Diane Oliver
KARNEVAL DER LUST
Erotischer Roman
© 2012 Plaisir d’Amour Verlag, Lautertal
Plaisir d’Amour Verlag
Postfach 11 68
D-64684 Lautertal
www.plaisirdamourbooks.com
info@plaisirdamourbooks.com
© Coverfotos: Shutterstock (Igor Kireev, Rostislav Glinsky, Wallenrock, HannaMonika)
Covergestaltung: Andrea Gunschera (www.magi-digitalis.de)
ISBN eBook: 978-3-86495-031-5
Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 1
Gleichmäßig tauchten die beiden Ruderer die Blätter ins Wasser und trieben den Lastkahn über die Lagune. Das Boot war beladen mit Truhen, Kisten und Bündeln. Außer den beiden Ruderern saßen noch drei Menschen darin. Hinten im Heck der Steinmetz und Mosaiksteinleger Alvise Tasso, genannt Il Sasso, aus Verona auf einer großen Kiste, weiter vorn hockte die Magd Ana Grozio auf einer Truhe. Sie führte dem Steinmetz den Haushalt, im Moment umklammerte sie ein Bündel, aus dem oben ein Büschel Liebstöckel und die Spitzen eines Rosmarins hervorlugten. Ganz vorn saß Giuliana Tasso auf einer weiteren Truhe, die ihre Kleider und ihre Schätze enthielt, und spähte in den Nebel. Sie fragte sich, wie die Ruderer den Weg fanden. Orientierten sie sich an geheimen Marken? Als sie auf der Terraferma in das Boot gestiegen waren, hatten sie noch Konturen des Stegs, von anderen Kähnen und von Häusern gesehen. Auf der Lagune verschwamm alles in silbergrauem Nebel. An Bug und achtern hing je eine Laterne, deren Schein nicht mehr als zwei oder drei Armlängen weit in den Nebel hineinreichte. Ein Schatten kam ihnen entgegen, ein trübes Licht. Einer der Ruderer stieß einen Ruf aus, aus dem Schatten wurde geantwortet. Beide Boote glitten gefahrlos aneinander vorbei.
Je näher sie der Lagunenstadt kamen, desto mehr geisterhafte Boote begegneten ihnen und desto häufiger mussten ihre Ruderer durch Rufe auf sich aufmerksam machen. Einmal wichen sie hastig aus, als der Bug eines großen Schiffes drohend vor ihnen auftauchte. Giuliana hielt sich die Augen zu und wartete auf das Knirschen, mit dem das Schiff den Kahn unter sich begrub. Es blieb aus, und als sie durch die Finger hindurchspähte, erblickte sie die ersten schemenhaften Häuser. Da war sie, die Stolze, die Schöne: Venedig, La Serenissima.
Zu dem Geruch des Salzwassers gesellte sich der nach feuchtem Stein und moderndem Holz hinzu. Vor ihnen gähnte die Einfahrt in den Canale Grande, an seinen Ufern lagen die herrlichen Palazzi Venedigs – Gold, Marmor, Malereien und Mosaiken in verschwenderischer Fülle. Giuliana kniff die Augen zusammen, aber die Pracht verbarg sich im Nebel, sie erkannte nur schemenhafte Steinkästen. Wenigstens eine reich verzierte Gondel, die majestätisch über das Wasser glitt, ein elegant gekleideter Herr mit seinem Gefolge, vielleicht Gesang, der aus einem geöffneten Fenster drang, das hätte sie sich für ihre Ankunft in Venedig gewünscht. An diesem Novembermorgen kurz nach der Laudes, dem ersten Glockenläuten des Tages bei Sonnenaufgang, empfing die Stadt ihre neuen Einwohner schweigend.
Die Ruderer trieben den Kahn ein gutes Stück den Canale Grande entlang, bevor sie linker Hand in einen schmalen Seitenkanal einbogen. Giuliana fröstelte, strich sich das nebelfeuchte Haar aus der Stirn, zog ihre Kappe tief über beide Ohren und die Schultern hoch. Ihr lehmfarbenes Wams mit dem ausgefransten Kragen war nicht warm genug für die Morgenfeuchte, die sie umgab. Dazu trug sie eine wadenlange Hose von gleicher Farbe, über dem linken Knie war ein Riss mit ungleichmäßigen Stichen geflickt, als hätte sich dort jemand das erste Mal mit Nadel und Faden versucht. Stiefel aus Rindsleder vervollständigten ihre Aufmachung. Giuliana hatte sie über die nackten Füße gezogen. Ein Stück ihrer Wade war zu sehen, und die Zehen waren kalt in den Stiefeln.
Am liebsten hätte sie sich in die Arme ihres Vaters gekuschelt oder sich eine Decke um die Schultern geschlungen. Das passte aber nicht zu der Rolle des kecken Burschen, die sie in Venedig zu spielen gedachte.
Die Ruderer bogen wieder in einen anderen Kanal ein. Der Kahn glitt unter einigen niedrigen Brücken hindurch. Giuliana sah sich zu ihrem Vater um. Der hochgewachsene Steinmetz musste den Kopf einziehen.
Ihre Ankunft in der Serenissima hatte sie sich anders vorgestellt. In der Stille ihrer Kammer in Verona hatte sie von Sonnenschein geträumt, von prächtigen Gondeln, einem rot verputzten Haus mit gotischen Fenstern, durch die ein gut aussehender Mann nach ihr Ausschau hielt. Allenfalls auf ihren Vater wartete Ludovico Bragadin, ein wohlhabender Patrizier, dessen Palazzo Il Sasso mit einem Mosaik noch prächtiger gestalten sollte. So lautete der Auftrag, der ihren Vater bewogen hatte, seine Werkstatt in Verona aufzugeben und nach Venedig überzusiedeln. Sie mimte seinen Lehrling, deshalb war sie als Bursche verkleidet. Welcher Mann sollte auf sie warten?
Je weiter der Morgen voranschritt, desto mehr hoben sich die Nebel und gaben den Blick auf den Kanal und das Häusermeer der Lagunenstadt frei. Dicht an dicht lehnten die Häuser. Giuliana legte den Kopf in den Nacken und zählte: Nicht wenige besaßen fünf Stockwerke. Wie wäre es wohl, dort oben zu wohnen und über alle Dächer zum Meer zu schauen? So weit war sie mit ihren Gedanken gekommen, als die Kirchen der Stadt zur Terz läuteten, zur dritten Stunde des Tages. Tiefe und helle Klänge vermischten sich miteinander, und sie hielt sich die Ohren zu. Das sollte jeden Langschläfer aufgeweckt haben. Alle Menschen, die sie kannte, hatten um diese Zeit das Frühstück verzehrt und waren an der Arbeit, ob es nun Kerzenzieher, Kaufmannsgehilfen, Schneider, Wäscherinnen oder Kupferschmiede und Weber waren. Wenn sie gehofft hatte, die Kanäle, Gassen und Plätze Venedigs würden sich mit Menschen füllen, wurde sie enttäuscht.
»Es ist November, da halten sich die Leute in den Häusern auf und die Fenster geschlossen, im Mai sieht das anders aus«, tröstete sie sich. Lautlos glitt der Kahn an einen Steg heran, und wie aus dem Nichts tauchte aus den Schatten der erste Venezianer auf, den Giuliana zu Gesicht bekam. Kein schmucker junger Mann mit gefälteltem weißem Kragen über dem Wams und einem Schwert an der Seite, sondern ein barfüßiger, zerlumpter Junge, wie sie sich auch zuhauf in Verona herumtrieben. Gegen eine kleine Münze waren sie zu allerlei Diensten bereit.
Er fing die Leine auf, die ihm einer der Ruderer zuwarf, und vertäute den Kahn längsseits eines Steges. Nachdem eine zweite Leine festgebunden war, standen die Ruderer auf und kletterten auf den Steg. Das Boot schaukelte, und Giuliana hielt sich an der Bordwand fest, bis es sich beruhigt hatte. Erst dann kletterte sie an Land.
»Wir sind da«, sagte einer der Ruderknechte überflüssigerweise.
Ana wurde von ihren langen Röcken behindert und von dem Bündel mit den Kräutertöpfen, das sie um keinen Preis loslassen wollte. Sie schoss einen wütenden Blick auf Giuliana ab, die sich an ihr Burschendasein erinnerte und der alten Haushälterin aus dem Boot half. Ihr Vater machte einen Riesenschritt auf den Steg, stieß dabei das Boot zurück, das gehörig ins Wanken geriet. Einer der beiden Ruderknechte ließ einen Packen fallen, den er gerade aus dem Boot heben wollte.
»Eh, Mann.«
»Du musst vorsichtiger sein, Papa«, flüsterte sie ihrem Vater zu.
»Bursche«, grollte er. Il Sasso sah nicht mehr so gut wie früher. Was genau vor ihm war, erkannte er nur noch schlecht und hatte deshalb den Abstand zwischen Boot und Steg nicht einschätzen können – deshalb der Riesenschritt. Natürlich wollte er nicht, dass jemand sein nachlassendes Augenlicht bemerkte, denn wer beschäftigte einen Steinmetz, der nicht mehr gut sah, oder ließ sich von so jemandem ein Mosaik legen? Seit einem Jahr ging das nun schon so, und ohne Giulianas Hilfe konnte er gar nicht mehr arbeiten. Zuerst hatte sie nur sein Geld gezählt, seine Bücher geführt und in der Abgeschiedenheit ihrer Kammer Skizzen gezeichnet. Jetzt reichte das längst nicht mehr, sie musste auch während des Legens der Mosaiksteine seine Augen sein. Deshalb war sie auf den Ausweg verfallen, in Venedig als sein Sohn und Lehrling zu leben, um immer an seiner Seite zu sein.
Das Schicksal hatte ihm den Sohn als Nachfolger verwehrt, aber Giuliana war fest entschlossen, diese Rolle so gut wie möglich auszufüllen. Sie wollte ihm so viel Arbeit abnehmen, wie sie konnte.
Er entlohnte den zerlumpten Jungen, tastete dazu einen Augenblick in seiner Börse nach einer passenden Münze. Er gab auch den beiden Ruderern je ein Geldstück, nachdem das Gepäck ausgeladen und auf dem Steg aufgestapelt lag.
Das Haus, vor dem sie standen, entsprach in nichts dem ihrer Träume. Es war alt und grau, das Wasser nagte an seinen Fundamenten. Stellenweise war der Putz abgebröckelt und der Stein darunter schwarz. Das Bemerkenswerteste an dem Haus war aber seine Breite – genauer gesagt, das Fehlen derselben. Es war nicht breiter als drei Meter. Im Erdgeschoss war nur Platz für die Tür, im ersten und zweiten Stock gab es je zwei hohe Fenster. Mit einer Wohnung im fünften Stock und einem Blick weit über die Dächer von La Serenissima wurde es also nichts.
»Hoffentlich ist das Haus tiefer als drei Meter, sonst müssen wir arg beengt wohnen«, dachte Giuliana. Ihr Haus in Verona war komfortabler gewesen.
Wenigstens waren drinnen die Wände verputzt, und die untere Hälfte war ehemals blau und die obere gelb gestrichen gewesen. Im Laufe der Jahre und vom Rauch der Fackeln und Kerzen war die Farbe verrußt und fleckig geworden. Die Treppe war ausgetreten und nur breit genug für eine Person. Auf einer Seite des Flures gab es eine schief in den Angeln hängende Tür.
»Das ist nicht gut.« Ana hielt eines von Giulianas Kleidern ins Licht der Vormittagssonne und begutachtete es. Die Sonne hatte endlich den Nebel vertrieben und den Weg nach Venedig gefunden, während sich die Familie Tasso in ihrem neuen Heim einrichtete. Das Kleid war aus dunkelgrünem, schweren Stoff, die Säume mit gewebten Bändern verziert. Dazu gehörte ein cremefarbenes Unterkleid, das noch in der Truhe lag.
»Was? Das Haus? Es ist klein, und es sitzt eine Feuchtigkeit drinnen, die noch so große Kaminfeuer nicht vertreiben können, aber wir sind in Venedig.«
Giuliana stand mit der Haushälterin in der Kammer im zweiten Stock, die ihre werden sollte.
»Alles«, sagte Ana streng. »Wir hätten in Verona bleiben sollen. Ich habe es deinem Vater gesagt, aber er hat nicht auf mich hören wollen. Du auch nicht. Das alles ist eine schlechte Idee.«
»Du hast es versprochen. Ich muss Papas Lehrling sein, mit seinen schlechten Augen kann er nicht mehr allein arbeiten.«
»Er hätte sich vor Jahren einen Gesellen heranziehen sollen. Das hätte ein vernünftiger Mann gemacht«, knurrte die Magd.
»Hätte, sollte – schau nach vorn und keif nicht herum wie ein altes Weib.« Giuliana faltete einen Unterrock zusammen und legte ihn entschlossen wieder in die Truhe. »Das werde ich erst einmal nicht brauchen.«
»Altes Weib! Werde du erst einmal so alt wie ich, mein Lämmchen, dann wirst du nicht mehr so leichtfertig sein. Ich sage dir: Aus dieser Sache entsteht nichts Gutes. Du wirst noch an meine Worte denken.«
»Meine Ana. Meine liebste, beste Ana.« Giuliana lief zu der Haushälterin und umarmte sie stürmisch. »Keine Mutter hätte sich besser um mich kümmern können als du. Nie wieder werde ich dich alt nennen.« Sie drückte überschwängliche Küsse auf Anas graues Haar. »Das wird ein wunderbares Abenteuer, du wirst sehen«, sagte sie zwischendurch.
»Wenn du nur ernst sein könntest.« Die Magd befreite sich aus der Umarmung und machte sich daran, ihr Haar zu ordnen. »Wir sollten zusehen, dass wir fertig werden. Das Zimmer deines Vaters wartet noch auf uns, die Küche – die Venezianer haben bestimmt keine Ahnung von vernünftiger Haushaltung, Madonna mia. Nirgendwo gibt es einen Flecken Grün, kein Baum und kein Kraut wachsen in Venedig. Wahrscheinlich würzen sie ihre Speisen mit dem grauen Stein, den du überall siehst.«
Giuliana lachte. »Dafür hast du doch deine Kräutertöpfe mitgebracht.«
»Wenn sie hier nicht eingehen«, sagte Ana düster.
»Du siehst alles zu schwarz, liebste Ana. Dieses Haus ist vielleicht enger als unseres in Verona, aber es hat genauso viele Kammern.« Giuliana war entschlossen, in allem nur das Beste zu sehen und zählte an den Fingern auf: »Papas Kammer, meine, die Stube, die Küche, und es gibt sogar noch ein Fleckchen für dich – gleich hier nebenan. Und wenn du erst einmal deine Nachbarn kennst, wirst du gar nicht mehr fortwollen.«
»Als ob ich die schamlosen Weiber kennenlernen will.«
Giuliana umarmte sie wieder, und Ana brummelte etwas, es klang wie: Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Anschließend wandten sie sich entschlossen wieder der Truhe mit den Kleidern zu. Zusammen nahmen sie jedes Stück heraus, schüttelten es und kontrollierten die Nähte. Danach falteten sie es wieder zusammen und legten es mit Zedernholzkugeln zurück. Es sollten keine Motten in die Kleider kommen, solange sie in der Truhe lagen. Giuliana wischte sich die Hände an der Hose ab und zupfte ihr Hemd unter dem Wams zurecht. Sie öffnete die obersten Bänder.
»Die Kleidung eines Lehrburschen hat auch Vorteile.«
»Wirst du die wohl zulassen, unvorsichtiges Ding, zeigst dich noch halb nackt.«
»Halb nackt.« Giuliana lachte. »Das wäre so.« Sie öffnete noch mehr Bänder, bis ihr Leibchen zu sehen war. Ana bemühte sich genauso schnell, sie wieder zu schließen.
Giuliana entwand sich der Magd und stellte sich ans Fenster. Es ging zum Kanal hinaus, und ein Flügel stand offen. Draußen fuhr eine Parade von Booten vorbei, und ein ohrenbetäubendes musikalisches Durcheinander erklang.
»Was ist das? Ana, schau doch.«
»Wirst du wohl.« Die Ältere war ihr gefolgt und zupfte ihr Hemd und Weste zurecht, bis der Kragen züchtig den Hals bedeckte. Sie spähte aber auch neugierig aus dem Fenster.
In einer nicht enden wollenden Kette glitten festlich geschmückte Gondeln über das Wasser. Sie schillerten in allen Farben des Regenbogens, die hochgezogenen Steven an Bug und Heck waren zu Schwänen, Löwen und Delfinen geschnitzt. Giuliana entdeckte auch im Sprung erstarrte Katzen, Drachen und leicht bekleidete Nymphen. Die Gondeln waren mit Girlanden geschmückt. Auf einigen standen festlich gedeckte Tafeln, an denen sich Männer und Frauen gütlich taten. Die Tische bogen sich schier unter den Platten und Schüsseln, die darauf standen. Was da den Gaumen der ehrenwerten Herrschaften kitzelte, war vom Fenster aus nicht zu erkennen. Dafür waren die Kostüme umso sehenswerter. Die Kleider der Damen ließen deren milchweiße Schultern frei, als wäre draußen Frühling und nicht November. Sie bestanden wie die Wämser und Hosen der Herren aus Brokatstoffen und schillerten mit den Gondeln um die Wette. In anderen Gondeln gab es keine Tische, dafür drängten sich dort so viele Menschen, es war erstaunlich, wie sie alle Platz fanden. Die Damen lehnten sich an die Herren, alle lachten und scherzten, und Giuliana entdeckte mehr als einen Mann, der seine Begleiterin aus seinem Glas trinken ließ oder ihr Köstlichkeiten zwischen die Lippen schob. Ein Paar küsste sich verstohlen. Alle hatten ihre Augen mit Halbmasken bedeckt. Federn wippten übermütig.
Sie konnte sich nicht sattsehen an dem Aufzug und beugte sich weit aus dem Fenster. Von einem Boot aus wurde sie bemerkt. Die Leute sahen zu ihr hoch. Ein junger Mann winkte ihr zu, sein breiter Mund lachte.
»Komm runter, Bursche, und tu mit.«
Eine junge Frau in einem sehr grellen blauen Kleid und mit zu rotem Haar, als dass es noch natürlich sein konnte, setzte dieser Einladung die Krone auf: »Komm her, Süßer, und lass dich von mir füttern.« Sie spitze die Lippen, und ein unhörbarer Kuss zerplatzte in der Luft.
Übermütiges Lachen folgte, und Giuliana konnte nicht anders, sie musste ebenfalls lachen. Die Gondel glitt langsam vorbei, aber sie hörte noch, wie jemand sagte: »Nicht doch, unvergleichliche Sabina, seine Mutter steht neben ihm.«
Auch von anderen Booten wurde ihr zugewinkt, sie erhielt noch mehr Einladungen, schlüpfrige Scherzworte wurden ihr zugerufen, und Ana wurde empfohlen, sich die Finger in die Ohren zu stopfen und die Augen zu schließen. Ganz offensichtlich hielten sie Giuliana für einen hübschen Jüngling und Ana für seine Mutter.
Venezianischer Karneval. Die Wirklichkeit übertraf ihre Vorstellungen, und hätte Ana nicht neben ihr gestanden, wäre Giuliana wahrscheinlich wirklich hinuntergelaufen und in eine der Gondeln gestiegen.
Die Magd schmetterte jedoch das Fenster zu und zog ihren Schützling von dort weg. Sie stemmte die Hände in die Hüften.
»Ich sehe dir am Gesicht an, was du denkst.«
»Dass sie alle sittenlose Strolche und Dirnen sind.« Giuliana bemühte sich um eine möglichst unschuldige Miene.
»Untersteh dich, auf eine der frivolen Vergnügungen zu gehen. Verschwende nicht einen Gedanken daran, Madonna mia.«
»Ana, liebste Ana.«
»Kein Wort will ich davon hören. Verdorbenes Volk, diese Venezianer.«
»Es ist doch Karneval, liebste Ana.«
»Du bist ein anständiges Mädchen und wirst allein keinen Fuß vor das Haus setzen.«
»Ich bin kein Mädchen«, frohlockte Giuliana.
»Deine Verkleidung ändert nichts.« Wie ein schwarz gekleideter Racheengel stand Ana vor ihr. »Wir haben Arbeit zu machen, sieh zu, dass du damit anfängst.«
Sie schubste Giuliana aus dem Zimmer und in das, welches ihr Vater bewohnen sollte. Dort stapelten sich Truhen und Ballen, und auf allen Möbeln lag eine dicke Staubschicht. Der Raum war mindestens ein Jahr nicht mehr genutzt worden.
»Hier gibt es viel zu tun«, sagte Ana befriedigt. Leichtfüßig wie ein junges Mädchen lief sie Treppe hinunter und kam kurz darauf mit Eimer, Bürste und Scheuerlappen zurück. Alles drückte sie Giuliana in die Hand.
»Mach gründlich sauber. Du willst doch nicht, dass dein Vater im Schmutz leben muss. Wenn du mir nicht versprechen willst, dich nicht mit leichtfertigem Volk abzugeben, werde ich dir so viel Arbeit zuteilen, dass du keine Zeit für etwas anderes hast.«
Schnell tauchte Giuliana die Bürste ins Wasser und begann, den Boden zu schrubben. »Ich verspreche dir, dass ich vorsichtig sein werde.«
»Versprich es mir auf das Kreuz.« Ana hielt ihr das Silberkreuz hin, das sie immer um den Hals trug und das ihr größter Schatz war.
Giuliana unterbrach ihre Arbeit und küsste es. Dabei lächelte sie schlau in sich hinein, denn Ana hatte nicht bemerkt, dass sie nicht das Geforderte versprochen hatte. Und vorsichtig wollte sie sein, das Versprechen gab sie sich selbst.
Im Haus war alles ruhig, nur die Wellen des Kanals schlugen leise gegen die Hauswand. Giuliana lauschte in die Dunkelheit. Sie wagte es nicht, eine Kerze anzuzünden, aus Furcht, Ana könnte durch das Haus geistern und das Licht unter der Tür hindurchscheinen sehen, sondern saß mit angezogenen Beinen im Bett. Bestimmt war es mehr als eine Stunde her, dass die Magd die Tür ihres fensterlosen Verschlages hinter sich geschlossen hatte. Er befand sich gleich neben Giulianas Kammer, und durch die dünne Holzwand war kein Laut zu hören. Bestimmt schlief die gute Ana, nachdem sie den ganzen Tag über die Sitten der Venezianer geschimpft hatte.
Wenn Giuliana ihren Plan in die Tat umsetzen wollte, musste sie es wagen, eine Kerze anzuzünden. Also schlug sie einen Funken, und gleich darauf erhellte eine Flamme das Zimmer spärlich. Neben dem Bett und ihrer Truhe gab es noch zwei Stühle und einen kleinen Frisiertisch, für das Ruhesofa, das sie in Verona ihr eigen genannt hatte, war klein Platz mehr. Dafür war sie in Venedig, und in der Stadt war Karneval. Sie klappte den Deckel der Truhe auf, obenauf lag ihr schönstes Kleid in Rubinrot, es passte herrlich zu ihrem kastanienbraunem Haar. Giuliana zog ein Hemd, das mit Stickereien verzierte Unterkleid an und schlüpfte anschließend in das rote Gewand. Das Haar steckte sie nur locker am Hinterkopf hoch, es war zu kurz für eine richtige Frisur. Die Schuhe nahm sie in die Hand.
Sie sah sich um und stellte die Schuhe wieder ab, formte aus Decken eine Rolle. Zugedeckt sah es aus, als liege sie dort und schlafe. Zufrieden mit ihrem Werk blies Giuliana die Kerze wieder aus und nahm die Schuhe. Sie drückte die Türklinke runter, aber die Tür öffnete sich nicht. Sie versuchte es noch ein paarmal mit dem gleichen Ergebnis. Abgeschlossen!
»Verdammt, Ana!«, flüsterte sie. »Du schließt mich nicht ein.«
Giuliana bohrte erst mit dem Finger und dann mit der Nadel einer Brosche im Türschloss. Sie war ungeschickt, und die Brosche fiel zu Boden. Das Geräusch jagte ihr einen riesigen Schreck ein.
Im Haus klappte eine Tür, und Giuliana erstarrte zur Salzsäule. Jemand flüsterte. Sie glaubte, die Stimme ihres Vaters zu erkennen und die Anas, sie redeten leiseflüsterten miteinander. Waren beide aufgewacht, weil ihr die Brosche heruntergefallen war? Sie huschte ins Bett und stellte sich schlafend, die Lust auf ein Karnevalsvergnügen war ihr für heute vergangen. Die Decke bis zum Kinn gezogen, lauschte sie auf Schritte auf der knarrenden Treppe. Leise, leise näherten sie sich, und wenn sie nicht wie ein Luchs gelauscht hätte, hätte sie sie nie gehört. Die Schritte schlichen an ihrer Kammer vorbei, aber bis Giulianas Herz wieder ruhig und gleichmäßig schlug, dauerte es geraume Zeit und noch länger, bis sie endlich eingeschlafen war.
Am Morgen stellte sie fest, dass Ana sie nicht eingeschlossen hatte, sondern dass ihre Tür klemmte. Das Holz hatte sich verzogen, nachdem im Haus geheizt wurde, um die feuchte Kälte des venezianischen Winters zu vertreiben. Trotzdem war es in ihrer Kammer kalt, und fröstelnd rieb Giuliana die Hände. Sie trug zwei Hemden übereinander, hatte ihre Stiefel mit einer Lage Lappen ausgepolstert und fror trotzdem.
Die Küche war der wärmste Raum im Haus, denn hier sorgte Ana den ganzen Tag für ein Feuer im Herd, und sie war bereits lange vor Sonnenaufgang aufgestanden und hatte ihr Reich in Besitz genommen. Giuliana kam zitternd herein. Sie gähnte.
»Halte die Hand vor den Mund«, sagte Ana statt einer Begrüßung.
»Ein ungehobelter Lehrjunge macht so was nicht. Gibt es warmes Wasser zum Waschen?«
»Wenn du welches holst und über dem Feuer heiß machst.«
»Liebste Ana, du hast bestimmt noch was übrig.« Giuliana schlich zum Kessel und spähte hinein. Leer.
»Rede nicht so mit mir, als wolltest du mir etwas abschmeicheln.«
»Habe ich das je gemacht?«
Ana murmelte etwas – es konnte ein Stoßgebet oder eine Verwünschung sein – und verließ mit dem Wassereimer die Küche. Als sie gleich darauf zurückkam, füllte sie den Kessel und stellte ihn auf den Herd.
»Waschen kannst du dich allein?«
»Ein Lehrling macht sich höchstens die Fingerspitzen nass und spritzt sich ein paar Tropfen ins Gesicht.«
»Dir gebe ich gleich ein paar Tropfen.«
Giuliana duckte sich, denn es war durchaus schon vorgekommen, dass Ana solchen Ankündigungen Taten folgen ließ. Heute schimpfte sie nur: »Wenn ein Mädchen sich als Junge verkleidet, kann ja nichts anderes als so etwas dabei herauskommen. Es ist nicht gottgewollt, dass die Weiber ihre Beine zeigen, auch nicht in Hosen. Du und dein Vater, ihr hört nie auf mich. Es ist eine Tolldreistigkeit, dich in Venedig als Junge auszugeben. Du hast den Meister dazu überredet, aber du wirst sehen, was du davon hast.«
»Einen lohnenden Auftrag hat Vater davon.« Giuliana wollte Ana nicht noch mehr verärgern, deshalb wusch sie sich gründlich mit dem warmen Wasser. Es brachte die kalte Haut auf ihren Wangen angenehm zum Prickeln.
»Wo ist mein Vater?«
»Er ist schon aufgestanden. Nicht jeder kann so lange schlafen wie der Lehrling oder wie ein leichtsinniger Bengel, der sich in der Nacht aus dem Haus schleichen will, das gehört sich nicht für einen Christenmenschen.« Ana schaute sie dabei auf eine Weise von unten an, als wollte sie ihr bis auf den Grund der Seele blicken.
Sie weiß Bescheid, schoss es Giuliana durch den Kopf. Ich muss vorsichtig sein, Ana ist wieselschlau.
Kapitel 2
»Jeder zeigt, was er hat, oder, Amadeo? Wenn das die Mägdlein sehen, werden sie vor Wonne kreischen.« Bernardo wackelte mit dem Hintern, als er übertrieben stolzierende Schritte machte. Seine weit ausgestellten Hosen ließen das Ganze noch grotesker wirken.
Die beiden Brüder Bernardo und Carlo Filiaso lachten, und Amadeo selbst am lautesten.
»So gehe ich nicht. Eher so, und da kreischen die Weiber, dass du dir die Ohren zuhalten musst.« Er streckte das Becken vor und ging breitbeinig einige Schritte. Wieder lachten alle. Er warf einen demonstrativen Blick auf den Schritt seines Freundes, wo die weite Hose dessen Gemächt verbarg. »Bei dir heulen sie vor Enttäuschung.«
»Man muss zeigen, was man hat, und wenn man nichts hat, muss man es auch zeigen. Täuschung ist nicht erlaubt und wird mit Tanzentzug bestraft«, keuchte Carlo kaum verständlich zwischen einzelnen Lachern.
Die vier jungen Männer waren auf dem Weg zu einem Karnevalsball. Sie waren prächtig herausgeputzt mit weiten Kniehosen und aufwendig verzierten Wämsern, an den Ärmeln waren die Nähte durchbrochen und zeigten das bestickte Futter. Sie trugen mit Pelz verbrämte Umhänge und dazu passende Samtkappen auf dem Kopf. In den Händen hielten sie Masken. Alle entstammten venezianischen Patrizierfamilien, waren nicht älter als Mitte zwanzig und steckten voller Übermut.
Passanten wurden auf die drei aufmerksam. Die meisten waren ebenfalls auf dem Weg zu einem Karnevalsvergnügen und amüsierten sich über die Spaßvögel. Junge Damen warfen ihnen übermütige Blicke zu. Die Männer lachten zurück.
»Häschen, viele leckere Häschen«, freute sich Carlo und spitzte die Lippen zu einem schmatzenden Kuss in Richtung einer Gruppe junger Damen. Die kicherten und wandten sich ab. Jetzt waren die Dämchen noch schüchtern, angefeuert vom Tanz und vom Wein würde so manche heute Nacht mehr als Küsse tauschen.
Die Männer setzten ihren Weg Richtung San Marco fort.
»Ich werde zwei, drei, vier in dieser Nacht haben«, fing Bernardo wieder an zu prahlen.
»Warum nicht gleich fünf oder sechs?«, feixte Amadeo.
»Ich will euch nicht alle wegschnappen.«
»Wie nett von dir.«
»So ist das unter Freunden.«
Sie legten sich die Arme um die Schultern und lachten lauthals. Ihre Phalanx nahm die Breite der Gasse ein. Entgegen Kommende mussten sich eng an die Hauswände drücken oder in Eingängen Zuflucht suchen. Drei junge Mädchen mit ihrer Gouvernante kamen ihnen entgegen. Die jungen Dinger lachten angesichts der Barriere vor ihnen, die ältere Anstandsdame blickte säuerlich. Amadeo und seine Freunde dachten gar nicht daran, Platz zu machen – die Gelegenheit, mit den Mädchen auf Tuchfühlung zu gehen, war zu verlockend.
Die jungen Dinger drängten sich unter den erhobenen Armen der Männer hindurch und achteten darauf, ihre Hüften an deren zu reiben. Die Gouvernante hatte derweil Schutz in einem Hauseingang gesucht.
»Unverschämte Burschen«, zeterte sie. »Und ihr benehmt euch wie anständige Frauen,und macht dem guten Namen Correr keine Schande.« Sie scheuchte ihre Schäfchen vorwärts. »Wir gehen sofort nach Hause, wenn ihr euch noch einmal so schlecht benehmt.«
Amadeo hörte unterdrücktes Kichern von den Mädchen und gemurmelte Entschuldigungen. Er hatte einen Arm um Carlos Schultern gelegt, die andere freie Hand reckte er in die Höhe und formte aus Zeigefinger und Daumen einen Kreis.
Kurz bevor sie die Piazza San Marco erreichten, setzten sie ihre Masken auf und verwandelten sich in Gaukler, Löwen oder Hermen.
Giuliana steckte sich ein paar Münzen in den Ausschnitt ihres Kleides – da waren sie sicher – und stieß die Tür ihrer Kammer auf. Die Tür klemmte immer noch; inzwischen wusste sie aber, wie sie damit umzugehen hatte: Sie musste die Tür einfach einen Spalt offen lassen. Im Flur war alles ruhig und dunkel, nur der Mond schien durch das schmale Fenster. Die Schuhe in der Hand schlich sie nach unten. Die Haustür war abgeschlossen, aber sie wusste, wo Ana den Schlüssel aufbewahrte – in der Küche im Brotkasten.
Kaum stand sie draußen, biss die Novemberkälte durch ihre dünnen Strümpfe. Sie beeilte sich, in die Schuhe zu schlüpfen. Ihren Umhang wickelte sie sich fester um die Schultern und zog sich die Kapuze über den Kopf. In der Hand hielt sie eine mit Federn geschmückte Maske. So ausgestattet machte Giuliana sich auf den Weg nach San Marco.
Dort fanden Karnevalsvergnügen für jedermann statt, hatte sie gehört. Dahin wollte sie gehen, wollte Teil dieser vergnügten, glitzernden Welt werden, eintauchen in das Gedränge, einen Becher Wein trinken und vor Aufregung rote Wangen bekommen. Seit sie am Tag ihrer Ankunft den Karnevalszug auf dem Kanal hatte vorbeiziehen sehen, träumte sie trotz Anas Verbot davon.
Je näher sie der Piazza San Marco kam, desto belebter wurden die Gassen. Als wäre ganz Venedig auf den Beinen.
Sie schloss sich zwei Mädchen in ihrem Alter an. Beide trugen billige Kleider aus dünnen Stoffen, unter den Oberkleidern waren deutlich die Unterröcke zu sehen. Aus dem Gespräch der beiden schloss Giuliana, dass die eine sich für Geld jedem Mann hingab und versuchte, die andere ebenfalls dazu zu überreden. Auf diese Weise könne sie viel mehr verdienen, statt als Magd ein Leben mit viel Arbeit und kargem Lohn zu fristen. Prostitutas – mit denen wollte Giuliana nicht gesehen werden. Sie ließ sich zurückfallen.
Die Piazza war von unzähligen Fackeln erleuchtet. Am Rand waren Buden aufgebaut, die Köstlichkeiten und Trödelkram feilboten. Giuliana erstand ein handtellergroßes Mandelplätzchen und ein Glas Honigwasser, den Wein wollte sie sich für später aufheben. Sie hatte ihre Halbmaske aufgesetzt und ließ sich in der Menge treiben. In einer Gruppe junger Männer entdeckte sie die beiden Huren. Schnell drehte sie sich weg.
Immer mehr Menschen drängten auf den Platz. Giuliana war eingeklemmt zwischen schwitzenden Leibern. Mehr als einmal hatte ihr jemand in den Po gezwickt, fremde Hände hatten ihre Hüften und ihre Oberschenkel betastet – ob auf der Suche nach ihrer Geldbörse oder anderen Vergnügungen, wer konnte das wissen. Ihre letzte Münze klemmte jedenfalls sicher unter ihrem Mieder. Lippen drückten sich auf ihren Nacken, eine Zungenspitze schoss vor. Das war schon der zweite Bursche, der dies heute Abend wagte! Aber dieser ging noch weiter, schlang von hinten die Arme um sie, und seine Hände legten sich auf ihre Brüste. Giuliana schob sie herunter und drehte sich um – sie blickte in das groteske Gesicht eines Zwerges. Nun, der Mann war nicht wirklich ein Zwerg und sah wahrscheinlich auch nicht grotesk aus, aber er trug die Halbmaske eines solchen. Oberhalb der Nase sah sein Kopf aus, als sei er ein riesiger Schwamm, den jemand zusammengedrückt hatte, und der sich nicht wieder richtig entfalten wollte. Giuliana fuhr zurück.
»Gefällt dir etwa der arme Giusefo nicht?« In all dem Lärm konnte sie seine Worte kaum verstehen, aber er spitzte schon wieder die Lippen und ließ sie seine Zungen sehen.
»Lasst mich, guter Herr.«
»Wir sind doch alle hier, um uns zu vergnügen und in der Nacht die Sorgen des Tages zu vergessen. Gib deinem Giusefo einen Kuss.«
Etwas an seinen Worten zog sie in seinen Bann, sie beugte sich vor und drückte ihre Lippen auf sein bartloses Kinn. Mit einer geschickten Bewegung seines Kopfes schaffte er es, sie auf seinen Mund rutschen zu lassen. Für einen winzigen Moment leckte seine Zunge über ihre Lippen, sie schmeckte Wein. Dann löste er sich von ihr, und die Menge saugte ihn auf, als hätte es ihn nie gegeben.
Auch Giuliana verschwand wieder inmitten der Menschen, die Menge schob sie hierhin und dorthin. Die drangvolle Enge, die Gerüche nach Schweiß, Wein und Duftwasser schlugen ihr bald auf den Magen, und schon wieder tasteten Hände über ihre Hüften. Sie stemmte sich gegen die wogende Masse, strebte zum Rand der Piazza, wo das Gedränge nicht mehr ganz so groß und die Luft besser war. Ein paarmal atmete Giuliana tief ein und aus, hielt dabei die Hände schützend vor ihre Brust und tastete verstohlen nach der Münze in ihrem Mieder. Sie war nicht da, wo sie sein sollte, auch nicht verrutscht. Giusefo fiel ihr ein. Anscheinend war er nicht der harmlose Bursche gewesen, der nichts weiter wollte, als einem Mädchen einen Kuss zu rauben. Bei der ersten Gelegenheit war sie einem Dieb zum Opfer gefallen.
Der Verlust des Groschens wog schwer, aber am meisten ärgerte sie, dass Giusefo jetzt wahrscheinlich irgendwo hockte und über ihre Dummheit lachte oder seine Hände schon wieder auf die Brüste anderer Frauen legte.
Jemand stieß Giuliana einen Ellenbogen in den Rücken. Ihr entfuhr ein schmerzhaftes »Au!«.
»Perdono, Mädchen«, hörte sie die sympathische Stimme eines jungen Mannes hinter sich.
Sie drehte sich um. In einem pelzverbrämten Umhang und mit einem prächtig bestickten Wams bekleidet stand ein Löwe vor ihr. Ein Mann mit einer Löwenmaske, Pelze, Federn und Edelsteine schmückten sie, über der Nase prangte ein daumennagelgroßer Rubin. Bestimmt farbiges Glas. Graublaue Augen musterten sie, und offenbar gefiel ihnen, was sie sahen, denn der dazugehörige Mund verzog sich zu einem Lächeln, und das brachte sein markantes Kinn vorteilhaft zur Geltung.
»Madonna mia«, entfuhr es ihm. »Du bist das hübscheste Mädchen, das ich heute Abend zu Gesicht bekommen habe, kleine Schäferin.«
»Das kannst du unter der Maske nicht sehen und sagst das bestimmt zu jeder«, antwortete sie schlagfertig.
»Ich sehe einen Körper wie den einer Venus von Milo, der in dieses hübsche Kleid passt, als wäre er hineingeboren worden.« Mit einer Hand fuhr er die Konturen ihres Körpers nach, ohne ihn zu berühren.
»Wieso nennst du mich kleine Schäferin?« Sie schob ihre Lippen zu einem Schmollmund vor, ahnte nicht, wie reizend sie das unter ihrer Federmaske aussehen ließ.
»So ein süßes Mädchen wie du muss vom Land kommen. Dort gibt es die hübschesten Dinger, sagt man.«
»Ich stamme aus Verona.«
»Vom Land, sage ich doch.« Das Beleidigende seiner Worte wurde durch seinen schalkhaften Blick gemildert.
Soweit Giuliana es trotz der Löwenmaske sehen konnte, war er ein hübscher junger Mann mit sinnlich geschwungenen Lippen. Die Haut war gebräunt, und unter seiner Kappe vermutete sie schwarze Haare. Er kam in schwarzem und dunkelgrünem Samt daher. Der Sohn einer Patrizierfamilie, schoss es ihr durch den Kopf, aber der Karneval verwischte die Unterschiede.
»Verona ist eine Stadt, mindestens so alt wie Venedig.« Er war viel zu aufregend, als dass sie beleidigt war, aber die Schmähung ihrer Heimatstadt wollte sie nicht unwidersprochen hinnehmen.
»Meinetwegen, aber dort gibt es keinen so aufregenden Karneval.«
»Das stimmt.«
»Und die schönsten Töchter Veronas sind zum Karneval in Venedig.«
»Schmeichler.« Sie lächelte und verbeugte sich spöttisch.
»Bei so viel Anmut kann ich nicht anders.«
»Noch mehr Schmeichler.« Hinter ihm entdeckte sie zwei andere junge Männer, die sie prüfend mit Blicken maßen und sich dann grinsend zurückzogen. »Deine Freunde?«
»Was!« Der Unbekannte schaute sich um. »Ach die. Die kenne ich kaum.«
»Nicht nur ein Schmeichler, auch noch ein Lügner.«
Er tat ihr den Gefallen, unter seiner Maske zerknirscht auszusehen. Giuliana fand an dem Schlagabtausch Gefallen. Der Ärger über den gestohlenen Groschen verrauchte, und vielleicht bekam sie den Löwen dazu, ihr ein Glas Wein oder einen Likör zu spendieren. Unbewusst fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und ahnte nicht im Entferntesten, dass Männer das als Einladung zu Dreistigkeiten auffassen konnten.
»Lass uns hineingehen.« Noch während er das sagte, ergriff er ihre Hand, damit sie keine Chance bekam, ihm zu entwischen.
»Wohin?«
»In den Palazzo Ducale.«
Der Dogenpalast. Giuliana lief es heiß und kalt über den Rücken. Sie hatte wunderbare Dinge über das Innere des Palastes gehört. Die Tochter eines Steinmetzen konnte jedoch nicht erwarten, es je zu sehen. Wahrscheinlich erlaubte ihr Begleiter sich einen Scherz mit ihr und wollte sie in Wirklichkeit in eine dunkle Ecke ziehen. Sie machte sich steif. »Nein.«
»Komm, es ist Karneval.«
»Ich will nicht.«
»Schäferin, im Karneval, da können Narren Dogen sein und Dogen Narren.«
Bevor sie weitere Bedenken äußern konnte, schob er sie durch die Menge, den Türen des Palazzos entgegen. Sie waren weit geöffnet und bewacht, davor staute sich eine Menschentraube. Giuliana entdeckte fantasievolle Kostüme mit Vogelfedern und Pelzbesatz. Bei einigen Gestalten wusste sie nicht, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Alle hatten ihre Gesichter mit Masken oder Halbmasken bedeckt. Sie scherzten und lachten, und es wurde auch manch verstohlener Kuss ausgetauscht. Sie unterschieden sich von der Menge auf der Piazza, denn alle diese Herrschaften steckten ausnahmslos in prachtvollen Gewändern. Gold- und silberdurchwirkte Stoffe blendeten ihren Blick, Rüschen und Spitzen quollen verschwenderisch aus Ärmeln und Ausschnitten. Bestimmt war hier niemand die Tochter eines Steinmetzen. Ihr Kavalier zog sie dichter an sich, als wollte er sie in der Menge keinesfalls verlieren. Sie brachte so viel Raum zwischen sich und ihn, wie möglich war, dennoch gelang es ihm, einen Arm um ihre Taille zu schlingen.
Sie gelangten zunächst in den Innenhof des Palazzo, dort waren ebenfalls Verkaufsstände aufgebaut. Die angebotenen Speisen und Getränke waren erlesener als auf der Piazza. Ihr Begleiter hielt sich im Hof nicht auf.
Im ersten Stock lagen die öffentlichen Räume. Im Saal, wo sonst die Ratsversammlungen tagten und über die Politik der Löwenrepublik entschieden wurde, spielte heute eine Kapelle. Die Tänzer und Tänzerinnen schritten würdevoll durch den Raum oder drehten sich, die Damen wurden von einem Tänzer zum anderen weitergereicht, vor jedem knicksten sie elegant. Es sah aus, als wäre es sorgfältig einstudiert. Mit offenem Mund schaute Giuliana zu.
»Schließ den Mund, sonst muss ich ihn küssen«, raunte ihr Begleiter neben ihrem Ohr.
»Das ist unverschämt, mein Herr.«
»Was soll ich tun bei diesen kirschroten Lippen? Sie schmecken sicher süßer als Rosenwasser, und die Versuchung ist zu viel für meine Selbstbeherrschung.«
»Ich denke, ein Ehrenmann sollte sich nicht gehen lassen.«
In Verona hatten hin und wieder junge Männer versucht, ihr einen Kuss zu rauben. Die meisten waren erfolglos gewesen, und niemand hatte ihr so glutvolle Schmeicheleien ins Ohr geflüstert wie der Venezianer. Allein vom Zuhören wurde ihr warm, seine Nähe tat noch ihr übriges.
»Dann sind die Männer in Verona blind«, säuselte er in ihr Ohr.
Und dann streiften seine Finger ihr Schlüsselbein. Die Berührung ließ einen Schauer durch ihren Leib rieseln. Aber sie war ein anständiges Mädchen, und deshalb drehte sie sich von ihm weg.
»Unverschämter.«
»Du wirst es lernen, meine Berührungen und meine Küsse zu genießen.«
»Niemals.«
Er ließ sich nicht im Mindesten davon beeindrucken, sondern griff wieder nach ihrer Hand und deutete mit einem Kopfnicken auf die Tanzfläche. Dort nahmen gerade die Paare für einen neuen Tanz Aufstellung. »Wollen wir?«
Giuliana schüttelte den Kopf. Sie würde wie ein Bauerntrampel zwischen all den Grazien wirken, in Verona hatte sie kaum Gelegenheit zum Tanzen gehabt. Ihr Begleiter drang nicht weiter in sie.
»Dann ein Glas Wein für meine schöne Schäferin.«
Diesmal nickte sie. Kurz darauf hielt sie einen Kristallpokal in den Händen, in dem der Wein golden funkelte. Der erste Schluck wärmte sie, der zweite stieg ihr zu Kopf, gefolgt vom dritten und vierten. Sie waren wieder in den großen Saal zurückgegangen, wo sie das meiste Vergnügen darin fand, in der Nähe der Wand zu stehen, seine Hände auf ihrer Hüfte zu fühlen und die Feiernden zu beobachten.
»Ich hätte nie gedacht, dass ein Mensch sich unter einer Maske so verändert, es ist wirklich niemand zu erkennen«, eröffnete sie altklug ein Gespräch.
»Wer erkennen will, der erkennt. Aber der Reiz liegt gerade darin, dass man im Schutz der Maske etwas Aufregendes erleben kann.« Seine Hand rutschte von ihrer Hüfte zu ihrem Po, gleichzeitig zog er sie näher an sich und strich mit den Lippen über die geschwungene Linie ihres Halses. »Das zum Beispiel. Oder das.« Er küsste ihr Ohrläppchen.
Giuliana seufzte, als unbekannte warme Gefühle durch ihren Leib fluteten. Sie wollte fliehen und gleichzeitig in seine Arme sinken. Ihre Gedanken überschlugen sich, und in ihrem Kopf drehte sich alles. Hastig trank sie den Wein aus, doch das führte nur dazu, dass sich alles schneller drehte. Er nahm ihr das Glas aus den Händen und stellte es irgendwo ab, seine Lippen spielten weiter mit ihrem Ohrläppchen. Giuliana fühlte sich schwach, sie musste sich gegen ihn lehnen und erlaubte ihm, ihre geschlossenen Augen durch die Maske hindurch zu küssen. Erst als sich seine Lippen den ihren näherten, erwachte sie aus ihrer Verzauberung.
»Das darfst du nicht. Lass mich.«
»Nur harmlose Küsse, reizende Schäferin. Morgen wirst du sie vergessen haben«, murmelte er, ließ aber von ihr ab.
»Bestimmt nicht.«
»Meine Küsse gefallen dir also.« Er beugte den Kopf wieder zu ihr, wollte ihr noch mehr seiner Küsse schenken.
»Nein!« Sie wich ihm aus. »Man beobachtet uns.«
»Sie sind höchstens neidisch, weil ich die schönste Schäferin Venedigs erobert habe. Und du hast selbst gesagt, unter den Masken erkennt man niemanden.«
Seine Antwort forderte ihren Witz heraus, sie konnte nicht widerstehen. »Die schönste Schäferin braucht eine Herde und einen Hirtenhund, der jedem ihrer Pfiffe folgt.«
»Dieser Hund soll dann wohl ich sein. Versuche, ob ich jedem deiner Pfiffe gehorche.«
»Du bist ein Löwe.«
»Das kann man ändern.« Ihr Galan schaute sich im Saal um, winkte jemanden zu, dessen obere Gesichtshälfte die Maske eines Hundes mit gefährlich aussehenden Reißzähnen schmückte. Der Maskentausch ging schnell vonstatten; Giuliana gelang es nicht, einen Blick auf das Gesicht ihres Begleiters zu erhaschen.
Jetzt stand er als Hund vor ihr. Sie lachte und versuchte, auf zwei Fingern zu pfeifen. Es misslang kläglich.
»Das muss meine Schäferin noch üben. Küssen geht schon besser.« Er nahm ihre Lippen wieder in Besitz, drängte sie mit dem Rücken gegen die Wand. Sein Kuss wurde fordernder, sein Leib presste sich an sie. Giuliana öffnete unter dem Druck seines Kusses die Lippen, und sogleich schnellte seine Zunge in ihren Mund. Sie keuchte überrascht auf. Das war nun doch mehr, als sie sich vorgestellt hatte. Wohin mochte das führen? Auf jeden Fall in eine Richtung, die sie nicht geplant hatte. Sie drehte den Kopf weg, schob den Mann von sich. Er nahm es gutmütig hin.
»Noch ein Glas Wein oder einen Tanz?«
»Einen Tanz«, entschied sie. Der Wein war ihr genug zu Kopf gestiegen, ein zweites Glas konnte nur zur Katastrophe führen. Sich von ihrem Galan verabschieden und nach Hause gehen, wollte sie jedoch nicht.
Ihr Begleiter führte sie in die Mitte des Saales, und sie stellten sich für eine Pavane auf. Sie schritten im Takt der Musik, trennten sich, fanden wieder zueinander, ergriffen sich bei den Händen, drehten sich, und mit jedem Schritt wurde Giuliana sicherer. Nach dem ersten Tanz brachten sie noch einen zweiten und dritten hinter sich und hätten sicher weitergemacht, wenn die Musiker nicht eine Pause eingelegt hätten. Lachend und erhitzt verließen sie Hand in Hand die Tanzfläche.
»Jetzt ein Glas Wein?«, fragte er mit samtweicher Stimme.
Das Tanzen hatte sie durstig gemacht, sie warf ihre Bedenken über Bord und stimmte zu. Die Hälfte des Weins stürzte sie sofort hinunter, danach trank sie langsamer. Sie fühlte sich angenehm leicht und nahm die Welt wie durch einen Schleier wahr.
Ohne dass sie wusste, wie sie dorthin gekommen war, befand sie sich auf einmal mit ihrem Begleiter allein in einem nur von zwei Kerzen erhellten Kabinett. Den meisten Platz im Raum beanspruchte ein wuchtiger Schreibtisch. Gegen diesen wurde sie gedrängt. Der Mann umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, und diesmal gab es kein Zurück mehr. Hungrig suchten seine Lippen ihren Mund.
Du willst es doch auch, soufflierte ihr watteweicher Geist, und sie öffnete wieder ihre Lippen. Den Geschmack seiner Zunge kannte sie schon, süß nach Wein, und das aufregende Spiel ihrer Münder ließ wieder das Gefühl der Schwäche und des Verlangens in ihr entstehen.
Seine Hände wanderten über ihren Hals. Er schob das Kleid über ihre wohlgeformten weißen Schultern. Giuliana wollte zurückweichen, aber seine Lippen gaben ihre nicht frei, und sie konnte sich aus dem Taumel nicht lösen. Im Gegenteil, sie glitt immer tiefer hinein. Seine Fingerspitzen kreisten über ihre heiße Haut kreisen, seine Lippen folgten. Sie klammerte sich an seine Schultern.
Auf einmal presste er sie so fest an sich, dass es beinahe schmerzte, und verbarg das Gesicht zwischen ihren Brüsten. Die Hundemaske verrutschte und zerknautschte.
»Du bringst mich um den Verstand«, murmelte er gegen ihre heiße Haut.
»Deine Küsse machen etwas mit mir … ich wusste gar nicht, dass Gefühle so süß sein können.«
»Sie können noch viel süßer sein. Ich kann es dir zeigen.«
Sie sollte den Kopf schütteln. Das wäre sittsam, aber sie hatte längst nicht mehr die Kraft, sittsam zu sein. Sie nickte.
»Brave Schäferin. Ich werde dich überall küssen und deinen Körper erblühen lassen wie eine Rose.«
Sie hielt ihm ihre geöffneten Lippen zum Kuss hin.
Halb lag sie inzwischen auf dem Tisch, das Kleid war über ihre Schultern hinuntergerutscht und gab ihre kleinen festen Brüste seinen Blicken preis. Noch nie hatte ein Mann so viel von ihr gesehen, und sie war stolz darauf, sich ihm zu präsentieren. Und er nahm ihr Geschenk an. Er küsste den Spalt zwischen ihren Brüsten, ließ seine Lippen über die rechte wandern und über die linke, sein Mund schloss sich um ihren Nippel, saugte sanft daran. Sie meinte, zu vergehen. Sein hartes Geschlecht drückte sich gegen ihren Oberschenkel, und auch das gefiel ihr. Aber dann wanderten seine Hände zu ihrem Hinterkopf und machten sich an den Bändern ihrer Maske zu schaffen.
»Zeig mir dein Gesicht, kleine Schäferin der Nacht, und verrate mir deinen Namen«, flüsterte er zwischen Küssen.
Seine Finger verhakten sich in ihrem Haar, und er zerrte heftiger an den Bändern. Das ernüchterte Giuliana jäh. Er durfte weder ihr Gesicht sehen, noch ihren Namen erfahren. Sie griff nach seinen Händen, versuchte, sie festzuhalten.
»Nein! Es ist Karneval.«
»Lass mich dein Gesicht sehen, schöne Schäferin.«
»Nein!«
»Ich muss. Nimm mir die Maske ab und schau in meines.«
»Nein!« Sie wehrte sich weiter gegen seine Hände in ihrem Haar. Die süße Trunkenheit war wie fortgeblasen. Nur im Schutz der Maske durfte sie ein Mädchen sein, sonst war sie Il Sassos Sohn und Lehrling.
Gerade als es ihm gelungen war, die Bänder ihrer Maske zu lösen, konnte Giuliana sich losreißen. Sie stürzte aus dem Raum, schob sich das Kleid wieder über die Schultern und hielt sich die Hände vors Gesicht, dabei schielte sie durch die gespreizten Finger.
Fort! Fort!
Sie rannte eine Treppe hinunter und drängte sich rücksichtslos durch die Feiernden. Erst als sie auf der Piazza San Marco stand, atmete sie auf.
Ihr Herz pumpte wie der Blasebalg eines Schmieds, ihr Kopf schmerzte vor Aufregung und wegen des genossenen Weins. Sie war Giulio, niemand durfte sie als Giuliana sehen.
»Seltsames Mädchen«, dachte Amadeo. Er hatte seine Maske abgenommen, drückte die zerknautschte Hundeschnauze zurecht. Verona, pah. Sie hatte nicht nur ausgesehen wie eine Schäferin vom Lande, sondern sich auch wie eine benommen. Dabei schienen ihr seine Küsse durchaus zu gefallen. Ob sie ihm alles erlaubt hätte, wäre er nicht so verwegen gewesen, ihr Gesicht sehen zu wollen? Na ja, die Nacht war noch nicht zu Ende, und andere Väter hatten auch schöne Töchter. Er setzte die Hundemaske wieder auf, bedauerte es, den Löwen dagegen eingetauscht zu haben. Ein Löwe machte mehr her als ein Hund. Es ärgerte ihn auch, dass sie ihm so leicht entwischt war. Er wäre mit irgendeinem Namen zufrieden gewesen, und nach dieser Nacht hätten sie sich nie wiedergesehen. Sie hatte viel Feuer gehabt, die Kleine; sein Schwanz war immer noch so hart, dass es beinahe schmerzte. Er musste eine andere Schönheit der Nacht finden, die seine Leiden linderte. Amadeo schüttelte die Spitzen an seinen Hemdsärmeln aus und ordnete seinen Kragen neu, bevor er sich auf die Suche nach seinen Freunden machte. Er fand Carlo im großen Saal.
»Da ist ja unser Weiberheld.« Der Freund schlug ihm auf die Schulter. »Wo hast du die hübsche Kleine gelassen?«
»Irgendwo. Ich habe von ihr alles bekommen, was ein Mann sich wünschen kann«, log Amadeo.
»Dann warst du schneller als Bernardo. Der ist noch zugange.« Carlo macht eine anzügliche Handbewegung.
»Ich habe doch gesagt, dass sie bei mir dahinschmelzen und mit ihm höchstens Mitleid haben.«
Carlos Mund verzog sich zu einem Grinsen, und weil die obere Hälfte seines Gesichts wegen der Maske unbewegt blieb, verlieh es ihm ein sardonisches Aussehen.
»Pietro Zianello wurde gesehen«, sagte Carlo auf einmal.
Amadeos Festlaune zerstob wie eine platzende Glaskugel. »Wo?«