Umschlag

Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele und Drehbücher. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach prämiert. Er erhielt sechs Mal den Deutschen Krimipreis sowie den Adolf-Grimme-Preis und den Bayerischen Fernsehpreis. Seine Romane »Süden« und »M« standen wochenlang auf Platz 1 der KrimiZEIT-Bestenliste und wurden 2012 und 2014 zu den besten deutschsprachigen Kriminalromanen des Jahres gewählt. Friedrich Ani ist Mitglied des Internationalen PEN-Clubs.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Brian Barth
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-837-3
Thriller
Überarbeitete Neuausgabe
Erstausgabe 1997

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And your lips, ruby-blue, never speak a sound.

Steve Harley, »Sebastian«

1

Angst? Ich? Ich hab keine Angst. Ich hab überhaupt keine Angst mehr. Und das verdank ich Ihnen, und das ist wunderbar. Endlich fürchte ich mich nicht mehr vor den Menschen, speziell den Frauen, wie Sie wissen. Bin ich jetzt ein neuer Mensch, Frau Dr. Claussen? Mein Job macht mir Freude, ich arbeite mit einem perfekten Partner zusammen, Anfang vierzig, verlobt, ich hab seine Verlobte kennengelernt, sehr nett, ein wenig extravagant. Und dann hab ich meine Wohnung neu eingerichtet, neues Sofa, neuer Teppich, die alten Sachen waren total versifft, das tut gut, mal die Fenster aufzureißen und Luft reinzulassen, Durchzug, Frau Doktor, der absolute Durchzug. Wie spät? Noch Zeit. Bin ja kaum zu Hause, Tag und Nacht unterwegs, die Sicherheitsbranche boomt, aber ich mach nur die harten Sachen, ich arbeite vor Ort, Bewachung am Objekt, Observation, Verfolgung. Meistens benutze ich nur eine Pistole, präzise Angelegenheit, vorgestern kam ich einem Autoschieber auf die Schliche, die sind clever, die Typen, total ausgeschlafen. Mit einem wie mir hat der nicht gerechnet, ich hatte ihn schon seit einem Monat im Visier, wollte warten, bis er wieder zuschlägt, und vorgestern war's dann soweit. Natürlich wollte er türmen, ich hab ihn erwischt, die Kugel traf ihn in die Schulter, und dann bin ich zu ihm hin, weil er sich bewegt hat, und ich dachte, er haut ab. Soviel ich weiß, liegt er immer noch im Koma. Ich arbeite häufig mit den Stiefeln, damit rechnen die nicht, ich muss auf der Hut sein, wenn ich nicht aufpass, legen sie mich um. Ich bin gern derjenige, der die Richtung vorgibt, den Ablauf, ich bin der Aktive. Das verdank ich Ihnen, Frau Dr. Claussen, dass ich handele, anstatt abzuwarten, Sie haben mir geholfen, aufzuwachen, wunderbar. Gut, dass ich vor sechs Monaten wieder zu Ihnen gekommen bin, das war ein plötzlicher Entschluss, Sie erinnern sich, plötzlich stand ich vor der Tür, und Sie haben mich gleich wiedererkannt, sehr angenehm. Sie wussten sogar noch meinen Namen. Doch jetzt hab ich das Gefühl, ich bin auskuriert, wenn ich das so offen sagen darf, offen sprechen ist ja wichtig, das tut gut, das muss man üben. Ich sprech sehr offen, vor allem mit den Frauen, dann gibt's keine Missverständnisse.

»Sie warten hier, Nikolaus, i bleib höchstens a Stund'. Und rufen S' mei Frau an, sie hat wieder ihre Tage, Sie wissen scho, nicht die Tage, sondern ihre Geistertage, hoffentlich rennt's net wieder wie geistesgestört durch die Stadt und quatscht fremde Leute an.«

»Ja, Herr Staatssekretär.«

Erwin Hauser knallte die Tür seines Dienstwagens zu, stöhnte, wischte sich den Regen vom Jackett und eilte auf den Eingang des Polizeipräsidiums in der Ettstraße zu, in dessen Innenhof Polizeipräsident Volker Sarkowski seinen sechzigsten Geburtstag feierte. Seit Tagen goss es in Strömen, doch heute, am späten Nachmittag, hatte es aufgehört.

Im Hof standen leere Bänke und Tische und vier Streifenwagen.

»Die Sause ist im zweiten Stock«, sagte der wachhabende Beamte an der Pforte. »Grüß Gott, Herr Staatssekretär.«

Hauser hob kurz die Hand zum Gruß und verschwand wortlos im Haus.

In der Löwengrube, einer schmalen Straße, die an der Rückseite des Polizeipräsidiums vorbeiführte, bewunderten Passanten den silbergrauen BMW 540i, in dem ein Mann mit finsterer Miene hinter dem Lenkrad saß und Schlagermusik hörte, seine Lieblingskassette »Best of Vicky Leandros«. Seit drei Monaten war Nikolaus Sorge der Chauffeur von Erwin Hauser, und er hatte bereits dessen Vorgänger Borchert gefahren, der jetzt ins Sozialministerium gewechselt war, weil er dort angeblich mehr taugte, wie Hauser ihm einmal beim Wein zugeraunzt hatte. Für Sorge waren sie alle Versager, diese Staatssekretäre mit ihren dreißigtausend im Monat und ihrem persönlichen Referenten und ihrer persönlichen Sekretärin und ihrem persönlichen Chauffeur und ihrer ganzen wichtigtuerischen Aufgeblasenheit, die sie auf irgendwelchen Empfängen, die es ohne sie gar nicht geben würde, zur Schau stellten.

Wenn Sorge in Schwung kam, vergaß er für einige Momente sogar die süße Stimme seiner Lieblingsgriechin.

Empfänge, Jubiläen, Festakte, Eröffnungen dröger Ausstellungen  – das war alles, wozu diese Hampelmänner nütze waren, Hampelmänner der Minister, die jede Entscheidung selber trafen und sich von ihren hochdotierten Hiwis höchstens mal die Aktenordner tragen ließen. »Dritte Ersatzreserve«, brummte Sorge und schlug mit der flachen Hand gegen das Seitenfenster, an dem sich ein kleiner Junge die Nase platt drückte.

Für seinen derzeitigen Chef hatte Sorge nur ein hämisches Grinsen. Aus tiefem Herzen gönnte er ihm seine berufliche Stellung, in der er sich abstrampeln konnte, bis er schwarz wurde; zum Minister würde er es nie bringen. Und er gönnte ihm seinen privaten Wahnsinn. Hausers Frau neigte zu Schwermut und Depressionen und irrte oft tagelang durch die Stadt, erkannte niemanden und redete mit den Leuten über ihren Mann und seine dubiosen politischen Geschäfte. Darüber lachte sich Sorge kaputt. Und dann war da noch die Tochter Hauser, Natascha, eine vierundzwanzigjährige Jurastudentin, die als Taxifahrerin jobbte, was ihr Vater aber nicht wusste. Dubiose politische Geschäfte! Die einzigen dubiosen Geschäfte, die Hauser tätigte, waren die hinter verschlossenen Toilettentüren.

Sorge grinste in den Rückspiegel.

Lauter Pfeifen!

Sorge überlegte, ob er über die Taxizentrale Natascha anrufen und ihr irgendwas vom Pferd, also von ihrem Vater oder ihrer Mutter, erzählen und sie extrem beiläufig fragen sollte, ob sie mit ihm ins neue Metropolitan-Café gehen möchte. Klasse Blick über den Marienplatz, Natascha! Unsinn. Bestimmt kannte sie das Lokal längst, da ging doch jetzt jeder hin, genauso wie ins Lenbach mit seinen tausend Plätzen oder ins umgebaute Anast, das jetzt Tambosi hieß und ein Wiener Kaffeehaus war, oder ins Dukatz im Literaturhaus, wo die geschniegelten jungen Banker mit ihren trostlosen Miezen hockten. Lauter Pfeifen!

Schlagartig verlor er die Lust daran, mit Natascha Hauser ausgehen zu wollen. Er drehte die Musik lauter, und Vickys Stimme versetzte ihn in einen Zustand wohliger Träumereien, die ihn an ein blaues Meer führten, wo die Brüste der Frauen schweißnass in der Sonne glänzten und es niemanden gab, der sie ihm streitig machte, nicht einmal einen Staatssekretär, der mit Geldscheinen nur so um sich warf.

Nein, eine feste Freundin hab ich im Moment nicht, allerdings hab ich eine kennengelernt, sie hat einen Schuhtick, vielleicht ist es ja gar kein Tick, sondern eine ganz gewöhnliche weibliche Eigenschaft: Schuhe sammeln. So gut kenn ich sie noch nicht, ich treff sie heut Abend, ich hoffe, sie hat den Termin nicht vergessen, das wär blöd. Darüber wär ich sehr wütend. Was ich tue, wenn ich wütend bin? Das wissen Sie doch: Ich sprech mit Ihnen darüber und versuche, meine Wut unter Kontrolle zu bringen. So bin ich damals zu Ihnen gekommen, als ich noch Beamter bei der Schutzpolizei war. Dafür bin ich dankbar, dass ich ausgerechnet Sie getroffen hab, Sie verstehen Ihr Handwerk, der Zufall ist ein schlauer Hund. Bei Ihnen war ich sofort in den richtigen Händen, und ich hab mich bemüht, offen und ehrlich zu sein, nichts zu verschweigen, meine Wut nicht runterzuschlucken. Bei der Ausübung meines Berufs bin ich sehr beherrscht, das kann ich mir nicht leisten, ich bin nicht mehr so leichtsinnig wie bei der Polizei, als mein Chef mich häufig ermahnen musste. Dabei hab ich nur getan, was ich für richtig und notwendig hielt, das schwör ich Ihnen. Ich halt es für notwendig, dass Staatsbeamte in so verantwortungsvollen Jobs wie bei der Polizei eine klare Meinung haben und die auch aussprechen. Und dass sie handeln, dass sie sich nicht alles gefallen lassen. Auf der Straße, intern, bei der Begegnung mit Kriminellen, überall. Ich war gern für Deutschland auf der Straße und an vorderster Front, das wissen Sie, Frau Doktor, mich konnte niemand einschüchtern. Ohne Ihre Hilfe wär ich wahrscheinlich ein ziemlich eingeschüchterter Typ. Zum Glück kam alles anders. Weil ich Sie getroffen hab. Arbeiten Sie immer noch für die Polizei? Das wollte ich Sie schon lange fragen. Gut. Ja, es gibt viele schwache Personen bei der Truppe, orientierungslos, hilflos, eingeschüchtert bis über beide Ohren. Meiner Meinung nach fehlt diesem Land eine starke Polizei, die Führungsspitze traut sich nicht, die hat Schiss, dass ihr der Innenminister eins auf die Nuss gibt, wenn sie mal Klartext redet und endlich mal handelt. Wir sind eine wunderbare Demokratie, und ich möchte, dass diese Demokratie nicht von einem Haufen Krimineller und elender Gestalten aus dem Ausland ruiniert wird, das möcht ich nicht. Aber: Es wird gekuscht. Wo Sie hinschauen: kusch, kusch! Jetzt schieben sie die illegalen Asylanten ab und machen sich dabei in die Hosen vor Angst. Wovor haben die Angst, die Politiker und die Polizisten? Die sind im Recht, die illegalen Asylanten müssen weg, da sind Triebtäter drunter, Mörder, Zuhälter, das ganze Gesindel, die ganze Litanei. Die haben da oben die Panik, dass das Ausland sie nicht mehr lieb hat. Da scheiß ich doch drauf! Wieso mich das wütend macht? Wieso mich das WÜTEND macht? Das kann ich Ihnen haarklein erklären, Frau Doktor: Weil ich Weicheier nicht ausstehen kann und Drückeberger und Angsthasen und winselnde Wichser! Was wollen die denn? Wollen die den Kopf in den Sand stecken, bloß weil früher hier der Hitler war? Den Hitler wollen wir nicht mehr, und zwar nie mehr, wir sind eine Demokratie, und wir brauchen uns nicht zu verstecken, Sie nicht, ich nicht, niemand in diesem Land braucht sich vor dem Ausland zu verstecken! Aber sie ziehen alle den Schwanz ein, kriechen den Franzosen und den Griechen und den Türken in den Arsch. Wozu denn? Wozu denn? Hm? Hm? Ich hab keine Angst, ich nicht, ich mach meine Arbeit, und ich sag meine Meinung, und ich lauf nicht weg, wenn mich einer anmacht, ich nicht! Ich bin kein Weichei, das schwör ich Ihnen! Ich kümmer mich um mich selbst und um meine Mitmenschen, ich tu was, ich sitz nicht rum und jammere, ich engagier mich, egal, was die Politiker da oben aushecken, ist mir doch scheißegal, ob die das Krankengeld kürzen oder das Urlaubsgeld, ist mir doch egal! Ich tu was, und ich krieg mein Geld, das schwör ich Ihnen, und mir nimmt niemand was weg, am allerwenigsten ein Politiker. Die schüchtern mich schon lange nicht mehr ein, die nicht, die wirklich nicht! Ich bin alt genug, um für mich selber zu sorgen, scheißegal, unter welchen Bedingungen. Was ist? Sind Sie anderer Meinung? Ist was? Ich red immer so, das wissen Sie doch. Heut sind Sie aber ernst, lächeln Sie doch mal. Wann ist ein Mann einen Euro wert? Wissen Sie nicht? Wann ist ein Mann einen Euro wert? Wenn die Eierpreise auf fünfzig Cent steigen! Lächeln Sie doch mal. Dann eben nicht. Ich bin froh, dass Sie da sind, Frau Doktor, ich bin froh, dass ich mich auf Sie verlassen kann, dass Sie jeden Freitag für mich da sind, schön ist das. Ich hab Vertrauen zu Ihnen, und das ist wichtig, dass man Vertrauen hat und dass das Vertrauen nicht enttäuscht wird. Wer mein Vertrauen missbraucht, dem geht's schlecht.

»Vom Dallmayr!«

Josef Braga, Hauptkommissar in der Vermisstenstelle, stopfte sich ein Fleischpflanzl in den Mund und spülte mit Bier nach.

»Des san die besten in der Stood«, mümmelte er mit vollem Mund, und etwas Grünes blieb an seiner Lippe kleben.

»Mir schmecken die vom Vinzenz Murr genauso«, sagte Hauser, hielt nach dem Polizeipräsidenten Ausschau und sah auf seine Uhr. »Entschuldigen Sie mich, war nett, Sie kennengelernt zu haben.« Er verkrümelte sich in der Menge. Hunderte von Polizeibeamten drängten sich in den Gängen, aßen vom Buffet, redeten durcheinander und winkten sich über die Köpfe hinweg zu. Überall lag Plastikgeschirr herum, und zwei Frauen mit Kopftüchern und blauen Kitteln kippten die Abfälle in Müllsäcke und schleppten diese dann in einen Nebenraum.

»Wer war'n des?«, fragte Sven Gerke seinen Kollegen Braga.

»Des war da Staatssekretär persönlich.«

»Kenn ich nicht.«

Sie nahmen sich noch eine Laugenbreze, rissen sie mit den Fingern in der Mitte auf, pfriemelten zwei Scheiben Käse rein und klappten sie zu. Auch beim Essen im Stehen waren Braga und Gerke ein eingespieltes Team.

»Wie soll der heißen?«

»Hm?«

»Der Staatssekretär!«

Braga schnappte nach Luft, er hatte die halbe Breze verschlungen, und nun steckte ein Teil in seinem Hals. Er hustete, und Gerke schlug ihm mit voller Wucht auf die Schulter.

»Da stinkt's vielleicht!«, sagte Gerke.

In den Gängen hing eine Wolke von Zigarettenrauch, und es war schwül. Die Heizungen liefen auf vollen Touren, denn in den vergangenen Tagen waren die Temperaturen auf vier Grad gesunken. Und dabei war es erst Oktober, und den ganzen verregneten Sommer über hatten die Meteorologen behauptet, es würde ein goldener Oktober werden, Sonnenschein und Biergartenwetter. Stattdessen schüttete es wie aus Kübeln, und die Stadt war ein einziger grauer Griesgram.

»Is ja brutal!«

Braga rieb sich die Augen, schüttelte den Kopf, massierte seine Brust und legte die zweite Hälfte der Breze vorsichtshalber auf den Teller. Er trank einen Schluck Bier, und weil es grade so zügig floss, leerte er gleich den ganzen Becher.

»Wieder gesund?«, fragte Gerke.

Braga nickte und machte zwei Kollegen Platz, einer Frau und einem Mann, die sich an ihm vorbeischoben und versuchten, durch das Gedränge zum Ausgang zu gelangen. Irgendwo fiel eine Flasche klirrend zu Boden. Die Fenster waren so beschlagen, dass niemand bemerkte, wie es draußen wieder zu regnen anfing.

»Der Staatssekretär …«

»Da Hauser?«

»Ja, was will der hier?«

»Wahrscheinlich schickt'n sei Chef, der Herr Innenminister. De san doch Spezln, der Hundt und unser Sarkowski.«

Alfred Hundt war bayerischer Innenminister und oberster Dienstherr der Polizei.

»Und warum kommt der dann nicht selber, der Hundt?«, fragte Gerke.

»Frog'n.«

»Kein Bedarf.«

»Der wanzt si ganz schee hi, unser Staatssekretär«, sagte Braga. Er war eins zweiundneunzig groß und hatte den Überblick. Am Ende des Flurs redete Hauser auf Sarkowski ein und berührte dabei immer wieder vertraulich den Arm des Polizeipräsidenten.

»Kleine Menschen brauchen das«, meinte Gerke, der eins fünfundneunzig groß war und Hauser auf höchstens eins siebzig schätzte, eher eins achtundsechzig.

»A echter Wicht«, sagte Braga und spürte langsam den Alkohol. »Deswegen macht er si ja aa so wichtig«, brummte Braga.

»Tag, Jungs, bei euch hier gibt's ja noch richtig Luft zum Atmen.«

Ein Mann in einem roten Jackett hatte sich zu den beiden durchgekämpft. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er hatte die oberen drei Hemdknöpfe geöffnet. Sein schwarzes Brusthaar quoll wie Wolle hervor.

»Servas, Chef«, sagte Braga.

Der Mann in dem roten Jackett war Roland Felz, der Leiter der Vermisstenstelle bei der Kripo.

»Staatssekretär Hauser hat mich gefragt, ob wir neue Erkenntnisse haben in den Fällen der drei verschwundenen Frauen. Ich hab ihm gesagt, wie's steht. Angeblich hat die Ehefrau des Innenministers eine der Frauen gekannt. Diese Rosetta Penna, die Italienerin, die aus der Pension verschwunden ist. Jedenfalls, ich hab ihm erklärt, dass die Ermittlungen unvermindert weitergehen, und er hat mich gefragt, ob wir davon ausgehen, dass die Frauen tot sind. Ich hab ihm gesagt, dass wir das nicht ausschließen.«

»Ich bin leider ziemlich sicher, dass die tot sind«, sagte Gerke und zündete sich eine Zigarette an.

»Ja«, sagte Felz. »Was ist das überhaupt für einer, dieser Hauser? Hab den noch nie gesehen. Ist der neu im Amt?«

»Woaßt du, was so a Staatssekretär den ganzen Doog macht, hm?«, sagte Braga.

»Keine Ahnung«, sagte Felz.

»Schreibt Spesenrechnungen.«

»Woher weißt du das?«

»I hob oan kennt. Der war im Kultusministerium, der hat soiba net gwusst, wiara da hikemma is. Er war CSU-Vorsitzender irgendwo in Niederbayern, und dann hams'n befördert. Der hot in seim Leben no nia a Buch gelesen …«

»So wie du«, sagte Gerke und blies den Rauch an die Decke.

»Leck mich! I sog da wos, der is von oam Empfang zum nächsten, Mittagessen, Abendessen, Brotzeit beim Kunstverein, Stehempfang im Gasteig, und des ois mit Chauffeur. Und sei Mitarbeiter hot eahm die Reden gschriebn. Lesen, des hot a grod no gschafft. Ablesen. Den ham seine eignen Parteikollegen ois chronisch unfähig bezeichnet und für an Voitrottl g'hoitn. Trotzdem wara fünf Joor im Amt. Dann hams'n durch an andern Hoikopf ersetzt, und seitdem kriagt er an Haufen Kohle, zehntausend ungefähr, er ist Ende fufzge und braucht koan Finger mehr rühren. Höchstens, um sich oan runterz'hoin. A Traumjob, oder?«

»Stimmt«, sagte Gerke.

»Ich geh zurück ins Büro«, sagte Felz, nickte seinen beiden Kollegen zu, drehte sich um und zwängte sich zwischen den verschwitzten Gästen hindurch in Richtung Treppe.

»Ich muss dann langsam wieder, Herr Präsident«, sagte Hauser und tätschelte Sarkowskis Arm.

»Schön, dass Sie uns besucht haben, Herr Staatssekretär, Sie haben vermutlich viel um die Ohren.«

»Manchmal ist es schon eng. Wie gesagt, der Innenminister bedauert es sehr, nicht selber kommen zu können, aber Sie wissen ja: Wenn die einzige Tochter heiratet …«

»Bestellen Sie ihm bitte viele Grüße von mir und die besten Glückwünsche an seine Tochter.«

»Das richt ich ihm gern aus, Herr Präsident«, sagte Hauser, tätschelte aus unerfindlichen Gründen seinen eigenen Arm, als klopfe er Regen ab, und reichte Sarkowski die Hand.

»Nochmals alles Gute zum Geburtstag, wir treffen uns bestimmt bald mal wieder.«

»Hoffentlich, auf Wiedersehen, Herr Staatssekretär. Und bitte sagen Sie dem Innenminister, meine Kollegen in der Vermisstenstelle arbeiten unter Hochdruck an den drei Fällen, wir werden die Frauen finden, da bin ich sicher.«

»Ja«, sagte Hauser, nickte reihum und drängte sich an der Wand entlang zu einer Glastür, hinter der eine Treppe nach unten führte.

Als er den BMW erreichte, klingelte das Autotelefon.

»Hallo«, sagte Nikolaus Sorge und stellte rasch die Musik ab. »Was? Ja, ich werd's ihm sagen, wie ist Ihr Name? Gut. Danke.« Er legte das Telefon auf die Konsole und sah Hauser an, der grußlos eingestiegen war und sich anschnallte. Sein Bauch spannte über dem Gürtel, und er hasste diese enge Hose. Er hasste alle seine Hosen, denn es gab keine, die bequem war, alle waren im letzten Jahr zu eng geworden.

»Was ist?«, fragte er.

»Wissen Sie, wo Ihre Frau ist?«, fragte Sorge.

Hauser sah ihn an. Fürchterliche Gedanken jagten durch seinen Kopf.

»Tun Sie mir des net an!«

»Der Mann, der gerade angerufen hat, versucht seit zwei Stunden, Ihre Frau zu erreichen, aber sie ist nicht da. Wissen Sie, wo sie sein könnte?«

Hauser zog die Stirn in Falten, atmete tief durch und strich sich die Haare nach hinten. Sie waren nass vom Regen, der in Bächen über die Scheiben floss.

»Was für ein Mann?«

»Ja, äh, das war ein Herr Stadelhofer, ein Taxiunternehmer …«

»Was will der von meiner Frau?«

»Der, äh, der sucht eigentlich Ihre Tochter, Herr Staatssekretär.«

»Was?«

Hausers Hand schnellte zur Halterung des Sicherheitsgurtes, und er ließ das Schloss aufschnappen. Schob den Gurt über den Arm und drehte sich zu Sorge herum. Dieser verdammte Sitz war einfach zu niedrig, jedes Mal plumpste er da rein und kam nicht mehr hoch. Seine Krawatte verhedderte sich in seinem Hosengürtel, er riss sie heraus und stieß dabei mit seinem Arm versehentlich gegen den Rückspiegel, den Sorge sofort wieder in die richtige Position brachte.

»Was ist mit meiner Tochter, Nikolaus?« Hauser sah ihn an, ohne eine Miene zu verziehen, und Sorge verspürte das unbändige Verlangen, seine Faust in diesen blassen Teigklumpen zu bohren.

»Sie ist weg. Schon seit dem frühen Nachmittag. Dieser Stadelhofer lässt sie schon suchen, von seinen Kollegen …«

»Von welchen Kollegen, verflucht noch mal, Nikolaus!«

»Von seinen Kollegen, er hat doch ein Taxiunternehmen, das hab ich doch gesagt …«

»Und was, verflucht, hat mei Dochta damit zu tun?«

»Sie jobbt doch manchmal als Taxifahrerin, wussten Sie das nicht?«

Auf diesen Moment hatte Sorge schon lange gewartet, und er ließ sich den Satz auf der Zunge zergehen.

»Wussten Sie das nicht?«, fragte er noch einmal, weil es einfach zu schön war, das Gesicht des Herrn Staatssekretärs zu betrachten, wie es auch noch die letzten Konturen verlor und noch bleicher und blöder wirkte. So ein Anblick motivierte Sorge unglaublich, dafür würde er sogar Überstunden in Kauf nehmen.

»Das wusste ich nicht«, sagte Hauser leise. Und dann, nachdem eine Menge diffuser Bilder vor seinem inneren Auge vorbeigezogen waren  – Natascha, seine Tochter, in verschiedenen Altersstufen, Else, seine Frau, wild gestikulierend durch die Stadt irrend, schreiend, bettelnd  –, hob er den Kopf und starrte den Regen an, der über die Windschutzscheibe floss. »Haben Sie das gewusst, Nikolaus?«

»Nein, Herr Staatssekretär«, sagte Nikolaus Sorge und stöhnte wirkungsvoll.

»Und sie ist verschwunden?«

»Ja, Herr Staatssekretär, seit ungefähr zwei Stunden. Niemand weiß, wo sie hingefahren ist. Sie hatte gerade mit ihrer Schicht begonnen.«

»Mit ihrer Schicht …«

»Bestimmt taucht sie heut Abend wieder auf. Vielleicht hatte sie eine längere Tour, nach Augsburg oder nach Traunstein.«

»Und meine Frau ist auch weg?« Hausers Stimme wurde immer leiser.

»Der Herr Stadelhofer hat sie zumindest nicht ans Telefon gekriegt.«

»Das ist schrecklich«, sagte Hauser, und sein Kopf sank auf seine Brust.

Der Regen trommelte aufs Autodach, und bunte Blätter segelten auf die Windschutzscheibe und blieben kleben.

»Mei Dochta a Taxifahrerin«, flüsterte Hauser.

»Sie ist noch jung, sie hat noch genug Zeit zum Studieren«, sagte Sorge und trommelte vergnügt mit den Fingern, die in schwarzen Lederhandschuhen steckten, aufs Lenkrad.

»Sie hat das zu tun, was ich will, dass sie tut!«, blaffte Hauser. Dann richtete er sich auf und griff nach dem Sicherheitsgurt. »Wir fahren zu mir, und dann werd aufg'räumt! Mit mir springt niemand so um! Niemand!«

»Ja, Herr Staatssekretär«, sagte Sorge und startete den Motor.

Der Scheibenwischer fegte die Blätter beiseite. Hauser lehnte sich zurück und kniff die Augen zusammen. Was da draußen vor sich ging, interessierte ihn nicht. Er war entschlossen, Ordnung in seiner Familie zu schaffen, und wenn es sein musste, würde er bei seiner Tochter ganz andere Saiten aufziehen. Spielte keine Rolle, dass sie schon vierundzwanzig war; wenn sie nicht parierte, würde er ihr beibringen zu parieren. So wie früher. Genauso wie früher. Und das hatte immer funktioniert, und wie das funktioniert hatte!

»Machen S' Musik, Nikolaus.«

* * *

Ich darf sagen, ich bin traurig und zufrieden zugleich, weil ich heute zum letzten Mal zu Ihnen komme. Ich bin gesund, die Arbeit mit Ihnen war ein Erfolg, denn mein Leben verläuft endlich in geordneten Bahnen. Ich hab gute Beziehungen zu Frauen und keine ANGST mehr vor ihnen, so wie früher, ich treff mich mit ihnen und lad sie ein, und wenn sie möchten, nehm ich sie mit zu mir. Ich zwinge keine von ihnen zu irgendwas, jede kann frei entscheiden, so wie auch ich mich frei entscheide, jeden Tag von Neuem. Sie haben mein Leben geordnet, Frau Dr. Claussen, mit Ihrer Hilfe hab ich begriffen, worum's geht. Worum? Um WÜNSCHE und BEDÜRFNISSE, ich muss mich nicht vor mir selber schämen. Ich darf jemand sein, und wenn ich eine andre Meinung hab als alle andern bei Tisch, dann darf ich diese Meinung kundtun, und das tu ich auch. Ich tu's, und wenn alle andern den Saal verlassen. Bildlich gesprochen, im übertragenen Sinn. Wer weiß, was aus mir ohne Sie geworden wär? Ein Waschlappen? Ein winselnder Hund? Nein, ich winsele nicht, ich erhebe meine Stimme, wenn's sein muss. Dies ist ein neuer Abschnitt in meinem Leben, ein neues Kapitel, wenn Sie wollen, mit mir als Hauptfigur. Ich bin eine perfekte Hauptfigur, das schwör ich Ihnen, Sie werden sich noch an mich erinnern, ich duck mich nämlich nicht, und ich bin glücklich darüber, dass ich mich nicht hab unterkriegen lassen wie die vielen anderen. Schauen Sie hier aus dem Fenster: Da unten auf der Straße kriechen sie dahin, die Menschenwürmer, und was hinterlassen die uns? Eine Schleimspur. Ich bin glücklich, dass ich anders bin, kein Wurm, kein Kriecher, sondern ein Mann, der aufrecht geht und eine Stimme hat und Wünsche und Bedürfnisse, die er sich erfüllt. Ich lebe in einer Zeit, die sich wandelt, und ich bin Teil dieses Wandels, in Deutschland und in der Welt, ich wandel mich mit, und ich trag dazu bei, dass es zu keinem Stillstand kommt, hier drin, in mir, und da draußen, auf der Straße. Ohne Sie wär ich niemals so weit gekommen. Jetzt fühl ich mich wieder den Aufgaben gewachsen, die auf mich warten, noch heut Abend. Ich hab ein Rendezvous, ich muss mich noch duschen, entspannen. Frauen sind meine besten Freunde, Frau Doktor, hätten Sie das jemals für möglich gehalten? Wunderbar.

Keuchend rannte er die Treppe hoch und brüllte: »Wo steckst du? Kumm raus! Wenn ich dich krieg, dann bring i di um! Dann bring i di um!« Er riss die Badezimmertür auf, warf einen Blick rein und knallte die Tür wieder zu. Stürzte in die Toilette, knallte die Tür zu. »Kumm bloß raus! Wenn du net rauskummst, machst alles nur noch schlimmer!« Die Schlafzimmertür war nur angelehnt, und er hielt inne. Zwang sich zur Ruhe. Nickte, wippte mit dem Oberkörper, ballte die Fäuste. Ging auf Zehenspitzen zur Tür, trat dagegen, sodass sie aufschwang und an die Wand knallte. Doch niemand war da. »Else!«, schrie er. Else antwortete nicht.

Hauser warf sein Jackett aufs Bett, riss sich die Krawatte vom Kragen und zog sein weißes Hemd aus der Hose. Der Geruch, der in den Zimmern hing, widerte ihn an. Eau de Cologne, Haarspray, Politurmittel, WC-Reiniger, Duftöl. Er verschloss sämtliche Türen, ging wieder ins Parterre, nahm sich ein Zigarillo aus der Schale, die auf einem antiken Sekretär stand, zündete es an und sog den Rauch tief ein.

Der Regen prasselte aufs Terrassendach, und die Grünpflanzen im Garten wucherten schon bis zum Haus. Hauser atmete die kalte Luft ein und schloss die Augen. Also gut. Samstag. Samstagabend. Und die Alte ist wieder verschwunden. Und Natascha ist eine Taxifahrerin. Wenn du mir unter die Augen kommst, prügel ich dich windelweich, so schnell kannst du gar nicht schauen. Vor allen Leuten, das garantier ich dir. Du wirst nie wieder in ein Taxi steigen.

Er spuckte aus und zertrat die Spucke mit dem Schuh. Er schaute nach oben. Unter dem Wellblechdach hing ein Spinnennetz, und er spucke hinauf. Die Spucke verfing sich im Netz, und ein dicker Tropfen platschte auf die Steinplatten. Hauser grinste. Kaute das Ende des Zigarillos, denn die Glut war erloschen, und ließ es aus seinem Mundwinkel auf den Boden fallen. Mit der Spitze seines schwarzen glänzenden Halbschuhs kickte er den Stummel ins Gras.

Was für ein Tag! Was für eine Woche! Dreimal hatte ihn der Minister zu sich bestellt, um ihn zu bitten, Termine wahrzunehmen, zu denen Hundt zwar zugesagt hatte, die er nun aber doch nicht einhalten konnte, weil er Wichtigeres zu tun hatte. Natürlich hatte er das! Für das Unwichtige war er da, Erwin Hauser, treuer Diener seines Staates und seiner Partei. Mit zwanzig war er in die CSU eingetreten, war Ortsvorsitzender gewesen und schließlich Landtagsabgeordneter. Was für eine Karriere. Während der kleine Teich mit den Tonvasen auf der Steinumrandung vom Regen überlief, dachte Hauser an die zurückliegende Woche und hatte wieder einmal das Gefühl, Everybody's Arschloch zu sein. Und wenn seine Parteifreunde mitkriegten, dass seine Alte wieder mal ausgebüxt war und sich seine Tochter als Taxifahrerin durchs Leben schlug, anstatt zu studieren und ihren Doktor vorzubereiten, dann würden sie sich hinter seinem Rücken den Mund zerreißen, wie schon oft. Und sie glaubten, er wüsste davon nichts! Er wusste genau, was über ihn im Ministerium geredet wurde, und er wusste auch genau, wer was über ihn sagte. Und eines Tages würden sie es bereuen, ihn auch nur einmal schief angeschaut oder hämisch angegrinst zu haben. An dem Tag, an dem ihn der Ministerpräsident zum Minister berufen würde, wäre es vorbei mit diesen verlogenen Drecksäcken in der Partei; alle, alle werden sie gefeuert, und er persönlich, Minister Erwin Hauser, wird dafür sorgen, dass sie nie wieder, nie wieder einen Fuß auf den Boden kriegen.

Er trat gegen einen roten Plastikeimer, über dem ein grauer Lappen hing; der Eimer kippte scheppernd um, und eine Gartenschere und ein kleiner Rechen fielen heraus.

Was für eine Woche! Er trat noch einmal gegen den Eimer und noch einmal, und dann nahm er Anlauf und schoss ihn wie einen Ball hinaus in die Wiese.

Und dabei sind sie alle bloß neidisch. Neidisch auf sein Geld, neidisch auf seine vielen persönlichen Kontakte innerhalb der Partei und in wichtigen Gremien und Institutionen, neidisch auf seine Souveränität und Gelassenheit, wenn die Presse wieder einmal die Notwendigkeit der Staatssekretäre anzweifelte und ihnen die Existenzberechtigung absprach. Im Grunde waren sie alle arme Schweine, die auch bloß an den großen Trog wollten, aber nicht hinkamen. Ihre Zungen hingen ihnen schon bis zum Boden, und sie konnten quatschen und quietschen, soviel sie mochten  – gegen ihn, Erwin Hauser, würden sie nie im Leben anstinken.

Zusehends besserte sich seine Laune.

Er hatte die Terrassentür, die zur Küche führte, offen gelassen und schenkte sich mit ruhiger Hand ein Weißbier ein. Schüttelte die Hefe aus der Flasche und hob das Glas.

»Prost, Erwin«, sagte er und tunkte seinen Mund in den Schaum.

Nachdem er das halbe Glas geleert hatte, griff er zum schnurlosen Telefon, wählte eine Nummer, ging hinüber ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und zappte den Ton weg.

»Rosa? Erwin hier. Ist Else bei euch? Verstehe, kann man nichts machen, nein, alles in Ordnung.«

Er tippte eine neue Nummer.

»Franz? Erwin hier. Ist Else bei euch? Gut. Ich hab jetzt koa Zeit, wenn sie noch auftaucht, sag ihr einen schönen Gruß von mir.« Während Franz noch etwas sagte, drückte Hauser die Weiterwahltaste und tippte eine neue Nummer ein.

»Clarissa? Ja, gib mir mal deine Mutter. Was? Ich versteh dich nicht, kannst du nicht deutlich sprechen? Nimm den Kaugummi ausm Mund, verdammt noch mal! Dann gib mir den Papa. Dann gib mir deinen Bruder, verdammt! Rocko? Na endlich, ist meine Frau bei euch gewesen? Okay, nein, alles klar.« Er klappte das Telefon zu und ließ sich in den Sessel fallen.

Im Fernsehen lief ein Fußballspiel aus der ersten Bundesliga. Hauser beugte sich zum Tisch und drückte den Tonknopf auf der Fernbedienung.

»Da hat der Rote aus dem Ruhrpott nicht lange gefackelt und einfach abgezogen und dat Ding reingeknallt, dass das Tor wackelt. Geil gemacht, Junge!«

Hauser stellte den Ton wieder ab.

Das Einzige, was ihn im Moment interessierte, war Soraya. Und die Lederpeitsche, mit der er sie Mores zu lehren pflegte.

Er nahm das Telefon, das er in seinen Schoß gelegt hatte, und wählte ihre Nummer.

Wann meine Eltern damit anfingen, weiß ich nicht mehr. Kann sein, an meinem fünften Geburtstag. Meinen letzten Geburtstag hab ich übrigens allein verbracht. Nicht meinen letzten, meinen vorletzten. Ich war nicht wirklich allein. Jemand war bei mir, eine kleine blonde Frau mit silbrigen Augen. Nein, kein Silberblick, sie hat nicht geschielt, sie leuchteten silbrig, die Farben waren wie Silber. Ich darf nicht vergessen, Jogi vor sich selber zu warnen. Er ist so blöd und bringt es fertig, auf einen Streifenpolizisten zuzulaufen und ihn zu umarmen, bloß weil er total stoned ist und Uniformen vergöttert und Waffen und Handschellen am Hosenbund stark findet. Jogi ist mein Partner, er war früher Polizist. Ja, genau wie ich. Du hast ein gutes Gedächtnis. Jedenfalls, das sind die Dinge, die ihn beeindrucken, und er begreift nicht, dass diese Leute ihn verachten und ausnutzen und einsperren, wenn sie Lust dazu haben. Ich werd zu ihm gehen und ihn in die Mangel nehmen. Er ist ein Megaidiot, er ist der erste Supertrottel des nächsten Jahrtausends, ich kann das beurteilen, denn ich bin der letzte Supertrottel dieses Jahrtausends gewesen. Lach ruhig. So war's. Aber jetzt bin ich ja hier. Ich hab die Zusammenhänge erkannt und mich gewehrt. Starkes GEFÜHL. Hält nicht lang an, kommt aber wieder, das weiß ich, das SPÜR ich. Ich bin nämlich ein menschliches Wesen, was ich bisher bezweifelt hab, ich dachte immer, ich wär ein ferngesteuertes Alien, abgeworfen über dem total verkehrten Planeten, im total verkehrten Universum, ich hielt mich für ein Versehen der Evolution, für die Ausgeburt eines intergalaktischen Vollrausches. Ich hab mich richtig wichtig genommen. Früher. Ich dachte, ich bin was Besonderes, wegen der ganzen Kacke um mich herum und den Bullen, die früher ständig bei uns zu Hause rumhingen, und den Ärzten, die mich ausfragten, und dem Schuldirektor, der mich dauernd zu sich bestellte und mir Tee und Kekse anbot. Nehmen S' Platz, setzen S' Ihnen doch, Herr Dragomir, sagte er jedes Mal, also setzte ich mich in den schwarzen Ledersessel und glotzte ihn an. Seine Lippen sahen irgendwie übergestülpt aus, sie klebten da vorn in seinem Gesicht wie aus Plastilin und rutschten hin und her, während er redete. Gefällt mir, wenn du lachst. Weiße Zähne sind was wert. Ich hab ihm nicht zugehört, der Tee schmeckte pissig, und die Kekse sprengten dir die letzten Zähne weg. Ich wollt eine rauchen, das war verboten. Ich stand auf und ging raus, und die Sekretärin, Frau Machmirdasschaf, kam hinter mir hergelaufen und blökte: Sie, des werd fei net gut ausgehen für Sie! Das sagte sie immer, und sie hatte recht: Es ging nicht gut aus, aber nicht für mich, sondern für die anderen. Für die blonde kleine Frau mit den silbernen Augen zum Beispiel oder für die Frau aus dem Schwimmbad oder für die Frau vom Frühjahrsfest. Ging gar nicht gut aus für die. Frau Machmirdasschaf sollte befördert werden für ihre Prophezeiungen damals. Wie spät? Ich muss Jogi warnen. Seit gestern frage ich mich, wann meine Eltern damit angefangen hatten. Vielleicht erinnert sich Jogi noch dran. Auf einmal war es so weit, und ich stand da wie der Mustertrottel. Und ich war der Mustertrottel. Dant erwischt. Gestern war mein siebenunddreißigster Geburtstag, deswegen. Pech, dass du nicht da warst, dann hätt ich dich zum Essen eingeladen. Ich hoffe, es hat dir vorhin wirklich geschmeckt und du hast nicht nur so getan. Wolltest du etwa noch länger im Restaurant bleiben? Ich find's hier bei mir schöner. Ruhiger. Wir sind unter uns. Weißt du, was ich an dir bewundere? Dass du nicht rumschreist. Schreiende Frauen bringen mich zur Weißglut. Ich geh gleich mal rüber zu Jogi und hau ihm eine in die Fresse und frag ihn, ob er sich noch dran erinnert, wann meine Eltern damit angefangen hatten. Wieso interessiert mich das jetzt so? Wahrscheinlich, weil ich gestern Geburtstag hatte und immer noch stoned bin. Ich brauch Bewegung. Ich stell auch gleich dein Auto in die Garage, das brauchen wir ja nicht mehr, wir haben ja meins, ich stell's gut unter, keine Bange, keine Sorge. Ich nehm die Heckler & Koch mit, man kann nie wissen, wie dieser Megaidiot von Jogi so drauf ist. Schön liegen bleiben, das Pflaster ist nur zu deiner Sicherheit. Damit du nicht rumschreien kannst. Ich bin bald wieder da, und dann bett ich dich zur Ruhe, irgendwo im Wald, im Forstenrieder Park vielleicht, in der Obhut der Wildschweine. Mal sehen.

Heute schmeckte der Milchshake wieder nur nach Plastik. Angewidert verzog sie das Gesicht und stellte den Becher auf das breite Fensterbrett gegenüber den Kassen, hinter denen die netten jungen Frauen mit ihren neckischen Mützchen lächelnd die Kunden bedienten. Sie konnten nichts dafür, dass der Milchshake nach Plastik schmeckte.

»Lalala, du schönes Kätzchen, lalala«, summte sie vor sich hin, drehte sich um und stieß mit dem Ellbogen gegen ein Tablett, das ein hünenhafter Schwarzer in den Händen hielt.

»Sorry, Mister«, sagte sie und lachte ihn an.

Der Schwarze lachte zurück, nahm sich eine Serviette aus dem Metallkasten und ging in den ersten Stock, um sich an einen der Tische zu setzen.

Für Else war heute ein besonderer Tag.

»Lalala, mein liebes Schätzchen, lalala«, summte sie, hielt nach einem Abfalleimer Ausschau, sah keinen und nahm den Becher, der noch halb voll war, mit nach draußen.

Auf dem Karlsplatz standen junge Leute, Touristen, Penner, Passanten, die einen Einkaufsbummel machten, und schauten dem wassersprühenden Brunnen zu. Einige hatte riesige Schirme und kamen sich damit dauernd ins Gehege, andere trugen gelbe Pelerinen mit einer Kopfbedeckung, und einige hatten pitschnasse Kleidung, was sie jedoch nicht zu stören schien.

»Heute ist ein besonderer Tag für mich«, sagte Else zu einer jungen Frau mit grünen Haaren, die im geschützten Eingangsbereich der Buchhandlung Hugendubel stand, die sich neben dem McDonald's befand, in dem Else ihren Milchshake getrunken hatte.

»Echt?«

»Ja.«

Die Grünhaarige trug eine enge Lederhose, eine abgeschabte Lederjacke und hatte drei Ringe im linken Ohr und mehrere filigran geschwungene Ringe an den Fingern.

»Mir ist kalt«, sagte Else. Warum hatte sie schon wieder ihren Mantel vergessen? Einfach im Kostüm aus dem Haus zu rennen! Wie sah denn das aus! Immerhin, es war ein sündteures lachsfarbenes Tweedkostüm mit weißen Sternchen am Bund und einer besonders ausgefallenen Jacke, deren Knöpfe mit Seide überzogen waren. Und italienische Schuhe, so weich wie eine zweite Haut an den Füßen. Aber sie hätte den Kaschmirmantel überziehen sollen! Aber dafür trug sie ihr Hütchen, ebenfalls lachsfarben, von einem feinen Schleier umkränzt und mit einer unscheinbaren Silberbrosche an der Stirnseite.

»Dumme Pute«, sagte sie, und das Mädchen schaute sie finster an.

»Gibt's Probleme, Mutti?«

»Bitte? Oh, verzeihen Sie, ich hab Sie nicht gemeint, ich hab mich gemeint. Ich bin heute so dumm, und dabei ist heute ein besonderer Tag für mich.«

»Hey, 'tschuldige, Mann, die Scheißpommes waren grad aus. Das sind vielleicht lahme Krücken! Hier, deine Chicken McNuggets, pass auf, da tropft die Scheißsoße runter.«

Der Freund der Grünhaarigen war ungefähr so alt wie sie, siebzehn, achtzehn, hatte eine Jeans und eine Lederjacke an, und an seinem Ohr baumelte ein silbernes Kreuz. Die Frau neben ihm schien er nicht zu bemerken, obwohl sie nur einen halben Meter von ihm entfernt stand und zusah, wie das Mädchen die Hähnchenstücke in den Mund schob und sich nach vorn beugte, damit die Soße nicht auf ihre Jacke tropfte. Ihr Freund verschlang einen Cheeseburger, kramte dann einen Hamburger aus seiner Jacke, streifte das Papier ab, ließ es fallen und brauchte drei Bissen, um das Ding zu vertilgen. Den Mund wischte er sich am Ärmel seiner Jacke ab, was den Vorteil hatte, dass er auf diese Weise gleich seine Nase mitputzen konnte.

Else schaute die beiden immer noch an.

»Hi«, sagte der Junge.

»Hai mag ich nicht«, sagte Else, »ich mag lieber Stockfisch.«

Das Mädchen grinste, und der Junge schüttelte den Kopf.

»Ihr seid warm angezogen.«

»Beeil dich endlich, wir müssen los«, sagte er zu seiner Freundin, deren Mund rot verschmiert war. Sie leckte sich die Lippen und aß die Nuggets auf. Den Karton stellte sie auf den Boden.

»Wieso hast du nix zu trinken gekauft?«

»Hat mir zu lang gedauert.«

»Was? Du bist vielleicht bescheuert! Du hast doch sowieso warten müssen, da hättst du ja auch was zu trinken bestellen können! Ich hab Durst.«

»Wir müssen los.«

»Ich muss auch los«, sagte Else.

»Heute ist nämlich ihr besonderer Tag«, sagte das Mädchen zu ihrem Freund.

»Ja«, sagte Else und lächelte. Sie hatte ein pausbäckiges, blasses Gesicht mit einer Knollennase und funkelnden blauen Augen. Wenn sie lächelte, huschte ein Schatten von Traurigkeit über ihr Gesicht.

»Und was ist das Besondere dran?«, fragte das Mädchen. Der Junge machte einen Schritt von ihr weg und sah sie genervt an. Es tröpfelte auf seinen Kopf, und er schüttelte sich wie ein Hund.

»Heute werde ich zur Königin der Nacht gekürt.«

Sie lächelte und nickte und faltete die Hände.

»Aber ich bin eine gute Königin der Nacht!«

»Gibt's auch eine schlechte?«, fragte der Junge.

»Natürlich!«, sagte Else. »Eine böse, gefährliche, huu, eine Zerstörerin des Glücks …«

»Lass uns abhauen«, sagte der Junge.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte das Mädchen.

»Danke, danke«, sagte Else.

Der Junge nahm seine Freundin bei der Hand, und sie rannten die Treppe ins Stachus-Untergeschoss hinunter. Ihre schweren schwarzen Schuhe patschten durch die Pfützen.

Da, wo Else stand, kam es angenehm warm aus dem Inneren der Buchhandlung. Vielleicht sollte sie noch etwas warten, sich die Beine vertreten, mal wieder in einem Buch blättern, einen Kaffee trinken, ihre Ansprache noch mal genau überlegen. Schließlich musste sie etwas sagen, wenn ihre Freundinnen ihr schon die große Ehre erwiesen, sie zur Königin zu krönen. Natürlich war das nur ein Spiel, aber es war ein ernsthaftes Spiel, und sie und ihre vier besten Freundinnen Jutta, Esther, Klara und Ann-Dorte duldeten es nicht, wenn sich jemand darüber lustig machte, zum Beispiel ihre Eltern. Dann nahmen sie sich alle fünf bei der Hand und sangen ein Lied: »Lalala, mein süßes Kätzchen, lalala, mein liebes Schätzchen, du bist mein Leben, lalala, ich lass dich niemals gehn, jede Nacht mit dir ist wunderschön, lalala …«

Aber dann wollte sie nicht länger rumstehen. Rückte ihr Hütchen zurecht und eilte zur Treppe und duckte sich, als würde es stark regnen. Außer Atem erreichte sie das Tiefgeschoss.

Es roch nach altem Fett, nach Bratwürsten, Fritten, Schweiß und Urin. An den Stehtischen vor den Imbissständen drängten sich die Leute, um Bier zu trinken, Schaschlikspieße oder Hotdogs zu essen. Auf dem Boden hockten Obdachlose und zankten sich um eine Zeitung. Hunde kläfften sich an, und türkische, rumänische, serbische Männer standen in Gruppen zusammen und redeten aufeinander ein. Überall Wasserpfützen, Bierlachen, Essensreste, weggeworfene Fahrscheine und Papiertaschentücher. Egal wie oft die Polizei versuchte, hier unten Ordnung zu schaffen und die Sandler und Alkoholiker zu vertreiben, eine Stunde später kehrten sie alle zurück und scherten sich einen Dreck um Bußgeldbescheide und Anzeigen wegen Ruhestörung und Erregung öffentlichen Ärgernisses. Das wahre öffentliche Ärgernis waren die Männer einiger privater Wachdienste, die mit ihren scharfen Schäferhunden patrouillierten und in unbeobachteten Momenten einfach zutraten, ganz gleich, wer ihnen vor die Stiefel kam. Vor ihnen hatten die Sandler und Junkies am meisten Angst, und wenn sie sich lautstark zur Wehr setzten, nahmen die Uniformierten den Hunden den Maulkorb ab. Dann war es klug, sich schnell zu verziehen und den Mund zu halten.

Wie ein lachsfarbener Engel schwebte Else durch das stickige, von wuselnden, grimmig dreinblickenden Menschen überfüllte Untergeschoss. Sie achtete auf niemanden, und alle machten ihr Platz. Ohne eine einzige Berührung erreichte sie am anderen Ende die Treppe, die hinauf zur Bayerstraße führte. Neben dem Passbildautomaten drehte sie sich um, wie eine Schauspielerin, die gerade einen stummen Auftritt souverän absolviert hatte, und lächelte. Und irgendjemand winkte ihr zu, irgendein Mann aus der Menge, einer mit einem weißen Schlapphut, hob den Arm und winkte, und sie winkte ebenfalls, wandte sich um und stieg, lächelnd, die Treppe hinauf.

Kalt schlug ihr der Wind ins Gesicht, und sie beeilte sich, unter das Vordach des Kaufhofs zu kommen, dessen breiter Eingang sich an der Ecke zur Bayerstraße befand. Hier herrschte ein Gedränge wie drüben, auf der anderen Seite der Sonnenstraße, bei McDonald's.

Jetzt bemerkte sie, dass sie den Milchshakebecher immer noch in der Hand hielt. Sie brachte es nicht fertig, ihn einfach auf die Straße zu schmeißen. Das machte man nicht, das war verboten, das gehörte sich nicht! In ihrem Haus stand in jedem Zimmer ein kleiner Abfalleimer, und darauf war sie stolz. So sah es jederzeit aufgeräumt und sauber aus; Gäste, die überraschend zu Besuch kamen, hatten keinen Grund, die Nase zu rümpfen.

Wann hatten sie eigentlich zum letzten Mal einen Empfang gegeben? Sie wusste es nicht mehr. Sie dachte schon wieder an etwas anderes. Ihr Blick fiel auf das Hotel hundert Meter von ihr entfernt. Unter dem Vordach gelangte man auf einem Teppich zum Eingang, und ein livrierter Portier hielt einem die Tür auf. Im ersten Stock gab es ein Restaurant, das zu den besten in München zählte, und wenn man an einem Fensterplatz saß, konnte man das Treiben rund um den Stachus verfolgen und fühlte sich wie ein Fremder, wie ein Tourist, für den Geld keine Rolle spielte.

Warum gab es nirgends einen Abfalleimer? Das sah doch bestimmt peinlich aus: sie in ihrem kostbaren Kostüm mit diesem Plastikbecher in der Hand! Sie schämte sich. Quetschte den Becher zusammen, wodurch der Deckel absprang und auf den Boden fiel. Hoffentlich sah niemand her! Womöglich eine ihrer Freundinnen, die wahrscheinlich schon in der Nähe waren! Sie bückte sich und griff nach dem Deckel. Da sprang ihr ein grauer Pudel vors Gesicht, kläffte und schob den Deckel mit seinen Beinen vor sich her. Sein Kläffen wurde immer schriller, und die alte Frau, die ihn an der Leine führte, hatschte keuchend hinter ihm her.

Stöhnend richtete sich Else auf und spürte wieder diesen Schmerz im Rücken, ein Stechen, das ihr manchmal die Tränen in die Augen trieb, so weh tat es.

»Lalala, mein süßes Kätzchen