2

Man soll es ja genießen, dieses Herzklopfen und die erste Zeit, aber ich weiß einfach nicht, wie. Inzwischen kennen Lennart und ich uns seit siebeneinhalb Wochen, und noch immer hat er mir nicht gesagt, was das ist mit uns, und sehen tun wir uns auch nicht besonders oft, vor allem seit sich Lennarts Wunsch erfüllt hat und er auf eine andere Station gewechselt ist, wo er nun noch mehr arbeitet als zuvor.

Neulich, als ich es vor Sehnsucht nicht mehr ausgehalten habe, bin ich wieder zum Krankenhaus gefahren, wurde auf dem Gang aber von einem Pfleger aufgehalten. Da könne ja jeder kommen, hat er gesagt, und Lennart, der ihm hätte sagen können, dass ich nicht jeder bin, war nirgendwo zu sehen. Als ich Lennart später davon erzählte, sagte er nur, dass auf der neuen Station eben andere Regeln gelten würden, noch nicht einmal den Namen des Pflegers wollte er wissen, dabei hatte ich ihn mir extra gemerkt, weil ich mir sicher war, dass Lennart ihn zur Rede stellen würde.

Zu unserer letzten Verabredung vor fünf Tagen ist Lennart eine Viertelstunde zu spät gekommen, und zwanzig Minuten später hatten wir schon fertig miteinander geschlafen, Lennart fragte, ob ich nicht noch was für die Uni tun müsse, und setzte sich selbst an irgendeinen Artikel für ein Fachjournal, »ein wichtiges Paper«, sagte er. Für heute habe ich vorgeschlagen, dass wir erst einmal essen gehen, und Lennart ist sechsundzwanzig Minuten zu spät gekommen, hat mir zur Begrüßung einen staubtrockenen Kuss auf den Mund gegeben, und nun fischt er mit den Stäbchen nach einer der Teigtaschen in seiner Brühe. Meine Hand liegt unberührt neben seiner, und ich habe das Gefühl, dass dringend etwas passieren muss.

»Vielleicht gehe ich für ein Jahr nach Frankreich«, sage ich. »Echt?«, fragt Lennart und erwischt eine Teigtasche. »Kannst du denn Französisch?« – »Nein, deshalb will ich ja hin«, sage ich. Lennart nickt und seufzt, weil ihm die Teigtasche wieder zwischen den Stäbchen herausgeflutscht ist. »Die Provence ist sehr schön«, sagt er und macht weiter mit seiner Fischerei, als gäbe es nichts Wichtigeres an diesem Tisch. »Vielleicht gehe ich schon sehr bald«, sage ich, und da endlich legt Lennart die Stäbchen beiseite. Jetzt hat er seine Hände frei und könnte nach meinen greifen, stattdessen nimmt er eine Gabel und sticht mit ihr in die Teigtasche. »Aber nicht jetzt sofort, oder? Denn vorher solltest du das hier dringend noch probieren«, sagt er und hält mir die Gabel entgegen, an deren Zinken die Teigtasche aufgespießt ist. »Nein, danke«, sage ich, »und außerdem, ich habe nicht viel Zeit heute, ich muss nach Hause und lernen.«

Die Autofahrt zurück ist voller Einsilbigkeiten, Lennart schaut größtenteils auf die Straße und ich schaue aus dem Fenster, und weder am nächsten noch am übernächsten Tag höre ich etwas von ihm. Damit ich nicht in Versuchung komme, ihn anzurufen, lösche ich seine Nummer aus meinem Handy, treffe sogar eine andere Verabredung, sage sie dann aber im letzten Moment ab und rufe mir ein Taxi. Als Lennart die Tür zu seiner Wohnung öffnet, ist es hinter ihm hell und licht, der Computer ist an, und auf dem Tisch steht ein Glas Wein. Er kann auf eine Weise allein sein, wie ich es nicht vermag. Er muss ein Geheimnis haben.

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelt, rühre ich mich nicht, und auch als Lennart an mir rüttelt, bleibe ich liegen. Irgendwann klappt die Wohnungstür zu, und ich stehe auf und öffne die einzige Tür in Lennarts Wohnung, die immer geschlossen ist. Das Zimmer dahinter ist klein, an der Wand stehen Umzugskartons und ein Regal mit neonfarbenen Ordnern und Karteikästen, und ganz oben, ein bisschen nach hinten geschoben, ist eine kleine Schatulle mit einer silbernen Schnalle.

Als ich sie öffne, bin ich einen Moment lang enttäuscht. Meine Erinnerungskiste zu Hause quillt über, allein die Dinge, die mit Lennart zu tun haben, seine Doktorarbeit, seine E-Mails, die ich mir ausgedruckt habe, die Restaurantquittungen, füllen sie bis unter den Rand, alles andere musste ich in zwei Schuhkartons auslagern. Lennarts Schatulle ist dagegen gerade mal zur Hälfte gefüllt. Um der Chronologie willen fange ich unten an, dort liegen meist die ältesten Sachen, habe ich festgestellt, und bei Lennart ist es ein Brief seiner Mutter. »Deine Doktorarbeit hat einen Ehrenplatz im Regal bekommen, wir sind alle so stolz und reden pausenlos von Dir«, steht darin. Darüber finde ich einen Bierdeckel mit Unterschriften, ein Foto von vielen Menschen in weißen Kitteln und eine Postkarte. Ein Sandstrand, eingefasst von Palmen, auf der Rückseite: »Lenni«, in Schnörkelbuchstaben geschrieben, und ein großes Herz. Wie schön das sei, keine Gefäßwandspannungs-Berechnungen mehr, keine Fragen zum holokrinen Sekretionsmodus, dafür Costa Rica, das Meer und viele Cocktails. Aufs Wiedersehen freue sie sich sehr, abholen müsse er sie nicht, Larissa setze sie ab, sie lasse auch grüßen, »viele Küsse, Deine Puck«. Von solchen Karten gibt es noch etliche mehr, unterzeichnet sind sie mit Puck oder Elisabeth und einige Male mit »dein Schatz«, vorne drauf sind Strände, Berge und Wüsten und hintendrauf Sätze, die in leichtem Ton vor sich hin plaudern, bis kein Platz mehr ist. Wie kann man so viele Karten schreiben, über so viele Jahre, ohne dass es je um Probleme geht? Dafür kehrt ein anderer Satz immer wieder. Sie seien auf einem Basar gewesen und am Stand mit den Hüten, da habe sie einfach zuschlagen müssen, »Du weißt ja, wie ich bin mit Hüten«. Oder sie habe einen schrecklichen Sonnenbrand, weil sie beim Beachvolleyball die Zeit vergessen habe, »Du weißt ja, wie ich bin auf dem Feld«. Oder sie habe in Indien im Bus über Land ein hinreißend süßes Mädchen in zerrissenen Kleidern gesehen, »Du weißt ja, wie ich bin mit Kindern«. Irgendwo zwischen all den Karten finde ich auch ein Foto. Zwei Frauen sind darauf zu sehen. Die ältere, die Lennarts Augen hat, wird umarmt von der jüngeren, die eine Pelzmütze trägt, es schneit, und beide lachen in die Kamera. Ich stecke das Foto in meine Unterhose und stelle die Schatulle zurück ins Regal.

»Du weißt ja, wie ich bin.« Es gibt keinen Zweifel, dass Lennart und Puck eine Sache sind und er und ich eine andere. Von Puck wusste Lennart alles, von mir weiß er nur, dass ich ein Loch zwischen den Beinen und immer Zeit für ihn habe. Niemals liegt er nachts wach und betrachtet mich, wenn es anders wäre, hätte ich es mitbekommen, so oft wie ich ihn anschaue in der Nacht. Und was ich alles weiß über ihn. Dass er seine Schuhe auf dem Flur geraderückt zum Beispiel, ganz egal, wie sehr er in Eile ist, dass er mit dem kleinen Finger in der Nase bohrt, wenn er Papers schreibt, die Popel kurz mustert und dann verspeist, bei der Arbeit ehrgeizig ist, beim Sex manchmal Schluckauf bekommt und Gerhard Richter und die Schweizer Berge mag. Und Puck wahrscheinlich, Puck mehr als alles andere.

Das Bild von ihr und Lennarts Mutter lege ich zu Hause auf den Klappstuhl neben mein Bett und betrachte es jeden Abend vor dem Einschlafen. Und obwohl ich es mir so oft anschaue, entdecke ich mit der Lupe manchmal noch neue Details, zum Beispiel die winzigen Perlenohrringe, die Puck unter ihrer Pelzmütze trägt. Wenn ich dann später das Licht ausknipse, stelle ich mir meine erste Begegnung mit Lennarts Mutter vor. »Was für ein außergewöhnlich schönes Mädchen«, würde sie Lennart gleich nach dem Händeschütteln zuflüstern, dann würden wir gemeinsam essen, später spazieren, die Mutter würde mich nach meiner Familie fragen und ich würde erzählen, bis sie mich in den Arm nähme. »Das wusste ich ja gar nicht, das ist ja furchtbar«, würde Lennart ganz erschrocken sagen und wieder zu Hause, würde seine Mutter ihn beiseitenehmen und dafür tadeln, dass er nie nachgefragt hat. »Deine Nina ist nicht nur bildschön, sondern auch sehr tapfer. Wirklich ein ganz anderes Format als Puck«, würde sie zu ihm sagen, und mich würde sie zum Abschied fest umarmen und bitten, bald wiederzukommen.


Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.