Henning Mankell
Der Junge,
der im Schnee
schlief
Aus dem Schwedischen
von Angelika Kutsch
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte Ausgabe 2010
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41521 - 7 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 70721 - 3
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kurz bevor der Schnee lautlos zu fallen beginnt . . .
Von Joel ist schon früher erzählt worden. Wie er in einem kleinen Ort in Norrland aufwächst. Das war in den fünfziger Jahren. Schon so lange her. Und doch wieder nicht so lange.
Er wächst in einem Haus mit knackenden Wänden auf, nah an einem Fluss mit klarem Wasser, der in das Meer fließt, das Joel noch nie gesehen hat. Er wohnt zusammen mit seinem Vater, Papa Samuel, dem stillen Waldarbeiter, der einmal Seemann gewesen ist und sich immer noch aus den düsteren Wäldern fortsehnt, zum Meer, der es aber nie geschafft hatte, aufzubrechen. Sie leben immer noch zusammen, Joel Gustafsson und sein Vater. Und sie träumen beide von Mama Jenny, die eines Tages einfach verschwunden ist. Die ihren Koffer genommen hat und ihrer Wege gegangen ist. Irgendwo gibt es sie. Aber sie ist fort, sie überließ es den beiden, sich umeinander zu kümmern. Und niemand weiß mehr, wo sie ist.
Die Tannenwälder stehen still da.
Einmal hat Joel einen Hund durch die dunkle, kalte Winternacht laufen sehen. Irgendetwas hatte ihn aus dem Traum gerissen. Er kroch auf die Fensterbank und plötzlich sah er den Hund da draußen in der Nacht. Auf leisen Pfoten bewegte er sich auf ein unbekanntes Ziel zu. Einen Augenblick tauchte der Hund vor Joels Augen auf. Und dann war er wieder fort.
Diesen Hund kann Joel nicht vergessen. Wohin war er unterwegs? Woher ist er gekommen? Wohin ist er selbst unterwegs? Der Hund kommt nie wieder. Joel findet nie mehr Spuren im Schnee.
Diesen Winter des Hundes wird Joel nie vergessen. Denn in jenem Winter hat er begriffen, dass er niemand anders ist als er selbst. Joel wächst und wird älter. Er wird dreizehn, und eines Tages wird er von einem Bus überfahren und überlebt es wie durch ein Wunder. Ein Wunder ist etwas sehr schwer Begreifliches. Plötzlich wird alles andere viel wichtiger als der einsame Hund.
Wachsen heißt zu fragen, erwachsen zu werden heißt langsam alles zu vergessen, was man als Kind gefragt hat. Das hat er begriffen. Und so ein Erwachsener will er nicht werden.
Immer öfter sucht er die Gesellschaft der nasenlosen Gertrud. Sie, die in einem merkwürdigen Haus am südlichen Flussufer wohnt, auf der anderen Seite der bedrohlichen Eisenbahnbrücke. Mit Gertrud teilt er viele Geheimnisse. Eine große Freude. Aber auch Trauer und Enttäuschung.
Die Zeit will nicht stehen bleiben.
Sie läuft weiter. Tag für Tag, Monat für Monat. Aus dem schmelzenden Schnee sprießt neuer Frühling, wenn das Eis auf dem Fluss bricht und die Baumstämme wieder vorbeitreiben auf ihrem weiten Weg zum Meer. Es kommt noch ein Sommer, in dem die Mücken sirren und die Sonne nie müde wird zu leuchten. Es kommt wieder ein Herbst, in dem die Preiselbeeren reifen, die Blätter fallen und der Frost unter den Fahrradreifen knirscht. Denn Joel fährt Fahrrad, unablässig fährt er durch die Straßen auf der Jagd nach dem Unerwarteten. Vielleicht wartet es hinter der nächsten Ecke? Oder der nächsten? Oder der übernächsten?«
Jetzt wird Joel bald vierzehn. Im Augenblick liegt er in seinem Bett und schläft tief. Irgendwo drinnen in der Wand nah bei seinem Ohr knabbert eine Maus. Aber die hört er nicht. Was er träumt, weiß niemand.
Draußen in der Nacht beginnt lautlos der Schnee zu fallen. Noch ist es lang bis zur Morgendämmerung.
Joel ließ das Rollo mit einem Knall hochsausen.
Es war, als ob er den neuen Tag mit einem Salut aus einer Kanone begrüßte.
Verblüfft starrte er aus dem Fenster. Die Erde war ganz weiß. Wieder einmal war er hereingelegt worden.
Der Winter kam immer dann geschlichen, wenn man es am allerwenigsten ahnte. Joel hatte schon im letzten Herbst beschlossen, dass das nie wieder passieren durfte. Bevor er abends schlafen ging, würde er entscheiden, ob es in der Nacht anfangen sollte zu schneien oder nicht.
Das Problem war, dass man nicht hören konnte, wenn es schneite. Nicht wie Regen. Der trommelte aufs Blechdach des Fahrradständers unten auf dem Hof. Wenn die Sonne schien, war auch nichts zu hören. Aber dann veränderte sich das Licht. Und der Wind war am leichtesten von allem. Manchmal blies er so stark, riss und zerrte an den Wänden, dass es ein Gefühl war, als ob das Haus abheben wolle.
Aber der Schnee kam geschlichen. Der Schnee war wie ein Indianer. Bewegte sich lautlos und kam, wenn man es am wenigsten ahnte.
Joel sah aus dem Fenster. Jetzt war der Winter da. Ihm konnte man nicht entkommen. Und hereingelegt worden war er auch wieder. Würde es ein langer und kalter Winter werden? Der Schnee, der jetzt gefallen war, würde am längsten liegen bleiben. Weil er zuunterst lag. Der erste Schnee, der kam, war der letzte, der schmolz. Und dann wäre es schon Ende April oder Anfang Mai.
Joel dachte daran, dass er dann schon vierzehn und noch ein paar Zentimeter gewachsen sein würde. Und vieles, von dem er noch nichts wusste, würde passiert sein.
Der Schnee war gekommen.
Dann war Silvester. Auch wenn es erst November war.
Für Joel war das so. Er hatte das beschlossen. Silvester kam mit dem ersten Schnee.
Sein ganz eigener Silvesterabend. An dem Morgen, wenn die Erde weiß war, war es Zeit für ihn, seine Neujahrsgelübde abzulegen. Falls er welche hatte.
Und er hatte welche. Viele.
Der Fußboden war kalt. Joel holte das Kissen aus dem Bett und legte es unter seine Füße. Aus der Küche hörte er Samuel mit dem Kaffeekessel klappern. Samuel mochte es nicht, wenn Joel mit den Füßen auf dem Kissen stand. Deswegen musste er bereit sein schnell vom Fenster wegzugehen, wenn die Tür hinter ihm geöffnet wurde. Aber Samuel kam morgens selten in sein Zimmer. Die Gefahr bestand, aber sie war nicht besonders groß.
Mit dem Blick verfolgte Joel ein einsames Schneeflöckchen, das langsam zur Erde fiel und von all dem Weiß verschluckt wurde.
Es gab viel, worüber man nachdenken musste, wenn man dreizehn Jahre alt war. Mehr als mit zwölf. Gar nicht davon zu reden, wenn man erst elf war.
Zwei Sachen meinte er gelernt zu haben, seit es im letzten Herbst schneite. Das Leben wurde immer komplizierter, je mehr Zeit verging. Und der Winter kam immer dann geschlichen, wenn man es am wenigsten ahnte.
Joel dachte an den letzten Abend. Da war es noch Herbst gewesen. Nach dem Mittagessen hatte er seine Stiefel angezogen, die Jacke in die Hand genommen und war die Treppe in drei Sprüngen hinuntergelaufen. Da es Sonntagabend war, hielt der Nachtzug aus Richtung Norden im Ort. Selten stieg jemand ein. Und noch seltener stieg jemand aus. Aber man konnte ja nie wissen. Außerdem schmuggelte Joel dann immer geheime Briefe in den Briefeinwurfschlitz im Postwaggon.
Ich behalte euch im Auge. Unterzeichnet J.
Immer derselbe Text. Aber auf die Umschläge schrieb er verschiedene Namen, die er sich aus Papa Samuels Zeitung holte. Die Adressen erfand er selbst.
Wunderwerkstraße 9. Oder Schmied-Lundbergs-Allee 12.
Joel dachte, dass es vielleicht irgendwo auf der Welt gerade so eine Adresse gab. Da er jedoch gleichzeitig den Verdacht hatte, die Post könnte geheime Personen angestellt haben, die Tag und Nacht damit beschäftigt waren, Leute aufzuspüren, die Briefe an erfundene Adressen schickten, wagte er es nicht, die Namen von Städten zu benutzen, die es wirklich gab. Deswegen studierte er in der Schulbibliothek Wann Wo Wie. Das war ein Kalender, in dem stand, was im vergangenen Jahr geschehen war. Ganz hinten gab es eine lange Liste mit allen Städten und Orten des Landes. Da konnte man ablesen, welche Städte größer geworden waren. Oder welche Flecken kleiner. Der Ort, in dem Joel wohnte, wurde immer kleiner. Das untermauerte Joels Verdacht. Niemand wollte hier wohnen. Es wollte auch niemand herziehen. Wenn es ganz schlecht ausging, dann würden Papa Samuel und er die letzten Menschen sein, die es hier noch gab. Einmal hatte er versucht Samuel das zu erklären. Aber der hatte nur gelacht.
»Am Fluss werden immer Menschen wohnen«, hatte er geantwortet.
»Müssen das ausgerechnet wir sein?«, hatte Joel gefragt.
Darauf hatte Samuel keine Antwort gegeben. Er hatte nur noch einmal gelacht, bevor er sich die Brille aufsetzte und in der Zeitung zu blättern begann. Aber in Wann Wo Wie konnte Joel jedenfalls kontrollieren, dass es die Adressen auf seinen geheimen Briefen nirgendwo in Schweden gab. Weder Joelsholm noch Graneborg.
Er klebte nie Briefmarken auf die Briefe. Die zeichnete er. Männer mit großen Nasen. Da die Briefe erfunden waren, wäre es unpassend gewesen, echte Briefmarken draufzukleben. Er musste vorsichtig sein, wenn er die Briefe einwarf. Bahnhofsvorsteher Knif hatte scharfe Augen und konnte leicht aufbrausend und wütend werden. Aber bis jetzt war Joel noch nie erwischt worden. In seinem Notizbuch hatte er aufgeschrieben, dass er insgesamt schon elf Briefe mit dem Zug nach Süden auf die Reise geschickt hatte.
Den letzten Brief hatte er also gestern Abend in den Postwaggon geschmuggelt. Und da war es noch Herbst gewesen. Der Frost hatte unter den Reifen geknirscht. Aus seinem Mund kamen Atemwolken, als er den Hügel zum Bahnhof hinaufradelte, und er war außer Atem gewesen. Es war Mitte November. Häufig hatte es da schon geschneit. Aber nicht in diesem Jahr. Der Winter war spät. Und wieder hatte sich der Schnee über Nacht angeschlichen.
Joel warf einen Blick auf den Wecker, der auf einem Hocker neben seinem Bett stand. Wenn er rechtzeitig in die Schule kommen wollte, musste er sich beeilen. Wie gewöhnlich war er schon spät dran. Er lief in die Toilette, wusch sich, so schnell er konnte, zog sich an und ging in die Küche.
Samuel machte sich gerade zum Gehen bereit. Papa Samuel, der Seemann, der Waldarbeiter geworden war. Joel wünschte oft, dass es genau umgekehrt wäre. Der Waldarbeiter, der Seemann geworden war. Dann würden sie nicht hier am Fluss wohnen, so weit entfernt vom Meer, wie man überhaupt wohnen konnte. Auf einem Regal stand das Modell eines alten Segelschiffes, das »Celestine« hieß. Wenn alles anders gewesen wäre, hätte es an der Wand einer Kajüte gehangen, die von den weichen Wogen des Meeres geschaukelt wurde.
Manchmal fand Joel es unmöglich, Erwachsene zu verstehen. Sie wussten oft selber nicht, was zu ihrem eigenen Besten war. Oft sprachen sie davon, sie wollten alles tun, damit es ihren Kindern gut ging. Aber wie wollten sie das schaffen, wenn sie sich nicht einmal um sich selbst kümmern konnten?
In all den Jahren, seit Mama Jenny verschwunden war, hatte Joel seine eigene Mama sein müssen. Da war es nie ein Problem gewesen, zu wissen, was zu seinem eigenen Besten war. Aber Samuel war ein hoffnungsloser Fall. Er sagte immer »eines Tages, bald, noch nicht«, aber bald würden sie aufbrechen und weggehen. Es geschah jedoch nie. Und Joel hatte die Hoffnung schon lange aufgegeben.
Samuel war wie andere Erwachsene. Er wusste nicht, was zu seinem eigenen Besten war. Und jetzt war er zu alt. Es zu lernen. Oder es Joel machen zu lassen.
Samuel trank den Rest Kaffee und spülte die Tasse aus. Jetzt sagt er gleich, dass ich mich beeilen muss, dachte Joel.
»Beeil dich, damit du nicht zu spät zur Schule kommst«, sagte Samuel.
Joel kniete auf dem Fußboden mit dem Kopf in einem Schrank, in dem es alles gab von Schuhen bis zu alten Zeitungen. Er suchte seine Stiefel.
Er wusste, dass Samuel jetzt fragen würde, ob er gehört hatte, was er gesagt hatte.
»Hast du gehört, was ich gesagt hab?«, fragte Samuel.
»Ja«, antwortete Joel. »Aber ich komm nicht zu spät. Ich schaff das schon.«
Joel zog die Stiefel hervor und setzte sich an den Küchentisch, um sie zuzuschnüren. Zuerst schüttelte er sie aus. Mäusedreck landete auf dem Fußboden. Aber keine tote Maus. Im letzten Jahr war eine im linken Stiefel gewesen. Währenddessen packte Samuel seinen Rucksack. Da waren ein Paket Butterbrote, eine Flasche Milch und die Thermoskanne mit dem Kaffee. Joel warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu.
Sein Papa wurde alt. Obwohl er erst einundvierzig war. Aber sein Rücken krümmte sich. Sein Gesicht war magerer geworden.
Außerdem rasierte er sich immer nachlässiger und immer seltener.
Das gefiel Joel nicht. Er wollte keinen Papa mit krummem Rücken und nachlässig rasierten Wangen haben.
Aber er dachte auch an eins der Neujahrsgelübde, die er ablegen wollte, wenn es Abend wurde. Sein eigener geheimer Silvesterabend, von dem niemand außer ihm etwas wusste.
Es gab eine Sache, über die er lange Zeit nachgegrübelt hatte. Viele Abende, an denen er im Ort herumgeradelt war, hatte er an nichts anderes gedacht.
Er hatte beschlossen, dass er mindestens hundert Jahre alt werden wollte. Dann würde er also bis zum Jahr 2045 leben. Das war so Schwindel erregend weit entfernt, dass es ihm fast so vorkam, als würde er eigentlich ewig leben.
Aber Joel wusste, dass er sich schon jetzt vorbereiten musste, wenn sein Vorsatz gelingen sollte. Wenn er das nicht tat, würde er genauso einen krummen Rücken kriegen wie Samuel.
Eigentlich war es das Wichtigste. Wichtiger als hundert Jahre alt zu werden. Er wollte keinen krummen Rücken haben.
Er wusste schon, wie er es schaffen wollte. Auch das gehörte zu den Neujahrsgelübden, die er sich selbst geben würde, wenn es endlich Abend war.
Von morgen an würde er sich abhärten. Er hatte einen Plan.
Wollte man richtig alt werden, musste man sich abhärten.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, weil Samuel bereit war zu gehen. Er zog sich die dicke Mütze über den Kopf. Dann wandte er sich in der Tür um und sah Joel an. Er wirkte oft bekümmert, wenn er auf dem Weg zur Arbeit war. Das war auch etwas, das Joel nicht gefiel. Davon konnte er Bauchschmerzen kriegen. In solchen Augenblicken konnte er sich unmöglich vorstellen, woran Samuel dachte.
Es könnte natürlich Mama Jenny sein, die eines Tages einfach verschwunden war. Das könnte Samuel genauso traurig machen, wie es Joel traurig machte.
Oder dachte er vielleicht an das Meer, das er auch heute wieder nicht sehen würde? Zwischen all den Kiefern und Tannen, die er fällte und dann von den Zweigen befreite und entrindete.
»Träum nicht«, sagte er. »Sonst kommst du zu spät zur Schule.«
»Ich geh, wenn ich meine Stiefel geschnürt hab«, antwortete Joel.
»Jetzt ist es wieder Winter«, sagte Samuel seufzend. »Und der Winter wird sicher lang, dunkel und kalt.«
»Wir können ja wegziehen«, antwortete Joel. »Morgen.«
»Wenn das so einfach wäre«, sagte Samuel. »Aber das ist es nicht.«
Dann ging er. Joel hörte seine Schritte auf der Treppe. Unten schlug die Haustür zu.
Joel schnürte seine Stiefel. Zog die Jacke an, setzte sich die Mütze auf und legte den Schal um. Die Fäustlinge konnte er nicht finden. Er musste sich entscheiden entweder nach ihnen zu suchen oder zu spät zur Schule zu kommen.
Er entschied sich gegen die Fäustlinge. Noch war der Winter nicht sehr kalt. Er hatte ja gerade erst angefangen.
Joel beschloss auch das Fahrrad stehen zu lassen. Es konnte ein schönes Gefühl sein, zum ersten Mal in Winterstiefeln zu gehen und den dünnen Pulverschnee aufzuwirbeln. Aber schon während er die Treppe hinunterging, merkte er, dass die Stiefel zu eng geworden waren. Er brauchte ein Paar neue. Aber wie sollte er Samuel davon überzeugen? Schuhe waren teuer.
»Es ist teuer, arm zu sein«, pflegte Samuel zu sagen. Joel glaubte fast zu verstehen, was er damit meinte.
Er kam auf die Straße. Es war immer noch dunkel. Nur ein grauer Streifen Licht sickerte auf die Tannenwälder nieder, die rund um den Ort Wache standen.
Die Schule wartete. Frau Nederström war bestimmt schon gekommen. Wenn er sich beeilte, würde er es noch rechtzeitig schaffen.
Er wirbelte Schnee mit seinen Füßen auf und dachte an den Abend, an dem er sich selbst feierliche Neujahrsgelübde geben würde.
Der Winter hatte ihn in diesem Jahr erneut hereingelegt. Aber eigentlich machte das nichts.
Das Wichtigste war, dass das neue Jahr begonnen hatte.
Auf dem Heimweg von der Schule kaufte Joel Blutwurst.
Fast immer musste er einkaufen, weil Samuel spät aus dem Wald nach Hause kam. Joel kochte, wusch ab und kaufte ein, Tag für Tag. Samuel dagegen putzte und wusch die Wäsche. Das machte er immer samstags, bevor sie sich hinsetzten und Radio hörten.
Joel kaufte nicht gern ein. In Ehnströms Lebensmittelladen musste er sich mit Frauen drängeln, die sich nie entscheiden konnten, was sie eigentlich wollten. Hatte er Pech, stieß er mit einer der Mütter seiner Klassenkameraden zusammen.
Im letzten Jahr hatte er jedoch eine große Veränderung durchgeführt. Er hatte angefangen nur jeden zweiten Tag einzukaufen. Außerdem kaufte er immer die gleichen Waren am gleichen Wochentag. Alles, damit es schneller ging.
Montags gab es Blutwurst mit Kartoffeln. Dazu Preiselbeeren, die Samuel und er im Herbst pflückten und einkochten.
Ausgerechnet an diesem Montag war nicht alles wie sonst bei Ehnströms. Das merkte Joel sofort, als er den Laden betrat.
Ehnström hatte eine neue Verkäuferin. Normalerweise verkaufte Ehnström selber oder seine Frau Klara. Jetzt stand eine andere Frau hinterm Tresen. Aber es war auch keine richtige Frau. Sie war jünger als eine Frau. Joel hatte sie noch nie gesehen. Das machte ihn für einen Augenblick verlegen.
»Blutwurst«, sagte er mit energischer Stimme, als er an der Reihe war.
Sie stand auf der anderen Seite des Tresens und lächelte.
»Wie viel?«, fragte sie.
»Für zwei Personen.« Joel antwortete, wie er immer antwortete.
»Wenn man sich vorstellt, dass der Junge allein mit seinem Vater lebt und den Haushalt selber macht«, hörte er jemanden hinter seinem Rücken sagen.
Joel drehte sich blitzschnell um. Eine große, dicke Frau hatte das gesagt. Ihr Gesicht war schweißbedeckt und sie war die Mutter eines Mädchens, das in Joels Klasse ging. In dem Augenblick verabscheute er Mutter und Mädchen. Natürlich hatte sie ihrer Mutter erzählt, dass er keine Mama hatte. Und natürlich musste die dastehen und mit Schweiß im Gesicht der neuen Verkäuferin etwas erzählen, was sie gar nichts anging.
Joel merkte, dass er rot wurde. Er wurde immer rot, wenn er wütend war.
»Trotzdem ist er sehr tüchtig«, sagte die dicke Frau.
Joel wünschte, sie würde platzen und auf der Stelle sterben. Die Verkäuferin lächelte. Aber sie sagte nichts. Sie wog die Blutwurst ab. Joel bezahlte. Die ganze Zeit fürchtete er, die dicke Frau, die hinter ihm stand und ihren dicken Bauch in seinen Rücken drückte, würde noch etwas sagen.
Aber das tat sie nicht.
Als Joel wieder auf der Straße war, merkte er, dass er sich schämte. Er wollte nicht einkaufen. Er wollte nicht mehr seine eigene Mama sein. Aber außerdem wollte er sich rächen. Die dicke Frau war natürlich nicht tot umgefallen, wie er es gewünscht hatte. Es war, wie er ja schon immer gesagt hatte: Die Erwachsenen wussten nicht, was zu ihrem eigenen Besten war.
Er überquerte die Straße und stellte sich mitten zwischen zwei Straßenlaternen, wo es dunkel war. Ihm war kalt an den Händen, er hatte ja keine Handschuhe. Die Papiertüte mit der Blutwurst stopfte er in die Innentasche seiner Jacke. Eigentlich müsste er sich beeilen. Das Essen sollte möglichst fertig sein, wenn Samuel nach Hause kam. Außerdem war Silvester. Er musste noch viel für den Abend vorbereiten.
Aber er konnte die alte Ziege nicht vergessen, die ihn vor der neuen Verkäuferin blamiert hatte.
Er fragte sich, wer sie war. Vielleicht Ehnströms Tochter? Als er die Blutwurst bezahlte, hatte er sie heimlich angesehen. Sie war jünger, als er zunächst geglaubt hatte. Er tippte auf fünfundzwanzig Jahre, obwohl er sich oft im Alter der Menschen täuschte. Von Frau Nederström hatte er geglaubt, sie sei neunzig. Aber jemand hatte ihm zu seiner großen Überraschung erzählt, dass sie noch nicht mal fünfzig war.
Da war noch etwas anderes an der neuen Verkäuferin, was ihn neugierig machte. Sie sprach anders. Sie war nicht von hier. Ohne ganz sicher zu sein riet er, dass sie aus Stockholm kam, von so weit her. Letztes Jahr im Sommer hatte ein Zirkus im Ort gastiert. Joel hatte wie üblich geholfen Stühle zu tragen und das Zelt aufzurichten, um an eine Freikarte zu kommen. Er hatte etwas für einen der Zirkusarbeiter erledigt. Kaffee hatte er gekauft. Der Zirkusarbeiter war aus Stockholm und sprach einen sehr energischen Dialekt. Die neue Verkäuferin bei Ehnströms sprach genauso. Wenn er sich richtig erinnerte.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, weil die dicke Frau aus dem Laden kam. Joel presste die Zähne zusammen und hoffte, so sehr er konnte, dass sie auf der Treppe ausrutschen und sich zu Tode stürzen würde. Aber das tat sie natürlich nicht. Nur unschuldige Menschen rutschten aus und kamen zu Tode. Niemals richtig schlimme Verbrecher. Dicke Frauen, die über Sachen redeten, die sie nichts angingen, auch nicht.
Joel sah, wie sie ihre Tasche an den Lenker eines Tretschlittens hängte. Er war braun gestrichen und hatte ganz vorn an den Kufen sehr ungewöhnliche Spitzen.
Joel prägte sich den Schlitten ein. Er wusste, wo die Frau wohnte. Bei einem seiner Ausflüge abends durch den Ort würde er gegen ihren Schlitten pinkeln.
Er sah sie um die Straßenecke verschwinden. Immer noch war sie nicht geplatzt. Joel lief nach Hause. Ihn fror. Seine Hände waren ganz weiß. Unterwegs dachte er an die neue Verkäuferin bei Ehnströms.
Als er nach Hause kam und sich die Stiefel ausgezogen hatte, setzte er die Kartoffeln auf. Dann kroch er auf sein Bett und rieb sich die Zehen. Sie taten weh. Die Stiefel waren wirklich zu eng. Er überlegte, ob er humpeln sollte, wenn Samuel nach Hause kam. Oder sich vielleicht über den Fußboden schleppen? Als ob seine Füße in den zu engen Stiefeln lahm geworden wären. Dann konnte Samuel kaum anders, dann musste er ihm neue kaufen.
Joel beschloss bis zum nächsten Tag zu warten. Dann würden die Stiefel auch noch zu eng sein. Heute Abend hatte er so viel anderes zu erledigen, was wichtiger war.
Während er darauf wartete, dass die Kartoffeln gar wurden, ging er in die Toilette und betrachtete sein Gesicht in Samuels Rasierspiegel. Das hatte er sich so angewöhnt. Ein Neujahrsgelübde, das er vor einem Jahr abgelegt hatte. Dass er sein Gesicht jeden Nachmittag im Spiegel betrachten wollte. Er wollte untersuchen, wie es sich veränderte. Aber jetzt, nach einem Jahr, fand er, er sähe immer noch gleich aus. Im Spiegel konnte er nicht entdecken, dass er größer geworden war. Er konnte auch nicht sehen, dass die Füße zu groß für die Stiefel geworden waren. Er hätte lieber einmal am Tag seine Füße begucken sollen. Aber wer beguckte schon seine Füße im Spiegel?
Joel prüfte die Kartoffeln mit einer Gabel. Noch fünf Minuten. Während er wartete, deckte er den Tisch. Manchmal stellte er einen dritten Teller dazu. Wie zur Probe. Als ob Mama Jenny doch noch da wäre. Er überlegte, wo sie sitzen würde. Zwischen ihnen? Oder auf seinem eigenen Platz nah beim Herd? Er entschied, dass sie dort sitzen würde. Sie wäre diejenige, die das Essen vom Herd holt.
Als alles fertig war, die Blutwurst gebraten und mit einem Deckel abgedeckt, damit sie nicht kalt wurde, die Preiselbeermarmelade aus dem Vorratsschrank geholt war, musste er nur noch auf Samuel warten. Joel machte es wie immer. Er setzte sich in die Fensternische und sah auf die Straße hinaus. Dort hatte er gesessen, solange er sich erinnern konnte. Von diesem Fenster hatte er einmal den geheimnisvollen Hund gesehen. Dort saß er, wenn er schwere Entscheidungen treffen musste. Oder wenn er traurig war.
Eigentlich war diese Fensternische sein Zuhause. Wie die Glasvitrine »Celestines« Zuhause war.
Joels Glasvitrine war die Fensternische. Das war sein Haus auf dieser Welt.
An diesem Platz hatte er auch zum ersten Mal begriffen, dass er sich wirklich veränderte. Er wurde größer. Die Fensternische wurde langsam zu eng für ihn. Früher hatte er immer genügend Platz gehabt.
Er war ein Mensch, der wuchs.
»Celestine« war ein Modellschiff, das niemals wachsen würde.
Ihre Masten würden niemals durchs Glas dringen.
Joel versuchte zu erkennen, ob es wieder angefangen hatte zu schneien. Der Himmel war bewölkt. Und schwer. Wie eine aufgespannte Plane, die durchhing von all dem Schnee, der auf ihr lastete. Wenn diese Plane riss, begann all der Schnee zur Erde zu fallen.
Natürlich wusste Joel, dass es nicht so war, wie er dachte. Da oben gab es keine Plane. Schnee war Regenwasser, das zu Schnee gefroren war.
Im Sommer fiel warmer Regen, im Winter kalter.
Aber die Vorstellung von der Plane war besser. Leichter zu verstehen.
Dann sah er Samuel kommen. Ein Schatten auf der anderen Straßenseite.
Ein Schatten mit krummem Rücken.
Nach dem Mittagessen ging Joel in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Er hörte Samuel Kaffee kochen und wie er sich dann ans Radio setzte und die Nachrichten hörte. Joel hatte viel vorzubereiten. Seine Gelübde für das neue Jahr legte man nicht mal eben so ab. Es musste genau um Mitternacht geschehen. Da er spät auf sein würde, legte er sich ins Bett und deckte sich zu. Am besten wäre gewesen, wenn er ein paar Stunden hätte schlafen können. Sicherheitshalber stellte er den Wecker auf dreiundzwanzig Uhr und legte ihn unter die Bettdecke.
Plötzlich merkte er, dass es im Innern der Wand knabberte, ganz nah an seinem Ohr. Er drückte die Wange gegen die kalte Tapete. Jetzt war die Maus deutlich zu hören. Sie war nur einen Zentimeter von ihm entfernt. Trotzdem wusste sie nicht, dass Joels Wange so nah war. Joel klopfte mit dem Fingerknöchel gegen die Wand. Die Maus wurde still. Dann begann sie wieder zu knabbern. Joel lauschte weiter. Bald war er eingeschlafen.
Als der Wecker unter der Decke klingelte, dauerte es eine ganze Weile, ehe Joel wirklich wach war. Dann erinnerte er sich an das, was er geträumt hatte, wie er selbst drinnen in der Wand gewesen war und nach der knabbernden Maus in einem komplizierten Höhlensystem zwischen den Holzbalken gesucht hatte.
Aber jetzt war es still. Die Maus war nicht mehr zu hören. Nur Samuels Schnarchen drang ins Zimmer.
Joel richtete sich auf. Er musste sich mit den Armen abstützen und schlief trotzdem fast wieder ein. Als ihm die Augen zufielen, zuckte er zusammen, als ob er sich verbrannt hätte. Er ging zum Fenster, öffnete es einen Spalt und kratzte ein bisschen Schnee vom Fensterblech. Dann holte er tief Luft und rieb sich das Gesicht mit dem Schnee ein.
Jetzt war er richtig wach. Er spähte in die Nacht hinaus. Der Himmel war ganz klar geworden, während er schlief. Die Sterne funkelten.
Vorsichtig machte er das Fenster wieder zu, zog sich an und tappte mit dem Rucksack in der Hand in die Küche. Er schlüpfte in seine Jacke und nahm Schal und Mütze. Seine Fäustlinge hatte er wiedergefunden, während er darauf wartete, dass die Kartoffeln gar wurden. Er hängte sich den Rucksack über, nahm die Gummistiefel in die Hand und glitt lautlos zur Tür hinaus.
Samuel schlief. Sein Schnarchen kam und ging in Wellen. Joel mied die knarrenden Treppenstufen, die vierte, fünfte und zwölfte. Dann schob er die Haustür auf.
Die Nacht war kalt.
Er ging auf den Hof hinaus und sah zum Sternenhimmel auf.
Es war wirklich wie ein richtiger Silvesterabend.
Dann ging er durch das Gartentor und weiter auf den Platz zu, den er ausgewählt hatte.
Auf dem Friedhof wollte er seine Gelübde ablegen.