Im ersten Band der Reihe Passagen Gespräche entfaltet Alain Badiou im Gespräch mit Peter Engelmann vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Krisenszenarien seine Argumente, warum er trotz negativer historischer Erfahrungen an der Idee des Kommunismus festhält. Zentrale Themen sind dabei die Antizipation eines Kommunismus ohne Staat, die Problematik des Begriffs der Demokratie und die Analyse des Kapitalismus als pathologisches System. In der Erörterung seiner politischen Philosophie geht Badiou auch auf aktuelle gesellschaftspolitische Phänomene und Entwicklungen wie den „Arabischen Frühling“ oder die Situation in China ein. Das Gespräch liefert nicht nur einen hoch aktuellen Beitrag zur Frage nach den Möglichkeiten alternativer Gesellschaftsorganisation, sondern bietet auch eine Einführung in Badious philosophisches Denken und erläutert seine zentralen Begriffe im Kontext zeitgenössischen Denkens.
Alain Badiou, ehemaliger Maoist und politischer Aktivist, ist Philosoph, Mathematiker und Romancier. Er zählt zu den bedeutendsten und meist diskutierten philosophisch-politischen Denkern der Gegenwart und ist Verfechter der Idee des Kommunismus. Alain Badiou leitete die philosophische Fakultät der École normale supérieure in Paris.
Peter Engelmann ist Verleger, Philosoph und Herausgeber zahlreicher Texte der französischen Philosophen der Postmoderne und der Dekonstruktion. 1972 wurde er in der ehemaligen DDR aus politischen Gründen zu zwei Jahren Haft verurteilt, 1987 gründete er in Wien den Passagen Verlag.
PHILOSOPHIE UND DIE IDEE DES KOMMUNISMUS
PASSAGEN GESPRÄCHE
Aus dem Französischen von
Erwin Steinbach
Deutsche Erstausgabe
Aus dem Französischen von Erwin Steinbach
Realisiert mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien, MA 7, Wissenschafts- und Forschungsförderung.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de/ abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-7092-5010-5 (E-Book)
ISBN 978-3-7092-0107-7 (Broschur)
2., durchgesehene Auflage 2014
© 2013 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
http://www.passagen.at
Grafisches Konzept: Ecke Bonk, Gregor Eichinger
Fotografie: Marina Faust
Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Zur Reihe
Erstes Gespräch
Zweites Gespräch
Editorische Notiz
Peter Engelmann: Bevor wir uns dem konkreten Thema unseres Gesprächs, der „Idee des Kommunismus“ in deiner philosophischen Arbeit zuwenden, möchte ich diese Fragestellung in einen größeren Zusammenhang von Fragen sowohl zur Philosophie als auch zur Politik stellen. Deine Philosophie arbeitet einen Begriff vom Subjekt heraus, der sich vom Subjektbegriff der kapitalistischen Gesellschaft unterscheidet, die dieses in einer reduzierenden Weise als Konsumenten und wirtschaftlichen Konkurrenten auffasst. Der Begriff „Subjekt“ hat eine lange Geschichte in der Philosophie, und in Frankreich gab es auch eine Theorie vom Tod des Subjekts. Was mich interessiert, ist die Eingliederung deines Subjektbegriffs in den philosophischen Kontext Frankreichs ab den Sechzigerjahren.
Alain Badiou: Ich möchte zu diesem Punkt zwei Bemerkungen machen. In den Fünfzigerjahren war ich zunächst sehr von Sartre beeinflusst. In den ersten Jahren meiner philosophischen Studien war ich immer der Ansicht, die Kategorie des Subjekts sei eine grundlegende, und das war sie auch, besonders in Form der Theorie des freien Gewissens, die Sartre damals entwickelte. Ich kann also sagen, dass ich von einer Philosophie herkomme und ausgehe, die von der Theorie des Subjekts beherrscht wird und die in einer phänomenologischen Sprache formuliert ist. Ich komme also vom Subjektbegriff im Sinne Sartres, aber auch im Sinne Merleau-Pontys und schließlich im Sinne Husserls. Ab dem Ende der Fünfzigerjahre, als ich in die École Normale kam und dort Althusser begegnete, die ersten Bücher von Derrida las und dort Lacans Lehre begegnete, ging ich über zum Strukturalismus, das heißt zu einer Philosophie, in der das Subjekt problematisch ist. Für Althusser war das Subjekt ein ideologischer, bürgerlicher Begriff. Für Lévi-Strauss und die strukturalistische Tradition zählen nur die Strukturen, und in der heideggerschen Tradition ist das Subjekt ein Begriff aus der Metaphysik, der dekonstruiert werden muss.
All dem begegnete ich damals allerdings mit einer Art von innerem Widerstand, der einen philosophischen Ursprung hatte – die Lehre Sartres und der großen Phänomenologie der damaligen Zeit. Dieser Widerstand hatte aber vor allem persönliche, praktische Wurzeln, denn ich sah und sehe nicht, wie man in der Politik auf die Kategorie des Subjekts verzichten kann.
Peter Engelmann: Und warum kann man in der Politik nicht auf das Subjekt verzichten?
Alain Badiou: Ich kann insbesondere in der Politik nicht auf das Subjekt verzichten, weil Politik eine Frage der Orientierung ist, des Wirkens, der Entscheidungen, der Grundsätze, etwas, was nach einem Subjekt verlangt, nach einer subjektiven Dimension. Ich stelle außerdem fest, dass der Versuch, die Politik – und den Marxismus – auf einen rein objektiven Kontext zu reduzieren, ohne die Figur eines Subjekts, zu nichts anderem führt als zu einer Art von reinem Ökonomismus, innerhalb dessen man nicht einmal weiß, was das politische Handeln im eigentlichen Sinne ist – als entschiedenes, freies und konstruktives Handeln. Aus allen diesen Gründen ging ich zwar dennoch zum Strukturalismus über, mit meinen Kameraden von damals, aber mit der Idee, dass es möglich sein muss, die Lehren des Strukturalismus und/oder der Dekonstruktion mit einer Erneuerung des Subjektbegriffs zu vereinbaren, indem man die Kategorie des Subjekts umformt und beibehält.
Ich denke, schlussendlich war damals die wichtigste Lehre für mich die von Lacan, denn es war Lacan, der einerseits den Strukturen eine beachtliche Bedeutung zugemessen hat, und zwar insbesondere den sprachlichen Strukturen – das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache und so weiter –, der aber andererseits in der Nachfolge der Psychoanalyse die Kategorie des Subjekts naturgemäß beibehielt und sie darüber hinaus sogar umformte und etwas absolut Zentrales daraus machte. Ich bin also dieser Lehre als der Möglichkeit begegnet, einen Weg zu finden, der einige der Lehren der spekulativen Moderne akzeptiert, aber gleichzeitig die Kategorie des Subjekts beibehalten kann – natürlich um den Preis einer bedeutenden Umformung dieser Theorie. Ich denke, das ist bis heute mein Programm geblieben.
Peter Engelmann: Ich frage mich schon seit Langem, wie du deine Position in diesem Kontext definierst. Du hast gesagt, auf politischer Ebene könnte man ohne den Subjektbegriff nicht handeln. Aber ich möchte wieder auf die Philosophie zurückkommen. Du hast auf Philosophen angespielt, die eine Kritik des Subjektbegriffs ausgearbeitet haben, aber dann bist du direkt zur Politik übergegangen.
Alain Badiou: Nein, ich habe einfach die Politik als ein Beispiel für ein Feld des Schaffens und der Aktivität angeführt, in dem das Hauptproblem die Konstruktion eines Subjekts ist.
Peter Engelmann: Würdest du zustimmen, wenn ich sage, dass man in allen Feldern menschlicher Tätigkeit einen Subjektbegriff braucht?
Alain Badiou: Da müssen wir jetzt einen Umweg machen, denn bei mir ist der Begriff des Subjekts eng verbunden mit zwei anderen Begriffen: dem Begriff des Ereignisses und dem Begriff der Wahrheit. Ein Subjekt ist immer ein Subjekt der Wahrheit. Es ist immer das Subjekt für ein Verfahren der Konstruktion von Wahrheit oder innerhalb eines Verfahrens der Konstruktion von Wahrheit. Meine eigene Art, den metaphysischen Begriff des Subjekts zu kritisieren, besteht darin, dass ich sage, das Subjekt ist eine Schöpfung, etwas, was ich konstituiere, es ist keine Gegebenheit. Gegeben ist zum Beispiel die Figur des Individuums. Doch „Individuum“ und „Subjekt“ ist für mich nicht dasselbe, es ist sogar ein letztlich ganz grundlegender Gegensatz, auch wenn die Individuen immer dazu aufgerufen sind, Subjekte zu werden oder in ein Subjekt einzutreten. Es ist ein Aufruf, keine natürliche und beständige Bewegung. Und dieser Aufruf ergeht im Namen eines realen Prozesses, der politisch sein kann, der aber auch etwas anderes sein kann: ein politischer Prozess, ein künstlerischer Prozess, ein Prozess der Liebe. In allen diesen Fällen gibt es einen subjektiven Aufruf.
Peter Engelmann: Stimmst du mir zu, wenn ich sage, eine Kritik des Subjektbegriffs ist gerechtfertigt, aber gleichzeitig ist eine Kritik des Individuums nicht möglich, weil das Individuum eine Gegebenheit ist?
Alain Badiou: Absolut.
Peter Engelmann: Ich finde das sehr wichtig, weil es ermöglicht, einige Probleme der Dekonstruktion zu lösen.
Alain Badiou: Ich denke, bei der Kritik am Subjektbegriff ist es wichtig, klar zu sehen, dass diese Kritik auf ein bestimmtes philosophisches Konstrukt abzielt, das eine Geschichte hat. Ich akzeptiere die Idee, dass der Subjektbegriff, wie man ihn von Descartes bis zu Sartre findet, in gewisser Hinsicht ein Begriff, ein metaphysisches Konstrukt ist. Wenn ich sage, ich greife die Kategorie „Subjekt“ wieder auf, dann geschieht das in einem ganz anderen Kontext. Ich stimme natürlich zu, wenn man sagt, in dieser metaphysischen Tradition gebe es eine Art Verschmelzung von Individuum und Subjekt. Wenn man zum Beispiel das Subjekt des kartesianischen Cogito nimmt, dann ist das ein Konstrukt: Dieses Konstrukt verweist im Grunde auf eine individuelle Erfahrung, sogar das Bewusstsein bei Sartre ist ein individuelles Bewusstsein. Sartre identifiziert selbst das Individuum anhand seiner subjektiven Gestalt, also tatsächlich anhand seiner bewussten Gestalt. Was ich also von der Dekonstruktion der metaphysischen Kategorie des Subjekts beibehalte, ist der Aspekt, dass es dieses universale Konstrukt abzubauen gilt, das das Subjekt am Individuum festmacht. Man hat dann auf der einen Seite die subjektive Konstruktion, die mit Wahrheitsverfahren verbunden ist, und auf der anderen Seite, als deren irreduziblen Träger, das Individuum, das ich auch manchmal das „menschliche Tier“ nenne und das seinerseits eine Gegebenheit ist – eine Gegebenheit, die ich eine „natürliche“, das heißt beliebige nennen würde. Die Individuen existieren in der Welt, aber nur weil die Individuen existieren, kann man sie noch nicht als Subjekte bezeichnen.
Peter Engelmann: Wenn ich recht verstehe, willst du mit deiner letzten Bemerkung sagen, dass das Individuum als existierendes Individuum nicht dekonstruierbar ist. Wir wissen aber zum Beispiel auch, dass Hegel die Phänomenologie des Geistes mit dem Beweis beginnt, dass es außerhalb der Sprache kein Hier und Jetzt gibt. Das ist die genau entgegensetzte Position, von der aus er sein metaphysisches System konstruiert. Das hegelsche System geht von der Anerkennung der unausweichlichen Sprachlichkeit der Gegebenheit aus. Es geht von der Anerkennung aus, dass das Hier und das Jetzt uns nur in und durch die Sprache gegeben sind, und re-konstruiert die Welt im System philosophischer Wissenschaft. Dadurch verliert das Gegebene aber seinen Charakter als unmittelbar Gegebenes. Auch das Individuelle ist nicht mehr das gefühlte oder gemeinte Individuelle, sondern in der Sprache immer schon vermittelt. Das ist ein zentrales Problem des philosophischen Diskurses, aber auch der Vertretung der „wahren“ Interessen der „wirklichen“ Individuen. Ich selbst habe der Ent-Eignung des Individuellen gefühlsmäßig immer widerstanden beziehungsweise darauf bestanden, dass es, wie man heute sagt, die Tatsache der nicht dekonstruierbaren oder unvermeidlichen Individualität gibt, und in meiner Hegel-Kritik war ich immer auf der Seite des Individuums gegen diese Beherrschung durch den Prozess der Sprache. Aber ich sehe trotzdem auch, welche Kritik man mir entgegenhalten kann und halte sie mir auch selbst entgegen: Wie kann man angesichts der hegelschen Kritik auf der Unmittelbarkeit des Individuellen bestehen? Was heißt das nun für den politischen Widerstand? Steht diesem Widerstand hier ein philosophisches Argument entgegen?
Alain Badiou: Ich bin damit einverstanden, auf diesen anfänglichen Widerstand des Individuums gegen die Dekonstruktion hinzuweisen, allerdings unter der Bedingung, dass man sich klar vergegenwärtigt, dass dieses Individuum nichts anderes ist als ein „Es gibt“. Es ist das „Es gibt“ der Menschheit als Tierheit, weiter nichts. Daher ist es an und für sich irreduzibel, aber das verleiht ihm keine besondere Bedeutung, außer die seiner Existenz. Anders ausgedrückt, ich bin einverstanden mit der Nichtreduzierbarkeit des Individuums, unter der Bedingung allerdings, dass man den Wert des Individuums nicht der Bedeutung des metaphysischen Subjekts gegenüberstellt, als wären sie beide auf derselben Ebene. Ich bin zum Beispiel nicht einverstanden mit der Kritik, die Kierkegaard an Hegel übt. Kierkegaard sagt, dass die Existenz des Individuums letztlich irreduzibel ist. Ich bin damit einverstanden, aber nicht, wenn damit wie bei Kierkegaard eine Sakralisierung des Individuums in letztlich religiöser Gestalt vorbereitet wird. Anders ausgedrückt, das menschliche Leben ist in seiner Nichtreduzierbarkeit nichts anderes als das Leben der menschlichen Tierheit als solcher. Daher kann man sagen, es handelt sich um die Nichtreduzierbarkeit eines Körpers, eines lebenden Körpers. Ein lebender Körper ist letztlich nicht reduzierbar, er lässt sich nicht dekonstruieren.
Peter Engelmann: Das stimmt, man kann nicht die Nichtreduzierbarkeit des Individuums unterstreichen, um ihm anschließend ein Übermaß an Wert zuzumessen.
Alain Badiou: Genau das ist der Punkt. Deswegen sage ich ja, dass Kierkegaards Strategie die Dekonstruktion der hegelschen Systematik ist, um die subjektive Nichtreduzierbarkeit des Individuums herauszuarbeiten, dass er sie dann aber wieder in einen theologischen Kontext, in einen religiösen Kontext stellt. Für mich liegt im Individuum nichts anderes als die existierende Tierheit, das Lebensprinzip. Das Leben ist individuell, es bietet sich zugleich in einem Rahmen der Spezies und der Individualisierung dar, und aufgrund dessen ist es nicht dekonstruierbar. Aber die Tatsache, dass es nicht dekonstruierbar ist, verleiht ihm keinen anderen Wert als den der bloßen Existenz. Die sich daran anschließende Frage, welchen Wert die bloße Existenz hat, erhält ihren Sinn nur unter dem Gesichtspunkt einer subjektivierten Wahrheit.
Peter Engelmann: Muss man sich nicht auf ein anderes Schema beziehen, sobald man dieser existierenden Individualität Werte zuschreiben will?
Alain Badiou