Über das Buch

Eugen Drewermann

Nur die Liebe lehrt uns glauben

Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag 2011 in Dresden (Tonbandabschrift der frei gehaltenen Rede)

So weit der ganze Himmel ist, spannt dieser Gott seine Arme und Hände aus über uns alle. Daran zu glauben, dass er uns liebt, ist die ganze Grundlage dessen, weswegen wir glauben, und ein Hauptmotiv, unser Leben vollkommen zu ändern vom Zerstörerischen zum Heilenden«, so eine zentrale Aussage Eugen Drewermanns in seinem Vortrag vom 3. Juni 2011, gehalten auf dem Evangelischen Kirchentag im überfüllten Kinosaal des UFA-Kristallpalasts in Dresden.

Der Vortrag »Wir glauben, weil wir lieben« sowie die Fragen aus dem Publikum wurden aufgezeichnet und verschriftlicht. Für das vorliegende Buch hat Eugen Drewermann seinen Vortrag überarbeitet und ergänzt. In seinen Antworten auf die Publikumsfragen vertieft er einzelne Aspekte seines Themas.

Teil I: Vortrag

Liebe Frau Bußmann, meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich danke Ihnen für Ihr Interesse daran, an einem Nachmittag während des Kirchentags zu überlegen, aus welchen Gründen wir glauben und was es in uns selber ändert, wie wir glauben. Diese Frage zu erörtern mit Menschen, die Frau Bußmann eben zu Recht vielleicht kirchenpolitisch als Randgruppenangehörige bezeichnet hat, geht insofern in Ordnung, als auch ohne große statistische Erhebungen jeder sehen kann, wie das offizielle Christentum dahinschmilzt gleich dem Schnee unter der Sonne. Es hat keinen Zweck oder wäre jedenfalls kurzsichtig, dieses schwindende Kreditiv der Kirchen kompensieren zu wollen durch eine scheinbare gesellschaftliche Aktualität.

Man muss nicht Christ sein, um gegen die Atomkraft zu sein. Es genügt, ein wenig von Physik zu verstehen und von menschlicher Geschichte, um zu begreifen, dass wir Plutonium mit einer Halbwertszeit von 25.000 Jahren nicht in die freie Natur entlassen dürfen, um Folgewirkungen zu zeitigen, die in 300.000 Jahren noch zu gewärtigen sind. Das ist die Zeit des Homo erectus von Bilzingsleben – Sie können sich das im Museum von Halle anschauen – bis heute! Kein Politiker hat einen Horizont der Verantwortung, der derartige Zeitmaße erlaubt zu projektieren. Und welch ein Leichtsinn dann, was wir da machen. So zu denken ist richtig, muss dann aber nicht für spezifisch christlich gelten.

Es sind vielmehr zuvörderst zwei Punkte, an denen sich zeigt, dass sich die offizielle Theologie im Abendland auf einem Kurs bewegt, der die Plausibilität verlieren muss. Im einen geht es um die Gesetze der Natur, im anderen um die Gesetze der Gesellschaft.

1. Warum Gott oder: Jenseits der Naturgesetze

Der erste Punkt ist vielleicht am schwierigsten begreifbar, deshalb beginne ich damit. Sie finden, wie Paulus im 1. Kapitel des Römerbriefs, wie Lukas im 17. Kapitel der Apostelgeschichte eine Theologie konzipiert, die ihren Anschluss sucht an die Beweisbarkeit Gottes aus Gründen der Natur. Vorweggenommen wird damit bereits die Argumentationslinie, die im 2. nachchristlichen Jahrhundert bahnbrechend Fuß fassen wird und der wir bis heute getreulich folgen: Über den Kausalsatz soll Gott bei Betrachtung der Natur als bewiesen, zumindest als beweisbar erscheinen. Dabei nimmt man die Suche nach den Ursachen und Grundstoffen der Welt in der griechischen Naturphilosophie und verbindet sie mit dem biblischen Schöpfungsgedanken: Das Unendliche, das Sein als Grund aller Dinge ist Gott! Die Metaphysik der Griechen nahm man zum Zeugnis der Religion; und es ist diese – letztlich falsche – Synthese, die nach 2000 Jahren endgültig zerbricht.

Der Grund dafür ist simpel und einfach. Ein Biologe wie Richard Dawkins konnte sagen, es sei vor Charles Darwin, das heißt vor 1856, völlig unmöglich gewesen, nicht an Gott zu glauben. Und jeder begreift zunächst, dass das so ist. Die Schönheit des Frühlings jetzt, der uns umgibt, die Eleganz eines kleinsten Tieres auch nur, die Augen einer Fliege, die Emsigkeit einer Biene – ist irgendetwas von alldem hervorzubringen ohne einen überlegenden, planenden Verstand? Das war und ist so in die Augen springend und derart überzeugend, dass jeder sagen musste, der bloße Zufall kann und wird derlei niemals ermöglichen. Ich nehme an, dass die meisten, die sich noch Gläubige nennen, diesem Argument folgen.

Und man kann dieses Denken noch weiter ausdehnen. Nichts kommt von nichts. Auch das ist entsprechend den Gesetzen der Logik doch augenscheinlich. Woher kommt dann das alles, was uns umgibt? Vom Nagel in der Wand bis zu unserem eigenen Organismus, von den Fixsternsonnen bis zu den Galaxien, bis zur Existenz des ganzen Universums: Von nichts kommt nichts. Am Anfang muss also vermeintlich eine schöpferische Macht gestanden haben, die ihre Vernunft in die Gesetze der Natur eingesenkt hat. So hat noch Isaac Newton geglaubt. So war mehr oder minder auch Albert Einstein gesinnt. Und so gibt es viele, die im Bibelgürtel Amerikas von einem Intelligenten Design träumen. Andere möchten Gott identifizieren mit dem Gang der Natur in pantheistischem Sinne; doch was ist das dann für ein Bild von Gott – personal oder apersonal, und was unterscheidet diesen Denkansatz von klar atheistischen Weltentwürfen? Es sei hier schon gesagt: Leben lässt es sich mit derartigen Erklärbarkeiten Gottes aus der Natur keinesfalls.

Denn: Derselbe Richard Dawkins konnte auch sagen: Nach Charles Darwin ist es unmöglich, noch an Gott zu glauben, gestützt auf solche Argumente. Der Grund dafür ist die grenzenlose Einsamkeit der Menschen in den Grundbefindlichkeiten ihrer Existenz angesichts der Größe und der Welteinrichtung des Universums. Die Natur hat uns ermöglicht, aber sie meint uns nicht. Wir sind ihr als Individuen im Prinzip vollkommen gleichgültig. Biologen zum Beispiel haben über den Egoismus der Gene – in Erweiterung des Erklärungsmodells Darwins – in den letzten zwanzig, dreißig Jahren eine sehr gute Schiene der Erklärung von Komplexität in den Abläufen der Natur zu finden gemeint. Es bedeutet, wie Sigmund Freud sich schon ausdrückte, dass wir als individuelle Existenzen nichts weiter sind als ein Majoratsherr, der ein fremdes Gut anvertraut bekommen hat zur Verwaltung, um es weiterzugeben: Unsere Persönlichkeit gilt da gewissermaßen als bloße Überlebensmaschinerie bei der Weitergabe der Gene.

Hört man genau zu, ist es übrigens für viele heute der einzig verbleibende Trost angesichts des Todes: Wir leben ja doch weiter in unseren Kindern.

Aber: Das tun wir mitnichten – im Gegenteil: Würden wir bei Fortschritt der Biotechnologie aus dem Körper des Tut Anch Amun einen eineiigen Zwilling klonen, hätten wir biologisch zweifellos eine vollkommen identische Struktur vor uns, aber ganz sicher nicht Tut Anch Amun aus dem 14. Jahrhundert vor Christus. Alles, was im Kopfe dieses geklonten Zwillings vor sich gehen würde, unterschiede ihn radikal von dem, was einmal war. Was Persönlichkeit ist, geht nicht hervor aus der Biologie. Unmöglich daher zu sagen, wir leben in unseren Kindern. Sie müssen verschieden sein von uns. Und wer erwarten wollte durch die Prägung seiner Erziehung, die Kinder wären wie er selber, würde sie wahrscheinlich bis zum Zerfall ihrer Persönlichkeit zerstören. Er muss die Kinder frei geben, aber wer ist er dann als Mensch – eine Frage, die sich bereits an Abraham richtete: Was, wenn das verheißene Kind, das endlich kommt, Isaak, dir weggenommen würde? Wenn du den Auftrag hättest, es sogar selber fortzugeben? Wer wärst du dann im Gegenüber Gottes (vgl. Genesis 22)?

Die Biologie antwortet prinzipiell nicht darauf, wer wir als Personen sind. Sie spielt ein Nullsummenspiel entlang des Energieerhaltungssatzes, erster Hauptsatz der Thermodynamik. Da hat sich lokal Energie verdichtet in lebendigen Strukturen, die individuiert sind, kurzzeitig und vorübergehend. Und dann wird die Natur ohne Zögern uns selber wieder einschmelzen im Gang des Energieerhalts. Mehr ist mit uns nicht vorgesehen.

Wir brauchen an dieser Stelle die gigantischen Zeitmaße, in denen die Astronomen auch nur die Strahlungsfähigkeit unseres Zentralgestirns, der Sonne, auf circa 5 Milliarden Jahre kalkulieren, gar nicht in die Argumentation einführen. Selbst unser Kosmos, unser Universum, wird irgendwann des Todes sterben, wahrscheinlich durch ständige Ausdehnung den Kältetod, eventuell aber auch den Hitzetod, indem alles sich wieder zusammenzieht zu einem gigantischen schwarzen Loch. Beides ist möglich. Es hat in jedem Fall nichts zu tun mit der Frage, weswegen es uns gibt und warum wir leben. Und nun muss man allein im 19., 20. Jahrhundert mit sich steigernder Beschleunigung sehen, wie die alten Standardargumente der theologischen Begründungen zugunsten des Glaubens an Gott hinweggenommen werden.

Der Anfang der Welt etwa: Bis vor Kurzem galt das – wieder nach dem Kausalsatz – als ein »Argument« für Gott; doch inzwischen sehen wir, dass der »Anfang« vielleicht nur ein Durchgang war – wie wenn man auf der Kante eines Möbius-Bandes entlanggeht: Man gerät an einen Wendepunkt, aber an ­keinen Anfang und an kein Ende; oder wir erklären das Universum als eine von unendlich vielen möglichen Vakuumfluktuationen quantenphysikalisch; wir wenden Darwins Selektionstheorie vom Spiel zwischen Zufall und Notwendigkeit auf die Entstehung und den Verlauf der Evolution des ganzen Kosmos an …!

Oder: Die Entstehung des Lebens – bis vor fünfzig Jahren ein schier unlösbares Rätsel, für die Biochemie heute die Diskussion eines Boulevards von Wahrscheinlichkeiten, durch den sich aus anorganischer Materie organische Strukturen, schließlich biologische Formen gebildet haben. Oder: die Entstehung des Bewusstseins – ebenfalls noch bis vor etwa fünfzig Jahren kaum erfindlich, uns heute aber durchaus begreifbar, indem wir komplexe Systeme betrachten, die auf sich selber zurückgekoppelt sind. Man kann ­sagen, Bewusstsein entsteht, wenn an die Stelle von mechanischer Kausalität Informationen treten, die selber den Wert von Kausalität haben. Das klingt kompliziert, meint aber einfach dieses: dass in der Natur nur Dinge wirken können, die es wirklich gibt. Informationen aber belieben auch zu wirken, wenn es etwas nicht gibt. Jeder Zeichencode hat zu tun mit der Ziffer Null oder etwas, das gerade nicht gesendet wird. Sie gehen morgens zum Briefkasten, und Sie finden nicht den Brief Ihres Freundes oder Ihrer Freundin. Er ist nicht da. Was das bedeutet, ist unklar. Aber plötzlich erleben Sie, wie gerade unklare Informationen zur Kausalität werden: Das Herz fängt an zu rasen; Schweiß bricht aus. Was ist passiert mit dem Geliebten oder der Geliebten? Hat sie Sie vergessen, nicht mehr an Sie gedacht? Ist sie krank geworden? Alles kann sein. Und wie bekommen Sie Gewissheit? – Wenn Informationen zur Kausalität werden bis in die Psychosomatik hinein, haben wir bewusste Strukturen vor uns. Und dann ist es klar: Nicht einmal unserem Hund zu Hause werden wir absprechen können, dass er sich seiner selbst bewusst ist. Er verfügt über so etwas wie Selbstbewusstsein.

Entscheidend ist in dem Zusammenhang, dass die heutige Neurologie nicht definieren kann, was Person ist. Keine Naturwissenschaft kann das. Neurologen können untersuchen, was zwischen unseren Schläfen vor sich geht. Aber was wir Person nennen, findet nicht in einem