Jenseits der Eisenberge
von Sandra Gernt
© dead soft verlag, Mettingen 2012
© the author
Cover: M. Hanke
Coverbild: © Phil Daub – fotolia.com
1. Auflage print
ISBN 978-3-943678-03-1 (print)
ISBN 978-3-943678-05-5 (epub)
Für Ralph, ohne den alles ohne Sinn wäre.
Ich liebe dich.
Er zögerte. Alles in ihm wehrte sich dagegen, in dieses finstere Verlies hinabzusteigen. Doch es gab keine andere Möglichkeit. Der Priester vor ihm winkte ungeduldig, hastete dann weiter die Steintreppe hinunter. Er folgte ihm langsamer. Noch immer war er stark, ein Krieger, der sein Leben lang Geist und Körper geformt hatte. In diesem Augenblick fühlte er sich alt, als wäre die Last all der vielen Jahre, die er bereits gesehen hatte, mit einem Schlag auf ihn niedergegangen.
Der dumpfe, feucht-modrige Geruch, der jedem Kerker anhaftete, wehte ihm entgegen, als er tiefer stieg. Er spürte den schimmeligen Belag an den Wänden unter seinen Fingern, doch das musste er hinnehmen; er musste sich abstützen, wollte er diesen Weg bis zu seinem Ende gehen.
„Beeilt Euch!“, zischte der Priester wütend, das Gesicht verzerrt vor innerer Anspannung.
Beide Männer fuhren zusammen, als sie einen fernen Schrei hörten.
„Nun eilt Euch!“, befahl der Priester noch einmal, diesmal etwas sanfter, und lief dann wieder voraus.
Er blickte kurz zurück. Noch konnte er fliehen. Noch war es nicht zu spät.
Aber das durfte und wollte er nicht. In den unzähligen Schlachten, die er geführt hatte, war er kein einziges Mal fortgelaufen. Vor keinem Feind hatte er sich gebeugt, egal wie groß die Angst gewesen sein mochte. Mit zusammengebissenen Zähnen betrat er den düsteren Gang, vermied es dabei sich auszumalen, was hinter den schweren, eisenbeschlagenen Türen der Verliese liegen mochte, die sich hier aneinanderreihten. Wie viele ungehörte Schreie bereits an diesen Mauern zerschellt waren.
„Hierher!“ Der Priester packte ihn unvermittelt am Arm und zog ihn durch eine Tür, wo Augenblicke zuvor nichts als nackte Felswand gewesen zu sein schien.
Er musste sich ducken, der Geheimgang war nicht für seine mächtige Gestalt gebaut worden. Der Priester befand sich nun hinter ihm und verschloss die verborgene Tür. Völlige Dunkelheit umgab sie, was sein Herz stärker zum Klopfen brachte, als er sich selbst eingestehen wollte. Unsicher tastete er über roh behauenes Gestein, bis der Gang sich endlich weitete und er den Raum betrat, von dem der Priester zuvor gesprochen hatte. Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und wartete, bis der Geweihte eine Laterne entzündete. Schwaches Licht erhellte die Kammer, die kaum groß genug für sie beide war; dazu vollkommen leer, abgesehen von einem Schemel an der Stirnwand.
„Setzt Euch, und kein Laut, sonst sind wir alle verloren!“, wisperte der Priester. Einen Moment lang wünschte er diesem Geweihten die blaue Robe zu entreißen und solange auf ihn einzuprügeln, bis er niemals wieder auf dieser Welt einen Laut von sich geben würde. Doch er wusste, der Priester war nicht sein Feind.
Die wenigen Schritte bis zu dem Schemel schienen ihm so schwer, als müsste er zu einem Galgen hinaufsteigen. Als er endlich saß, presste er die Stirn gegen die Wand und blickte durch die Sehschlitze, die ihm ungehinderte Sicht in die Kerkerzelle gewährten, die hinter dieser Mauer lag, lediglich von einer fast abgebrannten Fackel erhellt.
Das Ritual hatte noch nicht begonnen, stellte er sofort fest. Wie sehr hatte er gewünscht, zu spät zu kommen, um es nicht mit ansehen zu müssen! Nun gab es kein Zurück mehr. Unter keinen Umständen würde er aufstehen, bevor es vorbei war, und wenn das Schloss um ihn herum einstürzen sollte!
Der Gefangene lag keinen halben Schritt von ihm entfernt auf der nackten Erde. Er war bewusstlos, man hatte ihn brutal geschlagen. Nur die mühsamen Atemzüge bewiesen, dass er noch lebte.
Er biss sich auf die Fingerknöchel, um nicht laut über den Anblick dieser elenden Gestalt zu schreien; die Wunden seines entblößten Leibs waren unversorgt, und, wie er genau wusste, hatte man dem Gefangenen in den vier Tagen seit seiner Verhaftung kein Essen und nur wenig Wasser erhalten. Er rührte sich nicht, als sich die Kerkertür öffnete und vier schemenhafte Schatten hereindrängten. Fackeln wurden entzündet und an den Wänden verteilt und beleuchteten die Roben der Geweihten, die nach dem Gefangenen griffen und ihn gemeinsam auf das Holzpodest legten, das sich in der Mitte des Verlieses befand. Das lange, verfilzte schwarze Haar glitt vom Gesicht des Besinnungslosen, als er wenig behutsam abgelegt, dann an Hand- und Fußgelenken gefesselt wurde. Der Gefangene begann sich zu regen; er unterdrückte einmal mehr einen verzweifelten Schrei beim Anblick all des Schmerzes in diesem Gesicht, das er so sehr liebte. Stöhnend schaute der Gefangene auf zu der Priesterin in brauner Kutte, die sich mit einem Becher in der Hand über ihn beugte.
„Trink das“, befahl sie ihm, hielt ihm den Becher an die Lippen, während einer der beiden Geweihten in der blauen Tracht des Himmelsvaters ihm half, den Kopf zu heben.
Er wusste, dieser Trank würde nicht die Schmerzen lindern, sondern nur dafür sorgen, dass der Gefangene für die gesamte Dauer des Rituals bei Bewusstsein blieb.
„Er ist zu kalt“, sagte die Priesterin, ohne die Stimme zu heben. Die zweite Geweihte der Erdmutter, die sich bislang still im Hintergrund gehalten hatte, wandte sich sofort um, eilte aus dem Verlies und kehrte rasch mit einer schmutzigen Decke zurück, die man gnädig über den zerschundenen Körper breitete.
„Was habt ihr vor?“, fragte der Gefangene heiser. Sein Blick irrte zu der Wand, hinter der er sich verbarg – hatte er sich durch einen Laut verraten? Es machte ihn stolz zu sehen, dass die Folter diesen Mann nicht hatte brechen können; das Feuer, das schon immer in den dunklen Augen geleuchtet hatte, brannte mit unverminderter Kraft.
Keiner der Geweihten gab Antwort. Stattdessen befestigten sie Lederriemen an seinem Kopf, bis er sich nicht mehr rühren konnte.
Einer der männlichen Priester drehte kurz den Kopf in die Richtung, wo sich die Sehschlitze befanden, und nickte ihm zu. Es war derjenige, der ihn in den Geheimgang geführt hatte. Nun zog er ein unscheinbares silbernes Amulett aus seiner Robe und legte es auf die Stirn des Gefangenen, genau zwischen seine Augen.
„Was macht ihr mit mir?“, rief er. Angst lag in seiner vom Schreien rauen Stimme. Niemand gab ihm Antwort.
„Die große Mutter schenkt uns allen ein Leben. Aus ihrem Leib gehen wir hervor. In ihren Leib kehren wir zurück“, intonierten beide Priesterinnen gemeinsam und zeichneten mit einer dunklen Paste etwas auf die rechte Wange des Gefangenen, was der alte Mann nicht sehen konnte.
„Der große Vater schenkt uns allen Erkenntnis. Sein Geist segnet unser Dasein“, sprachen die zwei Priester zugleich und ließen einige Tropfen einer Flüssigkeit auf den Gefesselten niederregnen.
Dann legten alle vier einen Finger auf das Amulett und begannen in einer fremden Sprache zu murmeln. Eine fühlbare Spannung baute sich auf, die auch ihn als Beobachter erfasste und ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Das Amulett begann, aus sich selbst heraus in einem warmen Licht zu leuchten und zu pulsieren. Rasch, aber gleichmäßig, wie ein Herz, das voller Angst dahinjagte.
„Was du warst, was du bist, die Geschichte deines Lebens wird bewahrt bleiben“, flüsterten die Priester, wechselten danach wieder in die fremdartige Sprache, die er noch nie zuvor gehört hatte. Der Gefangene, der bis dahin starr dagelegen hatte, mit angstvoll geweiteten Augen und abgehackten Atemstößen das Ritual ertragen hatte, begann plötzlich zu schreien. Ein hoher, schriller Laut, wie von einem Tier, das aufgeschlitzt wurde. Es zerriss ihm das Herz, doch er konnte sich nicht abwenden. Er sah, wie sich das Opfer in seinen Fesseln wand, sich aufzubäumen versuchte. Dann brach der Schrei ab, so unvermittelt, dass die nachfolgende Stille unerträglich schien. Die vier befreiten den nun reglos daliegenden Mann von allen Fesseln und traten zurück. Das silberne Amulett verschwand im Ärmel eines der Geweihten.
„Sag deinen Namen!“, befahl die Priesterin, die das Ritual zu leiten schien.
Der Blick des Gefangenen blieb leer, das Gesicht ausdruckslos.
„Sag deinen Namen!“, wiederholte sie.
„Ich … weiß nicht“, wisperte der Mann, so leise, dass es kaum zu hören war.
Zufrieden nickten die Priester sich zu, hoben ihn von dem Podest und legten ihn zurück auf den Boden. Er starrte unbewegt ins Leere, wie eine zerstörte Puppe, die achtlos in eine Ecke geworfen worden war.
„Lasst ihm die Decke“, bestimmte die Priesterin. „Ich werde das mit dem Kerkermeister besprechen.“ Damit ergriffen sie ihre Fackeln und verließen den Raum, der nun in vollkommener Finsternis versank.
Er blieb still sitzen, bis sich ihm eine Hand auf die Schulter legte, und folgte dem Priester. Hinaus auf den Gang, die Treppe hoch, bis sie wieder in der großen Halle angelangt waren, die zu dieser nächtlichen Stunde verlassen und dunkel dalag.
„Er wird sicher sein, Herr“, flüsterte der Geweihte.
„Ich danke Euch“, erwiderte er, zu erschöpft, um Wut zu empfinden, oder Verzweiflung. Oder überhaupt irgendetwas.
„Habt Vertrauen. Ich werde das Amulett weitergeben, wie ich es versprochen hatte. Geht nun, versucht zu schlafen.“ Der Priester schien mit den Schatten zu verschmelzen, so lautlos und rasch verschwand er.
Er ließ seine Füße den Weg zurück zu seinen Gasträumen wählen. Er vertraute den Priestern, die so viel riskiert hatten, indem sie sich dem Willen des Königs widersetzten. Doch demjenigen, der seinen Sohn retten sollte, würde er niemals vertrauen. Es gab nur wenige Menschen, die er noch lieber tot sehen wollte als ihn.
„Herr?“
Der junge Mann rührte sich nicht, sondern visierte weiterhin konzentriert mit seinem Langbogen die Zielscheibe in mehr als vierhundert Schritt Entfernung an. Lyskir von Corlin, Erbe von Lichterfels, Herr der Weidenburg und zukünftiger Thronfolger – all dies waren Titel, die zu ihm gehörten. Ihn interessierte im Augenblick nur der winzige schwarze Fleck in der Mitte der Scheibe, den er aufgrund der großen Distanz nicht mehr wahrhaftig sehen konnte. Er wusste lediglich, dass er dort war, das genügte ihm. Seit zwei Jahren bildete er seine Soldaten an dieser Waffe aus, die in Onur kaum genutzt wurde; dadurch gehörten seine Männer mittlerweile zu den besten Bogenschützen des ganzen Kontinents. Der übrige Adel betrachtete den Bogen als reine Jagdwaffe. Ihn im Kampf einzusetzen galt als unehrenhaft und feige, nur das Schwert war eines wahren Kriegers würdig und allenfalls Söldner durften ihrer Meinung nach einen Bogen oder gar eine Armbrust benutzen.
Lys hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Ehre ein Luxus war, den man sich bei einem ehrlichen Duell erlauben konnte. Wer überleben wollte, wenn die Feinde aus dem Hinterhalt und in Überzahl angriffen, kam mit Feigheit weiter.
Er entließ den Pfeil, der einen sanften Bogen beschrieb und ins Schwarze traf, wie die rote Flagge des Helfers bewies, die sofort hochgereckt wurde. Erst danach wandte er sich dem Mann zu, der mit schlecht verborgener Ungeduld auf ihn wartete.
„Was gibt es, Foryth?“
„Herr, wir haben einen Eindringling gefangen genommen. Erst dachten wir, es sei einfach nur ein Landstreicher, der etwas zu Essen stehlen oder erbetteln wollte, aber dann fanden wir das hier bei ihm.“ Er streckte Lys einen Dolch entgegen. Ein wahres Prachtstück, dessen silberner Griff wie ein springender Löwe geformt worden war. Einen Moment lang schloss Lys die Augen. Dieser Dolch gehörte Kirian.
Dem Mann, den er mehr liebte als sein eigenes Leben.
Kaum jemand wusste, dass der gefürchtete Sheruk, der Anführer einer Räuberbande, in Wahrheit ein geächteter Hochadliger war. Es gab unzählige Legenden und Erzählungen über die angebliche Feindschaft zwischen dem jungen Fürst Lyskir und dem Räuber. Das Volk genoss es, wie Kirian immer wieder den Häschern entkam, die Lys zu seiner angeblichen Verfolgung aussandte. In den Legenden, von denen Lys und Kirian viele selbst erfunden hatten, spielte der Dolch eine entscheidende Rolle. Er galt als das einzige sichere Erkennungsmerkmal, da es von Kirian wenigstens ein Dutzend voneinander abweichende Beschreibungen gab.
„Wir glauben nicht, dass der Gefangene selbst Kirian ist, Herr. Es ist ein junger Bursche, jünger als Ihr, und viel zu dürr für einen Sheruk. Aber der Dolch hier ist keine der billigen Fälschungen, die überall auftauchen, also wird er vielleicht etwas über Kirian wissen?“ Der Soldat – ein untersetzter Mann mittleren Alters, der mit zu den Elitebogenschützen gehörte – zeigte mit keiner Bewegung, dass er die Gefühlsregung seines gewöhnlich eisern beherrschten Fürsten bemerkt hatte. Foryth gehörte nicht zu den wenigen Eingeweihten: Er glaubte wie die meisten fest daran, dass Lys vor zwei Jahren von Kirian entführt und erbarmungslos gefoltert worden war. Nun, Folter hatte Lys ertragen müssen, doch von anderer Hand, und Kirian war derjenige gewesen, der ihn gerettet hatte.
Für einen Moment spiegelte sich Mitgefühl in Foryths grauen Augen. Er wusste um die Narben, die sein Herr vor der Welt verbarg, auch wenn er die wahre Geschichte nicht kannte.
Lys fühlte sich stets wie ein Verräter, wenn er sah, wie wirksam seine Lügen tatsächlich waren. Manchmal war er selbst nicht mehr sicher, an welche der unzähligen Facetten der Wahrheit er glauben sollte … Und ob er überhaupt noch Mitgefühl verdient hatte, so, wie er alle Menschen belügen und täuschen musste, gleichgültig, wie viele Wunden er dadurch schon davongetragen hatte; denn hätte er sich niemals gegen sein Schicksal gestemmt, wäre er nicht auf diese Weise verletzt worden.
Lys schlang sich Bogen und Köcher mit mechanischen Bewegungen über die Schulter, wischte sich die dunkelblonden Haare aus der Stirn und folgte dem Wächter zurück zur Weidenburg. Seine Gedanken rasten. Im Augenblick sollte Kirian sich eigentlich über zweihundert Meilen südwestlich von hier aufhalten, in der Provinz Urrat. Dort gab es Unruhen, der Landesherr wollte sich vom Königreich lossagen. Genau der richtige Ort für Kirian und seine Männer, ein wenig an ihrer Legende zu arbeiten und spektakuläre Scheinangriffe gegen königliche Soldaten zu führen – und zugleich die Absichten des Grafen zu prüfen. Möglicherweise konnte er ein wertvoller Verbündeter für Lys werden, dessen politische Lage weiterhin gefährlich war. König Maruv war nur einer von seinen Feinden, er musste sich vor allem gegen seinen Schwiegervater, Fürst von Lichterfels, behaupten, und sein eigener Vater misstraute ihm. Erebos von Corlin wusste zwar nicht, dass Lys es gewesen war, der Roban getötet hatte, seinen eigenen Bruder; der Verlust seines Lieblingssohns und Erbens aber hatte den alten Mann gebrochen und dem schon immer schlechten Verhältnis zu Lys noch mehr geschadet.
Lys betrachtete den Dolch in seiner Hand. Wie beim dreigehörnten Schattenfresser kam Kirians Waffe in den Besitz irgendeines Jungen?
„Ist der Gefangene bereits verhört worden?“
„Nein, Herr. Er befindet sich im Verlies, wir haben ihn lediglich durchsucht und in Ketten gelegt.“ Lys nickte und eilte im Sturmschritt über die Verteidigungswälle in die Burg hinein. Er hatte viel Kraft und Zeit investiert, um die Weidenburg zu einer uneinnehmbaren Festung auszubauen, nachdem es Söldnern gelungen war, hier einzudringen und verheerenden Schaden anzurichten. Zwar wäre es den Männern ohne den Verräter, der ihnen die Tore geöffnet hatte, weitaus schwerer gefallen, die Mauern zu erobern, aber Lys wollte alles in seiner Macht Stehende versuchen, dass es niemals mehr soweit kam. Sein eigener Bruder hatte den Überfall befohlen … Roban. Noch immer hatte Lys diesen Schmerz nicht überwunden. Schnell drängte er die Erinnerung zurück.
Während er über den Burghof marschierte, suchte sein Blick unwillkürlich nach Schwachpunkten, nach Fehlern und Nachlässigkeiten. Doch die wachhabenden Gardisten waren aufmerksam, die Knechte und Mägde in Ställen und Küche fleißig, alles war sauber und ordentlich. Lys war stolz auf die Wassersysteme, die er hatte einbauen lassen, nachdem er sie bei einem verbündeten Adligen an der Nordküste kennen und schätzen gelernt hatte: Weidenburg besaß Rohre und Kanäle, die frisches Wasser von einem nahen See mittels Wasserräder in die Burg beförderten und die Abwässer in eine Sickergrube schwemmten. Im Winter konnte das Wasser in Kesseln aufgefangen, erwärmt und dann durch Rohre geleitet werden, die dicht unterhalb des Steinfußbodens eingebaut worden waren.
Alle hatten Lys für verrückt erklärt, als er „halb Weidenburg abgerissen hatte“, wie man ihm spöttisch unterstellte. Bis sie im Winter den warmen Fußboden bestaunen, die Sauberkeit in allen Fluren genießen, die Vorteile von schnell verfügbarem Wasser erkennen konnten. Einige Adlige hatten bereits begonnen, ihre unbequemen Burgen umzubauen. Lys hatte Pläne, für seine Bauern Wasserleitungen zu erschließen, um die Bewässerung der Felder zu vereinfachen. Das würde nicht nur die Ernten verbessern, sondern auch sein Ansehen beim Volk weit über die Grenzen von Weidenburg hinaus. Nichts brauchte er im Moment dringender, denn seine Feinde verbreiteten unermüdlich Gerüchte, dass er ein kaltblütiger Intrigant war, der jeden, der ihm hinderlich war, umbringen ließ.
„Ihr wartet hier draußen“, befahl er Foryth und den beiden Wächtern, die vor der Kerkertür Posten bezogen hatten.
„Seid Ihr sicher, Herr? Er kann Euch nichts anhaben, aber es ist fast noch ein Kind – ihn zu befragen wird nicht angenehm …“
„Ihr wartet hier“, wiederholte Lys mit Nachdruck. Die Männer gehorchten ohne weitere Frage und händigten ihm die Schlüssel aus. Wenn er diesen finsteren Tonfall annahm, wagte niemand mehr zu widersprechen. Daran hatte er jahrelang gearbeitet!
Lys schloss die schwere Eisentür sorgfältig von innen ab. Die Wächter hatten keine Möglichkeit zu beobachten, was nun in diesem Raum geschah, und konnten nur etwas belauschen, wenn es laut genug herausgeschrien wurde. Er hörte das Klirren der Ketten, mit denen der Gefangene hilflos an die gegenüberliegende Wand gebunden worden war, mit dem Rücken zur Tür. Die Angst, die von ihm ausging, da er nicht wusste, wer sich ihm nun näherte, oder was mit ihm geschehen sollte, berührte Lys tief. Er hatte den Gefangenen mit einem Blick erkannt und eilte rasch an seine Seite. Als er ihm eine Hand auf die bloße Schulter legte, zuckte der junge Mann hastig atmend vor ihm zurück, versuchte dabei seinen Kopf schützend abzuwenden.
„Onkar, dir geschieht nichts“, flüsterte Lys.
Der Räuber, das jüngste Mitglied von Kirians Bande, fuhr zu ihm herum. Die roten Locken, die ihn verraten hatten, hingen ihm schweißnass in die Stirn und es war nicht zu übersehen, dass er sich gegen seine Gefangennahme gewehrt hatte: Zahlreiche Schrammen und Blutergüsse an Gesicht und dem entblößten Oberkörper bewiesen es deutlich.
„Lys, oh ihr Götter!“, stammelte er tränenerstickt.
„Bleib still, ich mache dich los. Du musst leise sein, die Wächter dürfen nichts davon wissen, was hier drinnen geschieht!“ So lautlos wie möglich befreite Lys Onkar von seinen Ketten und half ihm, sich hinzusetzen. Der junge Mann hörte nicht auf zu zittern, also legte ihm Lys seinen eigenen Umhang über und zog ihn nach einem Moment des Zögerns zu sich an die Schulter. Einige Minuten verharrten sie so, in denen Onkar schniefend um seine Selbstbeherrschung rang.
„Tut mir leid“, flüsterte er immer wieder, doch Lys hielt ihn einfach nur fest und wartete geduldig, obwohl er am liebsten laut geschrien hätte. Irgendetwas Schlimmes musste vorgefallen sein, warum sonst hätte Kirian seinen Dolch fortgegeben und den Jungen in Gefahr gebracht? Kirian wusste, dass die Soldaten der Weidenburg extrem nervös und wachsam waren.
„Was ist geschehen?“, fragte Lys schließlich mühsam beherrscht, als Onkar sich etwas beruhigt hatte. „Warum trägst du den Dolch und kommst allein hierher?“
„Albor hat ihn mir gegeben. Er sagte, wenn man mich erwischt, wird das Ding dafür sorgen, dass mir niemand was Ernstes tut und ich sofort hierher gebracht werde; auch weil man ja sieht, ich kann kein Sheruk sein. Er hatte recht.“
„Offensichtlich, von ein wenig Prügel abgesehen. Du hättest schwer verletzt werden können! Oder umgebracht, wenn du dich zu viel gewehrt hättest. Meine Soldaten gehen kein Risiko ein, wir müssen jederzeit auf der Hut vor Spionen sein. Was hat Albor sich dabei gedacht? Was ist mit Kirian geschehen?“ Lys unterdrückte den Impuls, Onkar durchzuschütteln.
„Du musst kommen und helfen. Ich bin Tag und Nacht gerannt, um herzukommen“, stieß Onkar hervor. „Schon vor rund drei Wochen sind wir in Richtung Purna gezogen, Kirian hatte nicht gesagt warum. Wir hatten uns in Sichtweite des Königsschlosses getrennt. Der Sheruk wollte einer Sache nachgehen, wie er sagte. Er ging in seiner Tarnung als Lamár, dem schwarzen Söldner.“ Lys nickte ungeduldig. Er selbst hatte Kirian diesen Namen verliehen, als sie gemeinsam gefangen genommen worden waren. Inzwischen war der angebliche Söldner und Freund des jungen Corlin so bekannt, dass er sich ziemlich ungehindert auf den Ländereien der Adligen bewegen und als Bote von Lys ausgeben konnte.
„Ich weiß nich’, was schief gelaufen ist. Sie haben ihn verhaftet und mitgenommen! Einfach mitgenommen, zusammengebunden wie ein Stück Vieh, nachdem wir fünf Tage nichts von ihm gesehen hatten. Vor zwei Tagen war das.“ Erschöpft sank Onkar in sich zusammen.
„Wer hat ihn mitgenommen? Wohin? Und was wollte Kirian bei Maruv?“, drängte Lys, packte Onkar nun doch heftig an den Armen und rüttelte ihn durch.
„Ich weiß es nicht!“, schrie Onkar verzweifelt, und dann, leiser: „Ich weiß es nicht, wirklich! Der Sheruk hat nich’ gesagt, warum er da hinwollte. Es war eine Reitergruppe, bestimmt dreißig Mann, sie hatten ihn in Ketten auf ’nen Karren gebunden. Er sah schlimm aus. Die haben ihn verprügelt. Ich dachte, der is’ tot, aber Albor sagte, das kann nich’ sein, denn sie hätten ihn nich’ mitgenommen in dem Fall. Es waren zu viele, wir konnten nich’ angreifen, ich schwör’s.“
Lys ballte die Hände zu Fäusten, atmete tief durch. Er musste ruhig bleiben! „Trugen sie ein Wappen? Irgendetwas, woran man sie erkennen könnte? Denk genau nach!“
„Ich weiß es nicht, wirklich, ich weiß es nicht, ich würd’s dir doch sagen! Die waren in Grün gekleidet, und ein weißer Bär und noch ein Eber waren da drauf. Aber Albor sagte, so’n Wappen hat keiner in Onur.“
„Das stimmt.“ Lys schwieg einen Moment, um nachzudenken, dann sprang er hoch und ergriff eine Peitsche, die an einem Haken bereit hing. Onkar wurde blass, als er den geflochtenen Lederriemen sah.
„Zieh dich an!“, befahl Lys kopfschüttelnd und wies in die Ecke, wo man Onkars Hemd und Umhang hatte fallen lassen. „Ich muss dich hier hinausbringen, ohne dass meine Leute unangenehme Fragen stellen. Nur wenige wissen, was mich wirklich mit Kirian verbindet, und so soll es bleiben. Wenn ich dich einfach laufen ließe, obwohl du offensichtlich etwas mit meinem verhassten Feind zu tun hast, würde das Folgen haben.“ Er musterte ihn nachdenklich und nickte schließlich mit einem grimmigen Lächeln. „Meinst du nicht auch, dass die Wand mal wieder dringend abgestaubt werden muss? Sei so gut und leih ihr deine Stimme. Übertreib es nicht, sonst glaubt dir nachher niemand, dass du noch aufrecht gehen kannst. Fünf, sechs Mal, dann bettelst du lauthals um Gnade. Verstanden?“
Onkar starrte ihn mit offenem Mund an, nickte aber folgsam. Lys schwang die Peitsche mit einem Knall gegen die Wand. Onkar schrie, sicherlich teilweise vor Schreck. Jeder, der draußen vor der Tür stand, musste glauben, dass er unbarmherzig gefoltert wurde. Wie verabredet heulte er schon nach wenigen Schlägen auf und brüllte: „Nein, nein!“
„Gut so!“, flüsterte Lys und ließ die Peitsche fallen. „Ich muss dich jetzt in Handfesseln legen. Halt den Kopf unten, geh gebeugt, als hättest du starke Schmerzen, und sollte dich jemand ansprechen – was unwahrscheinlich ist – wimmre einfach nur ängstlich. Sag, kannst du reiten?“
„Mein Vater hatte `ne Pferdezucht, ich kann alles reiten, was mein Gewicht aushält.“ Onkar starrte unglücklich auf die schweren Ketten, mit denen Lys ihm die Arme vor den Körper fesselte, protestierte allerdings nicht. Als Lys sicher war, lange genug gewartet zu haben, zog er den jungen Mann mit sich zur Tür und führte ihn hinaus.
„Gab es Schwierigkeiten, Herr?“, fragte Foryth mit einem forschenden Blick auf Onkar, der mit tief gesenktem Kopf dastand und bei jeder Bewegung unterdrückt stöhnte.
„Im Gegenteil, er war äußerst gesprächig. Ich denke nicht, dass sein Wissen mich zu Kirian führen wird, aber es könnte eine Spur sein.“ Lys sprach mit harter Stimme, er legte so viel Hass wie nur möglich in seinen Blick. „Ruft Tomar. Er findet mich im Stall.“
***
„Lasst mich mit Euch gehen, Herr“, bat Tomar, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Er war der Hauptmann jener Garde, die vor zwei Jahren von Lichterfels abgestellt worden war. Sie gehörten zu den wenigen Menschen, die von Kirians wahrer Identität wussten, und waren Lys treu ergeben. Aus diesem Grund war Tomar auch zum Verwalter von Weidenburg aufgestiegen, als sein Vorgänger in diesem Posten Verrat begangen hatte. Ein Aufstieg, mit dem er selbst niemals gerechnet hätte, nachdem er der Trunksucht verfallen war und eigentlich nur vom Fürst von Lichterfels hergeschickt wurde, um Lys zu blamieren. Er wusste ganz genau, dass Lys dazu neigte, sich leichtsinnig in Gefahr zu begeben, aus Angst, jemand könnte seinetwegen verletzt werden. Gerade wenn es um Kirian ging, scheute Lys kein Risiko. Tomar kannte die Antwort seines Herrn bereits im Voraus:
„Nein, Tomar. Du musst die Burg verwalten und verteidigen, falls es zu einem Angriff kommen sollte. Ich weiß nicht, warum man Kirian verschleppt hat. Es kann ein unglückliches Geschick gewesen sein, vielleicht hat ihn jemand als Stefár von Lichterfels erkannt, vielleicht ist dies eine Intrige gegen mich – in seiner Rolle als mein treuer Gefährte ist er durchaus gefährdet. Das hatte ich ihm hundert Mal gesagt, aber du kennst ihn ja.“ Lys überprüfte, ob seine Ausrüstung gut verzurrt war, und half dann Onkar, mit gefesselten Händen auf ein Pferd zu steigen.
„Ihr könnt nicht allein reiten, Herr. Wissen wir denn, was hinter alledem steckt? Gerade wenn es eine Intrige gegen Euch ist, solltet Ihr nicht allein losziehen. Nehmt wenigstens ein paar meiner Männer mit“, beharrte Tomar unglücklich.
Seufzend nickte Lys.
„Schon gut, ich nehme zwei Mann als Eskorte mit. Sie sollen sich beeilen, schick mir die besten Reiter! Und Tomar, ich will, dass Anniz mit meinem Sohn von hier verschwindet. Bring die beiden an einen sicheren Ort in der Nähe. Schwere Bewachung wird nicht nötig sein, Anniz ist für eine Amme ziemlich wehrhaft und je mehr Beschützer, desto mehr Aufmerksamkeit wird erregt. Vermutlich wird auch Albor in einigen Tagen hier erscheinen und nach ihnen fragen, um sich um beide kümmern zu können.“ Kummer überschattete für einen kurzen Moment lang Lys’ Gesicht. Einmal mehr hatte er nicht genug Zeit, sich von Lynn zu verabschieden. Er liebte seinen Sohn, der mittlerweile schon die ersten Worte sprach, von Herzen – ganz im Gegensatz zu Elyne, seiner Frau. Ein Glück, dass sie sich weiterhin in Lichterfels bei ihren Eltern aufhielt!
In den vergangenen zwei Jahren hatte Tomar sie wenig zu Gesicht bekommen und war froh darüber. Sie war zwar Lys gegenüber nicht mehr ganz so abweisend wie am Anfang ihrer glücklosen Ehe, doch es gab keine Hoffnung, dass jemals Liebe oder auch nur Freundschaft zwischen ihnen erwachsen würde. Lys baute für sie ein schmuckes kleines Schloss auf dem Gebiet von Weidenburg, ein sonniges, großzügiges Anwesen, das Elyne für sich allein beanspruchen durfte, sobald es fertiggestellt war.
Die Bauarbeiten schob er für den stets misstrauisch auf Schwächen lauernden Hochadel vor, es war ein nachvollziehbarer Grund, dass Elyne diesem Lärm und der Unruhe entfloh und darum von ihrem angeblich so geliebten Ehemann getrennt lebte. Da zudem allgemein verbreitet worden war, Elyne habe sich von der Entführung und Gefangenschaft, die ihr widerfahren waren, noch nicht erholt, und fürchte sich davor, in der Weidenburg leben zu müssen, glaubte man ihm. Bis jetzt.
Lys’ Stimme drang in seine finsteren Gedanken.
„Ich hoffe, ich kann rasch zurückkehren, Tomar. Wenn Lynn nach mir fragen sollte, richtet ihm aus, ich denke jeden Tag an ihn und bringe ihm etwas von der Reise mit.“ Mit diesen Worten schwang er sich auf seinen Fuchshengst und ergriff die Zügel von Onkars Stute. „Ich reite nach Purna, mal sehen, was unser geliebter König zu der Sache zu sagen hat. Schickt die Eskorte dorthin, wir werden uns schon unterwegs treffen.“ Er zögerte kurz, dann nickte er Tomar zu. „Du weißt, was du zu tun hast. Sei auf alles vorbereitet, du hast freie Hand bei deinen Entscheidungen.“
Unvermittelt schaute er Onkar mit einem spöttischen Grinsen an: „Kopf runter, Schultern hängen lassen. Du wurdest ausgepeitscht, vergiss das nicht! Sobald wir außer Sicht der Burg sind, nehme ich dir diese Ketten ab.“ Mit diesen Worten trieb er die beiden Pferde an und verschwand, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Tomar blickte ihm hinterher. Ja, er wusste, was Lys befürchtete, und er teilte diese Furcht.
Ich werde Weidenburg schützen, Herr. Mit meinem Leben, wenn es sein muss!
Noch einmal dachte Lys nach, ob er irgendetwas oder jemanden vergessen hatte, dann überließ er innerlich die Sorge für all seine Pflichten Tomar. Kirian. Seine Gedanken, seine gesamte Kraft konzentrierte sich ausschließlich auf den Mann, den er liebte.
Ihr Götter, gebt, dass er lebt!
Dunkel. Es war dunkel. Er erinnerte sich nicht, wie er hierhergekommen war, oder wo „hier“ sein mochte. Er wurde durchgeschüttelt, das Schaukeln verursachte Übelkeit. Und Schmerz. Nun erinnerte er sich zumindest an die Schmerzen. Sie erfüllten sein gesamtes Bewusstsein. Wie hatte er sie vergessen können? Stöhnend versuchte er, sich davon zu lösen. Fort von dem Schmerz und den Gedanken an verlorene Erinnerungen!
„Er ist wach!“, zischte eine Stimme über ihm.
Merkwürdiger Akzent …Ich kenne ihn …
Die Stimme klang verächtlich, aber wem auch immer sie gehörte, derjenige gab ihm einen Trank, der nach nichts roch oder schmeckte, dafür sein Inneres zu verbrennen schien. Doch nur einen Moment lang, bevor er ihn von diesen Schmerzen erlöste. Eine kleine Weile schwebte er noch in der Dunkelheit dahin, fern von Stimmen, Schmerz und Übelkeit, dann sank er zurück in das selige Nichts, aus dem er gekommen war.
***
Lys folgte Onkars Schatten. Sie huschten beide durch die Wälder, die Purna umgaben, zum Schloss von König Maruv. Die Pferde hatten sie in der Obhut der beiden Gardisten zurückgelassen, die Tomar ihnen nachgeschickt hatte. Gute Männer, die zwar nicht allzu glücklich darüber waren, ihren Herrn mit einem jungen, unerfahrenen Räuber in die Dunkelheit verschwinden zu lassen, sich diesem Befehl aber ergeben beugten.
Man konnte hier jederzeit auf königliche Patrouillen stoßen, die das Land gegen Eindringlinge sicherten, darum mussten sie auf der Hut sein. Lys nicht weniger als seine Gardisten, denn wenn diese mit den Pferden gefunden werden sollten, waren all ihre Pläne hinfällig und Kirian möglicherweise verloren.
„Wir sind gleich da“, wisperte Onkar. Lys beachtete ihn allerdings nicht, er hatte sich mehrere Schritte von ihm entfernt und lauschte in die Dunkelheit. Dass sie verfolgt wurden, wusste er bereits seit einigen Minuten, aber nun wurden es immer mehr Gestalten, die sich in der Nähe verborgen hielten. Freund oder Feind? Langsam zog er sein Kurzschwert. Mittlerweile hatte er Frieden mit dieser Waffe geschlossen – nach Robans Tod hatte er lange Zeit kein Schwert mehr anrühren wollen; sein Bruder war ein meisterlicher Schwertkämpfer gewesen. Kirian hatte es geschafft, Lys daran zu erinnern: Schwerter waren nur ein Werkzeug wie jedes andere auch. Nicht mehr, nicht weniger. In der Dunkelheit waren Pfeil und Bogen nutzlos. Das Kurzschwert mochte ihm bei der Übermacht an Gegnern ebenfalls nicht viel nutzen, dennoch schenkte ihm das vertraute Gewicht ein Gefühl von Sicherheit.
„Kommst du?“, zischte Onkar ungeduldig.
„Wir sind umzingelt“, erwiderte Lys mit lauter Stimme. „Vielleicht geben sich unsere Begleiter ja höflich zu erkennen?“
Der junge Räuber erstarrte neben ihm. Es knackte im Unterholz, dann traten ein halbes Dutzend Schattengestalten an sie heran.
„Hat lange gedauert, was hat euch aufgehalten?“, ertönte Albors Stimme. Erleichtert umarmte Lys den Mann, der Kirians Stellvertreter und ältester Freund war, und klopfte ihm auf die Schultern.
„Du hast mich erschreckt! Verzeih, Albor, schneller ging es nicht. Onkar brauchte zwischendurch eine Schlafpause, sonst wären wir bereits vor Einbruch der Nacht hier gewesen.“
„Ich …“, fuhr Onkar hoch, doch Albor beschwichtigte ihn lachend.
„Schon gut, Kleiner, war nich’ ernst gemeint. Ihr wart so schnell, wir hatten nich’ mit euch gerechnet. Deshalb sind wir rangepirscht, wir dachten, ihr seid Späher. Kommt jetzt, unser Lager is’ da vorn.“
Lys nahm am Feuer des provisorischen Lagers Platz. Es lag in einer Senke, umgeben von dichtem Nadelgehölz, sodass der Widerschein nicht nach außen dringen konnte. Die vertrauten Gesichter der Räuber wirkten beruhigend auf ihn. Sie waren allesamt einfache Männer, jeder mit seiner eigenen Geschichte, warum er zum Geächteten, zum Bandit geworden war. Keiner von ihnen erwartete mehr vom Leben als ein kleines bisschen Zufriedenheit. Sie akzeptierten ihn, weil er ihnen Sicherheit bot. Seine Herkunft, Vergangenheit oder eines der tausend winzigen Details in Kleidung, Haltung, Gestik, Mimik, Wortwahl, die einem Adligen wichtig wären, nahmen sie gar nicht wahr. Er war eben Lys, dem sie vertrauten, der Geliebte und Verbündete ihres Sheruks. Bei ihnen musste er sich weder verstellen noch lügen oder jedes Wort einzeln abwägen. Nur hier konnte er sicher sein, dass ein Satz genau so gemeint war, wie er gesprochen wurde. Es gab Tage, da wünschte er, alles hinter sich zu lassen und einer von ihnen zu werden.
Dankbar nahm er einen Becher Tee an, auch gegen den Schluck Rum darin hatte er nichts einzuwenden. Die Stimmung war angespannt, man spürte, wie besorgt sie alle waren, an den verstohlenen Blicken, mit denen sie ihn musterten, an den verhaltenen Bewegungen, dem ungewöhnlichen Ernst. Niemand scherzte, schimpfte oder stritt sich mit seinem Sitznachbarn. Dass einer von ihnen als Räuber gefangen genommen, gefoltert und getötet wurde, darauf waren sie jederzeit vorbereitet. Was mit Kirian geschehen sein mochte, darauf wussten sie sich keinen Reim zu machen. Lys nahm sich nur den kurzen Moment, bis sich die heiße, scharfe Flüssigkeit in seinem Körper ausgebreitet hatte und die Erschöpfung vertrieb, die von dem hastigen Ritt hierher in seinen Knochen steckte.
„Gibt es Neuigkeiten?“, fragte er dann.
„Nein“, erwiderte Albor. „Alles ist ruhig in Purna, außer Maruv sind keine nennenswerten Adelsleute am Hof. Hm, vielleicht ist’s sogar verdächtig ruhig, merkwürdig wenige Patrouillen unterwegs. Wir wissen immer noch nicht, welcher Herrscher dieses Wappen führt. Sveit und Ramin sind dem Trupp hinterher, der Kirian verschleppt hat, und lassen in regelmäßigen Abständen Zeichen zurück. Ich erkläre dir gleich, wie du die zu lesen hast, falls du ihnen folgen wirst.“ Albor fuhr sich durch den Bart. „Das passt mir alles nicht, Lys. Hier zu hocken und nichts zu tun, wenn du verstehst.“
„Absolut. Ich reite noch heute Nacht zum Schloss. Kein politisches Geplänkel, ich werde direkt fragen, warum man meinen treuen Söldner verschleppt hat.“
„Is’ das nich’ riskant?“
„Es gibt keinen gefahrlosen Weg. Maruv hasst mich, das weiß jeder.“
„Aber wenn der dich jetz’ in den Kerker wirft und für Hochverrat anklagt, weil du ihm was unterstellt hast?“, fragte Onkar besorgt.
„Das werde ich zu vermeiden suchen. Wenn ich mich der Sitte entsprechend vorsichtig von hinten herum an das Thema heranschleiche, dauert es Ewigkeiten, bevor ich irgendetwas erfahre. Bis dahin könnte nicht nur Maruv mich hundert Mal politisch angreifen, sondern mein Schwiegervater und ein halbes Dutzend Landesfürsten dazu; und Kirian ist bis dahin möglicherweise schon nicht mehr zu retten.“
Die Räuber blickten einander an und zuckten die Schultern. Keiner von ihnen wusste, wie es am Königshof und unter Adeligen tatsächlich zuging, und sie waren froh darüber. Wenn Lys meinte, so handeln zu müssen, dann war es eben so.
Seit Lys Elyne von Lichterfels geheiratet hatte und damit zum zweiten Mann in der Thronfolge geworden war, stand er im Mittelpunkt aller politischen Interessen. König Maruv wie auch Archym von Lichterfels, der unmittelbare Thronfolger, waren alte Männer, die nicht mehr viele Jahre vor sich liegen hatten. Archym hatte ihn überhaupt nur deshalb akzeptiert, weil er genauso wie alle anderen davon überzeugt gewesen war, dass Lys ein schwacher, feiger und leicht lenkbarer Mann wäre, ein unrühmlicher Sohn des zweitstärksten Fürstentums in Onur. Zu sicher war er sich gewesen, dass er mit Lys auch Corlin kontrollieren würde. Archym hatte seinen Fehler rasch eingesehen, da Lys keine Zeit verloren hatte, sich als Meister des Intrigenspiels zu präsentieren. Dieses Spiel, dessen Diktat alle Adelshäuser Onurs unterlagen, kannte nur ein Ziel: Gewinn und Sicherung von Macht. Gewalt war erlaubt und hinterhältige Attacken normal.
Ein Geflecht komplizierter, kaum durchschaubarer Regeln, Gesetzen und ungeschriebener Vorschriften, die auf Ehre und Wertvorstellungen beruhten, schränkten die Spieler ein. Es konnte geschehen, dass ein einziger Blick, ein zur falschen Zeit gesprochenes Wort zu offenen Kampfauseinandersetzungen führte, während Entführung oder Mord an selbst hochrangigen Adligen meist ungesühnt bleiben musste. König Maruv hatte dieses Spiel vervollkommnet, das von seinen Vorgängern initiiert worden war, um die allzu starken und miteinander verfeindeten Fürsten zu beschäftigen und von Umsturzplänen gegen den Thron abzuhalten. Seit Jahrzehnten herrschte eine Art ruheloser Frieden im Reich, eine fragile Stabilität, die von gelegentlichen Rachefeldzügen oder Attacken der Adligen untereinander nicht gefährdet wurde. Der Preis dafür war immens: Straßen verfielen, Verbrechen wurden nicht geahndet. Häufig lagen Felder brach, weil die Bauern zu Frondiensten oder in sinnlose Schlachten gezwungen wurden. Mehr als einmal war es zu Aufständen gekommen, die entweder gewaltsam niedergeschlagen oder mit hastigen Lebensmittellieferungen beendet wurden.
Es gab zahlreiche Räuberbanden, ähnlich wie Kirians, die sich aus Vertriebenen und halb verhungerten Bauern zusammensetzten. Meist wurden sie von Söldnern gejagt und die wenigen Überlebenden öffentlich hingerichtet. Dass Kirians Bande seit rund dreizehn Jahren zusammenhielt, lag ausschließlich an den rigorosen Regeln, die ihr Sheruk aufgestellt hatte, um die Gefahr von Verrat wie auch Verfolgung so gering wie möglich zu halten. So hatte er unter anderem in halb Onur Ausweichlager an schwer zugänglichen Stellen errichtet, wo sich die Bande verstecken konnte, sollte es in einem Gebiet für sie zu gefährlich werden. Er gestattete ihnen keine sinnlosen Grausamkeiten, Überfälle nur auf kleine Handelsgruppen mit geringer Bewaffnung. Einen Gutteil ihres Auskommens bestritten sie durch Entführungen reicher Bürger oder niedriger Adliger, die sie gegen Lösegeld wieder unversehrt freiließen.
Es war eine solche Entführung gewesen, die Lys und Kirian zusammengebracht hatte … Eine merkwürdige Fügung des Schicksals, die seitdem ihrer aller Leben bestimmte.