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Das Buch

Nürnberg, 1522: Die Gaunerin Cressi Nabholz kennt jeden Trick. Als Junge verkleidet stiehlt sie sich munter durch Nürnbergs Gassen und träumt doch von einem besseren Leben. Bis man sie auf frischer Tat ertappt. Bei der Gerichtsverhandlung wird der junge Geistliche David auf Cressi aufmerksam. Er fasst sich ein Herz und rettet sie durch eine Lüge. Von diesem Tag an kreuzen sich ihre Wege immer wieder. Ihr Schicksal scheint auf verhängnisvolle Weise miteinander verwoben zu sein …

Die Autorin

Helga Glaesener wurde in Niedersachsen geboren und studierte in Hannover Mathematik. Im Trubel ihrer fünfköpfigen Kinderschar begann sie 1990 mit dem Schreiben historischer Romane, von denen gleich der erste, Die Safranhändlerin, zum Bestseller avancierte. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin arbeitet sie als Tutorin bei der Studiengemeinschaft Darmstadt, wo sie angehenden Autoren die Kniffe des Handwerks verrät. Seit 2010 lebt sie in Oldenburg. Weitere Informationen unter www.helga-glaesener.de

Helga Glaesener



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Historischer Roman

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ISBN 978-3-8437-1056-5


© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Map of Nuremberg / Private Collection / The Stapleton Collection / Bridgeman Images; Self Portrait with a Friend / Louvre, Paris / Bridgeman Images; The Holy Family of the Oak Tree / Prado, Madrid / Bridgeman Images; A Procuress / Georgian State Art Museum, Tbilisi / Bridgeman Images; FinePic®, München

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Nürnberg im Jahre des Herrn 1522

266679.jpgas Schicksal lächelte, es sang von goldenen Zeiten und breitete mütterlich die Arme aus in der Nacht, in der es Cressi Nabholz ins Verderben führen wollte.

»Vom Himmel schüttet’s wie Pisse. Da kriecht keiner aus dem Bett. Du hast nicht mehr Risiko, wie ’ne Laus tragen kann«, raunte es verführerisch, während Cressi sich mit einem brennenden Kienspan durch den unterirdischen Stollen tastete.

Der Gang führte vom Johannisfriedhof unter das Hallertürlein, von dort zur Weißgerbergasse und dann in das Lager des Hutmachers Adam Seidl. Cressi und ihr Freund Utz waren mutterseelenallein in dem muffigen Schacht aus Mauerstein und gebrochenem Fels. Geborgen wie in Abrahams Schoß. Alles ohne Risiko.

»Und der Seidl hat drei Tage lang Hochzeit gehalten«, säuselte das Schicksal. »Die sind so sternhagelvoll wie die Gäste vom lieben Herrn Jesus bei der Hochzeit von Kana­an!«

»Jawohl!«, hätte Cressi fast gesagt, weil nämlich jedes einzelne Wort stimmte. Aber sie ließ es sein. Wenn sie ehrlich war, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Jedes Geräusch, das sie machte, wurde von den Wänden zurückgeworfen, als säßen dort Kobolde, die sie verulkten. Und auch die Dunkelheit machte ihr zu schaffen. Die Fackel erhellte immer nur einen Fußbreit Boden, und was sie dort sah, war eklig. An der Seite des Stollens strömte in einer breiten Rinne Wasser, und über den Ziegeln, mit denen man das Bächlein abgedeckt hatte, flitzten Ratten und anderes Getier. Noch grausliger waren die Fledermäuse, die über ihren Köpfen segelten, hieß es doch, dass diese Viecher mit dem Schlag ihres Flügels einen Menschen erblinden lassen konnten. Und nun senkte sich auch noch der Boden, und das Wasser spülte um ihre Knöchel, und eine Ratte wischte um ihr Bein, als wollte sie beißen. Sie trat nach dem Vieh.

»Das geht nich gut«, brummte Utz, der hinter ihr ging und dessen Schatten mit ihrem eigenen über die Wände zog. Ihr alter Freund besaß zu wenig Fantasie, um sich vor Ratten und Fledermäusen zu fürchten, aber mulmig war ihm auch.

»Ach was, wir kriegen das hin!«, sagte Cressi großspurig, doch auch ihr war klar, dass sie noch nie im Leben ein größeres Wagnis auf sich genommen hatten.

Sie hatten den Eingang zum Stollen vor einigen Tagen im verfallenen Keller des Siechkobels auf dem Johannisfriedhof entdeckt. Es war ein Zufallsfund gewesen, ein Gücks­treffer, wie er nur selten vorkam. In den dreckigen Arme­leute­gäss­chen an der Stadtmauer, wo Cressi den Hauptteil ihres jungen Lebens verbracht hatte, munkelte man schon lange, dass der Nürnberger Rat heimlich Gänge in den felsigen Untergrund der Stadt schlagen ließ, um im Fall einer Belagerung die Wasserversorgung sicherzustellen. Und natürlich hätte das halbseidene Gesindel nur gar zu gern gewusst, wo sich diese kostbaren Schleich- und Fluchtwege befanden. Aber der Rat hielt die Lage streng geheim. Und als gerade sie, Cressi Nabholz, einen davon entdeckt hatte, konnte sie sich doch nicht einfach dumm stellen.

Natürlich war sie nicht blauäugig gewesen. Sie hatte ihre Entdeckung für sich behalten und den Stollen zunächst sorgfältig ausgekundschaftet, und zwar mehrere Tage lang. An einem davon hatte sie den Zugang zu Seidls Lager entdeckt – und da war es mit ihrer Beherrschung vorbei gewesen. Sie hatte eine Möglichkeit gefunden, ohne Risiko, in aller Ruhe, das Lager eines reichen Kaufmanns auszuräumen! Ein Blick, den Cressi bei nächster Gelegenheit in seine Auslagen warf, hatte sie schier weinen lassen vor Glück. Goldene Calotten jubelten ihr entgegen, Samtbarette mit Klunkern dran, die wie Edelsteine aussahen, perlenbestickte Haarhauben und Hüte, an denen mit silbernen Münzen Pfauenfedern befestigt waren.

Nicht, dass Cressi sich für Hüte interessiert hätte. In ihrem Kopf hatte sich die Pracht umgehend in glitzernde Silbergulden verwandelt. Sie brauchte nämlich dringend Geld, weil der Kracker-Veit seine Garküche verkaufen wollte. Veit schob das rostige Gerät seit zwanzig Jahren durch die Spi­talgasse und verdiente damit so viel Kies, dass er sich fast jeden Tag satt essen konnte. Aber vor einigen Wochen hatte ihn der Schlag getroffen. Seitdem humpelte er, und deshalb wollte er zu seiner Tochter nach Lauf ziehen und die Küche für drei Silbergulden verhökern.

Als Cressi davon hörte, hatte sie den klapprigen Wagen mit dem Ofen und den Ablagen für Fleisch und Gemüse tagelang wie verzaubert angestarrt. Sie wurde älter. Es fiel ihr immer noch leicht, zu rempeln und unter Mäntel und Jacken zu greifen und Geldbeutel von Gürteln zu schneiden, aber die Leute wurden allmählich misstrauisch. Obwohl sie kleingewachsen war, nahm man ihr das tobende Kind nicht mehr ab. Zwei oder drei Mal hatte jemand sie schon am Kragen gepackt, und sie war nur davongekommen, weil sie wie eine Furie um sich geschlagen hatte.

Was ihr blühte, wenn man sie erwischte, war ihr klar: Der Nachrichter ging einmal im Monat seinem Dienst auf dem Hauptmarkt nach, und dort konnte man die Hände in einen Korb purzeln sehen, wenn die armen Sünder nicht gleich vor die Mauern geführt und am Galgenhof auf dem stadteigenen Rundgalgen gehängt wurden.

Kein Wunder, dass die Küche ins Zentrum ihres Begehrens rückte. Sie hatte sich zusammengeträumt, wie sie das Doppelte vom Kracker-Veit verdienen würde und wie sie und Utz niemals mehr hungern würden. Nur: Wie hätte eine Cressi Nabholz jemals drei Gulden zusammenklauen sollen? Als sie den Stollen entdeckte, hatte ihr Herz also jubiliert.

»Wir nehmen nur wenig. Vier oder fünf Hüte, das merkt er gar nicht«, sagte sie jetzt zu Utz. »Und wenn doch, kommt er nie drauf, wer ihm die Sore unterm Hintern weggeklaut hat.«

»Wenn das nur gutgeht, Babetutchen.«

Cressi drehte sich um. Ihr Freund war nicht für schmale Stollen gemacht. Sein Quadratschädel fegte die schlafenden Fledermäuse von der Decke, und aus einem Kratzer lief ihm Blut in den stachligen Bart. Er lächelte sie an und machte sich an die schwierige Aufgabe, seine Bedenken in Worte zu fassen. »Man muss unsichtbar sein wie ’n Geist.«

»Aber wir sind unsichtbar, Utz. Durch die Falltür kommen wir in den Wasserkeller und von da ins Lager. Wir müssen keinen Schritt in sein Haus tun, verstehste? Der kriegt gar nicht mit, dass wir da sind.« Sie boxte ihm ermutigend mit der Faust gegen die Brust, und sie machten sich wieder auf den Weg.

Bald erreichten sie die Stelle, wo die Erbauer des Tunnels ein Loch in die Felsendecke geschlagen hatten, um einen Zugang zu einem der sicheren Häuser zu schaffen. Das Loch wurde durch eine Falltür gesichert. Wozu Cressi eine Riesenkraftanstrengung gebraucht hatte, das schaffte Utz, indem er die Faust ausstreckte: Die Falltür flog auf. Sie waren ein eingespieltes Paar. Als sie klein gewesen war, hatte Utz sie in die Keller geschoben, durch deren Fensterchen nur ein Kind passte. Jetzt nahm er ihr die Fackel ab und hievte sie mit der freien Hand durch das Loch.

Cressi ließ sich die Fackel nachreichen. Sie huschte an einem steinernen Bassin vorbei, in dem ein Teil des Trinkwassers gesammelt wurde, stieß eine Tür auf, und dann stand sie auch schon im Lager. Mit angehaltenem Atem drehte sie sich um sich selbst. Der Raum war mit Regalen, Borden und Tischen gefüllt, und überall lagen Barette, Hauben und Hüte, sicher hundert oder mehr, unzählbar jedenfalls. Die Klunker, mit denen man die Kopfbedeckungen verziert hatte, schillerten im Fackellicht, die Stickereien sahen aus, als hätte eine Fee mit Goldstaub gekleckert. Der Moment, auf den sie die letzten Tage hingefiebert hatte, war gekommen. Vor ihr lag ein Vermögen und wartete darauf, in ihrem Sack zu verschwinden.

Doch plötzlich zögerte Cressi.

Es ist zu viel, mahnte ein Stimmchen in ihrem Kopf. Dafür bist du nicht gemacht. Wann hätte sie je mehr als ein Grastuch, ein paar Schuhe, Pfennige aus dem Almosenstock oder den Inhalt einer Börse geklaut? Zwei Batzen aus der Satteltasche eines reisenden Glockengießers – das war ihr Prachtraub gewesen. Und hier lag … Sie konnte den Reichtum gar nicht einschätzen.

Das Schicksal brachte sich mit einem glockenhellen Lachen in ihr Bewusstsein zurück. »Nimm es, Cressi. Greif zu. Es gehört dir!«

Das ist zu viel.

»Zu viel ist gar nicht möglich!«

Und es geht zu leicht.

»Aber du willst es doch.« Das Schicksal strich um sie herum. »Satt, satt«, säuselte es in ihr Ohr.

Cressi seufzte. Sie hatte sich nur ein einziges Mal in ihrem Leben satt essen können. Eine alte Grantel, der der Tod ins Fenster schaute, hatte von ihrer Dienerin ausgesuchte Bettlerkinder in den Hof schaffen lassen. Dort stand ein Tisch, beladen mit Brot, Kutteln, gebratenen Nieren und Dingen, die Cressi nicht einmal vom Namen her kannte, und die Alte hatte sie aufgefordert, nein, gezwungen, alles herunterzuschlingen. Der Herrgott würde gegenrechnen, und nun wollte sie die Waagschale der guten und bösen Taten noch rasch zu ihren Gunsten senken, auch wenn die Schwiegertochter, die um das Erbe bangte, schimpfte, dass die geschnitzten Engelein in der Eingangstür erröteten.

Cressi hatte kotzen müssen und sich wie in einem Rausch unter dem Beifall der Alten noch einmal vollgestopft, bis rein gar nichts mehr ging. Als sie den Hof verließ, war sie satt gewesen. Und das hatte sich so sonderbar, so allumfassend beglückend angefühlt, dass die Sehnsucht danach sie im Wachen und in den Träumen verfolgte.

»Satt«, raunte nun das Schicksal erneut und wollte sie vorwärtsstoßen. Doch Cressi kehrte auf den Hacken um. Wenn sie ihren eigenen Hals riskierte, war das ihre Sache, aber Utz wollte in Wirklichkeit ja gar nicht hier sein. Sie lief in die Höhle mit dem Bassin zurück und beugte sich über das Loch. »Du haust ab!«

Erschrocken schaute Utz zu ihr auf. »Und du? Was is los? Kommst du nich mit, Babetutchen?«

»Doch, aber nicht sofort. Ich mach das hier erst noch fertig!« Cressi ließ die Brettertür auf das Loch fallen und hoffte, dass Utz sich in der Dunkelheit nicht fürchtete. Und nun wurde gewagt und nicht länger gezaudert!

Sie kehrte zu den Regalen und Tischen zurück. Ein Hut mit einem Band und einer breiten Krempe zog ihren Blick auf sich. Der untere Rand der Krempe war mit Blumen verziert, von denen jede aus weißen Perlen bestand. Lieber Herr Jesus, war das eine Pracht. Sie löste den Sack von ihrem Leib und stopfte den Hut hinein – und im selben Moment wurde mit einem Mordskrach die Tür in ihrem Rücken aufgestoßen.

Sie flog um die eigene Achse. Cressi war es gewohnt, durch Hände zu flutschen und zwischen Beinen hindurchzuflitzen, und während sie im Schock den Sack fallen ließ, überschlug sie bereits ihre Möglichkeiten. Ein fetter, vor Selbstzufriedenheit triefender Grützkopf, sicher Seidl, kam durch die Tür, drei weitere, mit Mistforken bewaffnete Kerle gleich nach ihm. In ihren Rücken befand sich der Innenhof. Am besten los, bevor sie sich auf sie stürzten.

Als Seidl nach ihr greifen wollte, war Cressi längst an ihm vorbei. Er verlor das Gleichgewicht, und sie hörte ihn fluchen. Die drei anderen versuchten sie einzukreisen. Sie flitzte zwischen ihnen hindurch und wieselte ins Freie.

Warum wissen die, dass ich da bin?

Das Tor, das zur Gasse führte, war mit drei eisernen Riegeln gesichert. Die würde sie nicht schnell genug aufkriegen. Sie nahm die nächste Tür ins Haus hinein, stolperte einige Stufen hinauf und landete in einer Schlafkammer. Ein Mädchen, kaum älter als sie selbst, saß nackt im Bett und schrie wie gestochen. In ihr Gebrüll mischte sich Hundegebell. Verfluchte Köter, dachte Cressi.

Sie rannte durch ein zweites Zimmer und erklomm eine schmale Stiege. Wieder ein Raum, vielleicht ein Gesindezimmer. Jemand schnarchte, Cressis Herz flatterte. Sie stieß die Fensterläden auf – und ihr Glück war kaum zu fassen. Unter ihr tat sich die Gasse auf.

Sie besann sich nicht lang und sprang. Du bist wie eine Katze, hatte Utz immer gesagt. Wie oft war sie aus purem Übermut von einer Mauer gehüpft. Sie fühlte sich auch jetzt federleicht. Nur war der verfluchte Boden nicht eben. Als sie aufkam, verstauchte sie sich den Fuß. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie davon. Aber schon wurde das Tor aufgerissen. Schneller, Cressi, schneller …

Sie musste eine der Gassen an der Stadtmauer erreichen, wo die Stadtknechte sich nicht hineintrauten, weil dort die Messer locker saßen und Büttel verhasst waren. Vor Schmerz heulend schleppte sie sich voran. Ihr Ziel war die Pfeifergasse, und sie wusste auch schon ein Türchen, das sich ihr öffnen würde. Sie hielten ja zusammen, die Strolche, Diebe, Zinker, Huren und Schnapphähne. Gehetzt warf Cressi einen Blick über die Schulter. Der Hund war ihr nicht auf den Fersen, dafür aber ein Mann, der eine Axt schwang.

Sie hatte nur ganz kurz zurückgeschaut – einen Atemzug lang. Doch in diesem Moment besiegelte sich ihr Schicksal. Sie rannte in einen Kerl hinein. Wahrscheinlich war er aus einer der Quergassen gekommen, ein Nachtschwärmer, ein Besoffener. Er war nicht weniger überrascht als sie selbst. Und da lagen sie auch schon auf dem Boden. Cressi war obenauf. Sie strampelte sich frei und wollte fort, aber er packte sie – und hatte einen überraschend festen Griff. Währenddessen kam ihr Verfolger näher. »Haltet den Dieb!« Dass ihnen aber auch nie was Neues einfiel …

Cressi blickte in ein Gesicht mit vollen, weichen Lippen und misstrauischen Augen, über denen sich schwarze Augenbrauen zackten. Eine Teufelsfratze. Beherzt biss sie in die Hand des Kerls. Er stieß einen Schrei aus und ließ sie los. Sie wollte hoch, aber im selben Moment traf sie ein böser Schlag. Und dann war alles weg.

Das Gefängnis von Nürnberg befand sich in den Kellern des Rathauses. Oben die Ratsherren, unten der Dreck. Jemand hatte mal gesagt, dass darin ein hübsches Beispiel für das Leben nach dem Tod liege, wo sich die Hölle ja auch direkt unter dem Paradies ausbreitete. Daran musste Cressi denken, als sie später in der Nacht mit einem dröhnenden Kopf aus ihrer Ohnmacht erwachte und sich in völliger Dunkelheit fand. Ihre Hände waren an die Mauer hinter ihrem Kopf gekettet, was verdammt unbequem war, besonders für den Nacken, aber nachdem sie nacheinander alle Glieder bewegt hatte, stellte sie beruhigt fest, dass sie ansonsten gut beisammen war. Sogar der Fuß tat kaum noch weh.

Der Boden, auf dem sie lag, bestand aus Holzbohlen – das konnte sie mit den Zehen ertasten. Ihr stieg der Gestank dreckiger, verschwitzter Leiber in die Nase, der verriet, dass sie die Zellen mit etlichen Leidensgenossen teilte. Irgendwo wurde gehämmert, weiter weg sang jemand von einem armen Mägdelein auf einer Brücke. Jedes Geräusch fuhr wie ein Stachel direkt in ihr Gehirn.

Du bist also im Kerker gelandet, kehrte sie zu ihrem Hauptproblem zurück und versuchte vernünftig zu sein. Bisher hatte das Schicksal immer schützend die Hand über sie gehalten. Sie war nur einmal, als sehr kleines Kind, ­einem Häscher in die Fänge geraten, der sie verdroschen, aber dann aus Mitleid hatte laufenlassen. Den Nürnberger Kerkermeister kannte sie deshalb nur aus der Ferne. Es hieß, er sei ein redlicher Mann, der keinen hungern ließ, solange ihm die Eingekerkerten oder der Rat – für den Fall, dass es sich um mittellose Sünder handelte – Geld für die Verpflegung lieferten. Vielleicht würde sie ihm ein bisschen was vorheulen. Kam sie mit so was noch durch? Oder war sie inzwischen zu groß geworden? Nachsicht übte man nur mit Kindern.

Plötzlich musste sie wirklich gegen die Tränen anblinzeln. Sie war eine ertappte Diebin, und irgendwo ganz in der Nähe gab es eine Kammer voller Schraubstiefel, Brandeisen, Mundbirnen und eiserner Halsgeigen, mit denen man ihresgleichen Geständnisse entlockte. Ihr blühte ein furchtbares Schicksal.

Zunächst würde man sie natürlich vor Gericht stellen, wobei Cressi nur eine verschwommene Vorstellung davon hatte, wie solch eine Verhandlung ablief. Sie hatte sich nie zu einem Prozess getraut. Aber nun musste sie sich überlegen, wie sie vorgehen wollte. Wichtig war vor allem, dass sie etwas gestand, denn sonst würde man sie in die Folterkammer des Gefängnisses schleppen, in die Kapelle, wo man dem Flocker-Sebastian mit Hilfe von Daumenschrauben die Finger plattgemacht hatte.

Dass sie in Seidls Lager gewesen war, konnte sie kaum abstreiten. Aber wie weiter? Hatten Seidls Männer auch den Utz gepackt? Wenn er ebenfalls eingekerkert war, würde es übel werden, denn damit wäre bewiesen, dass sie durch den Stollen gekommen waren. Und Cressi schwante, dass man mit Strolchen, die von der Lage der Trinkwasserstollen wussten, kein Erbarmen haben würde. Dann ging es schnurstracks zum Galgen.

»Utz?«, hauchte sie in die Dunkelheit. Zu ihrer Erleichterung bekam sie keine Antwort, außer dass eine fremde Stimme sie anwies, die Schnauze zu halten. Gut, jetzt musste sie sich eine Geschichte überlegen, wie sie in das verdammte Lager gelangt sein könnte.

Ich hab mich eingeschlichen, in den Hof, schon früher am Tag, weil ich so hungrig war und etwas zu essen suchte. Doch die heilige Mutter Gottes, die ich um Beistand anflehte, ermahnte mich, dass Stehlen eine Sünde sei. Aber als ich wieder rauswollte, war das Tor schon verschlossen, und der Hunger wurde immer ärger, und da habe ich die Küche gesucht, und plötzlich war ich in dem Raum mit den Hüten, und dann …

Wieso hat man überhaupt auf mich gewartet?

Da war sie wieder, die Frage. Cressi war sicher, dass sie keinen Lärm gemacht hatte. Und der Schein ihrer Fackel war auch nicht durch die dicken Bohlen gedrungen. Außerdem waren die Männer, die sie überrascht hatten, komplett angezogen und bewaffnet gewesen. Also? Woher hatten sie gewusst, dass jemand im Lager war, der lange Finger machen wollte?

Cressi grübelte darüber. Sie selbst hatte niemandem von ihrem Coup erzählt, da war sie sicher – sie traute nämlich keiner Seele, genauso wenig wie Utz. Er hatte ihr oft genug eingehämmert, dass sie sich nur aufeinander verlassen konnten.

Und vielleicht auf Nicklas?

Der Junge war in ihr Leben getreten, kurz bevor Cressi den Stollen entdeckt hatte. Er war mit einigen Falschspielern unterwegs gewesen, denen weiter nördlich der Boden unter den Füßen zu heiß geworden war. Die Männer übernachteten auf dem Johannisfriedhof, und als alle gesoffen hatten und man ins Reden kam, stellte sich heraus, dass Utz eine Weile mit Nicklas’ Mutter herumgezogen war. Sie hatten nachgerechnet und waren draufgekommen, dass es sich bei dem jungen Burschen womöglich um Utz’ eigen Fleisch und Blut handelte, und da war dem Utz natürlich auf der Stelle das Herz aufgegangen.

Aber Cressi mochte den Jungen nicht, vielleicht aus Eifersucht, das gab sie gern zu. Sie und Utz waren wie ein Herz, das in zwei Körpern schlug. Da sollte niemand zwischen. Andererseits konnte sie das dem glücklichen Utz natürlich nicht sagen. Er war so stolz auf den Jungen, der die Karten fliegen ließ, dass man gar nicht schnell genug schauen konnte. Hatte er Nicklas vielleicht im Glückstaumel verraten, was sie planten? Aber warum sollte Nicklas sie ans Messer liefern wollen?

Dämliche Frage, dachte Cressi. Wegen der Kröten, die für so was geboten wurden. Nicklas war ein typischer Glatt­schmuser, der sich selbst nichts traute und dafür umso lieber andere verriet.

Jemand grunzte in ihrer Nähe. Es war ein ekliges, irgendwie lüsternes Geräusch, und das rief ihr in Erinnerung, dass die Gerichtsverhandlung noch in der Ferne lag, sie aber in Kürze ein viel dringlicheres Problem zu bewältigen hatte. Sie steckte in einer weiten Hose, mit einem langen Wams dar­über, was verbarg, dass sie keinen Schwengel zwischen den Schenkeln baumeln hatte, und damit war sie zunächst mal für jeden ein Junge. Aber was, wenn man sie auszog?

Cressi fröstelte. Utz hatte ihr die Sache mit der Weiblichkeit erklärt, kaum dass sie Wörter verstehen konnte. Ein Weib ist anders gebaut als ein Mann, hatte er gesagt. Wo beim Mann der Schwengel sitzt, da hat der Allmächtige bei den Weibern eine Himmelspforte eingebaut. Hinter diesen Pforten wartete das Glück der Erde, und deshalb musste man sie schützen, denn die Mannsbilder hatten nur eines im Sinn: sich hineinzuschleichen, um am Nektar des Paradieses zu naschen. Was für den Mann aber ein Vergnügen war, brachte das Weib auf geradem Weg in die Hölle. Denn ist die Himmelspforte erst einmal erbrochen, sagte Utz, dann gilt das Weib vor dem Allmächtigen als Sünderin, und sie kann sich auf das ewige Feuer in der Hölle einstellen.

Utz, der sie in einer finsteren Nacht aus dem Misthaufen hinter dem Haus der Hübschlerinnen aufgeklaubt hatte und seitdem wie ein Vater für sie war, hatte also das Nächstliegende getan, um sie vor diesem bösen Schicksal zu bewahren: Er hatte sie in Hosen gesteckt, kaum dass sie aus den Windeln war. Außerdem hatte er ihr verboten, den Namen zu benutzen, den er ihr in einem Anflug von Zärtlichkeit und in dem Bewusstsein verliehen hatte, dass sie etwas Besonderes war: Creszentia. So war sie zu Cressi geworden, zu einem Bengel, der zwar mit süßester Stimme um einen Pfennig betteln konnte, aber trotzdem ein Junge war.

Und jetzt hing sie in Ketten im Loch und musste sich darauf gefasst machen, dass man sie für das, was ihr in der Kapelle blühte, auszog – womit ihr Geheimnis offenbar würde. Einen Moment lang war ihr schlecht vor Angst. Nicht nur die Kerle, mit denen man sie zusammengesperrt hatte – auch die Stadtknechte, dieses Saupack, würden die Gunst der Stunde nutzen.

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266672.jpgnna saß an einem Schubladentisch aus nachgedunkeltem Eichenholz, eine Stickerei in den Händen. Die Nadel flog, aber ihre Stiche krakelten über den Stoff wie Hühnerfüße im Sand. Kein Wunder – sie besaß weder Talent noch eine Neigung zur Handarbeit, sie hasste sie. Und David, der das wusste, starrte sie an und verzweifelte.

Seine Mutter erzählte von einer jungen Nonne, die ebenfalls im Kloster lebte. Sie tat es mit dem gewohnten Witz, aber er schaffte es nicht, ihr zuzuhören.

Sein Blick haftete an ihrer weißen Tunika und dem weißen Schultertuch, das ihren hübschen Nacken verbarg. Früher hatte sie Kleider aus rotem Samt oder blau und grün gefärbter Wolle getragen. Ihre Lieblingskette hatte aus einundzwanzig verschiedenfarbigen Steinen bestanden, in ­denen sich das Licht brach. Sie war eine elegante Frau gewesen, ein bisschen eitel, der Gesellschaft zugewandt, redelustig und klug. Jetzt, im kargen Besuchsraum des Klosters Sonnefeld, kam sie ihm vor, als hätte man sie bereits in ihr Leichentuch gehüllt. Es brach ihm schier das Herz.

»Margaretha hat sich meine Worte zu Herzen genommen«, lächelte Anna über ihre Mitschwester, während sie mit der Nadel den Stoff ramponierte. »Nur hat sie es leider übertrieben. Ich glaube, sie ist von da an nach jedem Stundengebet in ihre Zelle geeilt, um das arme Pflänzchen zu gießen. Möglicherweise sogar mit Weihwasser. Als es in den Wasserfluten ertrank, war sie untröstlich und hat geschworen … Ich merke, wenn man mir nicht zuhört, mein Sohn, ich merke das. Langweile ich dich?«

David rettete sich in ein halbherziges Kopfschütteln.

»Du darfst mir nicht erlauben, dich mit meinem Alltag vollzuschwatzen«, lächelte seine Mutter und sprach trotzdem im selben Atemzug weiter. »Ich habe es geschafft, ein Stück des hinteren südlichen Gartens zu ergattern. Dort werde ich Rosen ziehen. Rosen sind die wahren Königinnen der Blumen, David. Ich würde gern die großköpfigen, die mit dem Duft des Orients, hier heimisch machen. Könntest du mir ein paar Setzlinge aus meinem Garten schicken? Du erinnerst dich doch sicher an die Büsche hinten bei der steinernen …«

»Es ist dir ernst? Du bist fest entschlossen, den Schleier zu nehmen?«, fiel ihr David, der den plätschernden Plauderton nicht mehr ertrug, ins Wort.

Anna ließ die Stickerei sinken. Als sie nickte, saß kein Zweifel in ihrem schönen, ovalen Gesicht. »Sein Leben dem Herrn zu weihen, darin liegt eine große Gnade, mein Kind. Es ist, als würde die Schwere des Lebens fortgenommen. Das Herz atmet freier ohne die Beschwerlichkeiten des Alltags. Der Blick klärt sich. Ich wünsche es mir von ganzem Herzen.«

»Und deshalb redest du von deinem langweiligen Alltag?«

»Verdreh mir nicht die Worte im Mund. Was für dich langweilig ist …«

»Aber was ist mit deinen Freundinnen?«, widersprach er hitzig. »Deine Bücher … die Ritte übers Land … die Feste …«

»Wie jung du bist.« Ihr Blick war sanft und voller Liebe. »Das Leben im Kloster …«

»Mutter …«

»Dieses Leben hier verschafft mir mehr Zufriedenheit als die nichtigen Zerstreuungen der Vergangenheit. Habe ich dir nicht hundertmal gesagt, es schickt sich nicht, einen Menschen zu unterbrechen?«

»Tausendmal. Täglich.«

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Aber er sah auch die Sorge darin. Sie wechselte das Thema. »Erzähl mir von der Universität, von Wittenberg. Fällt dir das Lernen leicht?«

David zuckte mit den Schultern. Sich Dinge zu merken ­bereitete ihm keine Schwierigkeiten, und da er fließend Latein sprach – dafür hatte seine Mutter gesorgt –, war er gut durch alle Prüfungen gekommen. Aber was wog das gegen den öden Alltag? Er hasste die Stunden auf den harten Bänken, in denen die Monologe der Magister ihn einschläferten. Er hasste den Geruch der Tinte und das Kratzen der Schreibfedern auf dem Papier. Vor allem aber hasste er es, in der Schlosskirche zu knien und über seinen Seelenzustand zu brüten. Großartig zu sündigen war er doch gar nicht in der Lage, bei dem Leben, das man ihm aufzwang. Manche seiner Kommilitonen weinten, während sie über ihre Verfehlungen grübelten, aber viele lernten heimlich Prüfungstexte auswendig. Einer hatte ihm gestanden, dass er im Geist Zahlen addierte, und ein anderer, der verliebt war, erdachte Sonette für das Mädchen seines Herzens. Seine eigenen Gedanken irrten meist nach Bimbach, zu seinem Gut, wo der Wind über die Getreidefelder strich und die Luft klar und voller Düfte war. Wenn er es nicht mehr aushielt, träumte er sich auf einen Pferderücken und bildete sich ein, über die Feldwege zu galoppieren, aber hinterher ging es ihm umso schlechter.

»Vielleicht studiere ich nächstes Semester in Leipzig weiter«, sagte er, um Annas Fragen auszuweichen.

»Das ist sicher eine gute Idee.« Ihr rutschte das Sticktuch aus den Händen, und sie bückte sich danach. Als ihr Kopf wieder über der Tischkante auftauchte, war ihr Gesicht ge­rötet. »Es ist sinnlos zu hadern. Du wirst dich an das Leben in Gottes Dienst gewöhnen.«

»Vermutlich.«

»Ich will gar nicht behaupten, David, dass jeder Mensch für ein Amt geeignet wäre, aber du weißt es doch selbst: Wir können Bimbach …«

»… nicht halten, wenn kein Geld von außen hineinfließt«, führte David den Satz für sie zu Ende. Sie hatte ihm das ja ausführlich erklärt, als sie ihn nach dem Tod seines Vaters darum bat, ein Theologiestudium aufzunehmen und eine Stellung in einem Dom- oder Stiftskapitel anzustreben, das mit einer Pfründe dotiert war. Ihr Gut war hoch verschuldet. Sie standen vor dem Ruin. Seine Mutter hatte die Bücher des Guts geführt, und so konnte sie ihm haarklein erzählen, wie sie in die Misere gerutscht waren. Der Zehnt, den sie an das Bistum Würzburg abliefern mussten, hatte sie überfordert, dann gab es einige unkluge Entscheidungen seines Vaters, die mit dem Erwerb auswärtigen Besitzes zusammenhingen, der am Ende nichts einbrachte, zwei schlechte Ernten, eine Seuche unter den Schafen …

David hatte nicht geahnt, dass es so schlecht um sie stand, und als sich herausstellte, dass es zu dem Studium keine Alternative gab, hatte es ihm vor Verzweiflung das Herz abgedrückt. Er war kein Stubenhocker. Er liebte den Klang der Dreschflegel in der Scheune, und ihn interessierte die Funktionsweise der Ackerwalze, die sie drüben im Bambergischen erfunden hatten und mit viel Erfolg ausprobierten. Wenn in seinen Händen ein Klumpen feuchter, satter Erde lag, fühlte er sich Gott näher als auf dem Steinboden vor dem Altar. Am Ende hatte er natürlich trotzdem zugestimmt. Was blieb ihm auch übrig? Ohne das Geld, das dieses Amt mit sich brachte, würde das Gut verkauft werden müssen, und dann wäre alles verloren.

»Nun nimm es nicht so schwer. Bimbach bleibt in deinem Besitz, das ist das Wichtigste«, schmeichelte Anna. »Du wirst es später oft besuchen können. Und Ewalt soll es doch nur verwalten.«

Ewalt war sein Vetter, ein ältlicher Laffe mit einer Vorliebe für geschlitzte Oberschenkelhosen und verschiedenfarbige Strümpfe und dem nervtötenden Gehabe eines Mannes, der sich plötzlich reich wähnt. Seine Eltern hatten ihn für das Amt ausgewählt, und David – überwältigt vom Tod des Vaters und der Aussicht, Bimbach zu verlieren – hatte einfach zugestimmt. Er war nur wenige Tage mit ihm zusammen gewesen, als das Semester in Wittenberg begann und seine Mutter ihn drängte, das Studium unverzüglich aufzunehmen, aber er mochte ihn nicht. Selbst hätte er sicher jemand anderen gesucht.

Spielte aber alles keine Rolle. Bimbach war ihm entglitten. Sein Leben bestand aus lateinischen Phrasen, die sich wie Staub auf sein Gemüt legten. Auch jetzt drangen Gebete durch das offene Fenster, und plötzlich glaubte er in dem Zimmerchen mit dem Kreuz und den Ölbildern der gemarterten Heiligen an der Wand zu ersticken. Er stieß den Stuhl nach hinten, stand auf und wandte sich zum Gehen.

Seine Mutter hakte sich bei ihm ein und begleitete ihn durch den Garten des Klosters Sonnefeld zur Klosterpforte. Es war Ende Mai. Die Sonne schien. Die Blätter waren hellgrün aufgebrochen. Wenn man jetzt hinaus in die Weizenfelder ginge, könnte man dort die winzigen weißen Blütenblättchen des Getreides finden. Möglicherweise würde die anhaltende Trockenheit ihnen allerdings schaden. Regen im Mai bringt Brot und Heu. War jetzt nur nicht mehr seine Sache. Darum musste sich Ewalt kümmern.

Anna hielt ihn am Ärmel fest, als sie das Tor mit dem kleinen Pförtnerinnenhäuschen erreichten. »Warte! Wirst du, bevor du nach Wittenberg zurückkehrst, noch in Bimbach vorbeischauen?«

Er zuckte mit den Schultern, obwohl er wusste, dass er es nicht tun würde. Bimbach war eine offene Wunde. Er würde nicht ohne Not darin wühlen.

»Wenn du es vorhast, dann plane bitte auch einen Abstecher nach Würzburg ein. Ich kenne dort einen Mann, Bernhard Zobel von Giebelstadt. Er ist der Generalvikar des Fürstbischofs und ein braver und gottesfürchtiger Mensch. Und vor allem – er ist unserer Familie verbunden. Ein Jugendfreund deines Vaters. Ich bin mir sicher, er wird sich herzlich um dich kümmern, wenn du ihn um Hilfe bittest. Und du wirst Menschen brauchen, die dich protegieren, wenn du eine geistliche Laufbahn einschlägst, die Gewinn bringen soll. Versprich mir, dass du ihn besuchst, sobald dein Weg dich in die Stadt führt.«

David rang sich ein Lächeln ab, das seiner Mutter aber nicht genügte.

»Versprichst du es?«

Er nickte und umarmte sie so heftig, dass sie zusammenzuckte.

Sein Versprechen ließ ihn nicht los. Eigentlich hatte er im Anschluss an den Besuch im Kloster sofort nach Nürnberg zurückreiten wollen, wo er die letzten Wochen bei der Familie seines Sonette dichtenden Freundes verbracht hatte. Der Büttel der Stadt hatte ihn gebeten, beim Prozess gegen einen Dieb auszusagen, über den er nach einem Schenkenbesuch gestolpert war, und er hatte zugesagt – schlicht weil ihm gleich war, wie er die letzten freien Tage verbrachte.

Doch nun änderte er seine Pläne. Zu Bimbach selbst konnte er sich nicht überwinden, aber wenn er sich in Würzburg bei dem Generalvikar vorstellte, würde er vielleicht auch Matheß treffen, seinen Milchbruder, den Sohn seiner Amme, mit dem er seine Kindheit verbracht hatte.

Matheß war Bauer in Brünnau, zweimal im Jahr ritt er in die Stadt, um dort einzukaufen, was die Leute in seinem Dorf nicht selbst herstellen konnten. Einmal am letzten Donnerstag im Mai und ein zweites Mal im Oktober. Seine Familie und die Nachbarn gaben ihm gewöhnlich ellenlange Wunschlisten mit: besondere Gewürze für die Küche, Rosenkränze, Leckereien aus den zahllosen Buden, Kartenspiele, Amulette, Arzneien … Matheß war gutmütig genug, alles zu besorgen. David hoffte, dass sein Freund mit dieser Gewohnheit nicht gebrochen hatte und er ihn heute am letzten Maidonnerstag treffen würde. Plötzlich schien ihm der Kumpan seiner Kindheit und Jugend wie ein Licht an einem finsteren Horizont.

Er kam nach einer Übernachtung in Bamberg gegen Mittag in Würzburg an, ließ sein Pferd bei einem Bäcker zurück, mit dem sein Gut Geschäfte machte, und begab sich zum Markt. Der quadratische Platz im Schatten der Marienkirche war so quirlig, wie er ihn in Erinnerung hatte. David bahnte sich seinen Weg an Karren vorbei, auf denen sich die frühen Feldfrüchte der Bauern stapelten, an Frauen mit Eierkiepen und an Buden, von deren Stangen kopfüber Hasen und Fasane hingen. Schweine quiekten in provisorischen Pferchen, und im Schatten der Marienkirche sang ein blinder Lautenspieler von vergeblicher Liebe. Der Mann lächelte, als er das Geräusch der Münze hörte, die David in seinen Holzteller warf. Gierig tastete er danach, in der wohl richtigen Annahme, dass sie sonst rasch gestohlen würde.

David überquerte den Markt mehrere Male in alle Richtungen, konnte Matheß aber nirgends entdecken. Schließlich ging er zum Stachel, einer Schenke ganz in der Nähe, wo er mit seinem Freund oft zu Mittag gegessen hatte. Mit ein bisschen Glück würde er dort auch heute auftauchen.

Als David den Garten betrat, der im Innenhof der Schenke lag, schlug ihm der Duft von blauen Zipfeln entgegen, den in Sud gegarten Würsten, die vielleicht nirgends so lecker schmeckten wie in dieser ein wenig heruntergekommenen Gastwirtschaft. Er suchte sich ein Eckchen neben der massigen gewundenen Steintreppe, die in die oberen Gasträume führte, und bestellte sich eine Portion.

Seine Geduld wurde belohnt. Eine Stunde später tauchte Matheß auf. Er eroberte das Terrain, wie es seine Art war, nämlich im Sturm. Laut schwatzend betrat er den kleinen Garten. An seinem Arm hing eine Hure, kenntlich am roten Kopfputz mit dem gelben Saum. Das Weib war sicher doppelt so alt wie er selbst, aber hübsch, mit einem schweren Busen, der sich in zwei stattlichen Hügeln aus dem Mieder wölbte. Sie schien nicht abgeneigt, mit ihm einen süßen Tag zu verbringen, was kein Wunder war, denn Matheß hatte den blitzenden Charme eines Schwerenöters und dabei das engelhafte Aussehen eines Heiligen. Wahrscheinlich bräuchte er nicht einmal zu zahlen.

Die Hure hatte aber offenbar für das Vergnügen mit ihm einen anderen Freier abgewiesen, denn entweder der oder ihr Hurenwirt folgte dem Pärchen schimpfend in den Garten. Eine törichte Entscheidung – Matheß war ein Kerl wie Goliath, der keiner Rauferei aus dem Weg ging. David rückte seinen Stuhl in den Schatten und beschloss mit einem Grinsen, das Schauspiel, das sich anbahnte, zu genießen.

Matheß ließ seine Einkäufe, die er in einer Pferdetasche mit sich schleppte, von der Schulter gleiten und hieß die Hure mit einer großzügigen Armbewegung sich setzen. »Andres, du hast es gesehen«, rief er dem asthmatischen Wirt zu. »Ich komme, um in Frieden mit meiner Schönen deinen Most zu trinken. Mit dem Stänkerer hab ich nichts zu schaffen!«

»Was zerschlagen wird, geht auf deine Rechnung!« Andres tänzelte zwischen den Tischen davon.

Matheß drehte sich zu seinem Verfolger um und krempelte die Ärmel hoch. Seine Muskeln wurden sichtbar, feste Stränge, die er sich bei harter Arbeit zugelegt hatte. Vergnügt knetete er die Finger. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass sein Widersacher, ein dachsgesichtiger Kerl mit einer dreieckigen Narbe im Gesicht und einem verfilzten Bart, eine Waffe tragen könnte. Das Messer geriet wie aus dem Nichts in die klobigen Hände. »Die da is meine«, erklärte der Bursche schlicht mit einem Blick zur Hure.

»Meine … deine. Ich würde sagen, die süße Heidelind gehört dem, zu dem sie gehen möchte.« Matheß zog sein eigenes Messer aus dem Gürtel – und legte es auf den Tisch. Das war eine kluge Maßnahme. Würzburg war pingelig, mit Mördern kannte die Stadt kein Erbarmen. Da war es gleich, wer wen gereizt hatte.

Der Freier – David entschied, dass der Mann für einen Hurenwirt zu ärmlich gekleidet war – geriet ins Zweifeln. Sein Messer glitt in die Scheide zurück, und er musterte seinen Gegner, der vor Selbstbewusstsein zu platzen schien. Er schlägt sich in die Büsche, dachte David und wollte sich schon wieder seinem Bier zuwenden, als im Torbogen des Stachel zwei weitere Kerle erschienen, die sich zu dem Dachsgesicht gesellten und keinen Zweifel daran ließen, auf wessen Seite sie standen.

Im Garten der Schenke befanden sich etwa dreißig bis vierzig Menschen. Die meisten hatten die Streithähne bisher ignoriert, jetzt rückten sie ebenfalls ihre Stühle beiseite. Ein paar ältere Herren und ein Kaufmann, der mit Frau und Tochter beim Essen saß, verließen die Gefahrenzone und zogen sich in den Gastraum zurück.

Matheß’ Augen waren zu wachsamen Schlitzen geworden, aber seine Haltung drückte alles andere als Angst aus. Er rieb sich die Hände, wartete, bis die Kerle ihn angriffen, und stieß bei seinem Gegenangriff einen Schrei aus, der sich wie pures Vergnügen anhörte. Die Rauferei begann. David hatte sich in seinen Kinder- und Jugendtagen oft genug mit ihm gebalgt, um zu wissen, dass er hammerhart austeilte. Anders als die meisten starken Kerle bewegte er sich zudem pfeilschnell. Seine Fäuste flogen, er teilte aus, als führen Blitze hernieder.

Trotzdem musste er natürlich auch einstecken. Heidelind schrie auf, als Blut aus seiner Nase auf ihr weißes Brusttuch spritzte. Andres steckte den Kopf durch die Tür und verzog sich wieder in die Gaststube.

Ein Spielverderber rief nach dem Büttel, als der erste Tisch umfiel und sich fettige Soße auf seine Schaube ergoss. Der Freund des Dachsgesichtigen, der Stämmigere von den beiden, ging unter einem Schlag in die Knie und schüttelte dumpf den Kopf. Matheß, der davon abgelenkt war, fing sich einen Schwinger ein. Er taumelte, dachte aber nicht ­daran aufzugeben.

Das Dachsgesicht zog nun doch wieder den Dolch. David merkte auf, aber es tat nicht not, sich einzumischen. Einer der Stadtknechte, den Andres jetzt wohl doch alarmiert hatte, kam in den Hof, und bei seinem Erscheinen brach unter dem Gesindel Panik aus. Der Kerl mit dem Dachsgesicht sprang über eine Bank und verdrückte sich. Die Spießgesellen folgten ihm, und auch die Hure fand es nützlicher, sich unsichtbar zu machen.

Matheß blickte sich um und stellte mit einem selbstgefälligen Grinsen Stühle und Bänke wieder auf. Vor einem älteren Mann machte er eine Verbeugung und pflückte ihm ein Salatblatt von der Jacke. »Es galt, eine Dame zu schützen. Tut mir entsetzlich leid, mein Herr.«

Der Mann lachte, auch die anderen Gäste im Innenhof, und der Büttel zögerte, in der richtigen Ahnung, dass er sich keine Freunde machen würde, wenn er gegen den Burschen mit dem fröhlichen Gesicht allzu hart vorging. Er schnaubte, um sein Missfallen kundzutun, dann stimmte er in das Gelächter ein. So war es immer bei Matheß: Entweder kassierte er für seine Unverschämtheiten Prügel oder er brachte die Leute auf seine Seite. Andres, der aus der Gaststube kam, überflog, welcher Schaden entstanden war, und winkte ab, und so konnte der Büttel beruhigt wieder zum Markt ziehen, wo er sicher nötiger gebraucht wurde.

Matheß schlenderte zu David, setzte sich an seinen Tisch und streckte die Beine aus. »Du hättest mir helfen können.«

»Gütiger! Hast du auch im Rücken Augen?«

»Sogar an den Füßen.«

David lachte und reichte ihm ein Tuch, damit er das Blut auffangen konnte, das ihm aus der Nase strömte. »Irgendwann treibst du es so arg, dass dein Kopf in der Schlinge stecken bleibt.«

»… sprach langweilig der Herr Scholar. Aber besten Dank für den Rat. Ich kram ihn aus den Spinnweben, wenn ich ihn brauche.« Matheß lachte ebenfalls, aber gleichzeitig musterte er Davids Talar, und es war ihm anzumerken, dass er nicht mochte, was er sah. »Wie kommt es, dass du hier bist? Ich dachte, du wälzt in Wittenberg Papierberge.«

»Im Moment gibt’s keine Vorlesungen.«

»Und was hat dich gerade nach Würzburg getrieben?«

»Die Langeweile?«

»Ah! Die Folter der Fresssäcke.«

»Pass auf, du!« David stieß ihn gutmütig mit dem Fuß an.

»Dann lass mich mal zusammenfassen: Du langweilst dich, hast also keine Ahnung, wie du die Tage rumbringen sollst, aber du kommst nicht rüber nach Bimbach. Tut mir leid, ich bin zu blöde, um das zu verstehen. Willst du nichts mehr mit uns zu tun haben?«

»Red keinen Unsinn. Es ist …« David zuckte mit den Schultern.

»Hm.« Matheß starrte auf das blutige Tuch und steckte es in den Gürtel. »Warum tust du dir diesen sterbenslangweiligen Mist in Wittenberg überhaupt an? Aus dir wird nie ein Stubenhocker. Dafür bist du gar nicht gebaut. Gib doch zu, eben hat es dir in den Fingern gejuckt mitzumischen.«

David lächelte, dachte aber gleichzeitig: Das stimmt nicht. Wenn er ehrlich war, hatte ihn die Schlägerei zumindest am Schluss angewidert. Hatte er sich vielleicht doch verändert? Früher wäre er dazwischengegangen, das war gewiss. Es herrschte eine verlegene Stille zwischen ihnen, die es sonst so auch nie gegeben hatte. Matheß war es, der sie brach.

»Warum schlägst du dir das Psalmensäuseln nicht aus dem Kopf und tust wieder das, was dir wirklich Freude macht?«

»Weil es nicht geht.«

»David, verflucht! Dir gehört ein Riesengut. Wer könnte dir vorschreiben …«

»Ein Bankier aus der Lombardei, bei dem ich mit über zwanzigtausend Gulden in der Kreide stehe.«

»Aber das ist doch …«

»Lass gut sein, Matheß.« Über diesen Punkt hatten sie bereits bis zum Überdruss diskutiert, als klargeworden war, dass David Bimbach zugunsten einer Domherrenpfründe aufgeben würde.

Matheß schlug mit beiden flachen Händen auf den Tisch. »Zwanzigtausend Gulden. Mir will das nicht in den Kopf. Die Ernte ist in den letzten sechs Jahren vielleicht nicht reich ausgefallen, aber auch nicht schlechter …«

»Lass gut sein!«

»Ich weiß doch, wie das Gut dasteht. Und dein Vater …«

ihr

»Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?«, bemühte Matheß den abgedroschenen Spruch aus dem Lied, das heimlich in den Bauernhütten, gelegentlich aber auch öffentlich in Schenken, auf den Märkten oder sogar bei einer Kirchweih gegrölt wurde.

»Was soll das denn jetzt? Matheß …«

»Ja, bitte?« Sein Freund schaute ihm direkt ins Gesicht. In seinen Augen saß ein harter Schimmer, den David noch nie zuvor wahrgenommen hatte.

»Sag mal, du machst dich doch nicht mit diesem Pack gemein, das durch die Lande zieht, um …«

Ja, um was? Die Ordnung zu untergraben? Aufruhr und Krieg heraufzubeschwören? Es schwelte schon lange unter den Fronbauern. Nicht in der Würzburger Gegend. Aber in der Krain, in Kärnten und in der Steiermark hatten sich Zehntausende Bauern erhoben, und erst vor kurzem hatte ein Joß Fritz eine Verschwörung im Schwarzwald angezettelt. Bis jetzt hatte man sämtliche Aufstände niederschlagen können und die Aufrührer grausam bestraft. In der Krain, hieß es, waren ganze Landstriche durch Massenhinrichtungen entvölkert worden. Aber David ahnte, dass es damit kein Ende haben würde. Denn die Klagen der Bauern waren zumindest teilweise berechtigt.

Das willkürliche Anheben der Frondienste, das sich jetzt offenbar auch in Bimbach durchgesetzt hatte, war ein Unrecht. Und zudem gedankenlos. Wenn die Bauern hungerten, weil sie nicht ausreichend Zeit für die Bestellung der eigenen Äcker hatten, war niemandem gedient. Ihre Schwäche schlug aufs Gut zurück, das ja auf ihre Zehntzahlungen angewiesen war. Über die Enteignung der Gemeindeäcker und das Verbot des Fischens und Holzhackens konnte man ebenfalls streiten. Da wurde altes Recht gebrochen, daraus entstand nichts Gutes.

David zuckte zusammen, als sein Milchbruder aufsprang und abrupt ein paar Münzen auf den Tisch warf. »Ich bestelle Grüße von dir, wenn ich heimkomme. Besonders Joost, dem in diesem Winter die Kinder verhungern werden, weil er mit seinen gebrochenen Armen das Saatbeet nicht vorbereiten konnte. Ich grüße ihn.«

»Sturkopf«, flüsterte David, während er zusah, wie Matheß den Stachel verließ. Er zahlte bedrückt die eigene Zeche. Dann ging er, sein Pferd zu holen. Die Stadt kam ihm plötzlich wie vergiftet vor, er konnte sie gar nicht schnell genug verlassen.

Erst als er das Stadttor passierte, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, Bernhard Zobel aufzusuchen.