Über das Buch

EugenDrewermann

Wege zur Menschlichkeit

Von der absoluten Notwendigkeit der Gnade

Vortrag im Rahmen des Alternativprogramms zum Katholikentag 2012 in Mannheim. Transkript des frei gehaltenen Vortrags, mit Korrekturen und Ergänzungen des Autors

Zu radikalen christlichen Schlussfolgerungen für die Gegenwart kommt Eugen Drewermann bei seinen Betrachtungen zur Apostelgeschichte. Anlass dazu war sein Vortrag im Alternativprogramm des Katholikentags 2012.

Das Christentum ist keine Morallehre, es dient nicht der Stabilisierung des bürgerlichen Zusammenlebens und den Interessen des Staates. Jenseits aller Ordnungen richtet es sich an die Verlorenen, die nicht mehr weiterwissen – diejenigen, die aufgrund von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder anderen Abweichungen vom gesellschaftlich »Normalen« an den Rand gedrängt werden. Jesu Anliegen ist heilsam, es ist ein therapeutisches: nicht verurteilend, sondern verstehend und begleitend weist seine Botschaft von der Liebe Gottes den Weg zur Menschlichkeit.

Teil I

Vortrag

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

darf ich auf dem Katholikentag in Mannheim in einer evangelischen Kirche zu Ihnen sagen: »Meine lieben Schwestern und Brüder!«

Der Aufbruch einer Kirche kann nichts anderes sein als die Rückbesinnung auf das, was Jesus gemeint hat und was die Menschen heute brauchen. Was eigentlich an der Sache Jesu ist so, dass es jeden Menschen betreffen muss, ganz einfach weil er ein Mensch ist?

Jesus hat keine Kirche gegründet. Er hat geredet als Jude zu Juden, allerdings so, dass es eine Form von Menschlichkeit begründen sollte, die sich weit entfernt von der Außenlenkung tradierter Gesetze, der Observanz bestimmter Theologen sowie dem Herrschaftswissen und der priesterlichen Verwaltung des Ritualdienstes im Tempel.

Es gibt eine Erfahrung, von der Jesus glaubte, dass er sie seinem Volk und der ganzen Menschheit schenken müsste, und in welcher das Eigentliche, was er zu sagen hatte, kondensiert. Überliefert wird im dritten Kapitel des Lukasevangeliums, dass Jesus sich aufmachte, einem Mann zu folgen, der versuchte, in äußerster Zuspitzung das, was jede bürgerliche Ethik tut, aber auch das, was in allen Religionen angelegt ist, auszuformulieren und in seiner eigenen Person Gestalt gewinnen zu lassen: Gott stehe bereit, ein Feuer- und Flammengericht über diese Welt ergehen zu lassen, spricht Johannes der Täufer am Jordan, und es liege jetzt an jedem Einzelnen, ob er die Gunst der Stunde ein letztes Mal nutze, der Strafe Gottes zu entgehen, durch Buße, Umkehr und Leistungsanstrengung entlang den 613 Gesetzen des Moses, oder ob er diese Chance vertue. Gott selbst stehe bereit mit der Axt in der Hand, den faulen Bäumen die Wurzeln zu zerschmettern.

Was Johannes mit seiner Predigt erreicht, ist gleich zweierlei: Es soll keinen Rückzug mehr geben in die Gruppe und in das Besitzwissen eines auserwählten Volkes. ›Wer‹, spricht er, ›hat euch nur gelehrt: Wir sind doch Kinder Abrahams und könnten Gottes Zorn entgehen! Aus diesen Steinen hier kann Gott Kinder dem Abraham erwecken.‹

Gefragt ist damit, was für Menschen wir in unserer eigenen Individualität und Person sind. Mit anderen Worten: Es gibt keine Wahrheitsprobe auf unsere Existenz, außer sie lebt sich Gott unmittelbar gegenüber, individuell, mündig und kompetent in eigener Verantwortung. Kein Rückzug mehr ist also möglich in Ausreden wie: ›Die anderen tun es; die Väter haben es gesagt; so ist es angeordnet; Befehl ist Befehl.‹ Das Kollektiv ist keine Entschuldigung mehr für den Einzelnen, der sich vor Gott gestellt sieht.

Und das Zweite ist, die Verschärfung der Grundannahme jeder Ethik: Ein Mensch kann tun, was er will, und er muss wollen, was das Gesetz ihm gebietet. Die Menschen sind frei, und sie haben es zu entscheiden wie zwischen links und rechts, wie ihr Leben sich einrichtet. Unableitbar sind sie in ihrer Freiheit.

An beides hat Jesus offenbar ursprünglich geglaubt. Vorbei am Tempel in Jerusalem, unabhängig vom Priesteradel der Sadduzäer, führte ihn der Weg zu Johannes. Der Mann am Jordan redete ihm unmittelbar von Gott, indem er seine Person zum Sprachrohr Gottes selber machte. So trug es in seinen Augen zumindest die Vermutung in sich, dass es richtig ist. Aber dann begibt sich in dem Augenblick, in dem er sich taufen lässt, etwas, das die Legende zu Recht als alles entscheidende Wendemarke beschreibt: Vor Jesu Augen habe der Himmel sich geöffnet, der Sperrriegel zwischen Gott und den Menschen, zwischen Himmel und Erde habe sich hinweggehoben, und eine Stimme habe Jesus angeredet: »Du bist mein Sohn.«

Aus genau dieser Stelle hat die christliche Theologie die Ableitung gewonnen, Jesus sei im Unterschied zum jüdischen Glauben zu verehren in metaphysischem Sinne als Sohn Gottes, teilhaftig zweier Naturen also, einer göttlichen wie einer menschlichen, geeint in seiner göttlichen Person, welche ist die zweite Person der dreifaltigen Gottheit.

Je länger es währte, desto komplizierter ward das Dogma, sodass im Jahre 1900 schon Adolf von Harnack fragte, ob denn all das zu bekennen und zu glauben nötig sei, um Jesus zu erreichen? Ob sich eine einfache Frau in Syrophönizien zum Beispiel, die nur bettelt, dass die Krankheit ihrer Tochter geheilt werde, wie in Markus 7, 24-30, Jesus noch zumuten darf? Und ob die dogmatisch-kirchlich verordneten Hürden nicht selbst in den Himmel wachsen, statt die Menschen zu erheben in die Hände dessen, der da sagt zu Jesus, er betrachte sich ihm gegenüber als eine väterliche oder, wenn Sie wollen, mütterliche Macht im Hintergrund der Existenz. Denn unzweifelhaft undogmatisch, aber unser Leben absolut betreffend ist die Erfahrung gemeint, die Jesus hier macht.

Die beste Erklärung der Anrede »mein Sohn bist du« finden Sie bei Jesaja. Er lässt einmal Gott selbst sagen zu seinem Volk: »Könnte denn eine Mutter ihre eigenen Kinder vergessen? Und könnte eine Mutter ihre eigenen Kinder vergessen – ich, Gott, vergesse dich nie« (Jesaja 49 15). Das wird die fundamentale Erfahrung Jesu, die in seiner Person wirklich alles verändert.

Es ist möglich, dass man Patriarchalismus am einfachsten so definiert, dass Männer ihre Zuwendung und Zuneigung abhängig machen von Leistung und normkorrektem Verhalten. Vor Kurzem hörte ich noch einen Mann stolz davon berichten, dass sein Sohn schon imstande sei, ›Plusquamperfekt‹ zu sagen. Das verdiente seine Anerkennung. Im Matriarchat, ob zu Recht oder zu Unrecht, geht die Kunde, Frauen seien imstande, ein Kind, einfach weil sie’s auf die Welt gebracht hätten, in die Arme zu schließen, ohne irgendeine Bedingung daran zu knüpfen. Ein Kind ist noch nichts, kann noch nichts, hat noch nichts, vermag aber vieles zu werden, wenn es sich aufzuranken vermag in einer Güte, die ihm unbedingt gilt.

Und gerade so, meinte Erich Fromm, hätte Jesus die Religionspsychologie seiner Zeit – in gewissem Sinne aller Zeit – ändern wollen.

Da ist ein Gott, der nicht mehr dasteht und nach gewissen Vorleistungen und vorweg erfüllten Bedingungen fragt, um mit ihm zurechtzukommen, sondern der uns nie im Stich lassen wird, der uns nie verloren geben wird, der an unserer Seite uns begleiten wird durch Tag wie Nacht.

Der russische Dichter Fjodor Michailowitsch Dostojewski in Petersburg, als er 1881 sechzigjährig starb, ließ seine Kinder ans Bett kommen und die Bibel aufschlagen, die ihm eine Dekabristenfrau auf dem Gang in den Ostrog nach Sibirien mitgegeben hatte. Mehr als fünfunddreißig Jahre war das her. Die Stelle, die er meinte, war das 15. Kapitel im Lukasevangelium, die Geschichte vom verlorenen Sohn und, vorausgehend, die Erzählung von der Suche eines Hirten nach seinem verlorenen Schaf. Beide Gleichnisse hat Jesus erzählt zur Rechtfertigung gegenüber den Anfeindungen, dass er es immer mit den Falschen halte, dass er im Widerspruch zum Mosaischen Gesetz die Unverschämtheit besitze, Menschen einzuladen, die man als Sünder klar erkennen kann – Menschen, die das Gesetz nicht kennen, schlimmer: die es nicht kennen wollen, noch schlimmer: die, wenn sie es kennen würden, nicht daran interessiert wären, es zu halten. Genau solche Leute holt er bedingungslos an einen Tisch und hat keine bessere Erklärung dafür, als dass diese Ausgestoßenen eines ganz sicher nicht gebrauchen würden, eine Süffisance der Gottseligkeit, die da fordert: Ihr müsst erst einmal durch den Neckar oder durch den Main schwimmen auf unsere sichere, bürgerlich geordnete Seite; ob ihr dabei untergeht oder nicht, ist uns egal; ihr müsst es eben schaffen, weil ihr auf der andern Seite steht. Dafür können wir nichts, das seid ihr selbst in Schuld, und jetzt, bitteschön, schließt auf zu der Seite, wo die Richtigen wohnen. Das sind bekanntlich wir. – So kann es nicht gehen, meinte Jesus. Der Grund dafür ist einfach.

Man muss von Schafzucht wirklich nicht sehr viel verstehen, um zu begreifen, wie rasch ein einzelnes Tier im Bergland von Galiläa hinter einem Felsvorsprung den Augenkontakt zu den anderen Tieren und wenig später den akustischen Kontakt verlieren kann. Ein Schaf ist keine Ziege und keine Brieftaube. Es hat kein Heimfindevermögen. Das Tier kann sich nur hinhocken und kläglich um Hilfe rufen. Ginge der Hirt, solange die Sonne noch am Himmel steht, nicht einen Teil des Weges zurück, um es zu suchen, und hätte er nicht das Glück, das Verlaufene zu finden, wäre dieses Tier, weil es sich verloren hat, selbst verloren.

Bürgerliche Gesetzbuch