Von da, wo Bill Buchanan, den Rücken gegen den rauen Fels gelehnt, saß, fiel sein Blick schräg auf Whitesides Gesicht. Wenn John sich zurücklehnte, konnte Buchanan den schneebedeckten Gipfel des Mount Taylor sehen, der über Grants in New Mexico aufragte, ungefähr acht Meilen östlich von ihnen. Jetzt allerdings beugte John sich vor, weil er ihm etwas sagen wollte.
«Dieses Rauf- und Runterklettern – und noch mal rauf, damit du auf der anderen Seite wieder runterklettern kannst», sagte Whiteside, «ist doch wirklich nicht das Gelbe vom Ei. Kann sein, dass es die einzige Möglichkeit ist, um auf den Gipfel zu kommen, aber nach unten, wette ich, muss es einen schnelleren Weg geben.»
«Gib Ruhe», sagte Buchanan, «entspann dich. Wir sitzen hier, um uns auszuruhen.»
Sie hatten sich auf einem der wenigen relativ flachen Granitfelsen niedergelassen – im Rappel Gully, wie die Ship-Rock-Kletterer die schmale Schlucht nannten. Sie war auf dem Weg zum Gipfel der Ausgangspunkt für die letzte steile, schwere Steigstrecke und durch den Granitfelsen ein idealer Rastplatz – leicht seitlich geneigt, aber mit glatter Oberfläche, wie eine riesige Tischplatte, nicht ganz fünfhundert Meter über der Prärie. Beim Abstieg fing hier die kürzere, aber noch schwerere Klettertour an einer fast senkrechten Steilwand an – aufwärts, weil das die einzige Möglichkeit war, den Hang zu erreichen, der nach unten führte. Jedenfalls die einzige Möglichkeit, bei der einem eine einigermaßen gute Chance blieb, unten anzukommen, ohne sich unterwegs den Hals zu brechen.
Buchanan, Whiteside und Jim Stapp hatten den Gipfel gerade bezwungen, den aus Armeebeständen ausgesonderten Munitionsbehälter aufgeklappt, in dem das Gipfelbuch der Ship-Rock-Kletterer lag, sich eingetragen und durch ihre Unterschrift versichert, dass sie eine der schwersten Extremstrecken Nordamerikas bezwungen hatten. Buchanan war erschöpft. Er glaubte, dass er allmählich zu alt für so was wurde.
Whiteside hakte seinen Klettergürtel ab und legte das Nylonseil, das Steigeisen, Ringhaken und Karabinerösen beiseite: die Ausrüstung, ohne die der Aufstieg auf so einen Berg unmöglich gewesen wäre.
Er machte eine tiefe Kniebeuge, umklammerte mit den Fingern die Zehen und streckte sich. Buchanan verfolgte die Lockerungsübungen mit einem unbehaglichen Gefühl.
«Was machst du da?»
«Nichts», sagte Whiteside. «Oder sagen wir mal: Ich befolge die Anweisungen des Kletterführers, den du angeblich irgendwann schreiben willst. Ich sehe zu, dass ich das überflüssige Gewicht loswerde, bevor ich einen Abstieg suche, bei dem wir uns nicht sichern müssen.»
Buchanan richtete sich auf. Er kam sich vor wie bei einer Pokerrunde, bei der Whiteside den Zwei-Dollar-John spielte: den Burschen, der anscheinend unerschütterlich darauf vertraut, dass ihm der Kartengeber zur Not auch noch das fünfte Herz hinschiebt. Whiteside ging gern ein Risiko ein.
«Was für einen Abstieg?»
«Ich will mich nur mal da vorn rüberbeugen und umsehen.» Er deutete auf die Felsklippen. «Gerade mal dreißig Meter vor uns kannst du dich über den Rand beugen und das ganze Felsgewirr unter uns überblicken. Ich glaub einfach nicht, dass es da wirklich keinen Weg gibt, auf dem man bequem nach unten kommen kann.»
«Du findest dort höchstens einen Weg, auf dem du dich umbringen kannst», sagte Buchanan. «Wenn du’s so eilig hast, runterzukommen, besorg dir einen Fallschirm.»
«Runter klettert sich’s leichter als rauf.» Whiteside deutete auf das kleine natürliche Staubecken, hinter dem Stapp sich gerade darauf vorbereitete, die Crew an der vertikalen Basaltwand hochzuseilen. «Ich brauch nur ’n paar Minuten.» Er bewegte sich vorsichtig auf den Rand des löchrigen Steilhangs zu.
Buchanan war im Nu auf den Beinen. «Komm zurück, John! Das ist verdammt riskant!»
«Ach wo», rief Whiteside zurück, «ich gehe nur so weit, dass ich einen Blick über die Steilkante werfen kann. Nur mal schauen, wie’s da unten aussieht. Ob’s da tatsächlich nur Trümmergestein gibt, oder ob ich nicht doch einen massiven alten Basaltfinger finde, an dem man sich runterhangeln kann.»
Buchanan ging näher auf den Abhang zu. Er hielt es zwar für unvernünftig, was Whiteside tat, aber wie er’s tat, nötigte ihm doch Bewunderung ab. Der Mann bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit auf allen vieren an der Felsklippe entlang, hielt den Körper gestreckt, balancierte das Gewicht auf den allenfalls drei Zentimetern festem Halt aus, die ihm blieben, und fand mit den Fingerspitzen jeden noch so kleinen Spalt, jeden Riss im Gestein oder zumindest eine raue Stelle, an der er sich notfalls abstützen konnte, wenn eine jähe Bö ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte. Wunderschön anzusehen – eine perfekte Gratwanderung. Whiteside hatte eben den idealen Körperbau für so etwas, etwas kleiner und schlanker als Buchanan. Knochen, Sehnen und Muskeln, sonst nichts, kein Gramm Gewicht zu viel. Wie ein Insekt bewegte er sich scheinbar mühelos an der zerklüfteten Klippe entlang.
Und dreihundert – nein, vierhundert Meter unter ihm lag, was Stapp gern das «Antlitz der Erde» nannte. Buchanan blickte hinunter. Zwei Navajos ritten fast unmittelbar an der Steilwand entlang – Gestalten, die sich von hier oben so winzig ausnahmen, dass einem beim Hinschauen erst richtig klar wurde, welches erschreckende Risiko Whiteside einging. Wenn er abrutschte, war er tot. Nur, er war es nicht sofort. Es dauerte eine Weile, bis ein Mensch ein paar hundert Meter tief gestürzt ist, und zwischendurch schlägt sein Körper immer wieder auf Felsvorsprüngen auf und stürzt dann weiter, schlägt wieder auf und stürzt weiter, bis er schließlich in den Basaltausläufern am Fuße dieses sagenumwobenen erloschenen Vulkans zerschellt.
Buchanan riss sich vom Anblick der beiden Reiter und von seinen Gedanken los. Es war früher Nachmittag, aber die Herbstsonne stand schon so weit im Nordwesten, dass der Ship Rock seinen Schatten viele Meilen weit über die verdorrte Prärie nach Südosten warf. Nicht mehr lange, und der Winter machte der Saison der Extremkletterer ein Ende. Die Sonne stand bereits so tief, dass ihre Strahlen sich nur noch auf dem Gipfel des Mount Taylor spiegelten, ganz oben, wo der Berg seine Schneehaube trug. Achtzig Meilen weiter nördlich, in den San Juans in Colorado, waren die Gipfel schon von Neuschnee bedeckt. Weit und breit zeigte sich keine Wolke, der Himmel schmückte sich mit dem tiefen Blau der Trockenregion. Die Luft war kühl und – was in so großer Höhe nur sehr selten vorkommt – vollkommen windstill.
Die Stille war so beherrschend, dass Buchanan das schwache schabende Geräusch von Whitesides weicher Gummisohle hören konnte, als er den Fuß auf dem Fels nach vorne schob. Hundert, vielleicht zweihundert Meter unter ihm schwebte ein rotschwänziger Habicht auf die Felswand zu, um sich von der Luftströmung aufwärts tragen zu lassen. Hinter sich, jenseits des kleinen Staubeckens, hörte Buchanan ein metallisches Klicken, als Stapp am Fuße der Steilwand seinen Klettergürtel festzurrte.
Das ist der Grund, warum ich klettere, dachte Buchanan – um so weit wie möglich von Stapps «Antlitz der Erde» und all dem Lärm und der Unruhe entfernt zu sein. Whiteside dagegen klettert, weil er den Nervenkitzel sucht, der sich einstellt, wenn er den Tod herausfordert. Und nun turnt er dort am Abgrund herum, gut und gern dreißig Meter vor mir. Verdammt riskant. Zu riskant.
«Das ist weit genug, John», rief er, «stell dein Glück nicht auf die Probe.»
«Noch einen halben Meter», rief Whiteside zurück, «dann hab ich festen Halt und kann runtersehen.»
Er schob sich weiter. Machte Halt. Und blickte nach unten.
«Überall löchriges Gestein unter der Klippe. Sieht aus wie ’ne Honigwabe», sagte er und verlagerte das Gewicht, damit er den Kopf ein Stück nach vorn schieben konnte. «Jede Menge kleine Erosionshöhlen, und der Basalt drum herum sieht ziemlich bröckelig aus.» Er schob den Kopf noch ein Stück vor. «Und weiter unten eine glatte Wand. Verdammt glatt.»
Stille. Dann rief Whiteside: «Bill, ich glaube, ich seh da unten einen Steinschlaghelm.»
«Was?»
«Mein Gott», sagte Whiteside, «da steckt ein Schädel drin.»
Der weiße Porsche im Rückspiegel seines Pickup lenkte Jim Chee von seinen düsteren Grübeleien ab. Chee fuhr auf dem Highway 666 südwärts, auf den Salt Creek Wash zu, mit ungefähr 65 Meilen pro Stunde, also haarscharf über der vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbegrenzung, und er wurde schließlich unter anderem dafür bezahlt, deren Einhaltung zu überwachen. Aber nach der Dienstvorschrift der Navajo Tribal Police sollten geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitungen in diesem Jahr als versehentliche Verkehrswidrigkeiten behandelt werden. Abgesehen davon war der Verkehr recht dünn, die Saison neigte sich dem Ende zu – man konnte es an dem prächtigen Pink erkennen, mit dem die untergehende Sonne jetzt, Mitte November, die Wolken über den Carrizo Mountains anmalte –, und wenn er dem alten Motor eine Verschnaufpause gönnte und den Pickup ungebremst den Hügel hinunterrollen ließ, sparte er Benzin, schonte die Reifen und hatte anschließend genug Schwung für die lange Steigstrecke über den Buckel zwischen der Auswaschung und Shiprock.
Der Porschefahrer lag mit seinem Tempo allerdings erheblich über der Toleranzgrenze. Der hatte um die 95 Meilen drauf. Chee löste den Blaulichtblinker von der Ablage über dem Armaturenbrett, schaltete ihn an, kurbelte das Seitenfenster herunter und klebte die Magnethalterungen aufs Pickup-Dach. Genau in dem Augenblick, als der Porsche an ihm vorbeischoss.
Sofort drang durchs offene Fenster ein Schwall kalter Luft, vermischt mit Straßenstaub. Er drehte das Fenster hoch und drückte den Fuß aufs Gaspedal. Die Tachometernadel stand auf 70, als er den Salt Creek Wash durchquerte, kletterte auf fast 75 und sackte dann auf 72 ab – die Steigstrecke und das betagte Alter des Motors forderten ihren Tribut. Der weiße Porsche kurvte fast eine Meile vor ihm den Hügel hinauf. Chee langte nach dem Mikro, klickte es an und hatte die Zentrale in Shiprock dran.
«Shiprock», meldete sich eine Stimme. «Ich höre, Jim.» Das musste Alice Notabah sein, die Veteranin. Die andere Frau in der Zentrale war jung, beinahe so neu auf ihrem Posten wie Chee auf seinem, und redete ihn immer mit «Lieutenant» an.
«Was gibt’s, Jim?», wiederholte Alice, schon ein bisschen ungeduldig.
«Nur ein Raser», gab er durch. «Weißer Porsche Targa, Utah-Kennzeichen, südwärts auf der Triple-6 Richtung Shiprock. Nichts Weltbewegendes.» Der Fahrer hatte wahrscheinlich die Polizeileuchte nicht gesehen. Wer schaut schon in den Rückspiegel, wenn er an einem verrosteten Pickup vorbeizieht? Trotzdem, irgendwie wurmte es ihn. Der Tag hatte ihm schon genug Ärger gebracht, und jetzt auch das noch. Der Versuch, den Sportwagen zu jagen, hätte mit einer Blamage geendet.
«Zehn-vier – kommst du her?», wollte Alice wissen.
«Ich fahr nach Hause», antwortete Chee.
«Lieutenant Leaphorn war hier. Wollte dich sprechen», sagte Alice.
«Was wollte er denn?» Streng genommen handelte es sich um den Ex-Lieutenant Leaphorn. Der alte Knabe war letztes Jahr in den Ruhestand gegangen. Endlich. Nach bestimmt fast einem Jahrhundert. Trotzdem, Ruhestand oder nicht, die Nachricht, dass Leaphorn ihn sprechen wollte, löste in Chee sofort ein mulmiges Gefühl aus, automatisch fing er an, so etwas wie Gewissenserforschung zu betreiben. Er hatte zu viele Jahre unter dem Mann gearbeitet.
«Er hat nur gesagt, dass er dich irgendwann bestimmt erwischt. Du hörst dich an, als hättest du ’nen schlechten Tag gehabt.»
«Einen zum Vergessen», bestätigte Chee. Aber das stimmte eigentlich nicht. Es war schlimmer gewesen als zum Vergessen. Zuerst die Episode mit dem Jungen in der Uniform der Ute Mountain Police. Und dann die Sache mit Mrs. Twosalt.
Ein arrogantes Bürschchen. Chee hatte hoch auf dem Abhang unter dem Popping Rock geparkt, wo der Pickup durch Gebüsch vor neugierigen Blicken geschützt war, Chee dagegen einen guten Ausblick weit über die Straßen auf dem Ölfeld unter ihm hatte. Im Augenblick hatte er einen schlammbespritzten Zweitonner-GMC im Visier, der an einer Viehkoppel stand, etwa eine Meile weit weg. Chee kramte das Fernglas heraus, stellte die Schärfe nach und versuchte herauszukriegen, warum der Fahrer den Truck an einer Koppel abgestellt hatte und ob vielleicht noch jemand neben ihm saß. Alles, was er zu sehen bekam, waren die Schlammspritzer an der Windschutzscheibe.
Und plötzlich rief das Bürschchen laut «Hey!», und als Chee herumfuhr, stand der Milchbart nicht mal zwei Meter hinter ihm und fixierte ihn durch eine dunkle, verspiegelte Sonnenbrille.
«Was machst du hier?», wollte der Junge wissen, der, wie Chee mittlerweile festgestellt hatte, eine offensichtlich brandneue Uniform der Ute Mountain Tribal Police trug.
«Ich beobachte Vögel», sagte Chee und deutete auf das Fernglas. «Vogelkundliche Studien, verstehst du?»
Der Bursche schien das überhaupt nicht lustig zu finden.
«Zeig mir mal einen Ausweis», verlangte er. Was Chee soweit ganz in Ordnung fand. So machte man das, wenn einem jemand, der irgendwie verdächtig aussah, über den Weg lief. Also fischte er das Klappmäppchen mit dem Dienstausweis der Navajo Tribal Police aus der Tasche und wünschte im Stillen, er hätte sich die klugscheißerische Bemerkung über vogelkundliche Studien gespart. Derlei blöde Sprüche hörte jeder Cop jeden Tag wer weiß wie oft – kein Wunder, dass alle sie bis obenhin satt hatten. Er hätte ja auch nie und nimmer so dumm dahergeredet, dachte er, wenn das Kid sich nicht so lautlos an ihn rangepirscht hätte. Richtig gekonnt. Und richtig peinlich für Chee.
Das Bürschchen schaute von dem Passfoto auf Chees Gesicht und wieder auf das Foto. Schien ihm beides nicht zu gefallen.
«Navajo Police?», hakte er nach. «Was machst du dann hier in der Utah-Reservation?»
Chee erklärte ihm höflich, dass sie sich nicht in der Utah-Reservation befanden. Sie waren auf Navajoland, die Grenze lag etwa eine halbe Meile östlich von ihnen. Das Bürschchen grinste verächtlich. Chee hätte sich wohl verlaufen, meinte er, die Grenze läge mindestens eine Meile in der entgegengesetzten Richtung, und zeigte hangabwärts. Sie hätten darüber nun lange diskutieren können, doch das wäre völlig sinnlos gewesen, und so hatte Chee dem Jungen einen guten Tag gewünscht, war in seinen Pickup gestiegen und stinksauer davongefahren. Die Utahs, erinnerte er sich, wurden in der Mythologie der Navajos beinahe immer als Feinde seines Volkes dargestellt, jetzt verstand er auch, warum. Er musste zugeben, dass er sich für einen Lieutenant (Acting Lieutenant, was im Klartext bedeutete, dass ihm dieser Rang nur vorläufig zuerkannt war, sozusagen auf Bewährung, seit knapp drei Wochen) nicht besonders geschickt aus der Affäre gezogen hatte. Und das wiederum lenkte seine Gedanken zu Janet Pete, denn nur ihr zuliebe hatte er sich befördern lassen. An Janet zu denken heiterte sein Gemüt regelmäßig ein bisschen auf. Der Tag würde sich bestimmt doch noch zum Guten entwickeln.
Tat er nicht. Old Lady Twosalt kam dazwischen.
Wie der junge Utah-Cop stand sie auf einmal hinter ihm, ohne dass er vorher das Geringste gehört hatte. Sie erwischte ihn in der Tür des Schulbusses, der neben dem Twosalt-Hogan parkte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als da stehen zu bleiben, wo er stand, und stammelnd und stotternd zu versichern, dass er natürlich auf die Hupe gedrückt und abgewartet und sich umgesehen und überhaupt all das getan habe, was man nach den ungeschriebenen Gesetzen der Höflichkeit zu tun hatte, wenn man sich in einem weitgehend menschenleeren Land einem fremden Haus näherte. Und zu guter Letzt sei er zu dem Schluss gekommen, dass wohl niemand zu Hause sei. Und damit war er mit seinem Latein am Ende gewesen.
Mrs. Twosalt hatte nur dagestanden, den Blick zur Seite gewandt – nicht etwa auf ihn, weil das nach der Tradition der Navajos bedeutet, dass man dem anderen nicht über den Weg traut –, hatte abgewartet, bis er fertig war, und war dann ohne lange Umschweife zur Sache gekommen.
«Ich habe nach den Ziegen gesucht», sagte sie. «Aber was hattest du in meinem Schulbus zu suchen? Hast du etwa geglaubt, du hättest da drin was verloren – oder was?»
Chee hätte ihr sagen können, was er in dem Schulbus gesucht hatte: Kuhdung oder Kuhhaare oder irgendeinen anderen Hinweis darauf, dass in dem Fahrzeug anstelle von Schulkids Vieh transportiert worden war. Aus dem gleichen Grund hatte er drüben am Popping Rock das Fernglas auf den Truck an der Viehkoppel gerichtet. Immer wieder verschwand in letzter Zeit im Zuständigkeitsbereich der Polizeidienststelle Shiprock Vieh von den Weiden, und Captain Largo hatte angeordnet, dass sich Chees Leute mit erster Priorität um die Viehdiebstähle kümmern sollten. Für ihn hatte das höhere Dringlichkeit als die Rauschgift-Dealerei am Junior College, Schießereien zwischen rivalisierenden Gangs, Schwarzbrennerei und andere Straftaten, die Chee allerdings für wesentlich wichtiger hielt.
Na schön, Chee hatte sich heute im Morgengrauen und bei lausiger Kälte aus der Koje in seinem Wohntrailer geschwungen, die Jeans und eine Arbeitsjacke angezogen und seinen alten Pickup flottgemacht, um sich mal einen Tag lang – inkognito und auf eigene Faust – nach Trucks und ähnlichen Fahrzeugen umzusehen, die möglicherweise zum Abtransport gestohlener Rinder benutzt wurden.
Dass ihm da der GMC-Truck höchst verdächtig vorgekommen war, lag auf der Hand. Es war das Modell mit dem fünften Antriebsrad, speziell als Zugmaschine für Trailer entwickelt und, wie allgemein bekannt, ausgesprochen beliebt bei professionellen Viehdieben, die gestohlene Rinder vorzugsweise in ganzen Trailerladungen abtransportierten. Bei dem Schulbus war das anders, den hatte er rein zufällig entdeckt, als er den holperigen Feldweg vom Popping Rock heruntergerumpelt war und – ganz zufällig – daran denken musste, dass Mrs. Twosalt sich nicht nur der Viehhaltung widmete, sondern sich auch eines etwas zweifelhaften Rufs erfreute. Worauf er, wieder ganz zufällig, über die Frage gestolpert war, wozu die Twosalt-Lady überhaupt einen alten Schulbus brauchte.
Nur, das alles taugte nicht als Antwort auf Mrs. Twosalts Frage, und sie stand immer noch da und wartete auf eine.
«Ich war bloß neugierig», sagte er schließlich. «Ich bin als Junge in so einem Ding zur Schule gefahren. Da hab ich mich gefragt, ob die wohl immer noch so aussehen wie damals.» Er brachte ein gequältes Lächeln zustande.
Mrs. Twosalt schien seinen erinnerungsseligen Frohsinn nicht zu teilen. Sie wartete, sah ihn an und wartete weiter. Offenbar wollte sie ihm eine Chance geben, sich eine bessere Geschichte oder eine plausiblere Erklärung für sein überraschendes Auftauchen auszudenken.
Weil ihm nichts Besseres einfiel, hatte Chee schließlich das Ausweismäppchen gezückt und gesagt, er sei hergekommen, um sich zu erkundigen, ob die Twosalts vielleicht Kühe oder Schafe vermissten oder irgendetwas Verdächtiges bemerkt hätten. Mrs. Twosalt ließ ihn wissen, sie passe gut auf ihre Tiere auf – nein, sie vermissten kein Vieh. Und damit war auch diese Episode abgehakt – abgesehen davon, dass Chee das unbehagliche Gefühl nicht los wurde, dass er sich bis auf die Knochen blamiert hatte.
Es war beinahe dunkel, als er auf dem Hügel ankam und unter sich die weit verstreuten Lichter der Stadt Shiprock liegen sah. Keine Spur von dem weißen Porsche. Chee gähnte. Was für ein Tag! Er bog von der Teerstraße auf die Schotterstraße ab, die zu einem unbefestigten Feldweg führte. Von diesem zweigte ein von Gras und Kriechgestrüpp überwucherter Pfad ab, auf dem man hinunter zu seinem Trailer unter dem Baumwollgehölz am Ufer des San Juan River kam. Er rieb sich die Augen und gähnte noch einmal. Am besten, er stellte den Rest des Frühstückskaffees noch mal kurz auf die Herdplatte, machte eine Dose Chili-Eintopf auf und legte sich früh ins Bett. Ein lausiger Tag, aber nun war er vorüber.
Nein, war er nicht. Die Scheinwerfer des Pickup spiegelten sich in der Windschutzscheibe eines staubbedeckten Wagens, der dicht hinter dem Trailer parkte. Chee erkannte ihn sofort wieder. Ex-Lieutenant Joe Leaphorn hatte ihn doch noch erwischt, wie versprochen: irgendwann später.
Heute Morgen, als er sich auf die Suche nach Viehdieben gemacht hatte, war es im Trailer empfindlich kühl gewesen. Jetzt war es eisig kalt; das bisschen Wärme, das die Aluminiumhaut im November über Tag speicherte, schluckte der Frosthauch weg, der gegen Abend an den Ufern des San Juan aufkam. Chee zündete den Propangasofen an und setzte Kaffeewasser auf.
Joe Leaphorn saß auf der Bank am Tisch, steif und kerzengerade. Er legte seinen Hut auf die Wachstuchtischdecke und fuhr sich mit der Hand durchs altmodisch geschnittene, immer mehr ins Graue spielende Haar. Er setzte den Hut wieder auf, war anscheinend nicht zufrieden mit seiner Entscheidung und nahm ihn wieder ab. Chee fand, dass Hut und Herr irgendwie zusammenpassten, beide sahen ein bisschen verwittert aus.
«Es ist mir unangenehm, so hereinzuplatzen», sagte Leaphorn, stockte und fing noch einmal an: «Übrigens, meinen Glückwunsch zur Beförderung.»
«Danke», sagte Chee, riss sich vom Anblick des Wasserkessels los, aus dem durch irgendein Leck heißes Wasser rann, wandte sich um, wollte etwas sagen, verschluckte es, gab sich aber zu guter Letzt einen Ruck. Warum eigentlich nicht? Anfangs hatte er es, als er es hörte, nicht glauben wollen, aber warum sollte er nicht mal auf den Busch klopfen?
«Man hat mir erzählt, dass Sie mich für den Posten empfohlen haben.»
Falls Leaphorn zugehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Er betrachtete gedankenverloren seine gefalteten Hände und ließ die Daumen umeinander kreisen.
«Bringt Ihnen eine Menge Arbeit und Ärger», sagte er, «und dass sich’s auszahlt, kann man nicht gerade behaupten.»
Chee nahm zwei Becher aus dem Schrank, stellte den mit dem Werbeaufdruck Farmington Post vor Leaphorn auf den Tisch und suchte nach der Zuckerdose.
«Wie gefällt es Ihnen im Ruhestand?», erkundigte er sich. Eine Art diskreter Rippenstoß – er wollte Leaphorn dazu bringen, ihm den Anlass für seinen Überfall zu erklären. Ein reiner Höflichkeitsbesuch war es wohl kaum. Ganz bestimmt nicht. Leaphorn war immer der Boss und Chee immer sein Laufbursche gewesen. Irgendwie hatte der Besuch etwas mit dienstlichen Belangen zu tun, es gab mit Sicherheit irgendwas, was er erledigt haben wollte, und zwar durch Chee.
«Na ja», antwortete Leaphorn, «als Pensionär hat man erheblich weniger Ärger am Hals. Man muss sich nicht mehr mit allen möglichen Problemen rumschlagen und …» Er zuckte die Achseln und lachte glucksend in sich hinein.
Chee lachte mit, was sich aber ein bisschen gezwungen anhörte. An diesen neuen, veränderten Leaphorn musste er sich erst gewöhnen. Ein Leaphorn, der herkam, weil er etwas auf dem Herzen hatte, dann aber, statt damit herauszurücken, nur herumdruckste und sich wand wie ein Aal – das war nicht der Lieutenant Leaphorn, wie er ihn mit einer Mischung aus Staunen, Irritation und Bewunderung in Erinnerung hatte. Er fühlte sich ziemlich unwohl dabei, diesen Mann wie einen Bittsteller in seinem Trailer sitzen zu sehen. Irgendwie musste er ihm einen Schubs geben.
«Ich weiß noch, wie Sie – damals, als Sie mir erzählt haben, dass Sie sich pensionieren lassen – zu mir gesagt haben, wenn ich mal einen guten Rat oder Hilfe brauche, soll ich ohne Scheu zu Ihnen kommen. Na gut, dann frage ich Sie also, was Sie alles über die Viehdiebstähle wissen.»
Leaphorn ließ sich die Frage durch den Kopf gehen und die Daumen weiter kreisen. «Na ja», sagte er, «ich weiß, dass es immer den einen oder anderen Viehdiebstahl gegeben hat. Und ich weiß, dass Ihr Boss und seine Familie seit drei Generationen im Rinderzüchtergeschäft sind. Für Rinderdiebe dürfte er also nicht allzu viel übrig haben.» Die Daumen brachen ihren Ringelreihen ab, Leaphorn sah hoch. «Gibt’s in letzter Zeit mehr Ärger damit als sonst? Irgendwas im großen Stil?»
«Richtig groß kann man’s nicht nennen. Die Conroy-Ranch hat letzten Monat acht Färsen verloren. Alles in allem in den letzten beiden Monaten sechs oder sieben Anzeigen. Meistens fehlten ein, zwei Tiere, manche waren wahrscheinlich einfach nur davongelaufen. Aber Captain Largo sagt, es ist schlimmer als sonst.»
«Jedenfalls schlimm genug, um Largo zu beunruhigen», meinte Leaphorn. «Seine Familie hat ausgedehnte Weiderechte, beinahe überall im Checkerboard.»
Chee grinste.
Leaphorn lachte wieder in sich hinein. «Ich wette, das wissen Sie alles schon.»
«Stimmt», sagte Chee und schenkte Kaffee ein.
Leaphorn nahm einen Schluck.
«Ich glaube nicht, dass ich Ihnen irgendeinen guten Tipp geben kann, wie man Viehdiebe fängt. Ich weiß darüber sicher nichts, was Ihnen nicht auch schon Captain Largo erzählt hätte», sagte Leaphorn. «Wir haben jetzt die Navajo Rangers, und da Vieh für das Wohl des Stammes wichtig ist und sie den Auftrag haben, alles zu schützen, was im Interesse des Stammes geschützt werden muss, sind die Viehdiebstähle eigentlich ihre Angelegenheit. Das Problem ist nur, dass die Rangers eine recht kleine Gruppe sind. Sie haben alle Hände voll zu tun mit Wilddieben und Randalierern in den Parks und Burschen, die Holz stehlen oder Ölleitungen anzapfen – da kommt einiges zusammen. Die Rangers kommen kaum noch rum, also müssen wir ihnen helfen und mit allen zusammenarbeiten, die sonst noch zuständig sind. Mit den Veterinären vom New Mexico Cattle Sanitary Board und den Brandzeicheninspektoren aus Arizona und den Jungs aus Colorado. Und Sie – Sie halten so lange die Augen nach fremden Trucks und Pferdetrailern offen.» Leaphorn sah Chee achselzuckend an. «Nicht gerade viel, was Sie tun können. Ich hatte nie viel Glück damit, Viehdiebe zu erwischen. Und die paar, die ich erwischt habe, haben sie mangels Beweisen laufen lassen.»
Chee nickte. «Hab mir schon gedacht, dass sich die Zeit, die ich investiere, nicht auszahlt.»
«Ich wette, Sie haben schon alles gemacht, was Sie tun können.» Leaphorn rührte Zucker in den Kaffee, nahm wieder einen Schluck und sah Chee über den Rand seiner Brille an. «Und dann fängt natürlich bald die Zeit der Zeremonien an. Sie wissen ja, wie das läuft. Jemand braucht einen Gesang. Dann muss die Familie sämtliche Verwandte und Freunde durchfüttern, die kommen und dabei helfen, dass der Segen auch wirklich anschlägt. Ein Haufen hungriger Leute, und wenn’s eine Zeremonie in voller Länge ist, hat man sie womöglich die ganze Woche da. Sie kennen doch die Redensart in New Mexico: Niemand isst seine eigene Kuh auf.»
«Tja», machte Chee. «Als ich die Polizeiberichte der letzten Jahre durchgesehen habe, ist mir aufgefallen, dass die Zahl der kleinen Viehdiebstähle – die, bei denen es um ein oder zwei Tiere geht – zunimmt, sobald die Zeit der schweren Unwetter vorbei ist und die Gesänge anfangen.»
«Ich bin in der Zeit immer ein bisschen zum Schnüffeln rumgefahren. Hier und da findet man immer ’ne frische Rinderhüfte mit dem falschen Brandzeichen. Aber Sie wissen ja, dass es nicht viel bringt, jemanden wegen so was festzunehmen. Ich habe immer nur ein, zwei Worte mit den Leuten geredet, damit sie merken, dass man ihnen auf die Schliche gekommen ist. Und dann hab ich dem Viehzüchter Bescheid gesagt. Und wenn der ein Navajo war, hat er begriffen, was er eigentlich von Anfang an wissen musste: Die Leute brauchen ein bisschen Unterstützung. Nun, dann hat er eben was für sie geschlachtet und ihnen auf die Weise die Mühe erspart, sich das Fleisch zusammenzustehlen.»
Leaphorn brach ab. Er wusste, dass er Chee nichts Neues erzählte. Reine Zeitverschwendung.
«Eine Menge gute Ideen», sagte Chee und wusste, dass Leaphorn darauf nicht hereinfiel «Gibt’s irgendwas, was ich für Sie tun kann?»
«Es ist nichts Wichtiges», antwortete Leaphorn. «Nur so eine alte Geschichte, die mir seit Jahren im Kopf herumgeht. Eigentlich reine Neugier.»
Chee nahm einen Schluck von seinem Kaffee und fand ihn schlichtweg köstlich. Er wollte Leaphorn Zeit lassen, die richtigen Worte zu finden, um ihm sein Anliegen klarzumachen.
«In diesem September waren es elf Jahre», fing Leaphorn an. «Ich war damals zu unserer Dienststelle nach Chinle abkommandiert. Wir hatten da den Fall eines jungen Mannes, der auf einmal aus einer Jagdhütte beim Canyon de Chelly verschwunden war. Ein Typ namens Harold Breedlove. Er und seine Frau haben dort ihren fünften Hochzeitstag gefeiert. Fiel zufällig mit seinem Geburtstag zusammen. So wie seine Frau es uns erzählt hat, bekam er einen Telefonanruf. Er sagt zu ihr, dass er sich mit jemandem treffen muss, geschäftlich. Er wäre bald zurück, sagte er und fährt los. Aber er kommt nicht zurück. Am nächsten Morgen ruft sie bei der Arizona Highway Patrol an, und die rufen uns an.»
Leaphorn machte eine kurze Pause. Bei soviel Wirbel um eine Geschichte, hinter der nichts als ein kleiner Urlaub von der eigenen Frau zu stecken schien, musste er schon eine nähere Erklärung nachschieben, das war ihm klar. «Die Breedloves sind eine große Rancherfamilie. Die Lazy-B-Ranch oben in Colorado. Weiderechte in New Mexico und Arizona, jede Menge Bergbauanteile – und was weiß ich, was alles. Der Familienchef hat mal für den Kongress kandidiert. Na, wir haben jedenfalls eine Beschreibung des Wagens rausgegeben. War ein neuer grüner Land Rover. So was fällt hier draußen schnell auf. Und ungefähr eine Woche später hat ein Officer ihn entdeckt, stand in einem ausgetrockneten Wasserlauf neben der Straße, die von der 191 zum Gemeindehaus von Sweetwater führt.»
«Ja, irgendwie erinnere ich mich an den Fall», sagte Chee. «Aber nur ganz entfernt. Ich war zu der Zeit neu, hab in Crownpoint gearbeitet.» Und hatte absolut nichts mit dem Breedlove-Fall zu tun, dachte Chee. Was mochte Leaphorn wohl von ihm wollen?
«Keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung an dem Land Rover, richtig?», fragte er. «Kein Blut, keine Waffe, keine Mitteilung, nichts.»
«Nicht mal Reifenspuren», bestätigte Leaphorn. «Dafür hat eine Woche Wind gesorgt.»
«Und man hatte, wenn ich mich recht erinnere, nichts aus dem Wagen gestohlen. Ich glaube, jemand hat mir damals erzählt, dass sogar die teure Musikanlage noch drin war – und der Reservereifen und alles.»
Leaphorn nippte gedankenverloren an seinem Kaffee. Dann sagte er: «So sah es damals aus. Heute bin ich nicht mehr ganz sicher. Vielleicht gab’s da eine Kletterausrüstung, die gestohlen wurde.»
«Aha», machte Chee. Er stellte seinen Kaffeebecher ab. Jetzt ahnte er, worauf Leaphorn hinauswollte.
«Das Skelett oben am Ship Rock», sagte Leaphorn. «Alles, was ich darüber weiß, hab ich aus dem Gallup Independent. Habt ihr den Toten schon identifiziert?»
Chee schüttelte den Kopf. «Nicht, dass ich wüsste. Keinerlei Anzeichen für ein Verbrechen. Aber Captain Largo hat die Jungs vom FBI-Labor kommen lassen, damit sie sich alles ansehen. Soweit ich weiß, haben die aber auch nichts gefunden.»
«Es gibt nicht viel mehr als blanke Knochen, hab ich gehört», sagte Leaphorn. «Und ein paar Reste von Kleidungsstücken. Ich vermute, Leute, die in den Bergen rumklettern, nehmen ihre Brieftasche nicht mit.»
Chee nickte. «Und auch keine Goldkettchen mit eingraviertem Namen. Oder sonst was, was sie da oben nicht brauchen. Der Junge hat’s jedenfalls nicht getan.»
«Habt ihr schon eine Schätzung, wie alt er war?»
«Zwischen dreißig und fünfunddreißig, meint der Pathologe. Keine gesundheitlichen Probleme, die sich auf die Knochenstruktur auswirken. Ich nehme an, bei Leuten, die in Steilhängen rumklettern, erwartet man das auch nicht. Ach ja – ist wohl irgendwo großgeworden, wo’s eine Menge Fluorid im Trinkwasser gibt.»
Leaphorn lachte grimmig. «Mit anderen Worten, keine Plomben in den Zähnen und somit keine Hilfe aus der Kartei irgendeines Zahnarzts zu erwarten.»
«Wir hatten bei dem Fall eigentlich nur Pech», sagte Chee.
Leaphorn leerte seinen Becher und stellte ihn ab. «Was hatte er an?»
Chee runzelte die Stirn. Komische Frage. «Die übliche Klettermontur. Sie wissen ja – spezielle Stiefel mit weichen Gummisohlen. Und er trug die Ausrüstung, mit der sich diese Kletterer gewöhnlich behängen.»
«Ich frage nur wegen der Jahreszeit», sagte Leaphorn. «So ein schwarzer Berg wie der Ship Rock heizt sich im Sommer durch die Sonne ganz schön auf – sogar anderthalb Meilen über dem Meeresspiegel. Im Winter ist er dagegen mit Eis bedeckt. Wo es auch nur ein bisschen schattig ist, schiebt sich eine Schneelage über die andere. Da bilden sich richtige Eisschollen.»
«Hm», machte Chee. «Nun, irgendwas gegen die Kälte hatte der Mann nicht an. Nur ganz normale Hosen und ein langärmliges T-Shirt. Obwohl – vielleicht so was wie Angoraunterwäsche. Er lag auf einer Art Felssims, ein paar hundert Meter unter dem Gipfel. Viel zu hoch, als dass die Kojoten ihn kriegen konnten, aber die Raben und Bussarde waren da.»
«Hat das Bergungsteam alles mit runtergebracht? Ich meine, gab’s vielleicht irgendwas, was er eigentlich dabeigehabt haben müsste, was aber nicht bei seinen Sachen war? Irgendwas, was zur normalen Ausrüstung der Extremkletterer gehört?»
«Soweit ich weiß, hat nichts gefehlt», sagte Chee. «Kann natürlich sein, dass dies oder jenes runtergefallen und in einer Felsspalte verschwunden ist. Die Vögel werden auch ein paar Sachen verstreut haben.»
«Eine Menge Seil, nehme ich an», sagte Leaphorn.
«Nur ein kurzes Stück. Ich weiß nicht, wie viel es normalerweise sein müsste. Largo hat alles ans FBI-Labor geschickt, damit sie überprüfen, ob sich ein Knoten oder eine Schlinge gelöst hat oder ob das Seil gerissen ist – was auch immer.»
«Haben sie das andere Ende irgendwo gefunden?»
«Das andere Ende?»
Leaphorn nickte. «Wenn es gerissen war, muss es ein anderes Ende gegeben haben. Das hätte dann irgendwo befestigt sein müssen. Entweder hat er einen Haken in den Fels getrieben oder es um irgendetwas Festes herumgeschlungen. Damit es ihn hält, wenn er abrutscht.»
«Oh», machte Chee. «Also, der Trupp, der aufgestiegen ist, um die Knochen einzusammeln, hat kein zweites Stück Seil gefunden. Ich bezweifle allerdings, dass sie überhaupt danach gesucht haben. Largo hat sie nur gebeten, die Überreste des Toten zu bergen. Ich weiß noch, dass sie gesagt haben, es müssten eigentlich die von zwei Toten sein. Weil niemand so verrückt ist, allein im Ship-Rock-Massiv rumzuklettern. Sie haben aber keinen zweiten gefunden. Scheint so, als wäre unser Gefallener Mensch doch so verrückt gewesen.»
«Scheint so», sagte Leaphorn.
Chee schenkte ihm und sich Kaffee nach und sah Leaphorn fragend an. «Wenn ich mal raten soll. Harold Breedlove war Extremkletterer. Habe ich Recht?»
«War er», bestätigte Leaphorn. «Aber wenn er euer Gefallener Mensch ist, war er kein besonders umsichtiger.»
«Sie meinen, weil er allein da oben geklettert ist?»
Leaphorn nickte. «Ja. Oder, falls er nicht allein war, weil er mit jemandem in den Berg gestiegen ist, der ihn im Stich gelassen hat und abgehauen ist.»
«Darüber hab ich auch schon nachgedacht», sagte Chee. «Die Jungs vom Bergungstrupp sagen, dass er entweder zu dem Felssims hochgeklettert ist, was sie allerdings ohne Hilfe für unmöglich halten, oder versucht hat, von oben abzusteigen. Aber das Skelett war völlig intakt – nichts gebrochen.» Chee schüttelte den Kopf.
«Wenn jemand bei ihm war, einer oder mehrere – warum haben sie den Unfall nicht gemeldet? Hilfe geholt? Den Abgestürzten geborgen? Haben Sie darüber auch schon nachgedacht?»
«Ja», sagte Chee. «Ist aber nichts Gescheites dabei rausgekommen.»
Leaphorn trank in kleinen Schlucken Kaffee. Und dachte nach.
«Ich wüsste gern mehr über die Kletterausrüstung, die, wie Sie sagen, aus Breedloves Wagen gestohlen wurde», sagte Chee.
«Ich habe gesagt, es könnte sein, dass sie gestohlen wurde», korrigierte ihn Leaphorn. «Und zwar möglicherweise aus seinem Wagen.»
Chee wartete.
«Ungefähr einen Monat, nachdem Breedlove verschwunden war, haben wir einen jungen Kerl aus Many Farms dabei erwischt, wie er den Wagen von Touristen aufgebrochen hat. Das Fahrzeug war an einem der Aussichtspunkte über dem Canyon de Chelly geparkt. Bei dem Jungen zu Hause haben wir ’ne Menge gestohlenes Zeug entdeckt, Autoradios, Mobiltelefone, Kassettenrecorder und so weiter, auch Dinge, die zur Kletterausrüstung gehören. Seil, Bergeisen und andere Sachen. Da wussten wir bereits, dass Breedlove Extremkletterer gewesen war, wir hatten ja schon eine Weile nach ihm gesucht. Der Junge hat behauptet, er hätte die Sachen in dem Trockenlauf gefunden. An einer Stelle, an der die Flutwelle nach einem Unwetter Schotter und Äste weggeschwemmt hat, die die Ausrüstung verborgen hätten. Wir haben uns von ihm die Stelle zeigen lassen. War etwa fünfhundert Meter von dem Ort entfernt, an dem wir Breedloves Wagen gefunden hatten, nur – soweit man das bei einem Trockenlauf so nennen kann – stromaufwärts.»
Chee dachte eine Weile über die Information nach.
«Haben Sie vorhin gesagt, dass der Wagen nicht aufgebrochen war?»
«Die Türen waren nicht abgeschlossen. Und das Zeug, das Kids normalerweise zuerst klauen, war noch da.»
Chee verzog das Gesicht. «Haben Sie irgendeine Ahnung, warum er nur die Kletterausrüstung mitgenommen hat?»
«Und die Sachen, die er leicht zu Geld machen konnte, dagelassen hat?», fragte Leaphorn. «Nein, das weiß ich auch nicht.» Er griff nach seinem Becher, bemerkte, dass er leer war, und stellte ihn wieder ab.
«Ich habe gehört, dass Sie heiraten wollen», sagte er. «Meine besten Glückwünsche.»
«Danke. Soll ich noch mal nachschenken?»
«Eine sehr hübsche Lady», meinte Leaphorn. «Ein kluges Köpfchen. Und eine gute Anwältin.» Er hielt Chee seinen Becher hin.
Chee lachte. «Ich hab früher nie gehört, dass Sie, wenn’s um Anwälte ging, solche Adjektive verwenden. Zumindest nicht, wenn es um Strafverteidiger ging.» Janet Pete arbeitete für das Dinebeiina Nahiilna be Agaditahe, was wörtlich übersetzt soviel wie ‹Die Leute mit der schnellen Zunge, die anderen Leuten bei Problemen helfen› heißt und in der nüchternen Amtssprache der Navajopolizei auf das Kürzel DNA reduziert oder durch die Bezeichnung ‹öffentlich bestellte Verteidiger› umschrieben wurde.
«Für alles gibt’s das berühmte erste Mal. Und Miss Pete …» Leaphorn wusste nicht, wie er den Satz zu Ende bringen sollte.
Chee nahm Leaphorns Becher und schenkte Kaffee nach.
«Ich hoffe, Sie lassen es mich wissen, wenn es über den Gefallenen Menschen irgendwas Neues gibt.»
Das verblüffte Chee. War der Fall nicht abgeschlossen? Leaphorn hatte seinen Vermissten gefunden. Und damit war die Identität von Largos Gefallenem Menschen geklärt. Was konnte sich da noch Neues ergeben?
«Sie meinen, falls sich herausstellen sollte, dass das Skelett im Vergleich zu Breedloves Identifizierungsmerkmalen die falsche Größe oder die falschen ethnischen Merkmale hat? Oder dass Breedlove falsche Zähne hatte? Oder was?»
«Ja», sagte Leaphorn. Aber so, wie er dasaß und den frisch aufgefüllten Kaffeebecher in der Hand hielt, war das Gespräch offensichtlich noch nicht beendet. Chee wartete und versuchte sich in ein paar Vermutungen, in welcher Richtung es weitergehen könnte.
«Haben Sie jemand in Verdacht? Ich nehme an, die Witwe könnte in Frage kommen.»
«Das schien uns in diesem Fall ein nahe liegender Gedanke zu sein. Aber es hat uns nicht weitergebracht. Und dann gab’s da einen Cousin. Ein Washingtoner Anwalt namens George Shaw. Der ganz zufällig auch Bergsteiger ist und zur fraglichen Zeit in der Gegend war und perfekt zu dem Bild gepasst hätte, das man sich gewöhnlich von dem zweiten Mann in einer Dreiecksbeziehung macht. Er sagt, er sei damals hergekommen, um mit Breedlove über Pachtverträge für Edelmetallvorkommen auf dem Grund und Boden der Lazy-B-Ranch zu sprechen. Was nach unseren Ermittlungen der Wahrheit zu entsprechen schien. Shaw hat sich um die Vertragsabschlüsse der Familie gekümmert, und es gab eine Minengesellschaft, die an einem Geschäft zum gegenseitigen Vorteil interessiert war.»
«Mit Harold? Hat ihm denn der Grund und Boden gehört?»
Leaphorn lachte. «Er hatte ihn gerade geerbt. Drei Tage vor seinem Verschwinden.»
«Ja, dann …», sagte Chee und dachte über die Information nach, während Leaphorn bedächtig seinen Kaffee trank.
«Haben Sie den Bericht über die Schüsse neulich am Canyon de Chelly gelesen?», fragte Leaphorn. «Ein alter Mann namens Amos Nez wurde offensichtlich von der Felsklippe aus angeschossen.»
Chee nickte. «Hab ich gelesen.» Das Ganze war ziemlich rätselhaft. Nez war in die Seite getroffen worden. Er war, die Zügel noch in der Hand, vom Pferd gestürzt. Der zweite Schuss hatte das Pferd erwischt – in den Kopf. Es war zusammengebrochen und hatte Nez teilweise unter sich begraben. Dann wurden noch vier weitere Schüsse abgefeuert. Einer traf Nez in den Unterarm, bevor er sich wegrollen und hinter dem toten Tier Deckung nehmen konnte. Das Letzte, was Chee über den Fall gelesen hatte, war, dass man oben an der Felskante hinter einem Basaltbuckel sechs leere Hülsen Kaliber 30.06 gefunden hatte. Und danach waren, soweit Chee wusste, die Ermittlungen im Sande verlaufen. Keine Spuren, kein Motiv. Nez war in nicht lebensbedrohlichem Zustand ins Krankenhaus von Chinle eingeliefert worden. Er war so weit vernehmungsfähig, dass er aussagen konnte, er könne sich nicht erklären, wer einen Grund haben sollte, auf ihn zu schießen.
«Da gab’s was, was mich stutzig gemacht hat», fuhr Leaphorn fort. «Old Hosteen Nez war einer der Letzten, die diesen Hal Breedlove gesehen haben, bevor er verschwunden ist.»
«Ein seltsamer Zufall», sagte Chee. Seinerzeit in Window Rock, als Lieutenant Leaphorn sein Vorgesetzter gewesen war, hatte der ihm eingebläut, niemals an Zufälle zu glauben. Immer und immer wieder hatte er das gesagt. Es war eine von Leaphorns unverbrüchlichen Regeln. Jede Wirkung hat eine Ursache. Wenn man zwischen Ereignissen einen Zusammenhang vermutete, aber den Haken nicht finden konnte, durch den aus den Einzelheiten eine Kette wurde, dann hieß das lediglich, dass man sich nicht genug Mühe gegeben hatte. Doch in diesem Fall schien ein Zusammenhang zwischen Breedloves Verschwinden und den Schüssen tatsächlich zu weit hergeholt zu sein.
«Nez war ihr Führer durch den Canyon», sagte Leaphorn. «Als die Breedloves damals in der Jagdhütte gewohnt haben, haben sie ihn angeheuert. Einmal hat er sie bis zum Canyon del Muerto geführt. Und am Tag darauf durch den Hauptcanyon. Ich habe mich dreimal mit ihm über diese Zeit unterhalten.»
Wieder hatte Leaphorn das Gefühl, das näher erklären zu müssen.
«Oh», machte Chee.
«Nun, ich will damit nicht behaupten, dass er sie später doch noch gesehen hat. Ich hatte nur immer das Gefühl, Nez weiß etwas, was er mir nicht sagen will. Das war einer der Gründe, warum ich ihn mehrmals befragt habe.»
«Sie glauben, dass er etwas mit Breedloves Verschwinden zu tun hatte? Vielleicht hatte Mrs. Breedlove, nachdem ihr Mann so plötzlich wegfahren musste, gar nicht mehr vor, den Canyon zu besuchen.»
«Oh, nein», sagte Leaphorn, «ein paar Leute haben die beiden in Nez’ Truck abends aus dem Canyon kommen sehen, ungefähr um sieben. Kurz danach hat sie das Personal in der Jagdhütte gefragt, ob ihr Mann angerufen habe. Und um halb acht ist sie dann mit dem anderen Ehepaar zum Essen gefahren. Beide sagen, sie sei wegen der Verspätung ihres Mannes ein wenig verärgert gewesen. Und auch ein bisschen besorgt.»
«Ich würde mal sagen, das ist genau das, was man ein wasserdichtes Alibi nennt. Und wie lange hat es dann gedauert, bis Old Hal amtlich für tot erklärt wurde und sie ihren Mitverschwörer heiraten konnte? Ich nehme an, ich liege nicht ganz daneben, wenn ich davon ausgehe, dass das George Shaw war?»
«Sie ist, soweit ich gehört habe, immer noch Witwe», sagte Leaphorn. «Sie hat eine Belohnung von zehntausend Dollar ausgesetzt, die später auf zwanzigtausend erhöht worden ist, und sie hat fünf Jahre lang keinen Antrag gestellt, ihren vermissten Mann amtlich für tot zu erklären. Sie lebt jetzt oben in Colorado, in der Nähe von Mancos. Sie und ihr Bruder leiten die Lazy-B-Ranch.»
«Wissen Sie was?», sagte Chee. «Ich glaube, ich kenne die beiden. Ist der Bruder ein gewisser Eldon Demott?»
«Genau der», bestätigte Leaphorn.
«Mit dem haben wir hin und wieder zu tun. Die Ranch besitzt weiterhin die Pachtrechte an öffentlichem Land in der Checkerboard Reservation, und sie haben da ein paar Anguskälber verloren. Er glaubt, dass irgendeiner von uns Navajos sie gestohlen hat.»
«Eldon ist Elisa Breedloves älterer Bruder», erklärte Leaphorn ihm die Familienverhältnisse. «Ihr Daddy war bei Old Man Breedlove Vormann, und als der starb, hat Eldon den Job sozusagen geerbt. Na, wie auch immer, die Demott-Familie hat auf der Ranch gewohnt. Ich nehme an, so haben Elisa und Breedlove junior sich kennen gelernt.»
Chee unterdrückte ein Gähnen. Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen, und das Gespräch mit Leaphorn, so viele nützliche Informationen es ihm auch bringen mochte, trug nicht gerade zu Chees Entspannung bei. In ihm waren zu viele Erinnerungen wach an die Zeit, in der er alles daran gesetzt hatte, den hohen Ansprüchen dieses Mannes gerecht zu werden. Es dauerte sicher noch eine Weile, ehe er sich in Leaphorns Gegenwart entspannen konnte. Mal sehen, vielleicht in zwanzig Jahren.
«Nun», meinte Chee, «das Ganze wirft ein neues Licht auf die Sache mit dem Gefallenen Menschen. Wir waren beim Versuch der Identifizierung des Skeletts bisher auf Vermutungen angewiesen. Jetzt haben Sie mir durch die Informationen über den vermissten Hal Breedlove neue Anhaltspunkte gegeben. Sobald ich etwas Endgültiges weiß, rufe ich Sie an.»