmer, die Veranda, Stiegenhaus, die teppichbelegte Treppe, zwei Hände beim flüchtigen Polieren einer Kanonenkugel, die in jeder anständigen Familie den Punkt markieren würde, bis zu dem man sich zurückerinnern kann.
Was Philipp jetzt einfällt, ist, daß ihn die Großmutter während einer der wenigen Begegnungen zurechtgewiesen hat, bei der nächsten Ungezogenheit werde man ihn auf die Kanonenkugel setzen und zu den Türken zurückschicken. Eine Drohung, die ihm deutlich im Gedächtnis geblieben ist, sogar mit dem großmütterlichen Tonfall und einer Ahnung ihrer Stimme.
Sie gehen das Obergeschoß ab, den Nachgeschmack von Streitereien im Mund, flüchtig und ohne viel zu reden, was sie voreinander mit dem Hinweis rechtfertigen, sie seien hungrig geworden. Also wieder nach unten. Johanna hilft in der Küche den Tisch abräumen, der noch genauso ist, wie Philipp ihn vorgefunden hat, samt dem durchgefaulten Apfel in der hellblauen Obstschale. Doch anschließend besteht Johanna darauf, draußen zu frühstücken, auf der Vortreppe. Dort ist es mittlerweile noch wärmer geworden (in dieser befremdlich heilen Gegend aus Villen und unbegangenen Bürgersteigen). Johanna holt sich trotzdem ein Kissen zum Unterlegen. Da sitzen sie, Philipp mit lang ausgestreckten, Johanna mit eng angezogenen Beinen, und Philipp versucht den abweisenden Eindruck, den er während des Rundgangs erweckt hat, abzumildern, indem er von den halbvermoderten Stühlen erzählt, die an mehreren Stellen entlang der Gartenmauer postiert sind. Sehr mysteriös. Ein Stuhl zu jedem Nachbarsgrundstück, damit man hinübersehen kann. Philipp berichtet, wieviel Honig es im Keller gebe und wie viele Sorten selbstgemachter Marmelade.
– Ich mag keine Marmelade, schmollt Johanna, die aufs Reden nicht mehr scharf ist.
Sie spuckt Olivenkerne in den Abfallcontainer. Sie horcht dem hallenden Geräusch hinterher, das die Kerne beim Aufprall auf dem schrundigen Metall erzeugen. Philipp indes, voller Unruhe, die er sich nicht zugeben will, vertreibt sich die Zeit, indem er die Tauben beobachtet, die Kurs auf die Kunstdenkmäler der Bundeshauptstadt nehmen oder auf den Dachboden, der neuerdings ihm gehört. Reges Kommen und Gehen.
– Ein Wahnsinn, murmelt er nach einiger Zeit.
Und noch mal, nickend:
– Ein Wahnsinn. Ist doch irre, nicht?
Wenig später verabschiedet sich Johanna. Sie küßt Philipp, bereits mit einer Wäscheklammer am rechten Hosenbein, und verkündet, daß es so mit ihnen nicht weitergehen könne.
– Typisch, fügt sie hinzu, nachdem Philipp aufgesehen hat, als wolle er zu einer Antwort ansetzen, dann aber nichts herausbrachte: Keine Antwort, somit auch kein Interesse, nicht anders als für deine Verwandtschaft.
– Dann haben wir das auch besprochen.
Er sieht nicht ein, worüber Johanna sich beklagen will. Immerhin ist sie es, die es nicht schafft, sich von Franz zu trennen. Sie ist es auch, die einen gewissen Stolz an den Tag legt, wenn sie behauptet, in einer der bestgeführten zerrütteten Ehen Wiens zu leben. Er braucht keine Geliebte, die nur jedes zweite Mal mit ihm schläft. Und das wiederum hält Philipp Johanna vor.
Sie zieht die Brauenbögen spöttisch hoch, verabschiedet sich nochmals, diesmal ohne Kuß, als wolle sie so den Kuß von vorhin zurücknehmen. Sie will losfahren, doch in dem Moment hebt Philipp das Hinterrad am Gepäckträger hoch, so daß Johanna ins Leere tritt. Die Fahrt ist leicht und ohne Wegweiser, ohne Anfang und ohne Ende, auf der allerstabilsten Straße, die man sich vorstellen kann. Immer geradeaus. Nicht zu verfehlen. Es kümmert Philipp nicht, daß Johanna sich beschwert:
– Laß los! Laß los, du Idiot!
Er läßt nicht los, er spürt den Rhythmus ihrer Tritte wie einen Pulsschlag in den Händen.
– Was für eine schöne Reise am Fleck! Man wird nie wissen wohin!
Johanna klingelt wie verrückt.
– Laß los! schreit sie: Du Idiot!
Er sieht auf ihren hin und her rutschenden Hintern. Er denkt, er denkt an vieles, an ihren Körper und daran, daß sie auch diesmal nicht gevögelt haben und daß sie auf der Stelle treten, und wenn nicht beide, dann wenigstens er.
– Schau doch! Wie leer die Straßen sind, die Grundstücke, die Bahnsteige! Die Hände, die Taschen, die Tage!
– Ich muß zu meinem Termin! Ich muß die Bilder von der Karottenernte schneiden! Für die Vorhersage am Abend! Es ist ganz nutzlos, was du machst! Denk über das Wetter nach! Mein Gott! Aber nicht, daß du dich übernimmst! Und mich laß! Laß looos!
Wenn man sich etwas vorgenommen hat, das ist Philipps Meinung, darf man sich trotzdem nicht daran klammern, so schwer es auch fällt. Also setzt er das Hinterrad ab und schiebt Johanna kräftig an, indem er hinter ihr herläuft. Sie verliert beinahe das Gleichgewicht und korrigiert mehrfach den Kurs. Die Briefträgerin tritt beiseite, als Philipp und Johanna durch das offene Tor auf die Straße biegen. Doch in Wahrheit klingelt Johanna nur für ihn.
– Komm wieder! ruft er, als er mit ihrem Tempo nicht mehr Schritt halten kann. Er winkt ihr hinterher. Die Speichen ihres Rades blitzen in der Sonne. Johanna sticht klingelnd in die erste Seitengasse und klingelt noch, während Philipp sich eine Zigarette ansteckt und überlegt, warum sie ihn besucht hat. Warum? Warum eigentlich? Er kommt zu keinem Ergebnis. Einerseits will er sich keine falschen Hoffnungen machen (sie hält ihn für nett, aber harmlos und hat sich deswegen schon einmal für einen anderen entschieden). Andererseits will er nicht unhöflich sein (er hat Besseres zu tun, als an einem vom Wetter begünstigten Montag unhöflich zu sein). Also setzt er sich zurück auf die Vortreppe, über den Schenkeln die großmütterliche Post, die nach wie vor einlangt, obwohl die Adressatin schon seit Wochen tot ist, und wechselt in Gedanken das Thema.
Er malt sich ein fiktives Klassenfoto aus, mit vierzig Kindern in den Bänken, lauter Sechs- und Siebenjährige, die weder von den Jahren, in denen sie geboren, noch von den Orten, an denen sie aufgewachsen sind, zusammenpassen. Einer der Buben hat als Erwachsener im zweiten Türkenkrieg gekämpft und von dort eine Kanonenkugel mitgebracht, ein anderer, dritte Reihe türseitig, ist Philipps Vater noch mit Milchzähnen. Auch dessen Mutter sitzt als Mädchen in derselben Klasse. Einer wird später ein erfolgreicher Ringkämpfer, Albert Strouhal, ein anderer, Juri, ist der Sohn des sowjetischen Stadtkommandanten. Philipp geht die Reihen durch und fragt sich: Was ist aus ihnen geworden, aus all diesen Toten, die täglich mehr werden? Das Mädchen mit den Zöpfen, die Kleine, die wie die andern Kinder ihre weißen Hände vor sich auf dem Pult liegen hat? Sie hat sich nie getraut aufzuzeigen, wenn sie aufs Klo mußte. Sie heißt Alma. Als junge Frau hat sie einen Verwaltungsjuristen in der Elektrizitätswirtschaft und späteren Minister geheiratet. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen. Das eine, der Bub, ist 1945 im Alter von vierzehn Jahren in der Schlacht um Wien umgekommen, das jüngere, ein Mädchen, hatte in dem Hans-Moser- und Paul-Hörbiger-Film Der Hofrat Geiger einen kleinen Auftritt. Auch das Mädchen ist eine reizende Mitschülerin. Auf dem Foto sitzt sie in der zweiten Reihe an der Wand. Sie hat sich sehr jung für einen sechs Jahre älteren Burschen entschieden und sich dessentwegen mit ihren Eltern überworfen. Der Bursch? Den hatten wir schon, ebenfalls türseitig, in der Bank dahinter. Ein netter Kerl, wenn auch nicht ganz der richtige zum Heiraten. Als junger Mann hat er Spiele erfunden und mit diesen Spielen bankrott gemacht, obwohl eines dieser Spiele ganz erfolgreich war: Wer kennt Österreich?
Und der da, in der ersten Bank der Fensterreihe: Das bin ich. Ich bin auch einer von ihnen. Aber was soll ich über mich sagen? Was soll ich über mich sagen, nachdem ich über all die andern nachgedacht habe und dabei nicht glücklicher geworden bin.

Dienstag, 25. Mai 1982

Im Halbschlaf registriert sie das Aussickern der Finsternis und gleichzeitige Zunehmen des Lichts, das in das große Zimmer voller dunkler Möbel schlüpft. Es wäre praktisch, über eine Automatik zu verfügen, mittels deren sich, vom Bett aus, ein Fenster öffnen ließe: Raus mit der schalen Luft, dem Gemisch aus Atem, Roßhaarmatratze und gründlich verbrannter Milch. Ihr Mann hat vor drei Tagen, als sie mit dem Kulturkreis in Kalkwang war, einen halben Liter Milch acht Stunden lang gekocht. Die Milch war bei Almas Heimkehr in schwarzen Klastern an Topf und Herd sedimentiert, und abgesehen von der Mühe und der Zeit, die es kostete, den Herd mit Stahlwolle und Scheuermittel sauber zu bekommen (der Topf wanderte geradeaus in den Müll), vermutet Alma, daß der Geruch so rasch aus dem frisch gestrichenen Haus nicht hinausgehen wird. Sie selbst wird den Geruch heute vielleicht nicht mehr wahrnehmen, kann sein. Aus Gewohnheit. Aber jeder, der ins Haus tritt, hat dieses Alte-Leute-Aroma in der Nase. Befürchtet sie. Gut, mag sein, sie sieht das zu pessimistisch, mag sein, sie ist überempfindlich, weil ihr diese Dinge zu Bewußtsein bringen, daß es irgendwann nicht mehr weitergehen wird. Der Nagelzwicker im Kühlschrank, das schmutzige Unterleibchen, das Richard ausziehen sollte, unter dem übergestreiften frischen. Die Pizza mitsamt der Plastikhülle im Backrohr. Eigentlich harmlos. Und trotzdem: beängstigend, grauenvoll kommt ihr das vor, weil anzunehmen ist, daß es schlimmer werden wird. Irgendwann wird Richard fragen, ob Der Wolf und die sieben Geißlein eine Geschichte von Kindsmord ist. So Sachen hat sein Vater gegen Ende gefaselt. Oder er wird, wie Alma es beim Besuch im Seniorenheim erlebt hat, anfangen zu krähen, wenn ein Gockel im Fernsehen es vormacht. Abwarten, das wird gewiß noch geboten. Früh genug. Unruhig dreht sie sich im Bett. Nach mehreren unbefriedigenden Versuchen, eine bequemere Lage zu finden, bleibt sie halb auf dem Bauch liegen, den rechten Arm abgewinkelt oberhalb des Kopfes, den linken quer über der Brust, die Finger rechts an Hals und Ohr, die Decke zwischen den Beinen, damit die Schenkel einander nicht berühren. Almas Kopf liegt wangenseitig am Bettrand, zur Hälfte über der Bettkante, damit das Gesicht etwas von der kühlen Luft abbekommt, die unter dem Bett steht. Einige Minuten noch. Abwarten.
Dies.
Es ist der Hochzeitstag von Ingrid, ihrer Tochter, und zugleich der Sterbetag ihrer Mutter. Erst als Alma beim Begräbnis Geburts- und Sterbejahr auf dem provisorischen Holzkreuz eingebrannt sah, begriff sie, daß ihre Mutter fast hundert Jahre gelebt hatte. Hundert Jahre. Muß man sich durchs Gehirn laufen lassen. Almas Mutter sah als Kind, wie ihr Vater, Almas Großvater, neben einer Glaskugel arbeitete, um das Licht zu verstärken, das kann sich heute keiner mehr vorstellen. Sie spielte am unregulierten Wienfluß im Bereich, wo jetzt die U-Bahn fährt, und nahe beim Karlsplatz ging sie auf dem Weg zur Arbeit über die Elisabethbrücke, die mit den Statuen geschmückt war, die mittlerweile im Arkadenhof des Rathauses stehen. Manchmal erzählte sie von einer Nähmaschine mit Fußantrieb, auf der sie als Mädchen lernen durfte. Damals ein halbes Wunderding. Bis zuletzt holte Almas Mutter voller Stolz ein auf dieser Maschine genähtes Unterkleid hervor, das war, als die Menschen bereits Atombomben geworfen und vom Weltraum aus die Erde gesehen hatten.
– Es ist arg, seufzt Alma halblaut, als würde es nicht genügen, das zu denken.
Alma selbst sah, wie der Mistbauer kam. Er läutete mit einer großen Messingglocke, und ihre Mutter lief mit dem stinkenden Mistkübel hinunter und stimmte den Mistbauern, einen primitiven Menschen, mit zwei Zigaretten gnädig, damit er von der Höhe des Wagens den Mistkübel wieder herunterreichte und ihn nicht aufs Pflaster warf. Bong! Sieben Jahrzehnte liegt das zurück oder besser, sieben Jahrzehnte sind seither vergangen, denn liegen klingt, als könne man hingehen und es abholen. Alma wird in diesem Jahr fünfundsiebzig, und Richard feiert demnächst seinen Zweiundachtzigsten. Sie weiß, das kann man unterschiedlich deuten, denn viele würden sich beglückwünschen bei der Aussicht, in diesem Alter noch am Leben zu sein. Aber wenn man es erst einmal bis hierher geschafft und den Achtziger, den andere sich lediglich wünschen, überschritten hat, ist der Gedanke an die, die es schlechter treffen, ein schwacher Trost, denn das eigene Leben wird dadurch nicht leichter.
Seit Richards Kopf nicht mehr mitmacht, merkt man ihm den Verfall auch körperlich an. Seine Vergeßlichkeit hat den weniger unangenehmen Alterserscheinungen, die längst sichtbar waren, das Charmante genommen und sie in etwas Schrundiges und Krummes verwandelt. Richards Gang ist knieweich und absatzschleifend, und jeder Schritt bedarf einer genauen Beobachtung durch die Augen, als könnte jeder Schritt mittendrin abreißen. Für Richard bezeichnet der Tod keinen Endpunkt mehr, auf den man nach und nach zustrebt, sondern eine Bedrohung in unmittelbarer Nähe, mit der er rechnet, wenn er Pläne schmiedet, die über einen absehbaren Zeitraum hinausreichen. Richard, so er nicht auch das gerade vergessen hat (bei dem vielen, das von seiner Vergeßlichkeit betroffen ist), besitzt ein neu gewonnenes Zeitgefühl für das, was ihm an Zukunft bevorsteht. Als würde für das Errechnen der Jahre, die einem bleiben, eine kindliche Richtlinie gelten: Was sich an einer Hand nicht abzählen läßt, ist eine unbestimmbare Größe und lohnt das Nachdenken nicht. Eins zwo drei vier fünf, wenn es gutgeht, oder zurück, vier drei. Schon nicht mehr ganz so weit weg.
Alma weiß gefühlsmäßig, daß Richard in dieser Größenordnung denkt. Und obwohl er das Thema beharrlich ausklammert, weiß sie in mindestens gleichem Maß, daß für Richard die verbleibende Spanne weder hinsichtlich ihrer Länge noch ihrer Qualität Anlaß gibt, in Jubel auszubrechen – wohl einer der Gründe, weshalb ihm das Aufstehen so schwerfällt. Man sieht ihn selten vor zehn. Alma würde gerne dahinterkommen, was Richard in seinem Zimmer mit der vielen Zeit anfängt, ob ihn ähnliche Überlegungen umtreiben wie sie. Aber nach aller Wahrscheinlichkeit reicht die Kraft nicht zu mehr, als an die Decke zu starren und sich zu wünschen, daß alles auf einen Schlag besser wird: Es kommt zurück. Wenn ich nur fest daran glaube, kommt alles zurück. Alma, die nie eine Langschläferin war, zieht es bei weitem vor, den Tag sehr zeitig zu beginnen. Sie mag es, wenn sie das Haus und den Garten vier Stunden für sich hat. Mit all den Geräuschen, Gerüchen, Erinnerungen – an die Jahre, als sie in die Volksschule ging, wo auch den Kleinsten die Klassiker vorgelesen wurden: Die Menschen treiben aneinander vorbei, einer sieht nicht den Schmerz des anderen. Oder so ähnlich. Derlei Dinge kommen ihr morgens in den Sinn. Die Gedanken in der Früh tragen ziemlich weit, findet sie. Weiter als am Abend. Sie muß zugeben, daß dies eine der Ursachen ist, die sie davon abhält, Richard morgens aus dem Bett zu helfen, so schäbig ihr das manchmal vorkommt.
Sie setzt sich auf, schiebt die Beine unter der Decke hervor. Mit beiden Händen greift sie an die Bettkante, dort hockt sie, gekrümmt, den Kopf tief zwischen den Schultern, den Blick zum Schoß hin, über dem sich das Nachthemd spannt mit kleinen blauen Blumen. Nach einer Weile, während der sie sich die grauen Haare aus dem Gesicht gestrichen hat, nimmt sie den Morgenmantel vom Sessel, schlüpft hinein und tritt zum Fenster, das sie öffnet. Zwei Vögel queren den wie mit Rauch verhangenen Himmel nach Westen, dem Tag voran. Alma schaut ihnen hinterher. Dann senkt sie den Blick in einem Bogen hinunter in den Garten zum Bienenhaus, dorthin, wo sie in einer Stunde mit der Arbeit beginnen will. Die Wettervorhersage hat Besserung versprochen an allen Fronten. Die Helligkeit nimmt langsam zu. Die stellenweise von der Sonne fast schwarzen Bretter, aus denen das Bienenhaus gefertigt ist, haben sich während der Nacht zusätzlich mit Dunkelheit vollgesogen. Doch der blaßtürkise Fensterladen neben der Tür und die Flechten auf den Dachziegeln schimmern bereits in einem wasserhellen Licht, das im Bereich der Baumkronen weiter an Farbe verliert. Dann wieder das Bienenhaus, ganz plump, starr unter dem Rascheln des ausgreifenden Astes, die Seitenansicht in Pi-Form gezimmert, ein wenig irrational wie die Zahl. Alma denkt, daß dieser kleine Schuppen mit den sechs Völkern eine stets sich erneuernde Arbeit für Wochen und Monate bereithält: Schon erstaunlich.
Gestern in der Imkerzeitung der neueste Stand zum Thema Schwärmverhinderung.
Aber die verdeckelten Weiselzellen an den betroffenen Stöcken sind bereits ausgebrochen, das hat nicht viel gebracht. Weiters werden nur Gewaltmethoden empfohlen. Die Königin töten. Die Königin einsperren, entweder im Stock oder durch ein Absperrgitter vor dem Flugloch. Lauter Vorschläge, die seit Jahren jeder macht, die aber zu der Zeit, als Alma die Bienenzucht erlernte, nie erwähnt wurden. Damals hatte Alma auch jahrelang kaum einen Schwarm, und es hieß, es gebe Bienen, deren Schwarmtrieb gering ist, weil ihnen die Veranlagung fehlt.
Diese Bienen hätte Alma gerne zurück.
Sie steht jetzt im Bad und bürstet die Zähne, wäscht sich Hände und Gesicht mit kaltem Wasser, frisiert sich. In Betrachtung der dünnen Morgenfarben auf ihren Lippen muß sie daran denken, daß die Art, wie sie sich als junge Frau fühlte, bei der Arbeit mit den Bienen erhalten geblieben ist. Wenn sie dagegen im Spiegel ihr Gesicht ansieht, läßt sie innerlich immer ein wenig den Kopf hängen, und kein Gedanke kann sich dann gegen das Erstaunen behaupten, daß von der jungen Frau, die Alma einmal war, zwischen den Furchen und Runzeln kaum etwas zu erkennen ist. Auf Fotos schon, interessanterweise. Wenn sie ganz bestimmte Fotos zu einer Strecke nebeneinanderlegt, wirkt es wie die Dokumentation einer allmählich fortschreitenden Baustelle. Abends 17 Uhr: Klick, klick, klick. Aber vor dem Spiegel? Nichts. Vor dem Spiegel? Das soll ich sein? Aber ja. Ja ja ja. Schau sich das einer an. Also schön: Vor dem Spiegel, da muß sie klein beigeben. Da beschleicht sie ein tristes Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, das sie einmal war und jetzt nicht mehr findet. Schon abenteuerlich, wie diese Dinge nicht aufhören einen zu beschäftigen. Wenn es nach ihr ginge, sollte irgendwann eine Phase kommen, in der man resigniert und darauf verzichtet, Kompromisse mit den permanenten Verschlechterungen zu suchen. Sich anmalen ist ja doch nichts Stabiles und macht die Wahrheit nicht erträglicher, es bewirkt allenfalls, daß sich keine Gewöhnung einstellt und der Schrecken in der Früh sich ständig erneuert. Vor einigen Jahren machte Richard eine Bemerkung, die Alma nicht von ungefähr in den Ohren geblieben ist: Daß es, um glücklich zu sein, notwendig ist, die Dinge schöner zu sehen, als sie in Wirklichkeit sind, und daß diese Fähigkeit mit den Jahren nicht nur verlorengeht, sondern sich allmählich in ihr Gegenteil wendet.
So einfach.
Sie wünscht sich all diese Momente zurück, in denen sie Richard bewundert hat. Viele werden nicht mehr hinzukommen. In letzter Zeit geht es Schlag auf Schlag. Oft kann sie schon gar nicht mehr glauben, daß der Mann, mit dem sie unter einem Dach lebt, derselbe sein soll, der sie mit seiner Klugheit beeindruckte, als er jung war. Der Römer, wie ihn seine Kommilitonen nannten. Damals schien das Leben unendlich lang. Sie freuten sich auf spätere Tage und erwarteten. Aber was genau? Was sie erwarteten? Weiß sie gar nicht mehr. Und jetzt? Oft war und ist es, als ob es nicht gewesen wäre.
Anfang vergangener Woche, als Alma mit der Zubereitung eines Milchrahmstrudels beschäftigt war (Richard ißt mittlerweile so süß, daß er sauer gar nicht mehr kennt), kam er zu ihr in die Küche und beklagte sich, daß seine dritten Zähne gebrochen seien.
– Zeig her, sagte sie.
Richard nahm die obere Hälfte bereitwillig heraus und reichte sie ihr.
Wegen eines eitrigen Backenzahns waren 1955 die Feiern zur Unterzeichnung des Staatsvertrags für Richard ins Wasser gefallen. Er fehlt auf sämtlichen offiziellen Fotos und in allen Filmen. Im großen Knirschen über diese optische Absenz, mit der ihm sein Anteil an dem historischen Erfolg genommen wurde, und weil nach dem Reißen auch zwei weitere Zähne zu eitern begannen, kam Richard zu dem Entschluß, daß eine Prothese ihn vor weiterer Unbill dieser Art bewahren werde. Obwohl Alma diese Reaktion in vielerlei Hinsicht (eigentlich in jeder Hinsicht) für dumm hielt, vermochte sie ihrem Mann den einmal gefaßten Entschluß nicht auszureden. In einer Sitzung, die bis weit nach Mitternacht dauerte, ließ Richard sich beide Kiefer ausräumen. Dem Vernehmen nach schlief er trotz der Schmerzhaftigkeit der Extraktionen wiederholt ein. Die Assistentin von Dr. Adametz habe sich mehrmals darum bemühen müssen, den Herrn Minister mit Wasser aus einem Sprüher, wie man ihn zum Fensterputzen verwendet, munter zu machen. Ohne anhaltenden Erfolg, wie es hieß. Das eigentlich Komische war, wenn etwas komisch war (damals, nicht heute, heute ist manches komisch), daß Richard diese Episode bereits unmittelbar darauf hoch angerechnet bekam. Echos seines Schnarchens in der Ordination von Dr. Adametz fanden ihren Weg bis in die Zeitungen, dort brachte man sein Schlafbedürfnis (der Begriff Ohnmachten hätte diese Zustände allerdings besser bezeichnet) mit dem aufopferungsvollen Einsatz fürs Vaterland in Verbindung. Bei einer Festrede anläßlich von Richards Ausscheiden aus dem Amt wurden seine Zähne sogar mit Außenminister Figls Leber verglichen, die dieser sich bei den Verhandlungen mit den Russen ruiniert habe. Ein gewisses Maß an Ironie wird schon dabeigewesen sein, Alma geht davon aus.
– So ein Krempelwerk, schimpfte Richard in der vergangenen Woche. Er schien ziemlich geladen.
– Jetzt beruhig dich doch, sagte Alma. Sie drehte die obere Hälfte der Zähne behutsam zwischen den Fingern.
Es war noch immer dieselbe Prothese, in den fünfziger Jahren teuer wie ein Moped, österreichisches Handwerk, gestützt auf Erkenntnisse aus der noch jungen sowjetischen Weltraumtechnik. Das befremdliche Elaborat war trotzdem nicht für die Ewigkeit geschaffen, und ab Mitte der siebziger Jahre unternahm Alma verschiedentlich dezente und weniger dezente Versuche, Richard zu einem neuen Modell zu überreden. Aber er stellte sich taub. Dabei tat er sich mit den Zähnen oft schwer, und anfallsartig behauptete er, sie paßten nicht aufeinander. Häufig trug er sie statt im Mund in der Hosentasche, hie und da setzte er sich drauf, aber leider fiel nie etwas Ärgeres vor.
Als er diesmal kam, hoffte Alma, daß die Epoche der Staatsvertrags-Zähne endlich vorbei sei. Doch die verlangte Begutachtung führte lediglich zu der Feststellung, daß die von Richard beargwöhnten Sprünge nichts weiter waren als die dem Gaumen entsprechenden Erhöhungen und Vertiefungen.
– Von kaputt kann keine Rede sein. Abgenutzt und schlecht gepflegt, das allerdings.
– Was willst du damit sagen? fragte Richard. In seinen Augen ein Ausdruck unsäglicher Verwunderung und das zur Gewohnheit gewordene Mißtrauen, als gebe er sich inmitten der Disteln und Dornen dieser Welt redlich Mühe zu begreifen, was Alma im Schilde führt.
– Na, daß du dich ehrlich freuen kannst. Was das Mechanische anlangt, sind deine Zähne nach nahezu dreißig Jahren noch immer tadellos. Wir könnten uns glücklich schätzen, wären wir nur halb so unsterblich.
– So ein Quatsch. Ich finde, ich hätte mir wünschen dürfen, daß sie noch ein paar Jahre halten.
Alma versuchte ihm nüchtern und in kurzen Worten beizubringen, einerseits was es mit den Furchen, andererseits was es mit den diversen Belägen auf sich habe, bräunlichen Ablagerungen in allen Schattierungen, die vorne wie Korrosionsflecken aussahen und sich in den hinteren Regionen mit den Stockzähnen zu einer einzigen Masse verklumpt hatten. Ihren Widerwillen hielt sie aus dem, was sie sagte, heraus. Trotzdem trugen ihr ihre Deutungen mitleidige Blicke, abschätzige Handbewegungen und gönnerhafte Repliken ein, die alle auf dasselbe hinausliefen, daß in ihrem Kopf nicht allzuviel los sein könne.
Das ist überhaupt so eine fixe Idee von ihm. Alles, was sie sagt, ist am Ende lächerlich oder banal oder überdreht. Davon verstehst du nichts, hört sie dann meistens. Und dazu dieses siebengescheite Minister-Getue. Immer das gleiche. Wie oft schon. Sie reagiert gar nicht mehr darauf, denn jede Widerrede wird mit dem unweigerlichen Standardargument quittiert, daß sie (Alma) an Verfolgungswahn leide. Was soll’s. Es lohnt sich nicht. In so eine Rolle wächst man mit der Zeit hinein. Sie begnügt sich damit, es sich selbst zu erklären, daß Richards Haltung eine Spezialität der Männer ist, die noch vor dem ersten Krieg geboren sind, nicht nur von denen, aber von denen ganz besonders. Es hat mit dem zu tun, was diese Männer als Buben in den sogenannten guten Häusern und in der Schule gelernt haben: Daß Frauen haushalten sollen, ab und zu im Bett funktionieren (aber nicht zu oft und wenn, dann im Schweinsgalopp) und daß zum Kinderkriegen und -großziehen Intelligenz nicht erforderlich ist, weil das nötige Hirnschmalz durch die sporadische Anwesenheit des Haushaltsvorstandes eingebracht wird. Oder durch reine Gedankenübertragung, da der Mann mit den Kindern ja ohnehin nicht redet. Was aber Entscheidungen, Finanzen und technische Dinge anbelangt, haben Frauen das Maul zu halten, ja. Klappe. Daß Alma das viel zu oft getan und damit mehr als nur einen Fehler begangen hat, merkte sie erst, als es zu spät war. Das erste Mal 1938, kurz nach dem Anschluß, als Richard aus nie ganz klargewordenen Gründen das Wäschegeschäft ihrer Mutter an eine Handelskette abgab und den Namen Arthofer aus dem Register streichen ließ, obwohl zur selben Zeit auch die vielen jüdischen Geschäfte zur Übernahme gestellt wurden und das Gerangel um die besseren Lagen begann. Daß Richard weder zu den neuen Herren noch zur reichsdeutschen Strumpfindustrie wechseln wollte, hat Alma ihm nicht so recht abgenommen. Hinter eventuelle andere Gründe ist sie allerdings auch nie gekommen. Was da bloß dahintersteckte? Irgendein verschwiegener Ausdruck von Eigensinn, der sich mit einer beeindruckenden Zeitverzögerung von fast zehn Jahren wenigstens für Richard bezahlt gemacht hat. Spät, aber doch. Richard mußte nie für die Jahre vor 1945 Rechenschaft ablegen, als es um seine Karriere ging. Lediglich Almas Interessen blieben auf der Strecke, wenn auch der Verkauf des Wäschegeschäfts durch den fast gleichzeitigen Erwerb von Dr. Löwys Bienenhaus teilweise kompensiert wurde, eine neue Beschäftigung für die Gattin, ohne besondere Ansprüche und noch dazu im eigenen Garten.
– Diese Zähne sind gebrochen, das ist schade, sie sind erledigt, sagte Richard mit wichtiger Miene.
– Sind sie nicht. Aber von mir aus kannst du sie trotzdem gerne der Mission vermachen.
– Dein Spott ist genau das, was mir fehlt. Gib sie mir zurück. Ich werde mich selbst drum kümmern.
– Warum kommst du zu mir, wenn dich meine Meinung nicht interessiert?
– Weil ich, wie die Dinge liegen, keine guten Ratschläge, sondern einen Termin beim Zahnarzt brauche.
– Der wird dir auch keinen anderen Bescheid geben als ich. Es gibt keine Sprünge. Zeig mir, wo sind sie?
– Sprünge halt.
Richard streckte weit die offene Hand aus, während er die andere, wie schon die ganze Zeit, vor den karpfenhaft eingefallenen Mund hielt.
– Gib sie mir zurück, du verstehst nichts davon.
Alma war eigenartig berührt, wie sie Richard dastehen und aufrichtige Zweifel äußern sah, daß ausgerechnet seine Frau ihm bei seinen Problemen behilflich sein werde. Da er sich so stur und unfreundlich gebärdete, hatte auch sie wenig Grund, netter zu sein. Er soll sich gefälligst zusammenreißen. Aber gleichzeitig erinnerte sie sich daran, was für ein armer Kerl er war und daß er die Dinge niemals mehr so sehen würde wie sie. Die Zeit des Begreifens war für ihn vorbei, statt dessen gab es jetzt Verunsicherung und, was schwerer wog, Zorn über diese Verunsicherung. Alma hatte schon oft die Beobachtung gemacht, daß in Situationen, in denen Richard Schwäche zeigen mußte oder wenigstens nicht auftrumpfen konnte, es meist nicht lange dauerte, bis er innerlich die Fäuste ballte. Die allerersten Postkarten, die Peter an Ingrid geschickt hatte und die in Morsezeichen abgefaßt waren, ein arabisch anmutendes Gewimmel aus Strichen und Punkten, kurz lang kurz, kurz kurz, lang kurz kurz, lang kurz lang, lang lang kurz. Viel konnte nicht draufgestanden haben, liebe Grüße aus Soundso das Wetter hier ist soundso, aber es hatte komischer ausgesehen als nur liebe Grüße aus Soundso das Wetter hier ist soundso.
(Und das in einem Land, in dem Postkartengrüße aus höchstens fünf Worten jahrzehntelang mit einer Portoermäßigung belohnt wurden, als ob die Wörter auch für den Postboten Gewicht hätten, als ob man an Staatsbürgern interessiert sein müsse, die für eine Ersparnis von zwei Schillingen darauf verzichten, mehr mitzuteilen als nur Mama, mir geht es gut!)
Richard hatte sich bei den für ihn kryptischen Zeichen weiß der Kuckuck was gedacht: Jemand, der eine solche Idee hat, kommt auch auf andere Ideen. Mal angenommen. Heimlichkeiten. Schlurfige Späße. Was kann so einer wollen? Noch ehe Peter sich persönlich vorstellen kam, war er bei Richard unten durch. Ingrid, ganz Tochter des Vaters, stellte ebenfalls auf stur. Der Rest war dann Draufgabe.
Alma reichte Richard seine Zähne in die ausgestreckte Hand. Während er sich diese in einer kruden Mischung aus Skepsis und Gier klappernd in den Mund schob, winkte sie ab, ruhig:
– Laß gut sein. Ich werde Dr. Wenzel anrufen.
Sie sagte nichts weiter, sah Richard noch einen Moment lang an, ohne Groll, sie wusch sich die Hände sehr gründlich mit einem kleinen Stück zitronenduftender Hirschseife. Sie dachte an gelbe Seerosen, die auf dem Wasser eines Zahnglases schwimmen, als kleine Idee für einen Roman, wie sie es um Ostern herum gelesen hatte, ganz nett, wirklich recht nett. Da war ein Glas mit dritten Zähnen von Wasserpflanzen überwachsen worden. Doch schon beim Lesen hatte Alma an Richard denken müssen, und auch während des Händewaschens sah sie einen Augenblick lang schleimige Algen, Muschelbewuchs und langsam sich setzenden Fischkot. Sie schüttelte vor sich selbst den Kopf. Brr! Alles, was recht ist. Befand nach kurzem Überlegen aber, entschuldigt zu sein, einerseits wegen Richards Ahnungslosigkeit, daß die Zähne gereinigt gehören, andererseits weil auch sie selbst sich nach solchen Gesprächen immer fühlte, als hätte sie sich das Gehirn verstaucht.
– Ich kann mit einem Termin rechnen? fragte Richard.
Alma nickte. Sie trocknete sich zögernd die Hände an einem Geschirrtuch ab, und ehe sie die Zubereitung des Mittagessens wiederaufnahm, blickte sie Richard hinterher. In seiner knieweichen Manier schlurfte er aus der Küche. Es schien ihr, der Ausgang der Diskussion befriedige ihn und er schöpfe daraus eine gewisse Genugtuung. Soll er. Dabei hatte sie ihm den Namen des Hausarztes statt den des Zahnarztes genannt, es schien ihn nicht zu stören.
Am darauffolgenden Tag war Richard um halb zehn noch immer nicht aufgestanden. Alma erinnerte ihn mit Klopfen an seine Tür an den Arzttermin, da sagte er, er empfinde für Ärzte keine Anhänglichkeit, die würden ihm ja doch nur bescheinigen, daß er zum alten Eisen zählt. Auf Almas Nachfragen rückte er damit heraus, daß er im Bett bleiben wolle, er fühle sich nicht besonders. Nähere Angaben zur Art dieses Unwohlseins machte er nicht, und er ließ sich auch nicht dazu bewegen, seine Tür zu öffnen.
Es war nicht das erste Mal, daß Richard seine Pläne wegen eines plötzlichen Anflugs von Willensschwäche unter dubiosen Vorwänden aufschob. Doch da Richard sich seit einigen Jahren immer einsperrte, bekam es Alma mit der Angst zu tun. Sie dachte, womöglich ist er ernsthaft krank und spielt es herunter, weil Krankheit für einen Mann wie ihn eine schwer zu ertragende Schande ist, vergleichbar mit mutwilliger Sachbeschädigung. Dem Tonfall nach, fand sie, grantelte er auch überraschend wenig. Das schien ihr ein weiteres schlechtes Zeichen. So war es nur konsequent, daß sie Dr. Wenzel anrief und ihn bat vorbeizukommen.
Dr. Wenzel traf zwanzig Minuten später ein, klopfte einmal kräftig an Richards Tür und nannte nach einer wohlkalkulierten Pause mit lauter Stimme Beruf und Namen, was Richard beeindruckte. Er öffnete die Tür bereitwillig (beflissen, diensteifrig) und sagte:
– Besten Dank, daß Sie gekommen sind.
Er war im offenen Schlafrock und sah erschöpft aus. An seinem Pyjama zeichneten sich große Schweißflecken ab, als bedeute Schlafen und Im-Zimmer-Sitzen für ihn eine anstrengende Arbeit. Alma tat es weh, ihn so zu sehen, so abgezehrt und mitgenommen. Richtig versackt sah er aus. Ein Bild des Jammers. Deshalb und um ihm die Sache ein bißchen leichter zu machen, verzog sie sich nach unten.
Dr. Wenzel blieb eine ganze Weile bei Richard. Das Gespräch dauerte gut fünfzehn Minuten, in der Zwischenzeit flickte Alma ihre Regenhaut, die linke Ärmelnaht war gerissen. Als Dr. Wenzel wieder herunten war, berichtete er, das Gespräch habe vor allem die eine Aussage gebracht, daß Richard sich den Kopf zerbreche, wie er zu Geld kommen könne. Richard wisse nicht mehr, daß er nur auf die Bank gehen und von seinem Konto abheben müsse, soviel er wolle.
Dr. Wenzel sagte:
– Es ist ein Jammer. Irgendwann verläßt einen die Kraft. Man möchte es nicht für möglich halten. Ein Minister a.D.
– Adé, wie’s die Sieben Schwaben sagen. Auf Wiedersehen, servus.
Zum Beispiel, wenn er auf Dienstreise gefahren war: Auf Wiedersehen, Richard. Auf Wiedersehen, Alma, baba.
Dr. Wenzel erläuterte, daß Richard sehr wohl wisse, wie sehr er momentan mental im Eck sei (Richards eigene Worte). Richard befinde sich in einer Grauzone zwischen dem Ist-Zustand, den er verständlicherweise ablehne, und der Leistungsfähigkeit von früher, an die er sich in Schreckmomenten erinnere, von der er auch eine Vorstellung besitze, doch ohne daß daraus abzuleiten wäre, wie eine Besserung der Situation herbeigeführt werden kann. Er verfüge noch über die theoretische Kenntnis seiner einstigen Möglichkeiten, das bringe ihm die gegenwärtigen Mängel um so stärker zu Bewußtsein. Vermutlich deshalb habe er in erster Linie von den glorreichen alten Zeiten erzählt und sich über die Gegenwart nur beiläufig und voller Zorn und Verbitterung geäußert.
– Am besten, Sie schaffen sich schön langsam ein dickes Fell an, riet Dr. Wenzel.
– Das ist leicht gesagt, aber auf Dauer nicht immer möglich. Mit der Zeit greift das entschieden die Nerven an.
– Sie dürfen es nicht allzu ernst nehmen.
– Na, man wird sehen. Ich gebe mir jedenfalls Mühe.
Dr. Wenzel verabschiedete sich. Sowie er das Haus verlassen hatte, kam Richard herunter, zum Weggehen gekleidet, mit zwei Anzugjacken übereinander. Die Jacken waren farblich aufeinander abgestimmt und machten Richard in den Schultern recht imposant. Er telefonierte mit Frau Ziehrer, seiner langjährigen Sekretärin, wann er sie besuchen dürfe.
– Das ist hervorragend. Dann komme ich bis in einer Stunde.
Alma, die mittlerweile mit allem rechnete, befürchtete, daß Richard Frau Ziehrer bitten werde, mit ihm eine Bank aufzusuchen. Also fragte sie ihn:
– Wohin willst du?
– Einen Besuch machen.
– Aber dafür brauchst du keine zwei Anzugjacken.
Es gelang ihr nach einigem Hin und Her, ihm die zweite Anzugjacke abzujagen. Da sagte er mürrisch:
– Da du mich jetzt so lange aufgehalten hast, muß ich den Wagen nehmen.
– Vergiß bitte nicht, daß auf deiner Kraftfahrzeugssteuerkarte die Steuermarken für den letzten und diesen Monat noch nicht geklebt sind.
Seine Augen wurden wieder groß.
– Auf deiner KFZ-Karte! Die Steuermarken! wiederholte Alma.
– Bei mir verstärkt sich der Eindruck, du erfindest das nur, um mich zu ärgern und weil ich im Moment knapp bei Kasse bin.
Sie zeigte ihm ihre eigene Karte:
– Die gleiche gibt es für deinen Wagen.
Der Groschen fiel wieder nicht, und als Richard in doppelter Lautstärke seinen Verdacht erneuerte, das sei alles nur, um ihn zu ärgern, ließ Alma das Thema fallen, eingedenk des sachdienlichen Rates, den Dr. Wenzel ihr vor wenigen Minuten gegeben hatte, sie solle Richard im Zweifelsfall nicht allzu ernst nehmen. Na gut. Des Lebens Abendröte. Sie sagte sich: Ich muß schön langsam anfangen umzudenken. Am besten, ich schicke ihm eine Streife hinterher. Er gibt ja selbst zu, daß er Abstände nicht mehr richtig einschätzen kann. Außerdem habe ich vor einigen Wochen beobachtet, wie er beim Salatessen mehrmals Anstalten machte, eine auf den Teller gemalte Blattverzierung auf die Gabel zu laden. Erst nach dem dritten oder vierten Versuch begriff er, daß der Teller leer war.
Alma ließ Richard gewähren, sie tat so, als würde sein Weggehen ihr schon nichts mehr ausmachen.
– Wo ist mein Hut? wollte er wissen.
– Am Garderobenhaken, sagte sie mit Nachsicht.
Und wenig später, wohlwollend:
– Paß auf dich auf.
Aber noch während sie den Wagen die Auffahrt hinunterrollen hörte, rief sie bei der Polizei an mit der Bitte, man möge Richard den Führerschein wegnehmen. Dann Anruf bei der Kammer, wo man ihr mitteilte, daß Frau Ziehrer frei habe. Sie probierte es bei Frau Ziehrer zu Hause. Erfolgreich. Alma sagte, daß sie – bevor sie ihre Bitte ausspreche – einiges erzählen wolle, so, daß Richard überall behaupte, sie (Alma) nenne ihn Mörder. Und daß er beim Weggehen zwei Anzugröcke übereinander anziehen wollte mit der Begründung, daß er nichts anderes habe. Zuletzt kam sie zum Eigentlichen und bat Frau Ziehrer, sie solle ihr die Demütigung ersparen, mit Richard auf die Bank zu gehen, falls er sie darum ersuchen sollte.
– Sie wollen damit sagen, der Herr Doktor ist deppert.
– Ich habe dieses Wort nicht gebraucht.
– Nein, gebraucht nicht, aber Sie haben mir den Herrn Doktor so beschrieben, daß ich es bei mir nicht anders als mit deppert zusammenfassen kann. Und wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war nichts zu merken, das auf einen Zustand schließen ließe, wie Sie ihn schildern. Sie haben nicht immer recht, Frau Doktor Sterk. Schon vor Jahren war ich schockiert, als Sie dem Herrn Kommerzialrat Lonardelli sagten, Ihr Mann wisse nicht mehr, was er rede.
Frau Ziehrer hielt Alma eine minutenlange Predigt mit Vorwürfen, daß Alma die Spucke wegblieb. Als auch Ingrid darin vorkam, Alma hätte seinerzeit das Briefgeheimnis verletzt, als sie Richards Brief an Peter gelesen habe, legte Alma auf. Sie fand, solche Anschuldigungen müsse sie sich nicht gefallen lassen. Immerhin (sollte man annehmen) wird auch Frau Ziehrer Richards Gedächtnislücken bemerkt haben. Die sind groß genug, so was kann man nicht übersehen. Oder doch? Nein. Alma schüttelte wiederholt den Kopf, schockiert über soviel Haß und Verdrehung. Sie bereute das Gespräch aber nicht. So sah sie immerhin, wie richtig Richards Ausspruch war, der bei ihr seinerzeit mehr Verwunderung als Zustimmung ausgelöst hatte: Daß man die Fehler, die man selbst begeht, den Leidtragenden nicht verzeiht.
Stimmt: Richard verzeiht ihr nicht, daß er sich ihr nie anvertraut hat und jetzt krampfhaft seine Vergeßlichkeit vor ihr verbergen muß. Frau Ziehrer verzeiht ihr nicht, daß sie fortwährend Almas Vertrauen mißbraucht mit ihrem hinterfotzigen Getue. Und Richards Schwester Nessi verzeiht ihr nicht, daß sie (Nessi) eine Erbschleicherin ist und ständig zugunsten ihrer Kinder Richards Konten plündert, obwohl es längst kein Geheimnis mehr ist, daß sie Richard über die Höhe ihrer Witwenpension belogen hat.
Was gibt es dazu noch groß zu sagen?
Unterm Strich, weiß Gott: Von gut ist das alles weit entfernt.