Foto: Sebastian Arlt
Lilian Loke, 1985 geboren in München, studierte Englische Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur. 2011 war sie Stipendiatin der Jürgen-Ponto-Stiftung, erhielt den des Literaturfestivals Wortspiele und das Literaturstipendium der Landeshauptstadt München. 2012 nahm sie an der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin teil. Derzeit arbeitet sie als PR-Beraterin in München.
Hamm
Ich werde dir nichts mehr zu essen geben.
Clov
Dann werden wir sterben.
Hamm
Ich werde dir gerade so viel geben, daß du nicht sterben kannst. Du wirst die ganze Zeit Hunger haben.
Samuel Beckett, Endspiel
Dig, dig for silver in the name of keeping the order
Silver is nothing more than the displacement of water
Owen Pallett, On a Path
Als er den Kopf über Wasser bringt, versucht Meyer zu schreien, aber sein Atem reicht nicht. Baumkronen, kahl und dunkel gegen den Himmel, bevor sich das Wasser wieder über ihm schließt, kalt seinen Mund ausfüllt. Im Weiher des Stadtwalds, so also. Licht bricht durch die Oberfläche, mit jeder Bewegung wird der Widerstand seiner Kleider bleierner, ein Schmerz in der Brust, als berste etwas, bis sein Kragen Meyer plötzlich den Hals abschnürt, etwas packt ihn von hinten, zerrt ihn hoch. Auf einmal spürt er fest den Grund unter sich, eine Hand auf dem Rücken, eine Hand an der Schulter, ihm fährt Luft in die Lungen, und ein Husten zwingt ihn vornüber, auf dem Wasser erkennt er die Spiegelung des Himmels, der Baumkronen, seines eigenen Gesichts; ungläubig blickt er an sich herunter. Das Wasser reicht ihm kaum bis zur Brust.
Hey, alles in Ordnung mit Ihnen? Dicht neben ihm im Wasser steht ein Mann, sein Blick mehr verwirrt als besorgt, die neongrüne Sportjacke klebt ihm nass am Oberkörper, – Mein Gott, was machen Sie denn? Sie sind ja gar nicht mehr hochgekommen.
Kreislauf … wohl der Kreislauf, – Meyer wischt sich über die Augen. Er zittert am ganzen Körper, je mehr er versucht, es zu unterdrücken, desto mehr zittert er. Er dachte, er ertrinke. In dieser Pfütze von Weiher.
Los, kommen Sie, raus aus dem Wasser. Der Mann fasst ihn um die Schultern, zieht ihn von der steilen, gemauerten Uferkante am Stauwehr fort und hilft ihm die Böschung hinauf, zurück bis zum Waldweg, dann setzt er sich neben ihn auf den Boden, kippt grimmig das Wasser aus den Schuhen, – Ehrlich, wie haben Sie denn das geschafft?
Heute früh fuhr Meyer extra raus zum Laufen in den Stadtwald, wollte sich ordnen vor dem Termin mit Brink. Während er seine Runden lief, spielte er wieder und wieder die penibel geplante Besichtigungsroute für die Villa durch, neun Zimmer, drei Bäder, Einliegerwohnung für Personal, ein Parkgrundstück mit prächtigem, altem Baumbestand. Als er vor ein paar Wochen das Haus in Kronberg für Brink akquiriert hatte, war Meyer sich sicher, das werde das perfekte Matching, dieser Abschluss bringe ihn der Büroleitung bei Falber ganz nahe. Nur, falls er sich irrt, hat er demnächst eine Karteileiche mit deutlich zu hoher Marktwerteinschätzung im Portfolio, die er Falber und der Eigentümerin sehr schlecht wird erklären können. Noch gestern war Meyer überzeugt, Brink werde das Haus lieben, heute früh war er es nicht mehr. Heute früh wachte er auf, in Panik, eine Stunde quälte er sich durch die neblige Luft, begleitet vom Knirschen des Waldwegs unter den Schuhen. Gerade als er das Stauwehr am Weiher erreichte, hallte tief über dem Stadtwald das schrille Dröhnen eines Flugzeugs, Meyer sah auf, die Maschine so nah, dass er das Emblem der Lufthansa erkannte, das Blinken des Hecklichts. Er knickte um, verlor das Gleichgewicht, bekam nichts zu fassen außer den Ästen eines dürren Strauchs, dessen Wurzeln unter seinen Händen aus der Erde rissen, als er den vom Regen aufgeweichten Wegrand hinabschlitterte, bis über die steile Uferkante am Wehr.
Ob er einen Arzt brauche. Meyers Knöchel fühlt sich taub an, aber er kann auftreten. Nein, kein Arzt, er sei okay. Danke. Vielen Dank für die Hilfe. Scham macht ihm die Kehle eng, er friert erbärmlich, sein weißer Trainingsanzug ist verdreckt, Seeschlick, tote Blätter, Erde, aber Meyer zwingt sich zu einem Lächeln, – Gehen Sie ruhig, mein Auto steht gleich hinten auf dem Parkplatz, – doch der Mann winkt ab. Er bringe ihn, sein Wagen stehe auch da.
Passen Sie nächstes Mal auf mit ihrer Kreislaufgeschichte. Der Mann beugt sich zu Meyer in die offene Fahrertür, klopft zum Abschied auf das Autodach. Ob er sicher sei, dass er fahren könne. Meyer nickt. Ganz sicher. Seine Stimme bricht, er räuspert sich energisch, keine Minute länger erträgt er den mitleidigen Blick des Mannes, der Blick treibt ihm ein Brennen über das ganze Gesicht. Demonstrativ lässt er den Motor an, keine Sorge, es gehe ihm gut. Als er endlich alleine ist, dreht Meyer die Heizung bis zum Anschlag auf, stützt sich einen Moment auf dem Lenkrad ab, vergräbt den Kopf in den Armen. Er zittert immer noch, fühlt seinen Puls in den Schläfen, die Feuchtigkeit seiner Hose auf dem Ledersitz, aber kann sich nicht rühren. Erst als sein Telefon auf der Ablage vibriert, an den Termin mit Brink erinnert, reißt Meyer ein Handtuch aus der Sporttasche, wischt den Sitz ab, legt es sich unter. Zurück in seiner Wohnung, stopft er vor Wut die Sportkleidung und Laufschuhe in den Müll, fuck Adidas Supernova Glide Boost, fuck Continental-Außensohle, optimale Griffigkeit bei Nässe, Meyer hätte mit seinem Arsch zu Hause bleiben sollen, sein Hals, sein Kopf, jeder Muskel schmerzt, er fühlt sich fiebrig, überhaupt nicht in der Lage, gleich diesen Termin wahrzunehmen, aber er muss sich zusammenreißen, duscht, zieht sich um, in nicht mal einer Stunde muss er in Kronberg sein, um das Haus für die Besichtigung vorzubereiten, und, wie Falber ihn gestern bereits gewarnt hat, Brink kam bisher immer zu früh.
Meyer wirft seine Aktenmappe auf den Rücksitz, schlägt die Wagentür zu, überprüft noch mal sein Outfit für Brink in der Spiegelung der Autoscheibe, der neue tiefblaue Einreiher, weißes Hemd, silbergraue Krawatte, passendes Einstecktuch. Auf der Kappe seines Schuhs entdeckt er einen kleinen Fleck, wischt ihn mit etwas Spucke weg. Bevor er in den Wagen steigt, breitet er zur Sicherheit ein frisches Handtuch auf dem Sitz aus. Er bildet sich ein, das Leder sei immer noch sandig und klamm, die ganze Kabine rieche nach dem Moder des Weihers.
Als Meyer die Kronberger Villa betritt, strömt ihm der schwache Duft von Möbelpolitur entgegen, die Putzleute waren gestern da, Meyer öffnet die Fenster, legt die Sicherungen um, kontrolliert alle Räume, verbringt fast zwanzig Minuten damit, in den düsteren Ecken Licht zu machen, aber dann liegt alles in warmem Glanz. Zum Schluss platziert er das bestellte Blumenarrangement auf dem Tisch in der Eingangshalle, bevor er sich kurz auf den Absatz der Treppe setzt, spürt, wie ihm die Handflächen feucht werden. Ihn packt immer noch das Lampenfieber bei jeder großen Besichtigung, ein Gefühl, als sirre jede Faser seines Körpers, Angst, aber noch mehr die Lust auf Performance, sich ganz hineinzulegen in den Verkauf. Meyer steht auf, atmet durch. Heute verkuppelt er den alten Brink. Anfang sechzig, Unternehmer, Chemieindustrie, zu viel Aftershave und keine Spur von Grau im Haar, nur ein verdächtiger Violettstich im Braun. Hat gerade die Scheidung hinter sich, das alte Haus an die Exfrau abgetreten, will jetzt was nach ganz eigenem Geschmack, – Groß, ehrwürdig, mit Seele! Vernunftehen und Vernunftimmobilien seien was für Arme, hat er geschäkert. Eigentlich ist Brink Falbers Kunde, aber die vier Häuser, die Falber bislang für ihn ausgesucht hat, waren Brink noch nicht einmalig, außergewöhnlich genug, die fand er regelrecht tot.
Herr Falber hat noch nicht verstanden, was ich eigentlich suche!, lamentierte Brink vor einigen Wochen, stand mit Falber im Empfangsbereich des Maklerbüros, machte Meyer zum Publikum, als er zurückkam von einem Außentermin, fasste ihn sanft, aber bestimmt am Oberarm, hielt ihn auf. Meyer ist es mittlerweile gewohnt, von Leuten ungefragt angefasst zu werden, nimmt es hin wie ein unanständiges, aber schmeichelhaftes Kompliment, – Ihr Chef ist ein guter Mann, deklarierte Brink, Herr Falber wurde mir ja wärmstens empfohlen, aber ich bitte Sie, Herr …? Meyer stellte sich vor, Brink drückte ihm schmerzhaft die Hand, – Herr Meyer, tun Sie mir den Gefallen, helfen Sie Ihrem Chef, ich fürchte, Herr Falber hat kein Gespür für mich … Dann warf Brink einen Blick auf seine massive Armbanduhr, – So, ich muss! Herr Falber, wir sprechen – und Sie, junger Mann, Sie bringen mir ein bisschen Bewegung in die Sache, nicht?
Falber nahm die Spitze gelassen, Meyer könne sich ruhig umhören, sagte er, als Brink aus der Tür war. Wenn Meyer für den Kerl tatsächlich was finde, mache er drei Kreuze.
Drei Wochen später, auf einer von Frau Scherings Benefizgalas in der Alten Oper, stieß Meyer auf die Villa in Kronberg, allerdings war die alles andere als ein Wohnjuwel. Seinen Rat brauche sie, deklarierte seine Tischnachbarin, als er wie beiläufig fallenließ, er sei im Immobiliengeschäft. Sandra Götz, Chefeinkäuferin für Peek & Cloppenburg, überblond, überhungert, nicht mehr taufrisch, aber scheckheftgepflegt, wollte das Haus ihres Vaters verkaufen, – Gott hab ihn selig, aber das Haus ist ein Albtraum, klagte die Götz, einen absurd eklektizistischen Geschmack habe ihr Vater gehabt, Tudor-Style-Leuchter, altdeutsche Essgruppe, ein Gussofen aus dem späten 19ten, dunkle Holzvertäfelungen en masse und diese Tapisserien nach Louis Schlag-mich-tot, die ihr Vater gesammelt habe. Nicht zu sprechen von den Badezimmern, handgemalte Lindwürmer auf roten Kacheln, französische Spezialanfertigung. Die Götz seufzte angestrengt. Zerrenoviert habe ihr Vater die elegante Villa, die Marktwerteinschätzung sei erschütternd, dabei beste Lage, sanierte historische Bausubstanz.
Wer denn bewertet habe, wenn er fragen dürfe?
Geiger & Saller.
Meyer nickte ernst, schwieg, bis sich im Gesicht der Götz Verunsicherung breitmachte. Ein Franchiser wie Geiger & Saller habe doch kein Gefühl für spezielle Objekte. Sie habe hoffentlich noch keinen Auftrag erteilt. Die Götz verneinte erleichtert. Meyer bot eine unverbindliche Zweiteinschätzung an.
Geiger & Saller hatte nicht falsch bewertet, die Villa stank zehn Meter gegen den Wind nach Problemimmobilie, extrem hochwertig, stilmäßig an jeder Mode vorbei, aber Meyer überbot Geiger & Saller. Das war Brinks Haus. Ein Unikat, schrieb Meyer ins Exposé und zog den Kaufpreis rauf bis auf Brinks Budget. Einer wie Brink kaufte niemals unter Budget, der Preis musste wehtun.
Als das Angebot stand, rief Meyer sofort Brink an. Unangenehm agil bestellte der ihn vor der Besprechung zum Tennis, – Ja, das Exposé wolle er unbedingt sehen. Heute gehe nicht, aber morgen. Da sei er zwar sonst immer beim Tennis, aber – hören Sie, spielen Sie? Dann spielen wir doch eine Partie! Also hatte Meyer den letzten Sonntag statt auf der Couch auf dem Platz verbracht. Erst nach der Partie, die Meyer Brink gewinnen ließ, durfte er ihm das Exposé vorlegen. Zusammen saßen sie im Restaurant des Tennisclubs über frischem Limetteneistee mit Minze, Brink in grotesk kurzen Hosen, die erst im Sitzen ihre volle Schamlosigkeit offenbarten. Beim Blick auf die sich kringelnden, drahtigen Haare auf schlaffer, bleicher Beinhaut wand sich etwas in Meyer vor Ekel, doch er erläuterte weiter sachlich das Exposé. Als er fertig war, kratzte sich Brink nachdenklich am Kinn, – So, das also, glauben Sie, könnte mir gefallen, Herr Meyer? Brink ließ nicht durchblicken, wie sehr ihm die Villa zusagte, aber begründete gönnerhaft, Meyer habe sich beim Tennis so anständig geschlagen – zwar verloren, aber feine Partie! –, und da er ordentliche Gegner schätze, wolle er dem Häuschen auch eine Chance geben.
Brink ist eine gute Viertelstunde zu früh, braust in polierter S-Klasse die steile Landstraße herauf, aber Meyer empfängt ihn bereits vor dem geöffneten Eingangstor zum Haus, als Brink in die Einfahrt einbiegt, dann mit laufendem Motor hält, das Fahrerfenster herunterlässt.
Oha, schon da und spielen Portier, Herr Meyer?
Fahren Sie vor, die Auffahrt ist lang, ich bin dann gleich bei Ihnen, erwidert Meyer, aber Brink winkt großzügig ab.
Unsinn, ich nehm Sie mit, springen Sie rein!
Ein guter Start. Meyer steigt in den Wagen, Brink gibt demonstrativ Gas, der Benz zieht an, geschmeidig, kraftvoll. Meyer lehnt sich leicht zurück, kurz plänkelt er mit Brink über die schöne Aussicht, die es bereits auf dem Weg hierher gibt, dann parkt Brink auf dem Kiesplatz vor der Villa, und sie steigen aus. Einen Augenblick steht Brink vor dem Haus, die Arme in die Seiten gestützt, betrachtet prüfend die mit üppigem Sandsteindekor geschmückte Fassade. Meyer unterbricht nicht, wartet ab, bis Brink sich räuspert und nickt, ja, auf so einem Foto komme manches nicht zur Geltung. Dann öffnet Meyer die hohe, schwere Eingangstür, lässt Brink den Vortritt. Sie schreiten lautlos auf dichtem, weichem Perser, der Schein des Tudorleuchters bringt die Holzvertäfelung des Vestibüls zum Schimmern. Brink sagt nichts, sieht sich nur um, wieder die Arme in die Seiten gestützt, lässt den Blick wandern von der massiven Holzwangentreppe, die in die oberen Stockwerke führt, hinüber zu der doppelflügeligen Tür zum Kaminzimmer mit goldgelbem Buntglaseinsatz. Keine Rührigkeit in Brink mehr, ganz ruhig wird Brink, von Raum zu Raum wird er ruhiger. Meyer führt ihn durch das Haus wie durch ein Museum, weist auf Details hin, die aufwendige Ornamentik des gusseisernen Ofens, Löwen- und Schlangenmotive auf den Ofenplatten, gegossen um 1890, legt Bedächtigkeit und sanfte Ehrfurcht in die Stimme, vermeidet jede Art der Anpreisung. Beschreibt stattdessen, erläutert: Tafelparkett, Stuck in allen Erdgeschossräumen, Leisten und Zierornamente mit Ranken und Blattwerk, Jagdszenen in den Reliefen, ein Bogenschütze in antikisierendem Gewand, Rebhühner, Jagdhunde, ein Hirsch, ein Hase; im Obergeschoss Kassettendecken aus verschiedenen Hölzern, Zeder, Eibe, Zirbelkiefer, in den Bädern handgearbeitete Kacheln, Nordfrankreich, Lindwurmmotiv, Brink nickt, aha, oh, ja. Zuletzt treten sie hinaus auf die Terrasse mit Blick über das große Grundstück, Meyer deutet: Eichen, Sommerlinden, Blutbuchen, einige davon über zweihundert Jahre alt.
Brink steckt sich ein Zigarillo an, bietet Meyer auch eines an, reicht ihm Feuer. Sie rauchen still, während Brink seinen Blick über die Gartenanlage schweifen lässt. Meyer registriert Brinks betont aufrechte Haltung, das Kinn gereckt, die dichten Brauen leicht angehoben, fast wehmütig, die Lippen minimal geschürzt. Brink stellt sich vermutlich vor, wie es wäre: er hier und alles seins. Meyer stört nicht, raucht, tut, als ob er die Aussicht genieße. Dann wendet sich Brink ihm plötzlich zu, die wulstigen Lippen kräuseln sich, sind auf einmal ganz nervöse Bewegung. Meyer erwidert Brinks Blick unaufgeregt, beinahe liebevoll, – Herr Brink?
Ja dann, Herr Meyer, jetzt mal Tacheles, Sie haben ja lang genug hinter dem Berg gehalten – der Preis?
Meyer nennt den Kaufpreis, schwingt um auf einen geschäftlichen Ton.
Oh, nicht gerade ein Schnäppchen, erwidert Brink.
Im Budget, sagt Meyer.
Ja, im Budget, gibt Brink zu, macht eine Pause, zieht an seinem Zigarillo. Ob das Interieur auch zum Verkauf stehe, will er wissen. Meyer lächelt. Er sei sich ganz sicher, Frau Götz werde Herrn Brink bei Interesse durchaus entgegenkommen. Da das Haus ihrem Vater gehört habe, habe das Mobiliar zwar einen emotionalen Wert, aber bestimmt sehe sie es gern in den Händen eines Liebhabers weiterhin verbunden mit dem Anwesen.
Brink bläst Rauch in die frische Morgenluft, dann stützt er sich mit beiden Händen auf die steinerne Balustrade, senkt nachdenklich den Kopf, sein Doppelkinn quillt ein Stück über den gestärkten Kragen seines Hemdes. Wissen Sie, Herr Meyer, eigentlich ist mir das Haus etwas zu groß.
Ein Schwall Hitze fährt Meyer durch den Körper, zu groß. Brink, du Arschloch, groß war die Vorgabe, aber Meyer verzieht keine Miene. Der Kaufpreis. Brink testet. Der testet bloß, – Ein unvernünftiges Haus, fügt Brink hinzu, dann sieht er Meyer wieder an, fast provokant: Sagen Sie, was war das Unvernünftigste, was Sie zuletzt getan haben?
Meyer sucht Brinks Gesicht ab nach einer humorigen Regung, aber findet nur Ungeduld. Der meint die Frage ernst, Brink geht es nicht ums Handeln, der hadert. Komm, alter Mann, Vernunft, Schwachsinn, du wolltest es doch noch mal krachenlassen, so kurz vor Schluss, Best Ager, Master Consumer, Generation Gold, Herrgott, wer will schon vernünftig ins Grab? Brink ist reif wie Fallobst, der braucht was, das ihn bestärkt, aber reizt – bloß keine Anpreisung. Meyer wägt einen Moment seine Antwort ab, bevor er spricht, – Das Unvernünftigste, was ich zuletzt getan habe, Herr Brink, war vermutlich, dieses Objekt für Sie zu akquirieren.
Wie er denn das verstehen solle? Brink klingt erstaunt und leicht verstimmt. Meyer neigt den Kopf mit einem Anflug von Bedauern, streicht über den rauen Handlauf der Balustrade, – Wenige begreifen die Philosophie eines solchen Hauses. Der vernünftige Makler hätte entweder verzichtet oder – Meyer verzieht abfällig den Mund, – Entkernung angeraten, radikale Modernisierung: bulthaup-Küche, puristische Badausstattung, Granit, Glas, Rainshower-Dusche, Standardbäder wie in jedem besseren Ketten-Hotel. Abschließend Home Staging mit dem üblichen Mailänder Möbelmesse-Mist aus der vorletzten Saison. Gesichtslos, massentauglich. Einfach verkäuflich. Meyer wendet sich dem Haus zu, legt den Kopf in den Nacken, Brink folgt seinem Blick hinauf zu den mit grünen Gusseisenrahmen verzierten Gauben, – Charakterobjekte verlangen vom Makler immer mehr Arbeit. Das Haus ist ein unvernünftiges Haus. Meiner Meinung nach macht das seinen Wert aus. Deshalb habe ich es akquiriert.
Brink mustert Meyer einen Augenblick lang schweigend, beginnt auf und ab zu laufen über die große Terrasse; bleibt schließlich stehen, halb von Meyer abgewandt, die Sonne lässt sein Haar leuchten, verrät ein paar lichte Stellen. Dann macht Brink wieder kehrt, sehr schneidig, zieht an seinem Zigarillo, sieht Meyer fest in die Augen.
Also, Herr Meyer, – Brink hebt zwei Finger, zwischen den Knöcheln das Zigarillo geklemmt, tippt Meyer auf die Brust, dass ein Stück Asche abbricht und zwischen ihnen zu Boden rieselt, – Bei Ihnen hat mich mein Gefühl nicht getäuscht – eigentlich bin ich keiner für Schnellschüsse, aber Bedenkzeit ist schließlich auch Lebenszeit – wenn es sich noch verhandeln lässt mit dem Interieur, sage ich: Sie haben Ihren Käufer.
Brink streckt ihm die Hand entgegen, Meyer nimmt sie, rasch, erwidert Brinks kräftigen Händedruck, genießt den fein brennenden Schmerz.
Falber kommt ihm schon im Flur entgegen, sieht ihn erwartungsvoll an, Meyer spürt, wie ihm der Schweiß ausbricht, sein Körper fühlt sich an wie wattiert, er weiß nicht, ob das Fieber ist oder bloß die Euphorie. Als er nickt, – Treffer, versenkt, Brink will das Haus! – packt Falber ihn an den Schultern, herzlich, grob, flucht durch gebleckte, perlweiße Kronen: Thomas, verdammter Goldjunge! Besteht jetzt auf ein Glas Scotch, nicht mal halb eins durch, aber ein Glas müsse jetzt sein, Meyer solle sich gefälligst setzen und erzählen! Falber schiebt Meyer in sein Büro, öffnet das Teakholzkabinett, holt die Flasche achtzehnjährigen Rosebank heraus und füllt zwei Gläser, stellt eines vor Meyer auf den Tisch, die Flüssigkeit schwappt, schliert in malzigen Tränen entlang der Glasinnenseite zurück nach unten.
Die Möbel will Brink auch, sagt Meyer und nimmt Platz – mindestens die altdeutsche Essgruppe, die Chesterfield-Couch und den Neobarock-Sekretär. Und die Tapisserie Schäferin mit Hirtenjunge – Meyer breitet die Hände aus, dann legt er sich eine emphatisch auf die Brust: Mitten ins Herz. Die – Zitat –: muss er haben.
Ob es was zu feiern gebe?
Auf einmal steht Gläsker im Türrahmen, die Arme locker vor der Brust verschränkt, offensichtlich bemüht um Beiläufigkeit. Lockerheit steht Gläsker nicht, Gläsker ist Typ Seriös, da ist er König, Anzüge in Schwarz, Blau, Anthrazit, keine Experimente bei Krawatten und Socken, die Haare gescheitelt, grau meliert, im Nacken scharf geschnitten; jede Lockerheit wirkt bei Gläsker, als ob gleich der ganze Mensch aus den Fugen gerate. Meyer sieht ihn nur an, einen Hauch mitleidig. Neuerdings zeigt Gläsker gewaltiges Interesse an allem, was Meyer so tut. Seit Beatriz das Kind gekriegt hat, macht Falber nämlich Ernst, hat sich vor einem halben Jahr die klassizistische Stadtvilla drüben in Wiesbaden gekauft, zwölf Zimmer, drei Stockwerke, vierhundert Quadratmeter Wohnfläche, Treppenhalle mit acht Metern Deckenhöhe – Wiesbaden, wir kapern Wiesbaden!, hat Falber schon vor fünf Jahren verkündet, sich nach und nach dort breitgemacht, erfolgreich gewildert im fremden Revier und vor drei Monaten endlich das zweite Büro in der Wiesbadener Villa eröffnet: Wohnen und Arbeiten unter einem Dach. Seit Beatriz das Kind gekriegt hat, wird Falber nämlich auch ein bisschen sentimental, Zeit für die Familie, bla, bla, bla, ungeplantes, spätes Vaterglück mit achtundvierzig. Auch da macht Falber Ernst, nächsten Monat Hochzeit mit Beatriz, achtundzwanzig, Flugbegleiterin bei der Lufthansa, brasilianische Wurzeln gepantscht mit Offenbacher Genen. Gleichzeitig kocht Falbers Entrepreneursblut hoch – endlich Wiesbaden, zweites Quartier, Falber an vorderster Front, Ziel: Eroberung Wiesbadens, keine Gefangenen! Für das Büro am Opernplatz braucht er deshalb bald einen, der die Geschäfte in Frankfurt führt, hier nach dem Rechten sieht, während Falber sein Wiesbaden kapert. Gläsker hätte gute Chancen. Aber Meyer weiß, er hat sie auch. Jetzt noch ein Stück mehr.
Und ob es was zu feiern gebe!
Falber klärt Gläsker auf, Hartmut Brink wolle das Gründerzeithaus in Kronberg, und für einen Moment füllt der Kaufpreis der Villa angenehm den Raum aus. Dann drückt Falber Gläsker auch ein Glas Scotch in die Hand, Gläsker gratuliert Meyer breit lächelnd zum Verkaufserfolg, aber Gläskers Blick zieht nicht mit, Gläskers Blick wünscht ihm die Pest an den Hals. Meyer nimmt einen Schluck, hält den Blickkontakt über den Glasrand hinweg, bis Gläsker wegsieht, erst zu Boden, dann zu Falber, der begonnen hat, die Chose mit Brink von Anfang an zu erzählen. Gläskers Mundwinkel haben Mühe, ihre gefällige Position zu halten. Ein guter Verkäufer hat sein Gesicht immer unter Kontrolle. Gläsker verschwendet die Möglichkeiten seines Gesichts, gesegnet mit einer stimmigen, vertrauenerweckenden Mittvierzigervisage, immer tadellos rasiert, an den richtigen Stellen verschlissen: zwei markante Linien von den Nasenflügeln hinab zu den Mundwinkeln, eine energische Zornesfalte zwischen den Brauen und, obwohl Meyer ihn selten lachen sieht, feine Lachfältchen um die Augen. Aber was Gläsker zum wirklich brillanten Verkäufer fehlt, ist schlicht Gefühl. Der brillante Verkäufer fühlt beim Verkauf, gibt sich hin beim Verkauf. Gläsker makelt kaum je ein Objekt für den Eigenbedarf, Gläsker hält sich für den großen Strategen, Renditeobjekte sind sein Spezialgebiet, Gläsker weissagt die Zukunft in Tabellen und Kurven, Zeit ist Geld, aber Timing alles, präsentiert klare, kalte Chancen bei Neubauprojekten in Sachsenhausen, exklusiven Apartmenthäusern im Westend und Finanzdistrikt, dabei steckt nur im Eigenbedarf echtes Gefühl, Sehnsucht des Kunden. Das Anlageobjekt dagegen ist hauptsächlich angefüllt mit der Faulheit des Kunden: Bitte wenig Aufwand, viel Ertrag. Kein Wunder zieht Gläsker immer die Fresse einer vernachlässigten Ehefrau. Gläsker ist zu verbissen, führt jeden Tag Krieg, als sei der Kunde der Feind. Dabei ist das Verkaufsgeschäft ein dankbares Geschäft, de facto ist man nur Überbringer bester Nachrichten: Schauen Sie, schrecklich einfach verhält sich die Sache – das alles könnte Ihnen gehören.
Als Meyer bei Falber anfing, nahm Gläsker ihn nicht ernst, Meyer war sechsundzwanzig, Gläsker sagte gleich du, checkte ihn ab. Wo er vorher war? Bei Immobilien Klenze? In Sachen Portfolio ja eher Gemischtwarenhändler, Premiumsparte sei etwas mehr als Gewerbeschein 34c und Türen aufsperren. Meyer ließ sich nichts anmerken, aber der Satz fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen. Mittlerweile nimmt Gläsker ihn ernst, macht sich sogar bei Fresinger über ihn Luft, Hält sich für High Potential, der Speichellecker!, nur, Fresinger kann nichts für sich behalten, Fresinger ist wie ein nasser Schwamm, man muss bloß sanft drücken, damit sich ein Schwall ergießt. Gläsker verkraftet nicht, dass Meyer vor knapp fünf Jahren hier einfach aufgekreuzt ist und ihm mittlerweile den Rang abläuft, ausgerechnet jetzt, Büroleitung Frankfurt, aus jeder Pore trieft Gläsker, wie sehr er das will, aber Meyer ist sicher, Gläsker riecht, um wie viel mehr noch Meyer es will. Dass Gläsker ihn hasst, ist ein Kompliment, einer mit zwölf Jahren Erfahrungsvorsprung, immer vollen Auftragsbüchern, Falbers Topmann, zumindest, was die Zahlen angeht. Die Besten erkennt man am Neid der anderen, Neid ist wie eine Kompassnadel, aber goldene Regel: Ist einer stärker, reib dich nicht auf, schließ dich ihm an.
Als Meyer noch für Klenze arbeitete, erschien in Bestlage ein Artikel über Falber mit schwarzweißem Hochglanzfoto: Falber in feinem Zwirn am Schreibtisch, das gewellte Haar elegant gescheitelt, die Hände in bewegter Geste, der Blick seriös an der Kamera vorbei in den Raum, als sei er mitten im Gespräch, die Details auf dem Bild gekonnt in Szene gesetzt: der Glanz von Falbers filigraner Armbanduhr, die halb unter der Manschette hervorlugte, ein offener Montblanc neben einem beschriebenen Bogen Papier, die Füllerkappe wie zufällig auf dem schimmernden Holz des Schreibtischs, Falbers helle Augen wach, die Pupillen eng, die Iris strahlend vom Kamerablitz. Bildunterschrift: Leben wie Gott in Frankfurt – Reinhard Falber, Spezialist für exklusive Immobilien in Frankfurt a.M. und Umgebung. Neben dem Artikel dezent platziert drei Kurzexposés zu Objekten in Bockenheim, Königstein und Bad Homburg, Preis auf Anfrage.
He, Harald!, rief Klenze seinem Geschäftspartner zu und wedelte mit dem Heft: Unser Reinhard gibt wieder den Lokalmatador! Hör dir das an! Dann zitierte Klenze spöttisch: Ein Erfolgsgeheimnis? Kein Geheimnis, nur eine klare Direktive: Der Anspruch des Kunden ist unser Maßstab, denn Kompromisse schaffen keine Zufriedenheit. Der Unterschied zwischen dem durchschnittlichen Makler und dem exquisiten – exquisiten, Harald! – ist ein intuitives und doch hochgradig geschultes Gespür dafür, welcher Kunde und welche Immobilie zusammengehören. Ha! Pass auf, jetzt kommt der Abschuss: Dabei muss der Makler stets absolut zuverlässig und ehrlich sein, denn das Fundament jedes Immobiliengeschäfts im Hochpreissegment ist Vertrauen. Blasierter Sack, blaffte Klenze und warf die Zeitschrift auf seinen Schreibtisch zurück, – Damals auf der Fachhochschule war Falber bloß der Reinhard aus Unterliederbach, jetzt spielt er sich auf wie der Von und Zu.
Nach Feierabend auf dem Heimweg kaufte sich Meyer die aktuelle Ausgabe der Bestlage, recherchierte im Netz, was über Falber Immobilien herauszukriegen war: Falber, Dipl.-Wirtschaftsingenieur, Firmengründung 1990, Opernplatz, feinste Adresse, ein überschaubares Maklerbüro, Walter Gläsker, Dipl.-Betriebswirt, Paul Fresinger, Dipl.-Jur., Jochen Merck, Dipl.-Ing. Architektur, Bausachverständiger, Georg Lohmann, Dipl.-Kaufmann, und zwei Assistentinnen, eine junge und eine alte. Eine Woche wägte Meyer ab. Dann rief er bei Falber Immobilien an. Zweimal wimmelte ihn die alte Assistentin ab, Herr Falber sei in einer Besprechung, Herr Falber sei auf einem Außentermin. Beim dritten Versuch ein paar Tage später hatte Meyer mehr Glück und erwischte ihre junge Kollegin am Telefon, die ihn nach kurzem Geplänkel anstandslos zu Falber durchstellte.
Falber blieb freundlich, aber distanziert, als Meyer erklärte, dass er für ihn arbeiten wolle. Eigentlich habe er gerade keinen Bedarf, erklärte Falber. Eventuell zukünftig? Falber ging nicht darauf ein. Warum Meyer zu Falber Immobilien wolle? Meyer erläuterte unverblümt: Es müsse was dran sein am Neid seines Chefs. Als Meyer Klenzes Namen nannte, schwieg Falber einen Moment lang. Dann sagte er: Nicht gerade loyal, was Meyer da mache.
Meyer sagte nichts, fürchtete, er habe sich zu weit aus dem Fenster gelehnt.
Aber es sei interessant, was alte Bekannte so von einem halten, fuhr Falber fort, wollte wissen, wie lange Meyer schon für Klenze arbeite. Meyer erläuterte knapp seinen Werdegang, Lehre zum Bankkaufmann, anschließend drei Jahre im Privatkundengeschäft, dann vier Jahre bei Klenze, nebenbei Fortbildung zum Immobilienfachwirt, danach Diplom-Immobilienwirt, begrub das Kleinlaute, das sich um seine Stimmbänder legen wollte, unter einem sachlichen, ruhigen Ton. Wenn du Angst hast, zwing dich zur Langsamkeit, denk an Honig, an Sirup, an Treibsand.
Später gab Falber zu: In Wahrheit hattest du mich schon, als du von Neugier durch Neid gequatscht hast. Ich war so geschmeichelt, zum Kotzen war das.
Gläsker leert seinen Scotch, als Falber Meyer energisch auf die Schulter klopft, – Spirit, Thomas, du hast spirit! – dann auf die Uhr sieht und seine Aktentasche packt. Er müsse jetzt rüber nach Wiesbaden, Lunch mit dem Fuzzi vom Bauamt, danach eine Erstbesichtigung, Architektenvilla, Komponistenviertel, er bleibe dann gleich drüben – falls was sei, anrufen.
Meyer nickt, – Grüße an Beatriz.
Richt ich aus! Dann ist Falber aus der Tür.
Einen Augenblick sieht Gläsker Meyer nur an, mit unverhohlener Verachtung. Da will was raus aus Gläsker, sein schmaler Mund öffnet sich höhnisch, und der Spalt gibt Sicht auf die Zähne frei, aber Gläsker zögert zu lang.
Hast du eigentlich schon mal Feijoada gegessen?, fragt Meyer und greift nach dem Scotch, senkt den Blick für eine Sekunde, schraubt bedächtig den Deckel ab; dann sieht er wieder auf, in Gläskers irritiertes Gesicht.
Fe-was?
Feijoada. Musst du probieren. Meyer schenkt sich nach, nimmt einen Schluck, dann befeuchtet er sich die Lippen und lächelt. Feijoada ist das brasilianische Nationalgericht, ein Bohneneintopf mit Fleisch, in Butter geröstetem Maniokmehl, Orangenscheiben und Pfeffersoße. Als Nadja und ich letztes Wochenende bei Falber waren, hat Beatriz richtig groß aufgefahren – kein Wunder, dass Falber langsam ansetzt – jedenfalls: Feijoada – eins a. Ich frag Beatriz mal nach dem Rezept. Für deine Frau.
Meyer leert sein Glas, stellt es zurück auf den Tisch, dann nickt er Gläsker zu, bevor er die Küche verlässt, – Sorry, muss los. Noch einen Termin.
Speichellecker, bitte. Meyer hat sich die Feijoada runtergezwungen, trotz seines empfindlichen Magens. Gläsker bringt Meyer nicht um die Büroleitung, nicht dieser Theoretiker ohne Herzblut, dieser ausgetrocknete, kalte Reißbrettverkäufer. Der war nie mit den Händen im Dreck, höchstens im Dreck, den der Beruf mit sich bringt, kleine, unsaubere Mittel, aber was ist das schon. Gläsker hatte nie den Dreck anderer Leute an den Fingern, echten Dreck, Straßendreck, vielleicht geht ihm deshalb die Leidenschaft ab, Dreck bildet den Willen, das Herz. In der Schusterei vom Vater putzte Meyer als Junge den Dreck von den Schuhen der Kunden, für jedes Paar fünfzig Pfennig vom Vater, in der Stunde schaffte Meyer fünf bis sechs Paar, machte drei Mark pro Stunde. Wenn es gut lief. Im Winter lief es schlechter, der Matsch, die Salzränder, die unzähligen Stiefel, die geputzt und poliert werden mussten, bis dir die Muskeln in den Armen brannten, und immer der Ekel, wenn die Hand tief in den Schuh hineinfuhr für besseren Halt, ihn erwärmte und saurer Schweißgeruch aufstieg; dann hattest du das Gefühl, der Dreck verdaue deine Hand. Die einzige Genugtuung war, wenn Meyer sich selbst besiegte, schneller war als am Tag zuvor, aber hatte er zu schludrig gearbeitet, nahm ihm der Vater die Schuhe nicht ab, ließ jede noch so kleine Unsauberkeit nacharbeiten. Hielt Meyer ein wirklich gutes Paar Schuhe in den Händen, wusste er, heute verliert er gegen sich, bei den teuren Schuhen verlangte der Vater das volle Pflegeprogramm, das Entfernen der Schnürsenkel, Abbürsten von Schmutz, dann farbige Creme, um Abriebe und ausgeblichene Stellen zu kaschieren, meistens schwarze, die dir richtig die Hände versaute, bei brauner immer Angst vor Rändern im Leder. Anschließend Politur mit der Bürste, dann Auftrag von Wachs, wieder das monotone Rauschen der Bürste, zum Schluss mit Wasser auf Hochglanz, Zeige-, Mittel- und Ringfinger fest mit dem Tuch umwickelt, endlose kleine, kreisende Bewegungen, bis die Fingerknöchel wehtaten. Während er putzte, ihm der Nacken steif wurde vom Beugen über den Schuh, unter ihm die harte Sitzfläche des Schemels, stellte er sich die Besitzer der Pumps, Mokassins, Loafers, Businessschuhe vor, modische Modelle, ängstlich konform oder hässlich bieder, bloß Gebrauchsgut oder Visitenkarte, konnte bald an Qualität, Farbe, Form ablesen, wem sie vermutlich gehörten, ob Anwohnern aus dem Viertel oder Büroleuten, Bankleuten aus den umliegenden Hochhäusern, ob mittlere oder höhere Angestellte. Nach dem Putzen wusch er sich wie besessen die Hände, um die Gerüche loszuwerden, Fett, Creme, Schweiß, Leder, wie er rieb, die Seife aufschäumte, die Nägel schrubbte, um sie sauber zu kriegen, und es doch nie ganz schaffte, die Hände minutenlang unter fließendes Wasser hielt, bis ihm fast jedes Mal der Vater unterbrach, ob er spinne, das koste Geld. Wenn Meyer sich anschließend die rissige Haut mit Vaseline einschmierte, dachte er jedes Mal, später putze er bloß noch seine eigenen Schuhe, und alle würden nur richtig gute sein, aber dafür brauchte er mehr als fünfzig Pfennig pro Paar, drei Mark die Stunde vom knauserigen Vater, die bezahlt wurden statt des Taschengelds.
Als Meyer hinaus auf den Opernplatz tritt, schlägt er die Mainzer Landstraße Richtung Schusterei ein. Er muss zum Vater, seit Wochen vertröstet ihn Meyer. Er solle doch endlich mal in der Mittagspause vorbeikommen, um den neuen Anprobestuhl anzuschauen! Der Stuhl war Kai Wiesmanns Idee. Vom eigenen Gesellen lässt sich der Vater jeden Scheiß einreden, der Vater, der sonst bei allem geizt. Hat auf Kais Rat hin letztes Jahr das ganze Ladeninventar ausgetauscht, neuntausend Euro für Neues, das aussieht wie alt: Verkaufstheke, Regale und Vitrine mit rotbraun gebeiztem Holzfurnier, lindgrüner Wandanstrich, ein Ladenschild aus Messing, das Kai selbst graviert hat, Schuhmacherei Meyer, Meisterbetrieb. Kai will mit dem Vater das Geschäft umkrempeln, sich auf Maßanfertigung, Anpassung und Reparatur hochwertiger Schuhe spezialisieren. Der Nostalgiedreck zieht tatsächlich schon die C-Prominenz an, letztens einen Ersatzbänkler von der Eintracht, einen Fernsehfritzen vom Börsenparkett. Hey, Thomas, hast du dem nicht eine Wohnung vermittelt? Ja, Kai, kann sein.
Kleines Jungtalent, der Wiesmann, das Gesellenstück ausgezeichnet von der Frankfurter Handwerkstiftung, Kammer-, Landes- und Bundessieger der Schuhmacher im praktischen Leistungswettbewerb, gerade vierundzwanzig, aber bald schon den Meister in der Tasche. Deutschlands bester Jungschuster 2009. Kai schaffte es sogar in ein paar Lokalblätter. Wenn es nach dem Vater geht, soll Kai in ein paar Jahren das Geschäft übernehmen. Bitte, nur zu. Hat der Vater endlich einen gefunden, der die Klitsche will, auf die er so viel gibt. Nur wegen der Lage ist der Laden noch nicht abgeschmiert, trotz aller Mister Minits Frankfurts, Standortvorteil Seitenstraße der Mainzer Land zwischen Frankfurter Büro Center und Trianon. Allein die Lage sichert die Kundschaft, ein konstanter Strom an Angestellten, die ihre Schuhe zum Flicken bringen – jeder Stümper von Schuster hätte sich so halten können.
Von hinten aus der Werkstatt tönt das Brummen und Kreischen der Ausputzmaschine, als Meyer die Schuhmacherei betritt. Kai kommt hinter dem Tresen hervor, empfängt ihn mit einem kräftigen Rückenklopfer, seine breitschultrige Statur wirkt noch derber in dem grobkarierten Hemd. Dieser Provinzler aus Mittelhessen glaubt ernsthaft, Meyer könne ihn leiden, nur weil Meyer nett zu ihm ist. Zu Kai Wiesmann ist Meyer standardnett, nicht überschwänglich, und wie er findet, nicht mal besonders glaubhaft, aber bei Kai reicht es schon aus, dass Meyer sich manchmal, wenn er den Vater nach Feierabend in der Schuhmacherei besucht, von Wiesmann auf ein Bier zu dritt im Bock überreden lässt, wobei Wiesmann das Reden übernimmt, abwechselnd mit Meyer und dem Vater, während Meyer und der Vater sich mangels Themen meist mehr oder minder anschweigen.
Prima, dass Meyer komme! Kai nimmt ihn beiseite, wirft einen kurzen Blick Richtung Werkstatt. Er habe eine Frage. Ob Meyer etwas zum Cordovanleder beisteuern wolle für den Geburtstag vom Vater, Gerhard habe doch schon seit Ewigkeiten vor, ein Paar Maßschuhe zu machen.
Wie? Für sich selbst? Meyer mustert Kai kritisch. Er hört das zum ersten Mal. Kai schüttelt den Kopf. Nein, als Aussteller fürs Schaufenster, das wollen sie noch mal umgestalten!
Kai unterbricht sich, als der Vater plötzlich im Durchgang zum Ladenraum steht, Meyer mit kurzem, scharfem Blick mustert, dass Meyer unwillkürlich über das Revers seines Sakkos streicht, den Knopf prüft, den Fall seiner Krawatte, bevor der Vater ihn ruppig umarmt. Hast du’s endlich geschafft! Dann schiebt der Vater ihn an den Schultern in die Werkstatt, – Komm, der Anprobestuhl steht noch hinten.
Der Stuhl wirkt wie ein Fremdkörper in der Werkstatt zwischen den alten Maschinen, Meyer betrachtet stumm den cognacfarbenen Lederbezug, das gebeizte Holz, die leichte Erhöhung mit dem Bänkchen fürs Maßnehmen. Das Ding sieht zu teuer aus. Meyer will das nicht denken, aber es ist das Einzige, was er denken kann, zu scheiß teuer. Der Vater klopft enthusiastisch auf die Sitzfläche. Probier. Meyer nimmt Platz, auch wenn er nicht will. Gut, sagt er, lehnt sich testweise zurück. Wirklich. Schön. Wie viel hat der gekostet?
Den hat ein Freund von Kai gemacht, der ist Schreiner, erklärt der Vater nur, dann nimmt er sich ein paar frisch besohlte Schuhe vom Regal, legt einen nach dem anderen in die Schuhpresse, klopft die Sohlen mit dem Hammer fest. Wie geht es sonst?, fragt Meyer, als der Vater nichts weiter sagt. Gut. Viel Arbeit. Wie immer. Selbst? Meyer steigt wieder vom Stuhl herunter, er fühlt sich exponiert auf diesem Stuhl. Als komme gleich der Arzt. Oder ein Stromschlag. Er habe heute Morgen eine großartige Besichtigung gehabt, entgegnet Meyer, eine Villa in Kronberg, der Termin sei ein voller Erfolg gewesen, der Interessent wolle kaufen. Perfektes Timing, was die offene Stelle als Büroleitung angehe.
Der Vater wirft die Ausputzmaschine an, beginnt, die frisch geklebten Absätze zu fräsen, zu bimsen, dann das Paar zu polieren. Die Büroleitung werde jetzt definitiv im Oktober eingeführt, fügt Meyer hinzu, als der Vater nicht reagiert. Gut, gut, sagt der Vater. Das Kreischen der Fräse macht Meyer irre, der Gestank von warmem Gummi, der Rücken vom Vater. Dass der Vater sich nicht mal zu Meyer umdrehen kann, während er spricht. Hörst du mich?
Sicher. Oktober. Der Vater stellt das fertige Paar zurück ins Regal, nimmt sich das nächste, – Machst du für mich die Schnürsenkel raus? Meyer blickt auf das ausgetretene Paar Schuhe, die der Vater ihm hinhält. Eine Sekunde verspürt er den Drang, sie ihm aus den Händen zu schlagen. Eigentlich müsse er gleich weiter. Der Vater runzelt die Stirn. Aber er sei doch gerade erst gekommen. Schließlich nimmt Meyer die Schuhe, entfernt langsam die Schnürsenkel, während der Vater vom letzten Innungstreffen erzählt, gegen die Maschine anschreit. Meyer sieht durchs Fenster hinaus in den Hinterhof, auf die Rückwand der Garagen, atmet aus, schluckt, ein Gefühl, als schnitte ihm etwas in die Kehle wie ein Draht. Wie oft er als Junge diese Rückwand angestarrt hat.
Als er sich verabschiedet, folgt Kai ihm zur Tür, senkt verschwörerisch die Stimme, – Also, machst du mit beim Cordovanleder? Meyer nickt nur. Er weiß sowieso nie, was er dem Vater schenken soll. Was nichts mit dem Laden zu tun hat, interessiert den Vater ja nicht.
Meyer knöpft den obersten Hemdknopf zu, stellt den Kragen auf, legt die Krawatte um, sattes Kupfer zum marineblauen Einreiher, dazu ein weißes Hemd, die neuen Manschettenknöpfe, Rotgold, achteckig, Bulgari. Bei Böhmer muss es ein bisschen mehr sein, in der Kanzlei Böhmer behandeln einen selbst die Empfangsdamen wie Dreck, sieht man nicht nach was aus. Das Outfit ist ein Geschenk von Nadja, alles außer den Schuhen, rahmengenähte, schwarze Oxfords aus butterweichem Boxcalf. Von Herrenschuhen hat Nadja leider keine Ahnung, kann einen Oxford nicht von einem Derby unterscheiden, aber sie steht drauf, Meyer auszustaffieren, hat gleich geurteilt: Aschblond, graue Augen, heller Teint, also Blautöne, gedämpftes Lindgrün, Hyazinth, Rosé, kräftige, warme Akzente, Kirschrot, Aubergine, Petrol.
Meyer geht in die Küche, macht sich Kaffee; kein Frühstück, Meyer bekommt nie was runter vor Notarterminen. Heute Punkt neun, Parteien Brink und Götz, da hat Meyer schon gestern Abend nichts mehr runtergebracht. Bis zum Flüstern der Füllfederhalter auf dem Papier des Kaufvertrags will Meyer die Leere im Körper, braucht das heiße Schneiden im Bauch, in Konsequenz schlägt ihm der Schaumwein nach Abschluss jedes Mal auf den Magen, aber das nimmt er in Kauf. Kaffee, schwarz, zwei Zucker, mehr geht jetzt nicht, Meyer rührt um, wirft den Löffel in die Spüle, macht auf dem Küchentresen Platz, schiebt Münzgeld beiseite, einen randvollen Aschenbecher, eine angebrochene Flasche Autopolitur, einen Vorratspack Rasierklingen, noch in der Drogerietüte, setzt sich und blättert schnell die Zeitung durch, bevor er losfährt, zehn Minuten Annoncenteil, Wirtschaftsteil, Sportteil, der Rest landet auf dem Stapel neben dem Mülleimer. Nadja ist konstant erschüttert über den Zustand von Meyers Wohnung. Beste Lage Sachsenhausen, Schlaf-, Wohn-, Ankleidezimmer, Fußbodenheizung, Massivholzparkett, Bad in dunklem Granit, aber nur das Ankleidezimmer ist in passablem Zustand, Hemden, Anzüge nach Farbe und Anlass aufgereiht, Gürtel und Krawatten gerollt in Schubladen, ansonsten räumt Meyer eher sporadisch auf, was einmal liegt, bleibt meistens eine Weile liegen. Im Schlafzimmer ein Haufen Klamotten für den nächsten Gang zur Reinigung, neben der Couch auf dem Boden alte Hefte von Bestlage, Bellevue, von GQ, Youngtimer, MotorKlassik, Nadja hat ihm einen Magazinsammler aus geöltem Sandelholz geschenkt, aber Meyer benutzt ihn nicht, nur die Putzfrau räumt jetzt einmal die Woche die Hefte ein, damit sie Platz zum Staubsaugen hat. Ausstatten ist Nadjas Job, Hotels, Konferenzzentren, Kanzleien, die Topetagen von Bank- und Firmenzentralen. Wenn sie bei ihm ist, vermessen ihre Augen unermüdlich die Räume, sie konnte nicht glauben, dass er hier schon drei Jahre wohnt: kein einziges Bild an der Wand, die Küchenausstattung rudimentär, vier Teller, vier Tassen, vier Wassergläser, vier für Wein, im Schlafzimmer kein Lampenschirm. Vergessen. Wie kann man denn so was vergessen, Thomas? Vor dem Umzug nach Sachsenhausen hatte er einfach alles Alte entsorgt, kaufte das Neue in einem Abwasch, mit Vertrauen in den schwedischen Möbelmacher: fürs Wohnzimmer Kollektion Stockholm, fürs Schlafzimmer Serie Malm, nicht das Billigste, aber vor allem: nichts für die Ewigkeit. Manchmal stellt Meyer sich vor, es sich leisten zu können, nur noch in Hotels zu wohnen, immer in Bewegung, eine Nacht in einem verranzten ohne Komfort, die nächste im Grandhotel, Präsidentensuite, Westin Grand, Villa Kennedy, Hessischer Hof, Hotelzimmer bedeuten Möglichkeiten, wie die Wohnungen, die Häuser, die er makelt, unbestimmt, blank, bereit, gefüllt zu werden. Er will die Möglichkeit von Möglichkeiten. Scheiß auf den einen Lampenschirm, aber die sündhaft teure Deckenleuchte von Danese Milano aus organisch geformtem Aluminium, die Nadja dann anschleppte, hat Meyer natürlich aufgehängt, auch wenn sie dem Rest der Einrichtung spottet.
An Nadja ist alles edel, clean, designed – das Platinhaar, die schwarzen Yamamotokleider, ihr makellos gezogener Lippenstift. Als er sie zum ersten Mal traf, konnte er ihr kaum zuhören. Für Heckler Bau hatte Nadja die Schauwohnung eines Westender Apartmentneubaus eingerichtet, die Wohnungsausstattung individuell wählbar von Bodenbelag bis Badarmatur. Der Vertrieb lief über Falber, Meyer begleitete ihn in die Schauwohnung, aber er bekam nicht viel von Nadjas Einweisung mit, während sie Holz-, Travertin-, Marmorsorten, Küchen- und Sanitärausstattung erklärte, ihre eleganten, langen Finger über die Materialien gleiten ließ. Wenn du Nadja in einen verranzten, alten Sessel setzt, wird er Vintage, geh mit Nadja auf einen Absacker ins Moseleck, und die Hartzer-Klitsche wird fucking Avantgarde. Aufs Moseleck könnte Meyer verzichten, aber drei Gläser Barolo, und Nadja will mit Meyer nachts durchs Bahnhofsviertel, will mit Meyer den billigen Film, will gepackt werden im schattigen Parkhauszwielicht, hinter Hecken im Grüneburgpark, will Lift, dunkle Gasse, Autorückbank. Schließlich ist der Lift aber dann doch zu prekär, die Gasse zu unheimlich, Meyers 94er Jaguar XJ-S nicht geräumig genug, und sie enden jedes Mal im Doppelbett. Da kommt die höhere Tochter durch, die Nadja nie ganz loswird, das Schering-Blut. Die Scherings tun gern groß wie die Metzlers, mischen in den Gremien der Schirn und des Städel mit, haben sich ihren Platz in der Namensreihe der Museumsförderer gesichert, Karl-Theodor Schering und Carola Muth-Schering gemeißelt in die Steinwand des repräsentativen Städel’schen Treppenaufgangs zwischen all den anderen mehr oder minder prominenten Gönnern, Gabriele Quandt-Langenscheidt, Jürgen Schneider, allerdings etwas unglücklich platziert, rechts neben dem Zugang zu den Toiletten. Die eigene Stiftung der Scherings fördert soziale Projekte, Fokus Kinder, arm, krank, lernschwach, geistig und/oder körperlich behindert, aber unterm Strich sind die Scherings gegen die Metzlers ein kleiner Fisch. Liest Meyer in der Zeitung was über das Bankhaus Schering, überkommt ihn trotzdem ein warmer Schauer. Bisher duldet Nadjas Familie Meyer allerdings bestenfalls, Nadjas Neuer, Makler, aha. Nur Nadjas Mutter taut langsam auf: Thomas, lassen Sie das Frau Schering, das macht mich alt, sagen Sie Carola.
Meyer leert seine Tasse, packt seine Sachen zusammen, die Alarmanlage gibt einen kurzen, hohen Ton von sich, als er sie anstellt und die Wohnung verlässt. Nadja hätte gern einen Schlüssel zu seinem Apartment. Gesagt hat sie das nicht, aber wenn sie über Nacht bleibt und morgens nach ihm das Haus verlässt, nimmt sie immer den Zweitschlüssel aus der Kommodenschublade, sperrt hinter sich ab, gibt ihn erst nach Wochen zurück. Ein paarmal hat sie Meyer nach Feierabend überrascht, öffnete wie selbstverständlich von innen die Tür, als er gerade aufsperren wollte; Meyer bekam jedes Mal fast einen Herzinfarkt, – Wie hast du den Alarm abgestellt? – Der Code liegt doch in der Schublade – aber Meyer hat beschlossen, Nadja kriegt ihren Schlüssel. Nächstes Mal wird er sagen: Behalt ihn. Das schadet nicht nach einem Jahr. Er weiß, was sie will, und liefert, alles andere ist nicht zielführend bei einer, die eigentlich eine Hausnummer zu groß für ihn ist. Nadja will Gentleman und eine Prise Gosse, was fürs Gemüt, was für den Pulsschlag. Dass sie sich jetzt ein Tattoo hat stechen lassen, da, wo nur er es sehen kann, ein schmales Tribal auf der Leiste, fand er furchtbar, aber irgendwie gut. Nadjas Ausbrüche berühren etwas in ihm, beim ersten Date auf der Terrasse vom Plankmann’s standen sie so dicht, dass sich ihre Schatten unter der Abendsonne übereinanderlegten, doppelköpfig, vielgliedrig, deformiert, später strandeten sie betrunken in einem Hotelzimmer vom Jumeirah, Nadja löschte das Licht, sie habe ein Monster, das bestehe nur aus Augen, starre sie an bei allem, was sie tue. Als er sagte, so eines habe er auch, aber seines sehe im Dunklen, stellte sie das Licht wieder an, küsste ihn, zog ihn aus.
Als Nadja zum ersten Mal bei ihm zu Hause war, musterte sie skeptisch seine Konsole neben dem Fernseher, ein uraltes Ding, aber damals als Teenager für ihn unbezahlbar, er hat sie erst vor ein paar Jahren gekauft, spontan auf der Zeil secondhand, als er sie in einer Auslage sah, Gran Turismo, Metal Gear Solid, Silent Hill, Resident Evil, Graphik und Soundeffekte beschissen, aber ihn bringt das runter vom Tag, entspannt ihn, hässliche, grobe, verpixelte Rennstrecken, Geisterstädte, Dämonen, Mutanten, Zombies auf seinem glasklaren 48-Zoll-Plasmascreen. Irgendwann hielt er Nadja den Controller hin. Versuch mal. Nein. Sie könne das nicht, habe das noch nie gemacht. Warum? Das gab es bei ihr zu Hause nicht, ihr Bruder wollte so ein Ding, aber die Eltern haben es verboten. Mittlerweile hat Meyer nachgerüstet, für Nadja – und sich – die neueste Konsole, Nadjas Spiel ist erstaunlich ehrgeizig, gewalttätig, Headshot.