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Biografie

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Der 1974 geborene André Wiesler lebt zusammen mit seiner Frau Janina und seinem Sohn Lorenz in Wuppertal. König der Diebe war sein erster Roman für Das Schwarze Auge, sein Oevre umfasst insgesamt aber schon mehr als ein Dutzend Romane, auch die Mystery-Trilogie Die Chroniken des Hagen von Stein und diverse Bücher der Shadowrun-Reihe.

Neben der Schriftstellerei arbeitet er als Übersetzer, Spieleentwickler, Redakteur und tritt als Lese-Komiker auf. Darüberhinaus organisiert er als ein Teil der Wuppertaler Wortpiraten Poetry-Slams und gibt Schreibkurse und leitet Schreibwerkstätten.

Weitere Informationen zu André Wiesler finden Sie auf seiner Internetseite:

www.andrewiesler.de

Titel

André Wiesler

König der Diebe

Erster Teil

Dreiundsiebzigster Roman in der Welt von
Das Schwarze Auge
©

Originalausgabe

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Impressum

Ulisses Spiele
Band 73

Kartenentwurf: Ralf Hlawatsch
E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright ©2012 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.
DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA
sind eingetragene Marken der Significant GbR.
Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

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Print-ISBN: 3-453-18805-5 (vergriffen)
E-Book-ISBN:
978-3-86889-639-8

Widmung

Für Janina – ohne deinen Optimismus, dein grenzenloses Vertrauen und deinen Beistand wäre ich heute vermutlich ein unglücklicher Straßenkehrer.

In Erinnerung an Wilhelm Wiesler

Der Fuchs hat leisen Tritt

Still lag die Stadt da. Hangard vom Wiesenfeld hock­te auf einem schmalen Dachfirst und schaute auf sie herunter.

Es war seine Stadt, er kannte sie von hier oben ebenso gut, wie er unten ihre Straßen und Gassen kannte.

Er lauschte. Dem großen Rommilys waren nur we­nige Momente der Ruhe vergönnt, aber zu dieser Stunde der Nacht, kurz bevor sich der Himmel mit einem grauen Gürtel zieren würde, war niemand mehr in Rommilys unterwegs, der nicht etwas im Schilde führte. Und wenn es nur das Wappen der Stadt war. Gut acht Schritt unter ihm stapfte die übernächtigte Stadtgarde im Gänsemarsch durch die schmale Gasse –, wie immer auf den gleichen Wegen, wie immer zur gleichen Zeit, wie immer und wie in jeder Nacht. Man konnte sich nach ihr richten wie nach dem Nachtwächter, der seine Arbeit mit dem Ausrufen der fünften Stunde beendet hatte.

Und der Oberst der Garde war auch noch stolz auf diese Vorhersehbarkeit. Jeder Dieb, der seinen Titel verdiente, wusste genau, wann und wo die Gardisten auftauchten.

Hangard schmunzelte. Und nach oben schauten sie auch nie. Er blickte den im Lampenlicht aufblitzen­den Helmen nach und lauschte, wie sich der Klang der schweren Stiefel entfernte, um schließlich ganz zu verstummen. In der Stille, die zwischen den Stunden des Phex und denen des Praios lag, glaubte man manchmal sogar das Donnern der Darpatfälle bis hierher vernehmen zu können – sogar der kleine Stadtteil, den man das Paradies nannte, lag mittler­weile still und bot trotz seiner unzähligen Freuden­häuser, Spielhallen und Tavernen einen friedlichen Anblick. Wer um diese Zeit durch seine Gassen schlich, war unterwegs, um besinnungslos Betrunke­ne einzusammeln – oder deren Wertsachen.

Apropos! Hangard steckte die Hand in den kleinen Beutel an seinem Gürtel und zog die Beute der heuti­gen Nacht heraus: ein Paar Diamantohrringe, eine Per­lenkette und einen Rubinring. Er lachte leise auf, als er sich den Gesichtsausdruck der Geliebten des Richters vorstellte, wenn sie seinen Einbruch bemerken würde. Immerhin hatte sie den Schmuck noch am Leib getra­gen, als sie sich schlafen gelegt hatte. Und was für ein Leib das gewesen war, bei Rahja! Fast hätte Hangard sich der Versuchung hingegeben, sie zu wecken.

Zufrieden steckte er die Liebesgeschenke des Rich­ters wieder ein und machte sich an den Abstieg. Er kannte dieses Haus, wie er die meisten Häuser der Stadt mit Augen und Händen kannte, und so fiel es ihm leicht, Halt zu finden. Er war eben ein Kind von Rommilys – seinem Rommilys.

Dieser Einbruch würde sich schnell herumsprechen und natürlich wäre allen klar, wer ihn verübt hatte. Seit drei Jahren trug Hangard nun unangefochten die Würde des Königs der Diebe zu Rommilys und auch in diesem Jahr würde ihm keiner den Titel streitig machen können.

Nicht, dass die Krone zu irgendwelchen Rechten verhalf oder allgemein anerkannt war, aber unter den Dieben, den Beutelschneidern und Fassadenkletterern galt sie etwas, sofern diese der Gemeinde um den Mondschatten Phedrian angehörten. Soweit Hangard wusste, gab es nur in Rommilys einen König der Die­be. Wie dem auch sei, seine Siegesgewissheit war kein Grund, faul zu werden. Hilf dir selbst, dann hilft dir Phex, hieß es nicht umsonst.

Die letzten zwei Schritt ließ er sich fallen. Seine weichen Stiefel machten kaum ein Geräusch auf dem Pflaster, als er landete, leicht in die Hocke ging, um die Wucht des Absprungs abzufangen, und sich dann mit einer übermütigen Drehung aufrichtete. Im Ge­hen zog er seine Jacke aus und wendete sie. Das dunkle Blau verschwand und ein strahlendes Rot kam zum Vorschein. Die Jacke hatte ihn ein kleines Vermögen gekostet, aber das war sie wert. Sie betonte seinen schlanken, geschmeidigen Körper, beide Far­ben passten hervorragend zu seinen blauen Augen – und nachts schützte ihn der dunkle Stoff vor neugie­rigen Blicken.

Er fröstelte. Es war erstaunlich frisch in dieser Nacht im Phex. Aus den Stulpen des Stiefels erschien wie durch Zauberhand ein rotes Barett. Die Feder war zerzaust und gebrochen, aber das war zu verschmer­zen. Hangard zupfte sie ab und war im Begriff, sie auf den Boden zu werfen. Doch dann hielt er inne und steckte sie in die Hosentasche – als König der Diebe wollte er zwar, dass jeder wusste, wer den Diebstahl begangen hatte, aber man sollte es ihm nicht beweisen können. Er strich sich die hellbraunen Haare aus dem Gesicht. Er wollte sie wachsen lassen, aber im Moment war die Pracht eben lang genug, um ihm die Sicht zu nehmen. Man sagte, er sähe gut aus – egal, welche Frisur er trug – und wer war er, da zu widersprechen?

Eine erfolgreiche, aber lange Nacht lag hinter ihm, und als nun die freudige Aufregung, die der Ein­bruch bei ihm verursacht hatte, von ihm wich, spürte er die Müdigkeit. Hangard gähnte ausgiebig und bog in Richtung Althafen ab. Die Gegend wurde zuse­hends schlechter, je weiter er sich von Praiosstadt ent­fernte.

Interludium

Das kleine Zimmer war von der Hitze ihrer Körper erfüllt. Die Decke und das Laken ihrer Bettkiste, fei­ner Stoff, so weich und weiß wie die Wolken, waren feucht von ihrem Schweiß. Isida hatte sich das Dau­nenkissen unter den Kopf gesteckt und strampelte jetzt die Decke zur Seite.

»Zu warm«, erklärte sie ihrem Geliebten, der sei­nen Kopf auf ihre Brüste gebettet und die Augen ge­schlossen hatte. Aber Tanglans zufriedenes Lächeln zeigte, dass er noch nicht eingeschlafen war.

»Was denkst du?«, fragte sie ihn und strich mit der Hand über seine kräftige Schulter. Er war ein so schöner Mann. Ganz anders als ihre Brüder, die rund und speckig waren und überall Haare hatten, fast wie Orks.

»Ich möchte diesen Moment in den Norden schik­ken, damit er gefriert, und wann immer es mir schlecht geht, möchte ich ein Stück davon auftauen«, sagte er und hob den Kopf, um ihr in die Augen zu schauen.

»War das von dir?«, fragte sie und kniff ihn in den Nacken. »Sag die Wahrheit!« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Perval von Win­tersgrund hat es für mich erdacht. Ich habe ihm ge­sagt, er soll mir etwas schreiben für einen Augen­blick, in dem man zum Zerspringen glücklich ist. Ent­täuscht?«

Statt einer Antwort presste sie ihn so fest an sich, wie sie nur konnte. Er war so klug und sanft und so ehrlich. So ganz anders als die Schurken und Halsabschneider, mit denen ihr Vater sie immer verkuppeln wollte.

Sie entließ den lachenden Tanglan aus ihrem Klammergriff und sank auf das Kissen zurück. Der Gedanke an ihren Vater hatte sie betrübt gemacht.

»Wir müssen es ihnen bald sagen«, flüsterte sie.

Tanglan legte den Kopf auf ihre Schulter und seine Hand auf ihre Brust. »Ja, das müssen wir«, gab er zu.

»Bald! Ich glaube, sie ahnen schon etwas«, mahnte sie.

»Bitte, meine Blume, lass uns nicht jetzt darüber sprechen«, bat Tanglan.

»Aber mein Vater schleppt morgen wieder einen von den Flusspiraten an. Ich habe es satt, mich von diesen ungeschlachten Kerlen angaffen zu lassen, als wäre ich ein Stück Schlachtvieh. Ich kann meinen Va­ter nicht mehr lange hinhalten. Es wird Zeit«, sagte sie eindringlich.

»Das sieht einem Musker ähnlich – seine Tochter an den Höchstbietenden zu verschachern«, grollte Tanglan.

»Ach?«, meinte Isida spitz. Daher wehte also der Wind. »Und bei euch Fernels macht man es anders, oder was? Da frag mal deine Schwestern.«

Tanglan setzte sich auf. »Wir ...«, hub der junge Mann an. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Ach Isida, meine wunderschöne, bezaubernde Isida. Lass uns nicht über unsere Familien streiten!«

Er küsste sie zärtlich auf das Kinn, dann auf den Mund. Sie erwiderte seinen Kuss. Wie Recht er hatte! Sollten die ganzen Muskers und Fernels doch in einen Trollhintern fahren und nimmer mehr daraus hervor­kriechen! Solange sie mit ihrem Tanglan hier liegen, ihn nah bei sich spüren, seinen Geruch einatmen konn­te, solange konnte die Welt da draußen tun, was ihr beliebte.

»Ja«, sagte sie leise. »Halte mich für immer so, mein Geliebter!«

Aber Tanglan löste seinen Kopf aus ihren Armen und beugte sich über ihre Brust. Er ließ seine Zun­genspitze um ihre Brustwarzen kreisen, küsste ihren Bauch und wanderte weiter nach unten.

Isida kicherte. »Dein Bart, mein Stier, er kitzelt.«

Tanglan legte das Kinn auf ihren Bauch und blickte über ihre Brüste hinweg zu ihr auf. »Wenn es Euch juckt, muss ich Euch kratzen. Ich halte das Werkzeug dazu wohl bereit.«

Isida schaute ihn überrascht an. »Noch einmal?«

Er nickte stumm und zog das Laken zwischen ih­ren Schenkeln weg. Dann wandte er sich wieder ih­rem Bauch zu, liebkoste ihn und knabberte sanft an ihrem Rahjahügel.

Unten in der Stube polterte etwas. Eine dumpfe Stimme fluchte.

»Mein Vater!«, sagte Isida erschrocken.

Tanglan biss sie leicht in den Oberschenkel. »Wir wollten doch nicht mehr über ...«

Sie packte ihn bei den Haaren und zog ihn hoch. »Mein Vater ist zurück!«, keuchte sie entsetzt.

»Was, schon?« Tanglan wurde bleich. Er rollte sich aus dem Bett, wollte aufstehen, aber seine Beine ver­hedderten sich in der Decke. Er schlug der Länge nach hin.

»Was treibst du denn da oben, Isida?«, brüllte ihr Vater von unten. Er hatte schlechte Laune, das war nicht zu überhören. Sicher war etwas mit der Liefe­rung schief gelaufen. Seitdem die Stadt mehr Kanal­grafen herumschickte, wie er die Wachen in der Ka­nalisation nannte, war er oft schlecht gelaunt.

»Vielleicht übt sie tanzen?«, hörte sie Dabbert spot­ten. Vielstimmiges Gelächter antwortete ihm. Die ganze Sippe war zum Nachtschlussmahl, wie es die Schmuggler nannten, eingekehrt.

»Beeil dich!«, flehte Isida. »Sie schlagen dich tot.« Tanglan torkelte durch den Raum, sprang in seine Hose und zog hüpfend seinen Stiefel an.

»Wo ist der andere? Der andere Stiefel?«, zischte er.

Isida blickte sich eilig um. Da war er, unter dem Bett. Sie zog ihn hervor und warf ihn zu Tanglan herüber. Er hatte ihn gerade angezogen, als sie schwere Schritte auf der Treppe hörte.

»Durchs Fenster, schnell!«, raunte sie.

Tanglan hatte das Hemd unter dem Arm und die Beinkleider standen ihm offen, aber er schwang die Beine aus dem Fenster und suchte nach dem Steigbrett, das sie heimlich angenagelt hatten. Isida küsste ihn noch einmal. »Geh! Geh!«, drängte sie dann. Er sprang auf die große Regentonne, fiel fast hinein, konnte sich aber noch fangen und hüpfte hinunter auf die Straße. »Morgen!«, rief er leise. Sie nickte und winkte.

In diesem Moment flog die Tür auf und ihr Vater kam hereingepoltert. Er blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen und sein Gesicht färbte sich dun­kel vor Wut oder Scham. Der schwarze Vollbart und die buschigen Augenbrauen umgaben es wie ein Pelzkragen. Sein gewaltiger Bauch hob und senkte sich mit jedem tiefen Atemzug.

»Isida!«, grollte er. »Du kommst mir sofort vom Fenster weg! Was sollen denn die Nachbarn denken, wenn du splitterfasernackt ...« Er verstummte und starrte zu Boden.

Isida folgte seinem Blick. Tanglans Gürtel lag dort, ein breites, schwarzes Ungetüm mit einer silbernen Schnalle. Daneben lag das neue Halstuch, das sie ihm geschenkt hatte. Es war sonnengelb und nicht zu übersehen.

»Wo ist er?«, brüllte ihr Vater, stieß sie zur Seite in ihr Bett und hob es mit einer Hand an, als wäre die schwere, eichene Kiste aus Stroh. »Wo ist er?« Wut­schnaubend wandte sich ihr Vater im Zimmer um, dann stürmte er zum Fenster und schaute hinunter. Mit einem Krachen riss er die Latte aus dem Holz des Fachwerks und hielt ihr das nagelstarrende Ding un­ter die Nase. »Wer ist er? Sag mir den Namen dieses Schufts, Kind, oder ich schwöre bei allen Göttern, ich erschlage dich mit ihm zusammen. Mir brennt nicht noch eine Tochter mit einem Habenichts durch!«

Isida hatte große Angst. Ihr Vater war wie von Sin­nen. Schaum troff ihm vom Mund auf den struppigen Bart. »Rede! Wie heißt er?«, brüllte er. Isida liefen Trä­nen über das Gesicht. Was sollte sie nur tun? Sie konnte Tanglan unmöglich verraten, ihr Vater würde ihn in Stücke reißen! Aber wem könnte sie die Tat anhängen, wem würde man zutrauen, dass er so dreist wäre, Eberhelm Muskers Tochter anzurühren? Ihr fiel nur ein Name ein: »Hangard vom Wiesenfeld.«

Aufruhr im Verzug

Hangard war auf dem Weg zur östlichen Neustadt, wo er seinen Unterschlupf für den Tag errichtet hatte. Er ließ den neuen Markt hinter sich, auf dem im Licht der ersten Sonnenstrahlen zahlreiche Händler ihre Stände aufbauten.

Er schlenderte gut gelaunt Richtung Efferdtempel, als er vor sich den gewaltigen Eberhelm Musker ste­hen sah. Der dicke Mann blickte in die andere Rich­tung, die Straße herunter, als würde er auf jemanden warten. Die Tür zum Muskerhaus stand hinter ihm offen, seine im Vergleich zu ihm winzige Frau Wina lehnte im Rahmen und fragte: »Haben sie ihn schon?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Ich hoffe, sie erwischen ihn und gerben ihm gehö­rig das Fell. Diesem Tunichtgut. Der soll erleben, was es heißt, sich mit den Muskers anzulegen!«, schimpfte sie.

Hangard schmunzelte. Solange er denken konnte, lagen die Muskers und die Fernels miteinander im Streit. Beide betrieben neben ihren normalen Händ­lergeschäften einen schwunghaften Schmuggel nach und aus Rommilys und kamen sich immer wieder ins Gehege.

Offensichtlich war es wieder einmal Zeit für eine Keilerei. Phex sei Dank war bisher noch keiner der Beteiligten ernsthaft verletzt worden; so eine Fehde konnte schnell das Ende einer oder gar beider Famili­en bedeuten.

»Guten Morgen, Eberhelm. Sucht ihr jemanden?«, fragte Hangard und nickte der Frau zu. Ihr Ge­sichtsausdruck wandelte sich, aber nicht zu dem freundlichen Lächeln, das sie ihm sonst schenkte. Es war blankes Erstaunen.

»Da ist er!«, kreischte sie und der gewaltige Eber­helm drehte sich um. Auch er schaute erstaunt.

»Guten Morgen, ich fragte gerade ...«, begann Hangard, aber im nächsten Moment rollte er auf der Flucht vor den wuchtigen Schlägen des Musker-Vaters über den Boden.

»Du wagst es!«, donnerte dieser, sodass die Be­wohner der ganzen Straße geweckt wurden.

»Eberhelm! Was?« Wieder kam Hangard nicht wei­ter. Ein schneller Sprung zur Seite bewahrte ihn vor einem weiteren Schwinger und davor, in Stücke ge­schlagen zu werden. Dieses Schicksal erlitt stattdes­sen der Fensterladen des Nachbarhauses, der kra­chend aus den Angeln flog.

»Unsere kleine, unschuldige Isida zu verführen«, grollte Eberhelm und schlug diesmal mit der Linken zu. Hangard sah den Schlag kommen, beugte sich zur Seite und umklammerte dann den ausgestreckten Arm des Schmugglers.

»Helmbrecht, kommt zu Verstand! Ich bin es, Han­gard«, beschwor er den tobenden Kerl. Isida und un­schuldig, dass er nicht lachte! Sie teilte schon seit Monaten das Lager mit Tanglan Fernel. Hangard höchstselbst hatte den beiden geholfen, ihre knos­pende Liebe zu pflegen, ohne dass ihre Familien es bemerkten. Aber er hatte sie nie angerührt. Oder doch? Im Suff war vieles möglich, und dass sie ihn wollte, wusste er sicher. Jede Frau wollte ihn.

Seine Gedanken hätten ihn beinahe den Kopf geko­stet. Im letzten Augenblick ließ er den Arm los und ging in die Knie, um der Rechten auszuweichen, die zischend über ihn hinwegfegte.

Er sprang einige Schritte zurück: »Helmbrecht, ich schwöre Euch, ich habe niemals ...«

Er brach ab, als er sah, dass Mutter Wina mit einer Armbrust aus dem Haus kam und sie ihrem Mann reichte: »Schieß ihn ab, Eberhelm, schieß ihn ab!«

Hangard erkannte, dass dies nicht die Zeit und der Ort waren, um das Missverständnis aufzuklären. Er wirbelte herum und nahm die Beine in die Hand. Si­cherheitshalber schlug er Hasenhaken die Straße ent­lang und nahm die erste Abzweigung. Wie bei allen Dämonen kam Musker nur darauf, dass er etwas mit Isida haben könnte? Er würde ein oder zwei Tage abwarten, bis sich das Gemüt des Schmugglers abge­kühlt und sich dieser bedauerliche Irrtum aufgeklärt hätte, und dann würde er großzügig die Entschuldi­gung und eine gute Flasche Wein entgegennehmen. Aber vorerst war es sicherer, einen gehörigen Ab­stand zwischen sich und seinen Verfolger zu bringen.

Obwohl er wenig später sicher war, den schnaufen­den Musker abgehängt zu haben, nahm er einen grö­ßeren Umweg in Kauf und lief durch Neuhafen, um das Haus der erbosten Familie möglichst weiträumig zu umgehen. Eben kam er an dem Gasthof »An­groschs Lob« vorüber. Xorgosch, der zwergische Wirt, war wohl gerade erst seine letzten Gäste losge­worden. Er stand vor der Tür und atmete in tiefen Zügen die kühle Morgenluft ein. Hangard nickte ihm zu. Der Zwerg grüßte müde zurück, trat ins Haus und zog die Tür hinter sich zu. Im selben Augenblick vernahm Hangard einen Schmerzensschrei. Er ver­meinte eine männliche Stimme zu erkennen. Da es al­so keine Frau zu erretten galt oder gar ein Kind in Not, ging er weiter, bis er erneut ein schmerzerfülltes Stöhnen vernahm. Mit einem leisen Fluch auf den Lippen wandte er sich um und lief zu der Gasse zu­rück, aus der die Geräusche kamen. Er war einfach zu gut für diese Welt!

Der Anblick, der sich ihm bot, als er vorsichtig um die Ecke lugte, war wenig erfreulich. Xerber Dreifin­ger stand über einen alten, rundlichen Mann gebeugt und zerrte an dessen Geldbeutel. Nahm denn die Aufregung in dieser Nacht gar kein Ende mehr? Der Räuber bekam die Börse nicht vom Gürtel los. Der Al­te versuchte offensichtlich ebenfalls, den Knoten des straff gespannten Lederbandes zu öffnen, um den Schlägen zu entgehen, aber Xerber drosch trotzdem immer wieder auf ihn ein. Dabei hätte man dem jun­gen Mann auf den ersten Blick solche Brutalität nicht zugetraut. Er war schmutzig, sicher, und seine Klei­dung war nicht die beste. Aber wenn sein Gesicht nicht gerade vor Gier und Wut verzerrt war, hatte er die feinen, sanften Züge eines Dichters. Er war offen­sichtlich in die falschen Kreise geraten und das war bedauernswert – allerdings schien er sich in diesen Kreisen wohl zu fühlen und das verdiente Strafe.

»Lass schon los!«, zischte der Gossendieb und hieb dem Mann erneut auf den Arm.

Wut kochte in Hangard auf – das war nicht der Weg seines Gottes! Er trat in den Eingang der Gasse, stemmte die Hände in die Hüfte und sagte, gerade laut genug, dass der Halsabschneider ihn hören konnte: »Das wollte ich dir auch gerade raten.«

Xerbers Kopf ruckte hoch und seine Augen wurden groß: »Der König ...«

Dann aber schlich sich ein gemeiner Tonfall in sei­ne Stimme und er drohte mit dem Knüppel: »Wenn du weißt, was gut für dich ist, verschwindest du am besten gleich wieder.«

Hangard lachte trocken auf: »Und wenn nicht? Verhaust du mich dann mit deinem Stöckchen?«

Es war jahrelanger Übung zu verdanken, dass sei­ne Stimme bei diesen Worten nicht zitterte. Es gab wenig, wovor Hangard wirklich Angst hatte, aber je­de Art von direktem Kampf gehörte dazu. Zu seinem Glück war zu seinem Ruf als meisterlicher Beutel­schneider und Fassadenkletterer irgendwann auch die Überzeugung der anderen dazugekommen, er müsse mit dem Dolch ebenso unübertrefflich sein.

Xerber überlegte. Dann ließ er den Beutel des Mannes los: »Er wird dir das heimzahlen«, zischte er.

Hangards Lächeln verschwand, er zog seinen Dolch aus dem Hosenbund. Xerber hatte natürlich von seinem Anführer Akhim gesprochen. Wenn es jemanden gab, dem Hangard in Rommilys aufrichtig den Tod wünschte, dann war es dieser Schurke. Im­mer mehr ehrbare Diebe presste er in seine ruchlose Truppe und brachte sie dazu, die Tugenden Phex‘ ge­gen Knüppel und Hinterhalte zu tauschen.

»Nur zu! Lauf zu deinem Herrchen, und richte ihm aus, dass ich mich schon darauf freue, ihn zu treffen – mitten ins Herz.«

Xerber wollte augenscheinlich etwas erwidern, aber als Hangard den Dolch wie zum Wurf erhob, drehte er sich um und floh. Wenig später war er ver­schwunden.

Hangard ließ den Dolch sinken und atmete tief durch. Dann trat er zu dem Alten und half ihm auf­zustehen.

»Ihr habt mir das Leben gerettet«, keuchte der und eine Wolke Branntweinatem hüllte Hangard ein. Er widerstand der Versuchung, sie mit dem Barett bei­seite zu wedeln.

»Na ja, so wild war es nicht. Wohnt Ihr weit von hier?«

Der Mann wankte. Eine Platzwunde verunzierte seinen Kopf und ein Arm war stark geschwollen. Sei­ne Kleidung war schmutzig, aber von guter Qualität, wenn auch farblich etwas eigenwillig zusammenge­stellt. Ein rotseidenes Rüschenhemd flatterte an sei­ner dürren Gestalt, nur über dem kleinen Spitzbauch spannte es sich, und die grünen Beinkleider gaben sich alle Mühe, das kräftige Sonnengelb des Oberge­wandes auszustechen. Einzig die Schuhe waren schlicht und aus einfachem Leder. Nein, dieser Mann war nicht arm.

»Ein Stückchen ist es wohl.«

Hangard lächelte ihm zu. »Ich geleite Euch!«

Er legte sich den unversehrten Arm des Mannes um die Schulter und gemeinsam stapften sie los. Nach ein paar Schritten hatte Hangard das störrische Lederband des Geldbeutels gelöst und ließ die Börse des Alten in seiner Tasche verschwinden. Sie war nur halb gefüllt, aber fühlte sich nach Dukaten an. Phe­xens Gebot war damit Genüge getan, die Hilfe mit ei­ner Gegenleistung vergolten.

Sie kamen nur langsam voran und so zeigte sich Praios schon am Horizont, als sie das Haus des Alten erreichten. Es bestätigte Hangards Vermutung: Dieser Mann war wohlhabend.

Auf das Klopfen des Alten hin öffnete eine Frau, die nur wenig jünger war als er. Trotz der frühen Stunde war sie bereits sorgfältig in ein schmuckloses Gewand gekleidet. Den Mund hatte sie zu einem en­gen Strich zusammengepresst. »Hat er sich wieder besoffen?«, fragte sie spitz.

Hangard schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das aber wirkungslos an ihr abprallte. Es bezauberte eben nur jüngere Frauen. »So scheint es. Und überfallen wurde er auch.«

Sie schien nicht sehr überrascht davon.

»Schwesterchen, sei mir gut, ja?«, lallte der Alte.

»Seid so freundlich und bringt ihn herein.« Sie öff­nete die Tür ganz und ging voran. Hangard wuchtete den Betrunkenen die Eingangsstufen hoch und schob ihn vor sich her in den geräumigen Flur. Dabei wan­derte sein Blick über Wandteppiche, edles Holz und vergoldete Türknäufe. Als er das Kaminzimmer betrat, den Alten immer noch vor sich herschiebend, entdeckte er endlich etwas Brauchbares: Eine Samm­lung gold- und edelsteinverzierter Fingerhüte stand auf einem kleinen Schränkchen an der Wand.

»Wohin mit ihm?«, fragte er die Schwester.

»Werft ihn einfach auf den Boden«, entgegnete die Frau scharf und ging hinüber in die Küche. Hangard ließ den Mann in einen Stuhl sinken, in dem er schief sitzen blieb, und streckte die Hand nach den Finger­hüten aus.

»Bitte, seid mein Gast! Verweilt und speist mit uns!«, lallte es vom Stuhl herüber.

Hangards Hand verharrte. Musste das jetzt sein? Als Gast konnte er nichts stehlen, wollte er nicht den Zorn der gütigen Travia heraufbeschwören. Seine Finger tanzten in der Luft über den Fingerhüten, si­cher einen Dukaten wert das Stück. Aber nein! Es war nicht ehrenvoll, in einem Haus zu stehlen, in das man gebeten wurde. Er verdrehte die Augen und wandte sich um.

»Habt Dank, aber ich muss weiter. Das Tagwerk ruft, guter Mann. Achtet nur in Zukunft darauf, nicht alleine zu trinken.«

Aber der Branntweinfreund war bereits sanft ent­schlummert und so hörte er die Ermahnung nicht mehr. Seine Schwester kam aus der Küche und hielt Hangard eine Wurst vor die Nase: »Für Eure Mühe.«

Er musste sich ein Lachen verkneifen. »Das ist wirklich nicht nötig. Ich werde mich nun empfehlen. Einen guten Tag noch.«

Die Wurst pendelte noch einen Augenblick vor sei­nem Gesicht hin und her, dann wurde sie gesenkt. »Nun ja, habt Dank.«

Anscheinend verursachte es der Frau körperliche Anstrengung, diese Worte auszusprechen.

Hangard trat lächelnd in den Sonnenschein des frühen Morgens hinaus und klopfte auf die gestohle­ne Börse in seiner Tasche. »Ich habe zu danken.«

Interludium

Die fürstliche Wache war auf der Hut. Niemand konnte das Reichskanzler-Randolph-Tor passieren, ohne von den »Goldenen Raben« bemerkt zu werden. Aber der Beobachter in der dunkelblauen engen Kleidung wollte ja gar nicht durch das Reichskanzler-Tor. Er wollte darauf.

Mit langsamen Bewegungen, um die Wachsoldatin, die ihm das Gesicht zuwandte, nicht auf sich auf­merksam zu machen, zog er die Graue Maske zu­recht. Löcher für die Augen und den Mund waren hineingeschnitten, aber davon abgesehen, umgab das Leinen seinen Kopf zur Gänze. Der Dieb überprüfte mit sicheren, hundertfach geübten Bewegungen den Sitz der Ausrüstung – alles bestens. Und dann hieß es warten.

Aber Phex war gnädig in dieser Nacht. Schon we­nige Herzschläge später wandte sich die Frau von ihm ab und trat zu den anderen Raben. Geduckt und im Schatten huschte er zur Seite des Tores und war im Nu an den griffigen Steinen emporgeklettert. Oben angekommen, empfing ihn die Hitze der Öl­becken, die auf dem Tor brannten. Zum Glück ragten sie seitlich über die Torbreite hinaus und leuchteten so die Oberseite nicht völlig aus. Ein wenig Schatten blieb, mehr als genug für die schmale Graue Maske. Auf dem Bauch robbte der Dieb sich an sein Ziel her­an. Ein rascher Blick nach unten. Dort standen die drei Wachen, jetzt genau unter ihm. Die goldenen Rabenspangen auf ihren Schultern blitzten im Licht der Fackeln, die den Torbogen erhellten. Das in jeder Hinsicht diebische Lächeln erschien erneut in dem schmalen Atemschlitz der Maske. Ob diese Abzei­chen aus reinem Gold waren?

Später! Er hob den Blick und zog ein kleines Mes­ser. Jetzt war eine andere Beute in Griffweite.